30. Juni 2008

Zitat des Tages: "Die EU ist an die Grenze ihrer Aufnahmefähigkeit gelangt". Nebst Anmerkungen zu einer Mittelmeerunion

Mit der „Union für das Mittelmeer“, deren Gründung Sarkozy am 13. Juli mit republikanischem Pomp im Grand Palais zelebrieren wird, soll eine Alternative zur Vollmitgliedschaft in der EU entstehen. Sarkozy ist davon überzeugt, dass die EU an die Grenzen ihrer Aufnahmefähigkeit gelangt ist und an der Integration eines großen Landes wie der Türkei zerbrechen würde.

Michaela Wiegel heute in der FAZ unter der Überschrift "Sarkozys europäischer Tatendrang".

Kommentar: Über Sarkozys Mittelmeer- Strategie berichtete vor knapp einem Jahr erstmals Jean Daniel im Nouvel Observateur, nachdem er Sarkozy auf einem Besuch in Algerien begleitet hatte. Im Flugzeug hatte Sarkozy den Journalisten seine Pläne skizziert; auch bereits das Datum des 13./14. Juli 2008 für eine Konferenz über die Mittelmeer- Union genannt.

Aus deutscher Sicht hat dieser Plan, den Sarkozy seither hartnäckig verfolgt, einen ausgesprochen ambivalenten Charakter.

Einerseits dient er dazu, Frankreich in der EU eine Vormachtstellung zu verschaffen. Denn es wird dann zugleich eine der großen Mächte in der EU und die Vormacht der Mittelmeer- Union sein und kann je nach Bedarf die eine Funktion innerhalb der anderen Gemeinschaft zur Geltung bringen.

Relativ zu Deutschland würde eine Mittelmeer- Union das Gewicht Frankreichs in der EU deutlich erhöhen. Sie dient insofern dem, was Michaela Wiegel so kennzeichnet: "'L’Europe, c’est moi' (Europa, das bin ich) umschreibt ...[Sarkozys] ... Selbstverständnis. Er hat wieder angeknüpft an die vom späten Chirac begrabene Vorstellung, dass die EU ein verlängerter Arm Frankreichs sei."

Das ist aus deutscher Sicht die eine, die bedenkliche Seite dieses Plans einer Mittelmeer- Union. Die andere ist, daß dies der bisher einzige ernstzunehmende Gegenentwurf zu dem Versuch der terroristischen Fundamentalisten ist, vom Irak bis zum Maghreb ein panarabisches Reich zu errichten.

Das Mittelmeer, einschließlich der Länder an seiner Südküste, ist ein älterer gemeinsamer Kulturraum als Europa. Ihn auch als eine politische Union wiederzubeleben, könnte langfristig in der Tat ein erfolgreiches Bollwerk gegen den politischen Islamismus sein.

Und noch wichtiger als dieser Aspekt ist der EU-politische, daß die Mittelmeer- Union (vielleicht) für die Türkei eine attraktive Alternative zur Vollmitgliedschaft in der EU werden könnte. Wie es in der zitierten Passage des Artikels von Michaela Wiegel zum Ausdruck kommt.



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Zettels Meckerecke: Knipphalsens Klage über Klagenfurt. Über das Biedermeierliche in der heutigen Linken

Daß ich die taz in ersten den Jahren nach ihrer Gründung 1978 gern und häufig gelesen hätte, kann ich nicht sagen. Dazu enthielt sie mir zu wenig Informationen, dazu verwischte sie zu sehr - schon damals - Meinung und Nachricht. Aber gelegentlich gekauft habe ich sie schon, wenn ich dazu in Stimmung war.

Denn lustig war sie, die taz. Sie hatte etwas von einer Schülerzeitung, oder vielmehr von einer jener Bierzeitungen, wie sie erfolgreiche Abiturienten, befreit von der Last der Prüfung und beschwingt von der Laune des Feierns, damals verfaßten. Vielleicht auch noch heute; ich weiß das nicht.

Lang ist's her. Als die taz gegründet wurde, war er ein fünfzehnjähriger Schüler, deren heutiger Kulturchef Dirk Knipphals. Vielleicht war er damals ein munterer Junge; vielleicht hat auch er damals die taz gelesen und hatte Spaß an dem frechen Stil, an den infantilen Witzen der "Säzzerin".

Dann muß er sich freilich arg geändert haben, der Dirk Knipphals. Jetzt schreibt er so, wie in protestantischen Kirchen gepredigt wird.

Heute über die diesjährigen Tage der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt. Er schreibt darüber - Überschrift: "Öl im Getriebe" - mit ungefähr der Botschaft, die im Feuilleton der FAZ und der "Welt" zu lesen war, als Adenauer unsere Sicherheit und Ludwig Erhard unseren Wohlstand garantierte: Mit wehmütigem Rückblick auf das Gute Alte, das nun all diesen Neuerungen der Moderne weichen muß. Dieser Oberflächlichkeit. Dieser Amerikanisierung. Diesem Tand.

Es ist die Haltung derer, die einst im Biedermeier mit traurigem Entsetzen das Zeitalter der Technik und der Industrie heraufziehen sahen. Derer, die dann die Idylle der Restauration nach 1950 durch die "Amerikanisierung" bedroht sahen. Und es ist die Haltung ihrer heutiger Nachfahren, die überwiegend nicht mehr auf der konservativen Rechten, sondern auf der Linken zu finden sind, wie sie durch die taz repräsentiert wird.



Was ist es, das den Dirk Knipphals an den diesjähigen "Tagen der deutschsprachigen Literatur" so stört? Es ist der Umstand, daß es - der Titel sagte es - weniger knirschte als früher.

Daß alles gestraffter, zügiger, mediengerechter ablief. Daß weniger geredet wurde. Und warum? Wegen des Fernsehens: "Während bislang die Live-Situation das Klagenfurt-Ereignis war, findet nun das eigentliche Klagenfurt im Fernsehen statt. Darauf ist alles ausgerichtet, Preisentscheidungen zur Prime Time am Samstagabend um 20.15 Uhr eingeschlossen".

Schlimm, nicht wahr? Und Grund genug, daß Knipphals das stärkste Geschütz aus seinem Arsenal holt, nämlich den Vergleich mit Elke Heidenreich:
Nun schickt sich die Veranstaltung also an, sich in Richtung eines weiteren Instruments zur Erzeugung medialer Aufmerksamkeit für die deutschsprachige Literatur zu wandeln, neben Buchpreis, Elke Heidenreich und Preis der Leipziger Buchmesse. Beim Buchpreis kann der Leser das gute Buch für den nächsten Urlaub abgreifen, bei Heidenreich die leicht peinlichen Schmöker fürs verregnete Wochenende, und bei Klagenfurt kann er sich in Sachen Up-to-date-Sein einen Überblick verschaffen, was alles noch zu lesen möglich wäre.
"Up-to-date-Sein"; vernichtender kann man in den Augen von Knipphals offenbar nicht urteilen.

Was ihn zu der besorgten Frage über diese "Neuerungen" führt: "Bedeuten sie, dass der Literaturbetrieb die Diskurshoheit von der Literatur an das Fernsehen abgibt?"

Tja, da kratzen wir uns jetzt alle den Kopf. "Ein Jahr ist zu wenig, um sich da eine fundierte Meinung zu bilden", beantwortet Knipphals seine Frage.

Was mich angeht, brauche ich allerdings kein Jahr des Grübelns, um eine Meinung zu haben. Vielleicht keine fundierte, aber nun gut.



Ich fand, daß die Änderungen dem Ereignis außerordentlich gut getan haben.

Die Juroren waren offenbar streng vergattert worden, sich kurz zu fassen. Das funktionierte bestens. Die üblichen weitschweifigen Kommentare fehlten. Jeder hatte Zeit, sich die paar Sätze, die ihm jeweils gestattet waren, zuvor genau zu überlegen; also waren es überwiegend überlegte, kluge Sätze.

Der Moderator Dieter Moor, ein TV-Profi, steuerte das ebenso leise wie effizient

Nicht den Sand im Getriebe habe ich vermißt, den Knipphals durch Öl ersetzt sieht. Sondern ich habe mich gefreut, daß es weniger Gerede und mehr Substanz gab, statt rhetorischer Ornamentik die klare Aussage. Bis hin zu den Laudationes, die von angenehmster Kürze waren.

Gewiß "verpasste die stets sehr textimmanent argumentierende Jury ... die Chance, einmal etwas grundsätzlicher über den gegenwärtigen Stand von Literatur zu debattieren", wie Knipphals tadelnd notiert.

Ja und? Wenn man grundsätzlich über den gegenwärtigen Stand von Literatur ("gegenwärtigen Stand von Literatur"? naja) debattieren will, dann soll man eben eine Konferenz über die Literatur der Gegenwart organisieren. Klagenfurt ist das bekanntlich nicht, sondern eine Gelegenheit für junge Autoren, in einem Wettbewerb Proben ihrer Arbeit vorzustellen.

Sogar das elektronische Abstimmungsverfahren, das mir zunächst ein wenig albern vorgekommen war, erwies sich als höchst sinnvoll; denn es führte die Juroren schnell und fehlerfrei durch das Dickicht der einzelnen Abstimmungen über alle die Preise mit ihren jeweiligen diversen Wahlgängen. Was per Hand ein quälender Abstimmungs- Marathon geworden wäre, ging auf diese Weise zügig und nicht ohne Spannung vonstatten.

Das lief alles sehr gut, und es endete sehr schön, nämlich damit, daß Tilman Rammstedt den Ingeborg- Bachmann- Preis und gleich auch noch den Preis des Publikums erhielt.

Ablauf gut, Ende gut, alles gut.



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29. Juni 2008

Marginalie: Warum ist Kurt Beck eigentlich SPD-Vorsitzender? Ja, warum denn nicht?

Nils Minkmar hat in der FAZ etwas über Kurt Beck geschrieben. Das Hauptthema dieses lesenswerten (wenn auch arg umständlich gechriebenen; muß denn wirklich einer "regressiven Verschwörungstheorie schon aus medienökologischen Gründen widersprochen" werden?) Artikels ist, wie positiv die Medien anfangs, nachdem er Vorsitzender der SPD geworden war, den Kurt Beck dargestellt und beurteilt haben.

Das ist so gewesen; nur vergißt man es heute leicht und kann sich kaum noch vorstellen, daß Beck einmal als Hoffnungsträger der SPD gefeiert wurde.

Wer vom Rathaus kommt, ist klüger. Und so weiß auch Nils Minkmar jetzt, daß man Beck nie hätte zum Vorsitzenden wählen sollen: "Die endgültige Verantwortung für dieses Desaster trägt ... die Führung der SPD, die einen erfolgreichen Ministerpräsidenten nie für die kurzfristige Lösung eines Personalproblems auf Bundesebene hätte verfeuern dürfen."

Nur hat sie das immer so gemacht, die SPD. Mal mit Erfolg, mal ohne.

Willy Brandt wurde Kanzlerkandidat, weil er ein erfolgreicher Regierender Bürgermeister gewesen war. Johannes Rau, Björn Engholm, Gerhard Schröder, zuletzt Matthias Platzeck - sie alle wurden allein deshalb als Vorsitzende und/oder Kanzlerkandidaten an die Spitze der SPD geholt, weil sie kurz zuvor in ihren Ländern Wahlen gewonnen hatten und folglich als Stimmenfänger galten.

So war es auch bei Kurt Beck; er hatte, als Platzeck ausfiel, als einziger Landespolitiker der SPD eine Wahl sehr erfolgreich bestanden.



Seit dem Abgang der Generation von Willy Brandt, Helmut Schmidt und Hans-Jochen Vogel hat die SPD zu keiner stetigen Führung mehr gefunden.

Statt Vorsitzende nach gründlicher Debatte auf lange Frist zu wählen und ihnen auch dann die Treue zu halten, wenn es mal schlecht läuft, nimmt sie denjenigen, der gerade durch einen Erfolg glänzt, verschleißt ihn und greift dann halt zum nächsten, der sich gerade anbietet, weil er eine Wahl gewonnen hat.

So traf es den redlichen Kurt Beck, der in der Tat, für jeden erkennbar, mit dem Amt des Ministerpräsidenten des schönen Weinlands Rheinland- Pfalz das erreicht hat, was er, wie man heute gern sagt, maximal schultern konnte.

Er hatte mit diesem Amt den "Gipfel seiner Kompetenz erklommen". So stand es hier zu lesen, am 21. März 2007, zu einer Zeit, als viele Kollegen von der gedruckten Presse Kurt Beck noch für den Hoffnungsträger der SPD hielten.



Freilich - nicht immer war es ein erfolgreicher Wahlkämpfer, den die SPD zu ihrem Vorsitzenden erkor. Rudolf Scharping wurde es, weil das die Mitglieder so gewollt hatten. Oskar Lafontaine wurde es, weil er die Delegierten eines Parteitags mit einer demagogischen Rede besoffen gemacht hatte. Gerhard Schröder wurde es, weil Oskar Lafontaine hingeworfen hatte und keiner wagte, dem Kanzler dieses Amt streitig zu machen.

Und Franz Müntefering wurde es, weil er die Partei im Griff hatte. Andrea Nahles könnte die nächste sein, die es aus diesem Grund wird.

Dann freilich wird man sich noch sehnsüchtig des tapsigen Kurt Beck erinnern.



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Kurioses, kurz kommentiert: Wie weist man nach, daß Atomkraftwerke ein CO2-Problem erzeugen?

Atomkraftwerke sind große Wolkenerzeugungsmaschinen. Sie produzieren viel Wärme, die ungenutzt in die Luft abgelassen wird. Anders geht es auch nicht. Für die Fernwärmenutzung müssten die Atomkraftwerke in der Stadt gebaut sein. Aber das will kein Mensch. Darum heizen die Leute zu Hause mit Gas und Öl. Das eingerechnet wären kleine Blockheizkraftwerke, bei denen Strom und Wärme genutzt werden, für den gleichen CO2-Ausstoß verantwortlich wie ein Atomkraftwerk samt notwendiger Wärmeerzeugung. Also: Auch Atomkraftwerke erzeugen ein CO2-Problem.

Bärbel Höhn, stellvertretende Fraktionsvorsitzende der "Grünen" im Bundestag, in der "Süddeutschen Zeitung".

Kommentar: Ich habe es geahnt: Die "Klimabilanz" von irgend etwas zu bestimmen, ist ungefähr so, als wolle man die Zahl der Engel berechnen, die auf einer Nadelspitze Platz finden.

Bisher dachten wir Naiven, einer der Vorteile der Kernenergie liege darin, daß AKWs keine fossilen Brennmittel benötigen, also auch kein in diesen gebundenes CO2 emittieren.

Wie beweist uns nun Frau Höhn - studierte Mathematikerin -, daß AKWs dennoch "ein CO2-Problem erzeugen"?

Sie stoßen zwar kein CO2 aus. Aber - das folgende schreibe ich ohne Gewähr, weil ich nicht ganz sicher bin, daß ich den Gedankengang von Frau Höhn richtig verstanden habe - wenn die Leute Atomstrom beziehen, dann beziehen sie keinen Strom aus "kleine(n) Blockheizkraftwerke(n), bei denen Strom und Wärme genutzt werden".

Wenn sie das aber nicht tun, dann werden von diesen Kraftwerken weniger gebaut. Und wenn von denen weniger gebaut werden, dann heizen auch weniger Leute mit der Fernwärme, die sie liefern.

Sondern sie heizen dann mit Gas oder Öl. Und dabei wird CO2 emittiert. Für das also die bösen AKWs verantwortlich sind.

q.e.d.



Ich habe da allerdings noch eine Frage: Warum können die Leute, die Atomstrom beziehen, nicht elektrisch heizen, mit eben diesem Atomstrom? Ohne CO2 in die Luft zu pusten?

Wäre das nicht für die "Klimabilanz" noch besser, als wenn sie aus diesen Heiz- Kraftwerken Fernwärme beziehen, die doch CO2 emittieren, wenngleich vielleicht weniger als die häusliche Ölheizung?

Warum geht das nicht?

Hm, hm. Ich fürchte, weil dann die Rechnung unserer Mathematikerin irgendwie nicht funktionieren würde.

Vorausgesetzt, wie gesagt, ich habe verstanden, was Frau Höhn uns sagen will.



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28. Juni 2008

Marginalie: Ingeborg-Bachmann-Preis für Tilman Rammstedt

Während ich dies schreibe, überträgt 3Sat die Abstimmung der Jury zum diesjährigen Ingeborg-Bachmann-Preis.

Der Preisträger - er hätte auch meine Stimme bekommen - ist Tilman Rammstedt, der auch den via Internet vergebenen Publikumspreis erhalten hat.

Ein skurriler Text war das, den er vorgetragen hat: Die Erinnerung an einen Großvater, einen unerträglichen, einen egoistischen, einen auf der ganzen Familie lastenden Mann. Einen, der immer alles besser wußte, nachdem etwas schief gegangen war. Der gar versuchte, seinem Enkel die Freundinnen auszuspannen.

Von ihm also erzählt der Text, in einem witzigen, pointensprühenden, in atemlosem Stakkato gehaltenen Stil. Und genau so hat Rammstedt ihn vorgelesen. So schnell, so ohne Pause und sozusagen ohne Atemholen, daß das Publikum manchmal noch über eine Pointe lachte, wenn es schon von der nächsten überrollt wurde.

Also nur Humoristik? Als die Jury über den Text beriet (öffentlich, wie ihre gesamte Tätigkeit bis hin zu den Abstimmungen öffentlich war), gab es die unvermeidliche Diskussion: Solle man den Witz des Autors genießen oder nach tieferem Sinn bohren? Und es gab die unvermeidliche Stimme dessen - es war ausgerechnet der Vorsitzende der Jury, Burkhard Spinnen -, der meinte, das sei ja alles sehr brillant und witzig, aber irgendwie fehle ihm doch ... usw. usw.

Nein, Rammstedt hat sich mit diesem Text nicht als "Humorist" präsentiert. Er schreibt so doppelbödig wie Robert Gernhardt, der ja auch lange Zeit mit diesem herablassenden Etikett des Humoristen, allenfalls des "Satirikers" belegt wurde.

Man spürte durch den Text hindurch eine seltsame, eine abgründige Liebe zu diesem so erbarmungslos geschilderten Großvater. Es ist ein Text voller Ambivalenz. Dieser Großvater ist der Ahn, der nicht sterben will, der Revenant. Er ist das Überich, das dem Erzähler nicht nur im Hirn, sondern sozusagen im Nacken sitzt.

Ich freue mich darauf, den ganzen Text zu lesen.



Und noch ein Lob an die Wikipedia. Die Abstimmung der Jury ist noch kaum eine halbe Stunde her - und in dem Artikel steht Rammstedt bereits als Träger des Ingeborg- Bachmann- Preises 2008!



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Der 44. Präsident der USA (4): Barack Obama, der Opportunist

Angesichts der Begeisterung für Barack Obama, die noch immer hier in Deutschland grassiert, angesichts der freundlichen Beurteilungen, die Obama sogar in der Blogokugelzone erfährt - siehe die lebhaften Diskussionen in "Zettels kleinem Zimmer" -, könnte mein Urteil über diesen Kandidaten radikal erscheinen: Ich halte nicht viel von Barack Obama; das ist den Lesern dieses Blogs nichts Neues.

Ich halte ihn für einen Politiker, der mit den Mitteln des klassischen Populismus arbeitet - dem Versprechen, alle Schranken innerhalb des Volks niederzureißen und eine völlig andere Politik zu machen; der Verheißung gar, die "Welt zu heilen".

Ich halte ihn für einen Demagogen, der seine Wahlveranstaltungen wie baptistische Gottesdienste zelebriert, der gezielt sein Publikum in Verzückung versetzt, der mit seinem Kernslogan "Yes, we can" an den Stil von religiös verbrämtem Motivationstraining anknüpft.

Und ich halte ihn für einen Opportunisten, wie ihn die amerikanische Politik selten erlebt hat.

Besonders deutlich wurde dieser Zug von Obama, als seine Nominierung feststand und er sich, fast von einem Tag auf den anderen, vom Prediger in einen Staatsmann verwandelte. Ich habe das an dem Tag, an dem sich die Metamorphose abspielte, am 4. Juni, als er die kritische Zahl von Delegierten erreicht hatte, in einem längeren Artikel beschrieben, in dem es hieß:
Und nun, da er es geschafft hat? Nun wechselt Obama in ein anderes Rollenfach; mit einer Perfektion, angesichts derer ein Chamäleon vor Neid abwechelnd rot und blaß werden könnte. Er ist jetzt der zurückhaltende, realistische Politiker, der verantwortungsvolle Staatsmann. (...)

Er hat die Herzen der Naiven erobert. Jetzt wird er sich so von dieser Vergangenheit der Rolle des Heilsbringers lösen, wie er sich kürzlich von seinem alten Mentor, dem Pastor Jeremiah Wright, distanziert hat. Jetzt gilt es für ihn, auch den Verstand der Skeptischen für sich zu gewinnen.


Es ist jetzt gut drei Wochen her, daß ich das geschrieben habe. In welchem Umfang Obama in diesen drei Wochen seine opportunistische Wandlung vollzogen hat, das hat in der gestrigen Washington Post Charles Krauthammer, Pulitzer- Preisträger und laut "Financial Times" der einflußreichste amerikanische Kommentator, Punkt für Punkt aufgelistet:
  • Nach 9/11 hatte es rechtlich fragwürdige Abhöraktionen der National Security Agency (NSA) gegeben, mit denen Terroristen entdeckt werden sollten. Telefonfirmen hatten dabei geholfen und sich damit möglicherweise strafbar gemacht. Im Herbst 2007 lag dem Kongreß ein Gesetzeswerk vor, das u.a. rückwirkend Straffreiheit für diese Firmen vorsah.

    Damals hatte ein Sprecher Barack Obamas, Bill Burton, erklärt, Obama trete dafür ein, dieses Gesetz durch filibustering (Dauerreden im Senat) zu verhindern. Jetzt hingegen sagt Obama, er werde für ein Gesetz stimmen, das den Firmen Straffreiheit zusichert.

  • Während der Primaries trat Obama gegen das Freihandelsgesetz (North American Free Trade Agreement, NAFTA) auf und versprach, dessen Neuverhandlung zu erzwingen und Kanada und Mexiko eine unilaterale Aufkündigung des Vertrags anzudrohen. Jetzt bezeichnet er seine damaligen Äußerungen als "überzogen" ("overheated") und unterstützt den Vertrag.

    Nach Krauthammers Informationen hat ein leitender Berater Obamas den Kanadiern dazu gesagt, die früheren Stellungnahmen seien nur "populäre Plakatiererei" gewesen ("popular postering").

  • Während der Primaries hatte Obama versprochen, sich "ohne Vorbedingungen" mit Mahmud Ahmadinedschad zu treffen. Jetzt spricht er von "Vorbereitungen", aus denen, so Krauthammer, Obamas Berater De-facto- Vorbedingungen machen.
  • Baracks Obamas Langer Marsch habe begonnen, meint Krauthammer. Er habe die Wähler der Linken sicher und buhle jetzt um diejenigen der Mitte.

    Die Leitmedien ließen ihn, schreibt Krauthammer, damit davonkommen.

    Er habe zuerst in einer vielgelobten Rede versichert, er könne sich von dem Prediger Jeremiah Wright so wenig lossagen wie von seiner weißen Großmutter. Drei Monate später tat er genau das; er sagte sich von Wright los - und "not a word of reconsideration is heard from his media acolytes"; keiner seiner Gefolgsleute in den Medien habe das damalige Lob mit auch nur einem Wort in Frage gestellt.

    So wenig, wie man es in den Leitmedien Obama übelnehme, daß er erst für eine Finanzierung des Präsidentschafts- Wahlkampfs aus öffentlichen Mitteln gewesen sei und jetzt, wo er selbst reichlich Spendengelder habe, das genaue Gegenteil propagiere, nämlich den Verzicht beider Kandidaten auf solche öffentlichen Mittel.



    Charles Krauthammers Fazit:
    I have never had any illusions about Obama. (...) The truth about Obama is uncomplicated. He is just a politician (though of unusual skill and ambition). The man who dared say it plainly is the man who knows Obama all too well. "He does what politicians do," explained Jeremiah Wright.

    When it's time to throw campaign finance reform, telecom accountability, NAFTA renegotiation or Jeremiah Wright overboard, Obama is not sentimental. He does not hesitate. He tosses lustily. (...)

    Not a flinch. Not a flicker. Not a hint of shame. By the time he's finished, Obama will have made the Clintons look scrupulous.

    Über Obama habe ich mir nie irgendwelche Illusionen gemacht. (...) Die Wahrheit über Obama ist schlicht. Er ist einfach ein Politiker (wenn auch ein ungewöhnlich geschickter und ehrgeiziger). Der Mann, der das offen zu sagen wagte, ist der Mann, der Obama nur allzu gut kennt. "Er tut, was Politiker tun", erläuterte Jeremiah Wright.

    Wenn es an der Zeit ist, die Reform der Wahlkampf- Finanzierung, Strafbarkeit der Telefon- Unternehmen, Neu- Verhandlungen über die Freihandelszone oder Jeremiah Wright über Bord zu werfen, dann ist Obama nicht sentimental. Er zögert nicht. Er räumt munter weg.

    Kein Zurückzucken. Kein Fackeln. Kein Spur von Scham. Wenn er fertig sein wird, werden ihm gegenüber die Clintons als Leute mit Skrupeln dastehen.

    Starker Tobak. Als ich das las, schien mir, daß ich im Vergleich mit Charles Krauthammer ein geradezu freundliches Bild von Barack Obama habe. Keineswegs radikal. Allenfalls für deutsche, aber nicht für amerikanische Verhältnisse.



    Man kann nun allerdings argumentieren, was denn schlimm daran sei, einem Politiker zu bescheinigen, daß er eben wie ein Politiker agiert. Auch wenn man nicht die Lüge für ein Wesenselement der Politik hält, wird man einem Politiker doch zugestehen müssen, daß er taktiert und seine Positionen zu bestimmten Themen verändert.

    Dazu sollte man meines Erachtens zweierlei bedenken:

    Erstens hat Obama mit John McCain einen Gegenkandidaten, der sich eben nicht so schamlos opportunistisch verhält. Und zweitens präsentiert sich Obama ja gerade nicht als ein Politiker wie andere, sondern er verkündet, er werde mit dem politischen Geschacher in Washington aufräumen und den großen Wandel bringen.

    Er wird, falls er gewählt wird - was im Augenblick nicht unwahrscheinlich aussieht -, keinen Wandel bringen. Er wird nur eine Enttäuschung bringen; vermutlich eine der größten, die die Amerikaner jemals mit einem Präsidenten erlebt haben.



    Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier. - Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    27. Juni 2008

    Fußball-EM und Transitivität. Was passiert, wenn zwei hartgekochte Eier gegeneinander gestoßen werden?

    Es kommt bei jedem Turnier vor, aber diesmal ist es besonders drastisch: Kaum wurde eine Mannschaft in den Olymp gehoben, da knallt sie schon wieder auf den Boden der Realität.

    Die Niederlande galten nach ihren Siegen über den Weltmeister Italien und den Vize- Weltmeister Frankreich als der fast schon sichere Europameister - und wurden dann von den Russen erbarmungslos entzaubert.

    Jenen Russen, die daraufhin ihrerseits als der kommende Meister gehandelt wurden; hatten sie doch schon gegen Griechenland und Schweden tollen Fußball gespielt. Gestern gingen sie gegen die Spanier unter.

    Auch Portugal war einmal für die Medien der große Favorit, nach den Traumsiegen über die Türkei und Tschechien. Bis die Deutschen kamen.

    Die nun freilich gleich zweimal diese Berg- und Talfahrt erlebt haben: Hervorragend gegen Polen; dann - rrrums! - von den Kroaten besiegt. Wieder rauf in den Olymp beim Sieg über Portugal, und dann nur ein glücklicher Arbeitssieg über die Türkei.

    Was ist da los? Können droben über den Wolken die Götter sich nicht einig werden, wem sie ihre Gunst zuteil werden lassen?

    Das ist wahrscheinlich die rationalste Erklärung. Ich nennen jetzt die zweitrationalste.



    In der Mathematik gibt es den Begriff der Transitivität. Ist eine Relation transitiv, dann gilt: Wenn diese Relation zwischen A und B besteht sowie zwischen B und C, dann besteht sie auch zwischen A und C. Wenn Max größer ist als Moritz und Moritz größer als Achmed, dann ist Max größer als Achmed. "Größe" ist eine transitive Relation.

    Im Richtigen Leben gilt aber Transitivität oft nicht; eine Sammlung von Beispielen für Intransitivät findet man hier.

    Das, was wir in diesem EM-Turnier erlebt haben, war eine sozusagen chronische Verletzung der Transitivität: Mannschaft A ist besser als Mannschaft B, Mannschaft B ist besser als Mannschaft C - aber wie ein Spiel A gegen C ausgeht, können wir daraus keineswegs vorhersagen.



    Stellen Sie sich das folgende einfache, ja ein wenig dümmliche Spiel vor: Zwei Leute sitzen oder stehen sich gegenüber. Jeder hat ein hartgekochtes Ei in der Hand, der eine ein rotes und der andere ein blaues. Auf ein Kommando stoßen sie die Eier kräftig gegeneinander, sehr kräftig. Was passiert?

    Wenn sie kräftig genug gestoßen haben, gibt es Bruch. Da beide Eier fragil sind, könnte man meinen, daß sie auch beide den Zusammenstoß nicht heil überstehen. Aber so ist das nicht.

    Was passiert - Sie probieren es am besten aus - ist dies: Ein Ei geht zu Bruch, und das andere bleibt heil.

    Warum? Die beiden Eier sind natürlich ein klein wenig verschieden in ihrer Festigkeit (das hängt z.B. vom Alter der Henne ab, die sie gelegt hat). Ist nun das rote Ei, wenn auch geringfügig, stabiler als das blaue Ei, dann erzeugt es in dessen Schale - wenn hinreichend fest gestoßen wurde - in den ersten Millisekunden des Kontakts einen kleinen Riß. Und sobald der da ist, hat das blaue Ei keine Chance mehr.

    Es verliert schlagartig seine Festigkeit, fällt in sich zusammen und kann dem roten Ei nichts mehr antun. (Der Vorgang muß nicht unbedingt durch die Stabilität der Schale determiniert sein; vielleicht auch durch die Richtung des Stoßes oder dergleichen; aber jedenfalls bleibt ein Ei heil, und das andere geht zu Bruch).

    Das ist ein klassisches Beispiel für ein nichtlineares System: Eine winzige Ursache - der kleine Unterschied in der Stabilität - hat eine massive Wirkung: Ein Ei bleibt völlig heil, das andere zerbricht.



    Auch die Dynamik eines Fußballspiels ist diejenige eines nichtlinearen Systems. Hier kann nicht nur ein kleiner Faktor sich in seiner Wirkung potenzieren, sondern es kommt noch hinzu, daß sehr viele Faktoren wirken und miteinander interagieren, daß vor allem der Zufall eine große Rolle spielt.

    Diese Faktoren, die jeweils die eine oder die andere Mannschaft begünstigen (und die sich im Tabellenstand ausdrücken, oder in den vorausgegangenen Erfolgen oder Mißerfolgen in einem Turnier), addieren sich nicht linear, sondern im Spiel entsteht eine Dynamik, in der kleine, in der oft auch zufällige Faktoren eine sehr große Wirkung entfalten können. Das Verhalten eines solchen Systems ist schwer zu prognostizieren.

    In den Spielen dieses Turniers schien oft der Spielbeginn eine große Rolle zu spielen.

    Gegen die Türkei war es zum Beispiel so, daß die deutsche Mannschaft in der ersten Viertelstunde "nicht zu ihrem Spiel fand" und danach verunsichert wirkte. Das mag zunächst an Zufällen gelegen haben - an ein paar Pässen, die nicht ankamen; Spielern, die zufällig ungünstig standen -, aber es wirkte auf die Spieler zurück und machte es wahrscheinlicher, daß sie erneut solche Fehler produzierten. Spieler, die eine schlechte Tagesform hatten, verunsicherten durch ihre Fehler die anderen.

    So jedenfalls könnte es gewesen sein; so ähnlich wird es gewesen sein: Aus kleinen Ursachen werden große Wirkungen. Faktoren, die für sich selbst unbedeutend sind, können entscheidend werden, wenn sie sich in ihrer Wirkung gegenseitig verstärken. Das ist eben die Dynamik eines nichtlinearen Systems.

    Die Folge ist Intransitivität. Hinge das Ergebnis eines Spiels allein von der "Papierform" ab, dann würde Transitivität herrschen: Wenn Mannschaft A die Mannschaft B schlägt und B die Mannschaft C, dann wird auch A die Mannschaft C schlagen. Wegen der Dynamik des nichtlinearen Systems gilt das aber halt nicht.

    Leider nicht, aus der Sicht guter Mannschaften. Zum Glück nicht, aus der Sicht der im Rang weiter unten Stehenden und des Zuschauers, der seine Spannung haben möchte.

    Habe ich jetzt etwas anderes gesagt als Sepp Herberger mit seinem unsterblicnen Satz "Der Ball ist rund"? Nein.



    Weitere Artikel zum Fußball findet man hier verlinkt. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    Zitat des Tages: Spargel auf dem Mars

    We basically have found what appears to be the requirements, the nutrients, to support life whether past, present or future. (...)The sort of soil you have there is the type of soil you’d probably have in your back yard.

    (Im Prinzip haben wir gefunden, was nach dem Erforderlichen, nach den Nährstoffen für die Möglichkeit von Leben in der Vergangenheit, der Gegenwart oder der Zukunft aussieht. (...) Die Art Boden, die man dort vorfindet, ist die Sorte Boden, die Sie vermutlich in ihrem Garten haben.)

    Samuel P. Kounaves von der Tufts University, der die chemischen Analysen der von der Marssonde "Phoenix" gesammelten Bodenproben leitet, gestern in einer telefonischen Pressekonferenz, über die heute die New York Times berichtet.

    Der Artikel beginnt mit der folgenden schönen Feststellung: "Stick an asparagus plant in a pot full of Martian soil, and the asparagus might grow happily". Stecken Sie einen Spargel- Schößling in einen Topf, gefüllt mit Marsboden, und der Spargel dürfte prächtig gedeihen.

    Kommentar: Der Grund für diese bemerkenswerte Schlußfolgerung ist, natürlich, die Zusammensetzung des Marsbodens, die "Phoenix" analysiert hat. Der pH-Wert liegt zwischen 8 und 9, und Spargel mag solch einen basischen Boden. Magnesium, Chloride, Natrium und Kalium hat "Phoenix" ebenfalls in den Bodenproben gefunden.

    In einem anderen Experiment wurde eine Bodenprobe auf 1800 Grad erhitzt. Dabei trat Wasserdampf aus; es muß also einmal dort (oder in Boden, der dorthin geweht wurde) Wasser gegeben haben.

    Heute freilich ist der Mars kalt, hat eine nicht sehr angenehme CO2-Atmosphäre und wird von ultravioletter Strahlung bombardiert.

    Phoenix hat nicht die Aufgabe, unmittelbar nach Leben zu suchen, sondern zu klären, ob es an seinem Landeplatz die Voraussetzungen für Leben gab und/oder gibt.

    Geklärt ist das noch nicht; noch viel weniger ist die Existenz von Leben nachgewiesen oder diese Möglichkeit widerlegt.

    Insofern war man in den Anfängen der Raumfahrt nachgerade lachhaft optimistisch. Ich erinnere mich an die ersten erfolgreichen Marslandungen der USA, die der Viking-Sonden im Jahr 1976, als bald nach der erfolgreichen Landung in der Presse Berichte auftauchten, es sei Leben auf dem Mars nachgewiesen worden und sich darüber eine lebhafte wissenschaftliche Kontroverse entspann.

    Das ist jetzt mehr als dreißig Jahre her, und noch immer ist offen, ob es jemals auf dem Mars Leben gegeben hat und ob es gar jetzt noch in irgendeiner Form - etwa unterirdisch, gegen die Weltraumstrahlung geschützt - existiert.

    Inzwischen planen die USA ernsthaft, eine bemannte Mission zum Mars zu schicken.

    Meine Meinung dazu, und überhaupt zur Bemannten Raumfahrt, habe ich in diesem Artikel und dann noch einmal in hier dargelegt: Ich halte sie für eine gigantische Verschwendung von Geld, deren einzige Rechtfertigung es ist, daß sie mehr Phantasien anregt als unbemannte Sonden und dadurch mehr Prestige, also mehr Macht verspricht und somit mit mehr finanziellen Mitteln rechnen kann.

    Was bereits für die ISS und für die - jetzt wieder von den USA und vermutlich auch von China geplanten - bemannten Flüge zum Mond gilt (der erste ist bereits terminiert, für den Juni 2019), das gilt erst recht für einen bemannten Flug zum Mars: Er wird Unmengen an Geld verschlingen, er wird Menschenleben gefährden, und er wird ungleich weniger an Erkenntnissen bringen als unbemannte Sonden, selbst wenn für sie nur ein Bruchteil dieser Geldmittel aufgebracht werden würde.



    Daß es eine spannende Frage ist, ob es auf dem Mars Leben gegeben hat oder noch gibt, steht außer Frage. Denn wenn bereits in unserem Sonnensystem ein belebter Planet keine Singularität ist, dann wächst die Wahrscheinlichkeit, daß auch zahlreiche Planeten außerhalb unseres Sonnensystems ("Exoplaneten") Leben beherbergen. Rund hundert Milliarden Galaxien, jede mit rund hundert Milliarden Sternen, bieten dafür dann viel Platz.



    Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    26. Juni 2008

    Zitat des Tages: Geschafft!

    Ich bin natürlich auch geschafft von diesem Spiel.

    Jogi Löw

    Kommentar: Das hätte Löw dem Reporter sagen sollen - und sich dann freundlich lächelnd empfehlen. Aber natürlich konnte er das nicht.

    Er mußte, auf die bekannten Fragen antwortend, das Bekannte sagen: "Jetzt haben wir es geschafft, das macht mich natürlich glücklich". Da konnte Michael Ballack nur zustimmen: "Wir freuen uns natürlich riesig". Und auch Poldi sagte, wie es ist: "...wir sind jetzt im Finale und wollen es auch gewinnen, ganz klar".

    Ganz klar. Was sollen sie auch sonst sagen als das Bekannte? Als die Platitüden, die jeder vorhersagen kann? Sie geben auf dumme Fragen dumme Antworten, die Spieler, die, ausgepumpt vom Spiel, manchmal noch außer Atem auch vom Jubeln, vor die Kamera müssen.

    Sie haben gelernt, auch das noch über sich ergehen zu lassen, nach dem Motto: Lerne reden, ohne zu sagen.



    Warum müssen sie das? Warum besteht anscheinend ein Bedarf, warum vermuten jedenfalls die für solche Sendungen Verantwortlichen einen Bedarf beim Zuschauer, solche Äußerungen zu hören?

    Ein wenig seltsam ist das schon; denn anderswo im Showgeschäft wird es ja nicht so gehandhabt.

    Wenn im Theater oder in der Oper der letzte Vorhang gefallen ist, dann treten die Schauspieler zwar an die Rampe und holen sich ihren verdienten Beifall ab, leiser oder lauter, mit mal mehr, mal weniger Vorhängen.

    Wenn der Rocksänger sein Repertoire dargeboten hat, und er war nicht allzu schlecht, dann wird "Zugabe" gerufen, bis er nachgibt und zugibt.

    Aber das war's denn dann auch. Der Beifall verebbt, die Künstler haben ihre verdiente Ruhe nach der Anstrengung des Spielens.

    Niemand käme auf den Gedanken, daß, nachdem der Schlußbeifall verklungen ist, ein Dramaturg auf die Bühne tritt und den Darsteller des "Hamlet" fragt: "Den Monolog haben Sie aber heute etwas nervös vorgetragen. Woran lag's?" Oder die Sängerin der "Isolde" gefragt wird: "Wie fühlt man sich nach einer solchen dürftigen Darbietung?"

    Die Sportler aber müssen sich geduldig kritisieren lassen, müssen freundlich antworten, dürfen sich nichts anmerken lassen. Nur manchmal doch ein bißchen, wie gestern Abend Bastian Schweinsteiger, als er auf eine dieser "Wie kam's?"- Fragen sinngemäß sagte, das wisse er auch nicht, und es sei ihm auch egal.



    Warum also dieses inquisitorische Ritual im Sport? Ich vermute bei den TV-Leuten ein ähnliches Motiv wie dasjenige, das Bildregisseure dazu veranlaßt, mitten in die Übertragung Großaufnahmen von Fans, von Prominenten, von Trainern hineinzuschneiden: Man will uns mit Human Touch beliefern, es menscheln lassen.

    Wir erfahren zwar von Ballack und Lahm, von Klose und Frings nichts, was wir nicht schon wüßten oder was jeder Depp sich denken kann. Aber wir dürfen sie sehen, wie sie da stehen und schwitzen.

    Es ist das Bedürfnis des Voyeurs, das die TV-Leute bei uns vermuten, das sie also befriedigen wollen. Wir wollen unseren Helden auf den Leib rücken, vermuten sie, die Regisseure solcher Sendungen.

    Und irgendwie muß man es ja auch rechtfertigen, die Wand mit allen den Firmenlogos ins Bild zu rücken.

    Das freilich rechtfertigt es nicht, auch noch Franz Beckenbauer ins Bild zu rücken.

    Man tat es, und die Folgen waren absehbar. Über die Deutschen im Finale sagte er: "Sie müssen das Gesicht zeigen, das sie gezeigt haben gegen Polen und gegen Portugal, dann werden sie auch das Finale schaffen. Wenn sie das von heute zeigen, habe ich keine großen Hoffnungen."

    So spricht der Experte.



    Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    25. Juni 2008

    Gedanken zu Frankreich (24): Sartre, Schopenhauer, Kant. Was französische Abiturienten wissen müssen

    In diesem Blog gab es schon einmal, als im vergangenen Jahr die Prüfungen liefen, einen Artikel über das Abitur in Frankreich. Jetzt ist wieder die Zeit des Baccalauréat gekommen. Ich möchte das zum Anlaß nehmen, über die Themen der diesjährigen Aufsätze in Philosophie zu berichten.

    Warum? Weil mir das ein Licht darauf zu werfen scheint, was man in Frankreich an Kenntnissen und vor allem an Fähigkeiten zur Reflexion und zur Argumentation von Abiturienten erwartet.

    Hier also die Liste der Themen für den Philosophie- Aufsatz. Philosophie ist in Frankreich Pflichtfach an allen Gymnasien. Die Themen sind verschieden für die Zweige der Oberstufe, zwischen denen man sich in Frankreich entscheiden muß. Aus den drei Themen für jeden Zweig wählt der Kandidat eines aus.


    Literarischer Zweig (Série L):
  • La perception peut-elle s'éduquer?
    Kann die Wahrnehmung sich ausbilden?

  • Une connaissance scientifique du vivant est-elle possible?
    Ist eine wissenschaftliche Erkenntnis des Lebendigen möglich?

  • Expliquer un extrait des "Cahiers pour une morale" de Sartre
    Kommentierung eines Auszugs aus den "Cahiers pour une morale" (Notizhefte zu einer Moral) von Sartre.

  • (Natur-)wissenschaftlicher Zweig (Série S):
  • L'art transforme-t-il notre conscience du réel?
    Verändert die Kunst unser Bewußtsein von der Wirklichkeit?

  • Y a-t-il d'autres moyens que la démonstration pour établir une vérité?
    Gibt es andere Mittel als die experimentelle Demonstration, um eine Wahrheit zu beweisen?

  • Expliquer un extrait de "Le monde comme volonté et comme représentation" de Schopenhauer
    Kommentierung eines Auszugs aus "Die Welt als Wille und Vorstellung" von Schopenhauer

  • Wirtschafts- und sozialwissenschaftlicher Zweig (Série ES)
  • Peut-on désirer sans souffrir?
    Kann man wünschen, ohne zu leiden?

  • Est-il plus facile de connaître autrui que de se connaître soi-même?
    Ist es leichter, einen anderen zu erkennen als sich selbst?

  • Expliquer un extrait de "De la démocratie en Amérique" de Alexis de Tocqueville
    Kommentierung eines Auszugs aus "De la démocratie en Amérique" (Über die Demokratie in Amerika) von Alexis de Tocqueville

  • Technologischer Zweig (Série T)
  • Peut-on aimer une œuvre d'art sans la comprendre?
    Kann man ein Kunstwerk lieben, ohne es zu verstehen?

  • Est-ce à la loi de décider de mon bonheur?
    Ist es Sache des Gesetzes, über mein Glück zu entscheiden?

  • Répondre à des questions d'après un texte de Kant
    Beantwortung von Fragen zu einem Text von Kant.

  • Ich bin nicht auf dem Laufenden, was im Augenblick in den einzelnen deutschen Ländern von Abiturienten im Fach Philosophie bzw. im wohl teilweise vergleichbaren Aufsatz in Deutsch verlangt wird. Es würde mich aber sehr wundern, wenn irgendwo auch nur annähernd das Niveau dieser Themen im französischen Baccalauréat erreicht werden würde.

    Aber vielleicht irre ich mich ja.



    Links zu den früheren Folgen dieser Serie findet man hier. Für Kommentare zu diesem Artikel gibt es einen Thread in "Zettels kleinem Zimmer". Dort findet man auch eventuelle Aktualisierungen und Ergänzungen.

    24. Juni 2008

    Psychologen, Psychiater, Populisten. Wie sollten wir auf Jugendkriminalität reagieren?

    Ende 2007 haben in München zwei jugendliche Kriminelle einen Rentner fast umgebracht. Sie haben ihn zu ermorden versucht: So jedenfalls sieht es die Anklagebehörde in dem Prozeß, durch den jetzt wieder, so wie damals, vor einem halben Jahr, diese Tat die Öffentlichkeit beschäftigt.

    Wenn ein Thema die Öffentlichkeit beschäftigt, dann ist das oft Anlaß für Fachleute, sich zu Wort zu melden. Zum einen, weil man sie dann um ihren Rat bittet. Zum anderen, weil sie selbst zu Recht vermuten, daß jetzt die Zeit günstig ist, um auf ihre Anliegen aufmerksam zu machen.

    Das sind Anliegen unterschiedlicher Art: Man möchte die wissenschaftliche Sicht der Dinge darstellen. Man will vor einer falschen Beurteilung in der Öffentlichkeit, gar vor populistischen Entscheidungen warnen. Und man nutzt die Gelegenheit auch nicht selten, um darauf aufmerksam zu machen, daß die Sache noch lange nicht erforscht sei und daß man dringend mehr Geld brauche, um sie besser erforschen zu können.



    So ist es auch jetzt im Fall des vermutlichen Mordversuchs in München. Heute berichtet in der "Süddeutschen Zeitung" Markus C. Schulte von Drach in einem längeren Artikel über eine "Stellungnahme zur Jugendgewalt", die der Kölner Psychiater Gerd Lehmkuhl zusammen mit drei Kollegen - darunter, wie es scheint, der Sozialpsychologie Friedrich Lösel - formuliert habe.

    In der übrigen deutschen Presse wird über diese Stellungnahme nicht berichtet; es ist also zu vermuten, daß die Wissenschaftler sie, jedenfalls vorerst, nur für die SZ geschrieben haben.

    Am Ende des Artikels läßt Friedrich Lösel, nun, nicht gerade die Katze aus dem Sack, aber uns doch einen Blick in die Motivationslage für solche Stellungnahmen tun:
    Auch wenn Gewalt nicht grundsätzlich ein Ausländerproblem ist: Programme zur Vorbeugung von Jugendgewalt sollten auf Migrantenfamilien zugeschnitten werden, fordert Lösel. Solche Programme gibt es. Und sie wirken. Lösels Team hat in den vergangenen Jahren die Entwicklung von Kindern in mehr als 600 Familien beobachtet, von denen jede zweite von Erziehern, Sozialarbeitern und Psychologen unterstützt wurde. (...)

    Trotz der Erfolge stehen die Programme vor dem Aus. Ihnen fehlt das Geld. Statt Konzepte umzusetzen, beschäftigen sich Politiker offenbar lieber mit "vordergründigen Erklärungen und kurzfristigen Interventionen", monieren die Psychiater in ihrem Manifest.
    Gewiß, mehr Geld für die Forschung kann man immer brauchen. Wenn die Drittmittel- Finanzierung für ein Forschungsprojekt nicht weiterbewilligt wird, dann liegt das im allgemeinen an negativen wissenschaftlichen Gutachten darüber, und nicht an Politikern. Aber andererseits können Politiker den Topf für Forschungsmittel auffüllen und so die Chance aller erhöhen, etwas zu bekommen.

    Aber es wäre falsch, das Motiv für derartige Stellungnahmen allein in der Einwerbung von Forschungsmitteln zu sehen. Wenn es um Jugendkriminalität, wenn es um Kriminalität überhaupt geht, dann nehmen viele Psychiater, Psychologen, auch viele Soziologen die Notwendigkeit wahr, ihrer Sicht gegenüber Denjenigen Geltung zu verschaffen, die andere Sichtweisen vertreten.

    Juristen sehen in solchen Taten Verbrechen, die es zu bestrafen gilt. Sie fragen nach der Schuld der Täter. Sie fragen sich, wie es in Menschen aussehen muß, die dazu fähig sind, einen am Boden liegenden alten Mann fast zu Tode zu treten. Sie fragen nach der Höhe der Strafe, die einer solchen Schuld angemessen ist und die andererseits der Generalprävention dient, also der Abschreckung anderer, die vielleicht auch eine solche Tat begehen könnten.

    Die Sicht der Psychiater und Sozialpsychologen ist eine ganz andere. Sie fragen danach, was denn in der Entwicklung der Täter schief gelaufen ist, so daß es zu der Tat kommen konnte. Sie fragen nach der Schuld der Gesellschaft, nach den politischen und ökonomischen Verhältnissen, die - so nehmen sie an - dazu führen, daß Menschen straffällig werden.

    Sie fragen danach, also versuchen sie es zu erforschen. Sie betreiben Feldforschung in den Familien, sie explorieren und testen die Täter, sie rekonstruieren Biographien. Dann machen sie Vorschläge, was man zur Prävention tun konnte.

    Meist sind es Rezepte, die auf ein stärkeres Eingreifen des Staats hinauslaufen. Diese Wissenschaftler möchten gern die Gesellschaft verbessern; in der Erwartung, daß damit auch die Kriminalität geringer werden würde. Sie denken nicht in Kategorien von Schuld und Verantwortung, sondern von Ursache und Wirkung. Sie verstehen sich als Sozialingenieure.

    Mit dieser Sichtweise, mit diesen Ergebnissen, Einsichten und Empfehlungen treten sie bei Gelegenheit an die Öffentlichkeit; schreiben sie Manifeste wie jetzt, stellen sie sich der Kamera.

    Nicht alle mit demselben hartnäckigen Eifer wie Christian Pfeiffer, dessen spitznasiges Gesicht so regelmäßig auf dem Bildschirm auftaucht wie die Mainzelmännchen. Aber der Einfluß dieser Sozialwissenschaftler auf die Medien, und über sie auf die Öffentlichkeit, ist doch beträchtlich. Sie dominieren den öffentlichen Diskurs.



    Weil das so ist, hat es mich doch ein wenig gewundert, von den Autoren des jetzigen Manifests zu erfahren, daß sie sich sozusagen als unbeachtete Mauerblümchen sehen:
    Statt populistische Forderungen zu stellen, sollten sich Politiker lieber konstruktiven Programmen zuwenden, so die Psychiater. Schließlich gebe es längst "umfassende wissenschaftliche Ergebnisse zur Entstehung, zur Vorbeugung und zum Verlauf aggressiven und dissozialen Verhaltens". Jugendgewalt lasse sich durchaus verhindern. Aber das "erfordert ein Umdenken".
    Ein Umdenken? Das, was diese Autoren offenbar in ihrem Manifest formuliert und/oder dem SZ-Journalisten Schulte von Drach in den Notizblock diktiert haben, ist ungefähr so sehr gängige Meinung wie die Auffassung, daß bei Sonnenschein das Wetter schön ist.

    Ein "Umdenken" ist in dem, was Schulte von Drach berichtet, allenfalls bei den Autoren selbst zu erkennen, und zwar in zwei Punkten, die freilich - von ihnen oder von Drach - ganz, ganz vorsichtig formuliert werden: Daß Kriminalität auch genetische Ursachen haben könnte, und daß Jugendkriminalität gehäuft unter Einwanderern und Kindern von Einwanderern vorkommt.

    Dazu lesen wir in dem Artikel (Hervorhebungen von mir):
    Die Experten gehen heute auch davon aus, dass eine Neigung zur Aggression teilweise vererbt sein kann. Damit sie sich bemerkbar macht, müssen allerdings nachteilige soziale Faktoren hinzukommen.
    Und zur Kriminalität jugendlicher Ausländer und Einwanderer:
    Manche der gewaltauslösenden Faktoren treten in Migrantenfamilien offenbar häufiger auf. Denn Kinder aus diesen Familien gehören tatsächlich etwas häufiger zu den Intensivtätern als der Nachwuchs deutscher Eltern.
    Eine gewiß vorsichtige Formulierung angesichts des Ergebnisses einer kürzlichen Untersuchung, zitiert im Sachstandsbericht 2008 des Wissenschaftlichen Dienstes des Deutschen Bundestags WD 7 - 007/08 über die Gewaltkriminalität von Jugendlichen. Unter anderem wurden in dieser Untersuchung zur Dunkelziffer 19.000 Schüler der 9. Klasse anonym befragt, ob sie im vergangenen Jahr eine Körperverletzung begangen hätten. Das bejahten 19 Prozent der deutschen und 37,5 Prozent der türkischstämmigen Jugendlichen. Die Letzteren also "etwas häufiger".



    Keine Frage, die Kriminologie und die sie tragenden Wissenschaften sind nützliche, ja unverzichtbare Unternehmungen. Sie liefern Einsichten in die Ursachen und Bedingungen des Verbrechens; sie geben damit vielleicht Ansatzpunkte für das, was man zu dessen Bekämpfung tun kann.

    Nur kann sich diese sozialwissenschaftliche Betrachtung ja gewiß nicht über mangelende Resonanz beklagen; sie ist im Gegenteil dominant.

    Hingegen tritt eine andere, ebenso berechtigte Sichtweise immer mehr in den Hintergrund: Daß es die freie Entscheidung des Einzelnen ist, ein Verbrechen zu begehen. Daß er dafür verantwortlich ist; daß er dafür eine Strafe verdient hat. Daß es böse ist, ein Verbrechen zu behen, und nicht einfach der Schlußpunkt einer Kausalkette.

    Auf dem allgemeinen Bewußtsein, daß das so ist, beruht jede funktionierende Rechtsordnung. Die sozialwissenschaftliche Betrachtungsweise, wie sie in dem Artikel von Schulte von Drach propagiert wird, klammert diese Aspekte des Moralischen, der freien Selbstverantwortung des Täters, der Schuld und Strafe aus; sie hat in empirischen Wissenschaften ja auch nichts verloren.

    Nur wird in dem Maß, in dem diese letztere Betrachtungsweise zur allein selbstverständlichen wird, das Bewußtsein für Recht und Unrecht sich reduzieren. Wer als Täter auf alle die ungünstigen Faktoren hinweisen kann, die zu seiner Tat geführt hätten, der braucht keine Schuld anzuerkennen.

    Er, das Opfer der Gesellschaft, hatte - so kann er es leicht sehen, im doppelten Sinn "leicht" - nur das Pech, sich erwischen zu lassen. Vor Gericht wird er den Reuigen spielen. Nicht, weil er in Kategorien von Schuld und Verantwortung denken gelernt hätte, sondern weil er verstanden hat, daß das zur Rolle eines Opfers der Gesellschaft dazugehört.

    Die beiden Täter vor München bitten jetzt, vor Gericht, ihr Opfer um Verzeihung. Vor Tisch las man's anders: "Zum Motiv sagte einer der Schläger: 'Wir waren besoffen, da sind doch alle aggressiv'. Von Reue keine Spur." So stand es drei Tage nach der Tat, am 23. Dezember 2007, in "Spiegel Online".



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    Kurioses, kurz kommentiert: Swetlanas vergrößerter Busen und unser Weg in die klassenlose Gesellschaft

    Ein ungewöhnlicher Banküberfall - Für mehr als eine Handvoll Oberweite

    Swetlana wollte einen größeren Busen, hatte dafür aber nicht das nötige Geld. Deswegen überfiel ihr Freund eine Bank. Jetzt sitzt er im Gefängnis, und Swetlana tröstet sich mit einem anderen.


    Raten Sie, wo man heute diese Meldung findet.

    In der großen Zeitung mit den vier Buchstaben, oder in einer ihrer kleineren Schwestern? Falsch. Diese Meldung finden Sie im Augenblick auf der Homepage der Zeitung mit den drei Buchstaben. Und ein Klick führt Sie zu dem zugehörigen Artikel.

    Kommentar: Wir leben in der egalitärsten Gesellschaft, die es jemals in Deutschland gegeben hat. Die Lebensumstände der Reichen, der Armen und der Schichten dazwischen gleichen sich immer mehr an. Wir sind auf dem Weg in die klassenlose Gesellschaft.

    Dazu gehört auch, daß die Schichten hinsichtlich ihres Medienkonsums einander immer ähnlicher werden. Alle sehen dieselben TV-Programme, wenn sie auch aus diesen vielleicht manchmal eine unterschiedliche Auswahl treffen. Und alle lesen zwar nicht dieselben Zeitungen, aber alle Zeitungen können von allen gelesen werden.

    Wenn man heute im ICE durch einen Erste- Klasse- Wagen geht, dann findet man unter den liegengelassenen Zeitungen die "Bild- Zeitung" ebenso wie die "Frankfurter Allgemeine" oder den "Kicker".

    Auch die Journalisten sind heute längst nicht mehr so an eine bestimmte Art von Blatt gebunden, wie noch vor einigen Jahrzehnten. Ihre Mobilität ist ebenso groß geworden wie das Kaufverhalten der Konsumenten diffus.

    Und so findet man denn das, was früher, als es noch ein Groschenblatt war, nur "Bild" zu einer Meldung verarbeitet hätte, heute in der Zeitung, hinter der einst immer ein kluger Kopf steckte.



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    Zitat des Tages: Ein Vietnamese über McCain. Nicht irgendeiner

    If I was an American, I'd vote for him. I think he'd be a very capable President. He has done so much to improve relations between our countries.

    (Wenn ich Amerikaner wäre, würde ich ihn wählen. Ich glaube, daß er ein sehr guter Präsident wäre. Er hat sehr viel dafür getan, die Beziehungen zwischen unseren Ländern zu verbessern.)

    Der frühere Direktor des Hoa-Lo-Gefängnisses in Hanoi, Tran Trong Duyet, in der BBC über den Kandidaten John McCain. Tran war der Chef dieses Gefängnisses, genannt "Hanoi Hilton", als McCain dort inhaftiert war.

    Einen Bericht der New York Times über einen privaten Besuch McCains und seiner Familie in Vietnam vor acht Jahren, auf dem er auch dieses Gefängnis besuchte, findet man hier.

    Kommentar: Die heutige Annäherung Vietnams an die USA ist aus meiner Sicht eine der bemerkenswertesten politischen Entwicklungen der Gegenwart. Vietnam ist noch immer ein kommunistischer Polizeistaat. Es scheint aber, daß es sich nach chinesischem Vorbild auf den Weg zum Aufbau des Kapitalismus gemacht hat.

    Der frühere Feind USA wird dabei offenbar bemerkenswert positiv gesehen; vielleicht auch deshalb, weil die Führung Vietnams hofft, durch die Knüpfung von guten Beziehungen zu den USA dem übermächtigem Gewicht Chinas entgegenzuwirken.

    Wenn die Entwicklung positiv verläuft, kann Vietnam in einigen Jahrzehnten wieder dort sein, wo Südvietnam war, als die Kommunisten dort im Dezember 1956 mit ihrem Aufstand begannen.



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    23. Juni 2008

    Marginalie: Sollten die Sanktionen gegen Cuba aufgehoben werden?

    In der Bundesregierung wird, laut aktuellem gedrucktem "Spiegel" (die Meldung ist im Augenblick auch noch hier als Vorabmeldung zu lesen), über eine Aufhebung der Sanktionen gegen Cuba gestritten.

    Dafür macht sich laut "Spiegel" der SPD-Außenminister stark, gegen den Willen der CDU-Kanzlerin. Die Kanzlerin ist bei Bush im Wort, dem sie zugesagt hat, für ein Fortbestehen der Sanktionen einzutreten. Steinmeier ist auf der Linie der EU-Außenminister, die am Donnerstag in Brüssel einen "umfassenden Dialog" mit Cuba beschlossen.



    Die Sanktionen gegen Cuba waren und sind meines Erachtens falsch. Sie haben dem kommunistischen Regime stets zur Rechtfertigung seiner Mißerfolge gedient. Hätte Cuba frei importieren und exportieren können, dann hätte jeder sehen können, daß die erbärmlichen Zustände in diesem Land nicht den Sanktionen geschuldet sind, sondern dem Sozialismus.

    Insofern wäre ein Aufhebung der Sanktionen grundsätzlich wünschenswert.

    Wäre, und grundsätzlich. Denn es ist eine andere Frage, ob man die Sanktionen gerade jetzt aufheben sollte. Jetzt, wo Raúl Castro so etwas wie eine Liberalisierung zu versuchen scheint.

    Ob das mehr ist als Kosmetik, ob etwa gar ökonomische Freiheit wie in China angestrebt wird, bleibt abzuwarten. So etwas könnte überhaupt nur dann ins Auge gefaßt werden, wenn Chávez es zuließe, von dessen Subventionen (Öllieferungen von 100.000 Barrel pro Tag) die cubanische Wirtschaft abhängig ist.

    Bisher hat überall, außer in China, der Versuch, den Sozialismus zu liberalisieren, nur zu dessen Ende geführt. Sehr wahrscheinlich wäre das auch in Cuba das Ergebnis; schon deswegen, weil die meisten Cubaner über ihre in die USA geflohnenen Verwandten oder Bekannten darüber informiert sind, wie es sich in einer freien Gesellschaft lebt.

    Die Frage ist dann, ob die Aufhebung der Sanktionen eine solche Entwicklung hin zum Sturz des Sozialismus eher beschleunigen oder eher behindern würde.

    Mir scheint, daß das sehr schwer zu prognostizieren ist. Man weiß es ja nicht einmal für die Vergangenheit.

    Haben z.B. die Kredite, die die DDR von der Bundesrepublik erhielt, die Herrschaft der Kommunisten gestärkt oder geschwächt? Wie hat es sich ausgewirkt, daß 1977 10.000 VW Golf in die DDR geliefert wurden? Vielleicht haben solche Lieferungen "Konsumbedürfnisse befriedigt" und dadurch die Hoffnung, innerhalb des Sozialismus könne doch so etwas wie Wohlstand entstehen, geweckt. Vielleicht hat aber auch die Verteilung solcher Lieferungen an Privilegierte nur deutlich gemacht, wie groß die sozialen Gegensätze im Sozialismus waren.



    Also, die Wirkungen erscheinen mir ungewiß. Vielleicht sollten deshalb andere Gesichtspunkte im Vordergrund stehen. Unser Alliierter USA will die Sanktionen nicht aufheben, jedenfalls vorerst nicht. Das ist ein starkes Argument dafür, daß Europa das dann nicht im Alleingang tut.

    Wie die gesamte Außenpolitik wird auch die Cuba-Politik ab dem kommenden Januar wahrscheinlich neu definiert werden; ob nun von McCain oder von Obama. Dann wird man sehen, ob und wie sich weiter eine gemeinsame europäisch- amerikanische Linie in der Cuba-Politik finden läßt, oder ob die bisherige transatlantische Zusammenarbeit in diesem Bereich wirklich nicht mehr möglich ist.

    Jetzt vorzupreschen und damit sogar gegen Zusagen zu verstoßen, die Präsident Bush offenbar zumindest von der Kanzlerin erhalten hat, wäre unklug und überhaupt nicht im europäischen oder im deutschen Interesse.



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    Zitat des Tages: Mehr Wandel

    In den kommenden 25 Jahren werden die Industrienationen wie USA und Deutschland mehr Wandel sehen, als es im gesamten vergangenen Jahrhundert der Fall war - politisch, wirtschaftlich und auch ökologisch. Meine Modelle zeigen Spannungen wie in einer Erdbebenzone: Man weiß nicht genau, wann etwas passiert. Aber es ist ganz klar, dass es ein Beben mit schlimmen Folgen geben wird.

    Die Hellseherin Buchela Der Zukunftsforscher Dennis Meadows ("Die Grenzen des Wachstums", 1972) im Interview mit der "Welt".



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    Zettels Meckerecke: Guido Westerwelle in seltsamer Gesellschaft

    Ist Ihnen das auch aufgefallen? Neuerdings liest und hört man von Stellungnahmen "der Opposition" zu einem politischen Thema. Ganz so, als ob Liberale, Ökos und Kommunisten eine gemeinsame Bewegung namens "Die Opposition" bildeten.

    "Opposition verlangt Abzug aller US- Atomwaffen aus Deutschland" titelt im Augenblick "Spiegel Online", und leider ist das diesmal eine zutreffende Überschrift.

    Einzelheiten kann man in der "Berliner Zeitung" lesen, auf die die Meldung zum Teil zurückgeht; auch dort findet man sie unter der Überschrift "Opposition will Abzug aller US-Atomwaffen":
    "Die Atomwaffen in Deutschland sind ein Überbleibsel aus dem Kalten Krieg und müssen weg", sagte FDP-Partei- und Fraktionschef Guido Westerwelle der "Berliner Zeitung". (...)

    Grünen-Fraktionsvize Jürgen Trittin forderte ebenfalls den Abzug aller Atomwaffen. (...)

    Linken-Fraktionschef Gregor Gysi sagte der Zeitung: "Wenn die Bundesregierung ein Kreuz hätte, würde sie unverzüglich von den USA den Abzug der Atomwaffen - möglichst unter deren Verschrottung - verlangen."

    Der SPD-Außenpolitiker Niels Annen sagte, der Abzug wäre ein riesiger Schritt, um bei der nuklearen Abrüstung voranzukommen.
    Trittin, Gysi, Annen - eine schöne Gesellschaft, in der sich Guido Westerwelle da befindet.



    Nun könnte man argumentieren - und hätte Recht damit -, daß man auch dann etwas als richtig Erkanntes sagen muß, wenn man dazu Beifall von der falschen Seite bekommt.

    Guido Westerwelle kann nicht, die FDP als Partei kann ja nicht deshalb ein Thema ausklammern oder ihre Position verschweigen, weil das Thema auch von Grünen, Kommunisten und den Linken der SPD aufgenommen wird, weil diese dieselbe Position äußern. Wenn eine Stellungnahme vernünftig und begründet ist, dann muß man sie abgeben, auch wenn das zu einer unheiligen Allianz führt.

    Aber ist sie denn vernünftig und begründet, die Forderung, US-Atomwaffen aus Deutschland abzuziehen?

    Zunächst einmal ist sie populistisch, denn sie bedient gleich drei gefühlte Ablehnungen: Diejenige, die sich gegen alles richtet, das etwas mit "Atom" zu tun hat; diejenige gegen Waffen überhaupt; und den heutzutage in Deutschland ausgeprägten Antiamerikanismus.

    Populistischer geht's kaum noch, und deshalb kann man sich nur wundern, daß Oskar Lafontaine sich noch nicht Gysi, Westerwelle, Trittin und Annen angeschlossen hat.

    Nun gut, auch populistische Forderungen können ja richtig sein. Ist es also richtig, von den USA den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland zu verlangen?



    Noch beim Nato-Doppelbeschluß vom Dezember 1979 hat die damalige Regierung Helmut Schmidts ein Interesse Deutschlands daran geltend gemacht, daß die amerikanischen Atomwaffen in Deutschland verbleiben oder unter bestimmten Umständen sogar neue aufgestellt ("disloziert") werden. Schon Adenauer hat sich darum bemüht und z.B. gegen die Idee Front gemacht, die Abschreckungswaffen stattdessen auf schwimmende Abschußbasen zu verlagern.

    Der Grund für dieses deutsche Interesse an US-Atomwaffen liegt auf der Hand: Deutschland wurde von der UdSSR atomar bedroht und konnte dem, anders als Frankreich und England, keine eigene atomare Drohung als Abschreckung entgegensetzen.

    Es war zur Abschreckung darauf angewiesen, daß im Zweifelsfall die USA Vergeltung üben würden. Und das war nur dann gewährleistet, wenn ein Angriff auf Deutschland auch ein Angriff auf US-Nuklearbasen gewesen wäre.



    Ich kann nicht sehen, daß diese Logik grundsätzlich außer Kraft getreten wäre. Gewiß, die Atomrüstung Rußlands (die munter voranschreitet) stellt im Augenblick keine konkrete militärische Bedrohung dar; aber zur politischen Erpressung gegenüber Westeuropa hat sie Putin erst vor gut einem Jahr eingesetzt. Und wann wir einer atomaren Bedrohung durch China, den Iran und andere künftige Atommächte ausgesetzt sein werden, weiß niemand.

    Es gibt vier mögliche Reaktionen auf diese Situation:

    Erstens kann Deutschland nach eigenen Atomwaffen streben - eine Option, über die seltsamerweise so gut wie nicht diskutiert wird.

    Zweitens können wir anstreben, eine europäische Atomstreitmacht zu errichten, in die die Force de Frappe und die britischen Atomwaffen eingebracht werden würden; Deutschland würde innerhalb von ihr Nuklearwaffen bauen und in Besitz haben dürfen.

    Drittens könnten wir uns - die Franzosen haben das immer einmal wieder angeboten - unter den Schutz der Force de Frappe stellen.

    Oder, viertens, wir können wünschen und darauf hinwirken, daß der Status Quo erhalten bleibt, daß also auch weiter US-Atomwaffen in Deutschland stationiert sind.



    Über die Vor- und Nachteile dieser Alternativen kann (und sollte) man diskutieren. Nur - das, was Westerwelle jetzt unisono mit Politikern von ganz Linksaußen fordert, nämlich einfach den Abzug der US-Atomwaffen ohne einen Ersatz, das ist der pure Populismus.

    Zumal, wenn auch noch - jedenfalls legen die zitierten Berichte und andere, zB derjenige der "Süddeutschen Zeitung", das nahe - zur Begründung dieser Forderung "Sicherheitsmängel" herhalten müssen, und wenn dazu als Beleg die WebSite einer politischen Organisation in den USA zitiert wird.

    Diese "Federation of American Scientists", keine wissenschaftliche, sondern eine politische Gruppierung, hatte auf eine Studie der US-Luftwaffe aufmerksam gemacht, wonach - schreibt die "Süddeutsche Zeitung" - "unter anderem Probleme mit dem Sicherheitssystem, der Umzäunung und bei der Stabilität der Gebäude moniert" würden.

    Ja, dann sollte man doch wohl von den Amerikanern verlangen, diese Mängel zu beheben.

    Aus ihnen - wenn es sie denn geben sollte - abzuleiten, daß gleich diese Waffen abgezogen werden sollten, ist mehr als Populismus. Es ist eine Dummheit.



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    22. Juni 2008

    Arroganz der Macht: Wie man in Europas politischer Führung über die Öffentliche Meinung denkt

    Eine erneute irische Abstimmung über Europa müsse man "so vorbereiten, daß sie zu gewinnen ist". Das sagte, so berichtet Boche in B.L.O.G., der luxemburgische Minister des Äußerern Asselborn.

    Das könnte eine echte Herausforderung werden. Denn die Iren sind ein trotziges Völkchen. Sie könnten, je mehr man sie bedrängt, umso mehr in Reaktanz gehen. Schon vor der jetzt gescheiterten Abstimmung hatten 17 Prozent derer, die mit "nein" stimmten, als Grund genannt: "Ich mag nicht, daß man mir sagt, was ich tun soll".



    Aber wenn doch ganz Europa für den Vertrag von Lissabon ist - wie können sich da die Iren auf Dauer wehren?

    Ja, wenn. Nur kann keine Rede davon sein, daß ganz Europa für den Vertrag von Lissabon ist.

    In Frankreich veröffentlicht am heutigen Sonntag die Zeitung Sud Ouest eine Umfrage des Instituts Ifop, über die der Nouvel Observateur vorab berichtet. Danach würden 53 Prozent der Franzosen, die sich an einer solchen Abstimmung beteiligen würden, mit "nein" stimmen. 33 Prozent der Befragten sagten, sie würden sich gar nicht beteiligen.

    Die Neinstimmen sind bei den Arbeitern (73 Prozent "nein") und einfachen Angestellten (63 Prozent "nein") am zahlreichsten. Hingegen würden von den höheren Angestellten und Angehörigen Freier Berufe 57 Prozent mit "ja" stimmen.

    Bei den Sympathisanten der Linken überwiegen deutlich (mit 64 Prozent) die Neinstimmen, bei den Anhängern der Rechten weniger eindeutig (54 Prozent) die Jastimmen. Dieser Rechts- Links- Differenzierung überlagert sich ein unterschiedliches Verhalten von Anhängern gemäßigter und extremer Parteien: Von den gemäßigt Linken (Anhängern der PS) würden nur 59 Prozent mit "nein" stimmen, von den gemäßigt Rechten (Sympathisanten der UMP) sogar 71 Prozent mit "ja".



    In Frankreich sind also die Gegner des Vertrags von Lissabon vor allem in den unteren und mittleren Schichten zu finden, vor allem bei der Linken und ganz besonders bei den extremen Parteien, auf der Rechten wie auf der Linken. In Irland dürfte die Verteilung ähnlich gewesen sein. Aber zur Mehrheit konnten die Gegner des Vertrags von Lissabon hier wie dort nur dadurch werden, daß sie sich quer über das gesamte politische Spektrum finden.

    Wie gehen die politischen Führern Europas mit solch einer Mehrheit um? Dazu hat der American Thinker, eine immer sehr lesenswerte Web- Publikation, eine Sammlung von Äußerungen zusammengestellt; eine erschreckende, eine entlarvende Sammlung von knapp dreißig Stellungnahmen führender Politiker Europas. Ich empfehle sie dringend zur Lektüre.

    Selten hat man die Arroganz vieler Führer Europas, linker wie rechter, gegenüber ihren Wählern so unverhüllt lesen können.

    Valéry Giscard d'Estaing zum Beispiel, dessen Kommission wir bekanntlich die gescheiterte Europäische Verfassung zu verdanken haben, erklärte unverhohlen, der Vertrag von Lissabon enthalte im wesentlichen dieselben Bestimmungen, nur habe man sie aufgespalten und in verschiedenen Verträgen, oft Ergänzungen zu bestehenden Verträgen, untergebracht:

    "The public opinion would therefore unknowingly adopt the dispositions that it would not accept if presented directly." Die Öffentliche Meinung werde so, ohne es zu wissen, diese Bestimmungen akzeptieren, die sie ablehnen würde, wenn sie direkt darüber zu entscheiden hätte.

    Der Luxemburgische Ministerpräsident Jean-Claude Juncker sagte: "Of course there will be transfers of sovereignty. But would I be intelligent to draw the attention of public opinion to this fact?" Natürlich werde es eine Übertragung von Souveränitätsrechten geben. "Aber wäre ich denn intelligent, wenn ich die Aufmerksamkeit der Öffentlichen Meinung auf diese Tatsache lenken würde?"

    Der belgische Außenminister Karel de Gucht: "The aim of the Constitutional Treaty was to be more readable; the aim of this [Lisbon] treaty is to be unreadable... The Constitution aimed to be clear, whereas this treaty had to be unclear. It is a success." - "Das Ziel des Verfassungs- Vertrags war es gewesen, lesbar zu sein; das Ziel dieses Vertrags [von Lissabonn] ist es, unlesbar zu sein... Die Verfassung strebte nach Klarheit, während dieser Vertrag unklar sein mußte. Er ist ein Erfolg."

    Den Vogel aber schoß Giorgio Napolitano ab: "Those who are anti-EU are terrorists. It is psychological terrorism to suggest the specter of a European superstate." Die Gegner der EU seien Terrorirsten. "Es ist psychologischer Terrorismus, das Gespenst eines europäischen Superstaats herauf zu beschwören".

    Zu Superstaaten dürfte Giorgio Napolitano eine besondere Beziehung haben. Bevor er vor zwei Jahren von der damals in Italien regierenden Volksfront aus diversen kommunistischen Parteien, Sozialisten und Linksbürgerlichen zum Präsidenten gewählt wurde, hatte er die folgende politische Karriere hinter sich:

    1945 Eintritt in die Kommunistische Partei Italiens. 1953 erstmals für die Kommunisten ins Parlament gewählt. Ab 1956 Mitglied des Zentralkomitees der PCI. 1956 gehörte er zu denjenigen innerhalb der PCI, die beim Ungarn- Aufstand das Vorgehen der Sowjettruppen verteidigten.

    Von 1966 bis 1969 war Napolitano Koordinator des Sekretariats und des Politbüros der PCI, später der Verantwortliche für Kultur, dann für Wirtschaft und schließlich für Außenpolitik der Kommunistischen Partei Italiens. Der PCI gehörte Napolitano bis zu ihrer Auflösung 1991 an; seither ist er Mitglied der jeweiligen Nachfolgepartei, wie sie gerade heißt.



    Nein, es sind nicht nur Kommunisten, die sich nicht um die Öffentliche Meinung in Europa scheren.

    Nur haben Kommunisten halt darin, sich zynisch über die Meinung ihrer Untertanen hinwegzusetzen, etwas mehr Erfahrung als die Führer des demokratischen Westeuropa. Insofern paßt es schon, wenn Napolitano am lautesten das gesagt hat, was andere etwas leiser äußern.



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    21. Juni 2008

    Zitat des Tages: Ein sehr guter Verräter

    When I'm a traitor, I want to be a very good traitor.

    (Wenn ich ein Verräter bin, dann will ich ein sehr guter Verräter sein.)

    Der Holländer Guus Hiddink, Trainer der russischen Fußball- Nationalmannschaft, zu seiner Entscheidung, vor dem heutigen Spiel gegen die Niederlande die russische Nationalhymne mitzusingen.

    Kommentar: Ob Hiddink weiß, daß die Melodie dieser Hymne diejenige der unter Stalin eingeführten Sowjethymne ist, und daß der neue Text sogar von einem Autor stammt, der auch an der Sowjethymne mitgeschrieben hatte?

    Naja, vielleicht weiß er es und pflegt nur in diesem Punkt dieselbe Angriffstaktik, die er offensichtlich auch seinen Mannen auf dem Fußballfeld beigebracht hat.



    Das Singen der Nationalhymnen ist ja überhaupt ein interessantes Thema. Die Mannschaften unterscheiden sich sehr in der Inbrunst, mit der sie die Nationalhymne singen.

    Die Türken zum Beispiel singen aus voller Kehl' und frischer Brust. In anderen Mannschaften sieht man bei einigen Spielern nur ungefähr so lebhafte Lippenbewegungen, wie sie auch ein Bauchredner nicht unterdrücken kann.

    Bei unserer Mannschaft war das anfangs das Mehrheitsverhalten. Inzwischen scheinen mir einige etwas mehr aus sich herauszugehen. Ballack ist auch hier ein Vorbild.

    Selbst Mario Gómez hat vor dem Spiel gegen Österreich so etwas wie einen Ansatz zum Singen gezeigt; er hatte ja zuvor, so heißt es, nur aus Aberglauben geschwiegen - bis zur ersten Niederlage.

    Poldi schweigt eisern. Ich glaube, während die Nationalhymne erklingt, denkt er mit Wehmut im Herzen: Noch ist Polen nicht verloren; nicht verloren für seinen Sohn Lukas Podolski. Ich finde das sympathisch; viel sympathischer, als würde er aus Konformismus mitmurmeln.



    Und Hiddink? Ehrlich gesagt, ich finde seine Ankündigung ziemlich unsympathisch.

    Denn für so einen Mitsinger hat ja die Nationalhymne nicht die Bedeutung, die sie für Angehörige der betreffenden Nation hat, hier also die Russen. Indem er sie mitsingt, zeigt er, daß er im Grunde nichts davon hält.

    Er verwendet das für einen Gag, was anderen etwas bedeutet. Vielleicht witzig, aber aus meiner Sicht doch eher a bisserl zynisch.

    Oder hat er mit seiner Ankündgigung vielleicht nur, stone faced, einen Scherz gemacht? Um ungefähr 20:43 Uhr wissen wir mehr.



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    Ist das Elfmeterschießen ein Lotteriespiel? Im Gegenteil. Warum nehmen wir es dann aber als eines wahr?

    Als gestern das Spiel Türkei gegen Kroation keineswegs ein "dramatisches Spiel" war, sondern bis kurz vor dem Ende der Verlängerung grottenschlecht und stinklangweilig, da versuchte der Sprecher der ARD, uns mit der Aussicht auf ein spannendes Elfmeterschießen bei Laune zu halten. Einen Hinweis darauf flocht er immer wieder einmal in seinen Kommentar ein.

    Warum ist ein Elfmeterschießen so spannend? Zum einen natürlich, weil das, was sonst im Fußball ein gelegentlicher Höhepunkt ist - der Schuß aufs Tor - hier Schlag auf Schlag geboten wird; eine Art Dauer- Orgasmus.

    Zum anderen, weil das Elfmeterschießen, wie man so sagt, Glückssache ist. "Das Elfmeterschießen ist dann immer eine Lotterie" sagte gestern nach dem Spiel der unglückliche Trainer der Kroaten, Slaven Bilić.

    Aber stimmt das eigentlich? Ist das Elfmeterschießen stärker vom Zufall abhängig als andere Situationen während eines Fußballspiels? Als andere Szenen, in denen aufs Tor geschossen wird?

    Keineswegs. Das Gegenteil ist der Fall.

    Bei Torschüssen während des Spiels ist das Zufallselement weit stärker. Der Flug des Balls wird von vielen Faktoren bestimmt - davon, wo welche Spieler gerade stehen, was jeder von ihnen sieht und wie er sich entscheidet; ob derjenige, der schließlich aufs Tor schießt, richtig zum Ball steht; und so fort.

    Wenn irgend etwas davon ungünstig ist, dann geht es dem Spieler so wie dem unglücklichen, dem glücklosen Mario Gómez im Spiel gegen Österreich, der, frei vor dem Tor stehend, den ihm zugeflogenen Ball nicht versenken konnte, so als spiele er noch in der C-Jugend. Der Fußball ist nun einmal eine Fehlersportart.

    Beim Elfmeterschießen dagegen ist das Zufallselement weitaus geringer. Die Lage des Balls ist vorgegeben, und es handelt sich um eine Ruhelage. Die Position des einzigen Spielers, der schießen darf, ist vorgegeben. Sowohl dieser als auch der Torwart kann seine volle Aufmerksamkeit auf den Torschuß richten.

    Im Vergleich zu dem chaotischen System, das die Situation bei einem Torschuß in der Regel darstellt, ist der Elfmeter einer gut kontrollierten Versuchsanordnung im Labor vergleichbar.



    Woher rührt dann unser gegenteiliger Eindruck? Warum nehmen wir dort Zufall wahr, wo in Wahrheit ein vergleichsweise hohes Maß an Kontrolle herrscht? Und warum unterschätzen wir offenbar den Zufall gerade dort, wo wir es in Wahrheit mit einem hochgradig zufallsabhängigen Geschehen zu tun haben?

    Ich vermute, es liegt daran, wie sichtbar der Zufall ist.

    Just weil beim Elfmeter die Situation so kontrolliert ist, so gut zu überblicken, richtet sich unsere Aufmerksamkeit darauf, daß immer noch Zufall im Spiel ist. Viel Anderes gibt es ja nicht, das Aufmerksamkeit auf sich ziehen könnte.

    Im laufenden Spiel aber findet so viel an Geschehen statt, welches wir beachten müssen, daß der Zufall uns sozusagen aus dem Blick gerät. Er wird durch dieses vielfältige Geschehen überlagert, in den Hintergrund gedrängt.

    "Unaufmerksamkeits-Blindheit" ("inattentional blindness") nennen die Psychologen dieses Phänomen: Vieles von dem, was sich vor unseren Augen abspielt, entgeht uns, weil unsere Aufmerksamkeit von anderen Aspekten des Geschehens angezogen und mit Beschlag belegt wird.

    Also - daß sie im Elfmeterschießen gescheitert sind und nicht schon zuvor, das ist, fürchte ich, kein Trost für Slaven Bilić und seine Mannen. Sie haben sich das so viel und so wenig zuzuschreiben, wie daß ihnen zuvor ein Tor gelungen war und daß sie dann noch, als das Spiel schon gelaufen schien, eines kassieren mußten.



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    Kurioses, kurz kommentiert: Der Löw im Glaskäfig. Oder: Wie kann man noch Witze über Politische Correctheit machen?

    Als wir eben noch einmal die Bilder von dem in seinem Glaskasten umhertigernden Löw gesehen haben - "sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe" fiel mir dazu ein -, habe ich zu meiner Frau geflachst: "Jetzt meldet sich bestimmt gleich ein Politisch Correcter, der sich darüber empört, daß Jogi eine Zigarette geraucht hat".

    Das war gestern gegen Mitternacht, und da war es schon kein Witz mehr, sondern Wirklichkeit. Denn mit der Datierung 20. Juni 2008, 22:40 Uhr hatte "Spiegel Online" unter der Überschrift "ZIGARETTE IM STADION - SPD-Politiker protestiert gegen Löw" gemeldet:
    Angesichts der Bilder vom rauchenden Bundestrainer hat der Bundestagsabgeordnete Lothar Binding den Coach an seine Vorbildfunktion erinnert. "Mit der Macht, die Herr Löw durch seine Vorbildfunktion hat, sollte er sich auch seiner Verantwortung bewusst werden - nicht zuletzt für die Gesundheit von Jugendlichen", erklärte Binding am Freitag in Berlin auf Anfrage. (...) "Vernünftigerweise schließen sich Sport und Rauchen aus, aber ein Raucher als Vorbild vieler junger Menschen ist ein Widerspruch in sich", sagte Binding. So stelle sich nun die die Frage, "ob Jogi Löw Trainer, Sportler oder Raucher ist".
    Ich dachte, er hätte gesagt: "... ob Jogi Löw sofort zurücktreten muß oder erst nach der EM".



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    20. Juni 2008

    Präsident Bush, die Nazizeit und die Deutschen: Eine These

    Keinem der Präsidenten seit Eisenhower ist George W. Bush so ähnlich wie John F. Kennedy.

    Beide aus wohlhabenden, politisch engagierten Familien stammend. Beide zu ihren Zeiten auf dem College nicht gerade glänzend, sich aber als Präsident mit Intellektuellen umgebend. Der eine wie der andere überzeugt davon, daß sich die USA nach innen auf ihre traditionellen Werte besinnen und in der Welt die Demokratie verbreiten sollten.

    Beide mutig bis zur Waghalsigkeit. Kennedy hat in seiner kurzen Amtszeit zweimal - als es um die Freiheit Berlins ging und um die Raketen auf Cuba - Standfestigkeit gezeigt und damit die Welt an den Rand einer militärischen Katastrophe gebracht. Bush hat den Krieg gegen Saddam Hussein riskiert und das Engagement der USA im Irak durchgehalten, als die Niederlage schon greifbar nah schien.



    In den Augen der meisten Deutschen aber gibt es bei den US-Präsidenten keinen größeren Gegensatz als den zwischen Kennedy und Bush.

    Die meisten Präsidenten seit Eisenhower hat man mit einer gewissen wohlwollenden Gelassenheit gesehen: Eisenhower selbst, der als eine Art Mischung aus Adenauer und Heuß wahrgenommen wurde; den breitbeinigen Texaner Johnson, den blassen Nixon, den ewig lächelnden Idealisten Carter, den Altcowboy Reagan, den sachlichen Gentleman George Bush; schließlich Bill Clinton, dessen Privatleben freilich mehr Interesse weckte als seine Innen-, Wirtschafts- und Außenpolitik zusammen.

    Aber es gibt zwei Ausnahmen; zwei Präsidenten, an die man in Deutschland starke Affekte geheftet hat: John F. Kennedy und George W. Bush.

    Kennedy wurde verehrt. Natürlich vor allem, weil er sich mit dem Satz "Ich bin ein Berliner" mit uns identifiziert hatte. Daß das solch einen ungeheuren Eindruck machte, lag an der Person dessen, der sich als einer der Unseren bekannte: Man liebte seine Jugendlichkeit, seinen Stil, der irgendwie europäisch erschien. Er verkörperte die Figur des jungen Helden Siegfried.

    So, wie Präsident Bush die des finsteren Hagen. Ihm traut man fast alles Böse zu; so sehr, daß sogar die abenteuerlichsten Geschichten über ihn bereitwillig geglaubt werden, auch wenn sie auf mehr als wackligen Füßen stehen.



    Mir ist das aufgefallen, als in "Zettels kleinem Zimmer", wie der Zufall es wollte, parallel zwei Diskussions- Stränge liefen: Einer über die Vorgeschichte des Irak- Kriegs, der andere über den deutschen Nationalfeiertag.

    Auf den ersten Blick zwei Themen, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt. Sie treffen sich aber - jedenfalls ist das die These, die ich jetzt nennen und begründen möchte - bei der Frage, wie wir Deutsche unsere nationale Identität definieren und welche Funktion dabei den USA zukommen kann.

    In dem Thread über den Nationalfeiertag ist zur Sprache gekommen, wie sehr unser Nationalbewußtsein noch immer unter der Hitler- Diktatur und ihren Folgen leidet. Wir haben, so scheint mir, keinen normalen Nationalfeiertag, weil wir kein normales Nationalbewußtsein haben. Und wir haben kein normales Nationalbewußtsein, weil wir noch immer niedergedrückt sind von der Last dessen, was die Nazis angerichtet haben.

    Was hat das mit amerikanischen Präsidenten zu tun? Meine These ist, daß sowohl die übersteigerte Verehrung Kennedys als auch die nachgerade absurde Ablehnung von George W. Bush im Zusammenhang mit diesem gedrückten Selbstbewußtsein stehen. Allerdings auf sehr verschiedene Art.

    Was kann man tun, wenn es an Selbstwertgefühl mangelt? Man kann sich entweder daran festhalten, von einem anerkannt werden, der Macht und Ansehen hat. Oder man kann sich selbst daran aufrichten, daß man sich einem anderen überlegen fühlt.

    Das eine ermöglichte Kennedy; das andere bot Bush mit seinem Irak- Krieg an.



    Daß Kennedy mit seinem "Ich bin ein Berliner" sich stracks einen ewigen Platz im Herzen von uns Deutschen sicherte, lag - nach meiner These - weniger daran, daß er damit garantierte, Berlin vor dem Zugriff der Sowjets zu bewahren. Das war natürlich wichtig, vordergründig betrachtet. Aber mit diesem Satz identifizierte sich Kennedy darüber hinaus mit uns. Das war Labsal für unser niedergedrücktes Nationalbewußtsein.

    Wenn so jemand wie der strahlende junge Held Kennedy sich zu uns bekennt, ja sich mit uns identifiziert - dann können wir so schlecht doch gar nicht sein. Kennedy richtete uns auf, indem er erklärte, einer von uns zu sein.

    Auch Bush richtete uns auf, aber auf eine ganz andere Weise. Als Gerhard Schröder vor den Bundestags- Wahlen 2002 in einer für die SPD fast hoffnungslosen Situation die Friedens- Karte zog, appellierte er nicht nur an die Angst vor einem Krieg. Diese gab es natürlich weltweit; aber es war doch keine sehr große Angst, denn niemand konnte ja außerhalb des Irak ernsthaft damit rechnen, selbst in Kriegshandlungen hineingezogen zu werden.

    Sondern indem er kategorisch erklärte: "Nicht mit uns!", erhöhte Schröder uns Deutsche moralisch. Bush und seine USA, das waren diejenigen, die einen "völkerrechstwidrigen Angriffskrieg" führten. Und wir, die Deutschen, konnten uns als die Guten sehen, als die Friedfertigen. Als diejenigen, die sich penibel an das Völkerrecht hielten.

    "Völkerrechtswidriger Angriffskrieg" - fällt Ihnen da etwas auf? Genau das war und ist Teil des Vorwufs an uns Deutsche - daß wir uns von Hitler in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg haben führen lassen.

    Indem wir Bush das zuschrieben, was wir als unsere eigene historische Verantwortung mit uns herumtragen, konnten wir diese Last erleichtern. Je mehr Bush geschmäht wurde, umso besser konnten sich die ihn Schmähenden fühlen.

    Bush, der häßliche Amerikaner, sollte den häßlichen Deutschen vergessen lassen.



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