31. Dezember 2006

Ja, darf man denn da lachen?

Lachen ist etwas Soziales. Ja, gut, man kann auch allein lachen. So, wie man vor sich hinreden kann. Aber das richtige, das herzhafte, das wiehernde, auch das befreiende Lachen - das vollzieht sich im Gleichklang mit anderen.

Über Witze, die man liest, schmunzelt man vielleicht, kichert in sich hinein. Nur der erzählte - am besten der in einer Gruppe erzählte - Witz läßt aber die ganze komplexe Koordination angeborenen Verhaltens ablaufen, die wir "Lachen" nennen. Das rhythmische Ausstoßen der Luft, das Verziehen des Gesichts, das Entblößen der Zähne. Das Vibrieren des ganzen Körpers, wenn wir so richtig schön lachen.

Und natürlich, damit einhergehend, das nicht unerhebliche subjektive Wohlgefühl, das die Evolution mit diesem Verhalten verknüpft hat.

Wenn man allein ist und lachen "muß", dann ist das bei weitem nicht so vergnüglich, aber es kann doch ganz schön sein.



Vorausgesetzt, man ist allein.

Denn es gibt ja auch diese Situation: Ein einsamer Lacher, auf den sich die Blicke von denjenigen richten, die keineswegs lachen "müssen". Nun steht er da, oder bleibt er sitzen, mit seinem Lachen, dem unsozialen.

So befreiend das gemeinsame Lachen ist, so peinlich ist das Lachen desjenigen, der "an der falschen Stelle" lacht. Der Tölpel, der eine Feierstunde durch sein Lachen stört. Der Theaterbesucher, der in die Ergriffenheit der anderen hinein lacht, weil er etwas Todernstes für einen Witz gehalten hat.

Sein Lachen erstirbt abrupt. Er sieht sich um, bemerkt sein Fehlverhalten, errötet und schämt sich. Er hatte und hat nichts zu lachen. Dieser Unangepaßte, dieser Asoziale.



So ist es mir vor ein paar Tagen gegangen. Naja, nicht genau so. Nämlich nicht im Theater, sondern im Kino. Und geschämt habe ich mich auch nicht, nur gewundert. Das aber sehr.

Wir haben Aki Kaurismäkis neuen Film gesehen. "Lichter der Vorstadt" heißt es auf den deutschen Plakaten. Mal wieder eine jener rätselhaften Eindeutschungen - der englische Titel ist Lights in the Dusk, also Lichter in der Dämmerung. Den finnischen kann ich leider nicht übersetzen; aber ich vermute, daß er näher am englischen als am deutschen ist.

Daß der Film in einer "Vorstadt" spielt, ist mir nicht aufgefallen. Mir schien das Helsinki zu sein.

Aber die "Vorstädte", da weiß ja gleich jeder, woran er ist: Da wohnen die Unterprivilegierten, die Prekären, wie man heute sagt.

Also ein sozialkritischer Film, so mag der Titel es signalisieren wollen. Ein ernsthafter Film, der uns belehrt, wie schlecht es den Menschen in dieser Gesellschaft geht.



Ich mag Aki Kaurismäki. Er hat einen Blick für Farben und Einstellungen wie wenige Regisseure. Viele seiner Einstellungen sind wie Gemälde, so künstlich gestaltet. Mit kargen Mitteln; ein Bild wird ja nicht besser, je mehr darauf zu sehen ist.

Kaurismäki ist ein Maler von Szenen, von extrem reduzierten und dadurch ästhetisierten Szenen. Vielleicht so etwas wie der Dennis Hopper des bewegten Bildes.

Das ist aber nicht der Hauptgrund, warum ich Kaurismäki mag. Der Hauptgrund ist sein Humor.

Nein, er macht keine Witze, er inszeniert keine "Komödien", keine "Lustspiele". Sondern er zeigt das Leben, wie es ist: Absurd, also lustig.

Nur übertreibt er natürlich, wie jeder Künstler. Oder "überhöht", wenn man diese Bezeichnung passender findet. Seine Gestalten tappen von Mißgeschick zu Mißgeschick. Sie gucken dabei traurig wie Buster Keaton. Sie verheddern sich in ein unbegreifliches, auch gar nicht beeinflußbares Schicksal. Sie tun das rührend, hilflos, stolpernd. Das ist lustig.

Beckett hat dergleichen auf die Bühne gebracht, Ionesco hat es zu einer überdrehten Perfektion entwickelt. In der Literatur haben es Robert Walser und vor allem Franz Kafka vorgeführt, zwei ganz große Humoristen. Und natürlich ist das große und unerreichte Vorbild dieser Art von traurig- humoristischer Literatur der Don Quijote.

Lachen also, auf seine - vermutliche - evolutionär älteste Form, seine Grundform somit, bezogen: das Lachen über das Mißgeschick, das anderen widerfährt.



Gewiß ist Kaurismäki nicht nur Humorist. Auch Kafka ware das nicht; so wenig, wie Wilhelm Busch und Karl Valentin. Das Mißgeschick, über das wir lachen, ist ja auch traurig. Nichts ist dümmer, als zwischen U und E zu trennen, zwischen den tragischen und den absurd- lustigen Momenten des Lebens.

Also kann man im Lustigen, kann man hinter dem Lustigen, das sich in einem Mißgeschick konkretisiert, immer auch das ganz Andere erkennen: Das Tragische, das entsetzlich Schlimme.

Man kann, wenn man will, neben dem persönlichen Pech derer, die es trifft, auch soziale Dimensionen wahrnehmen. Metaphysische gar, wie man das Kafka zugeschrieben hat. Daß wir über das Schicksal lachen können, liegt ja vielleicht just daran, daß es gemein, absurd, lächerlich ist. Ja, klar.

Diese Vielschichtigkeit uns vorzuführen - das unter anderem macht die Qualität eines Kunstwerks aus. Auch im Hamlet wird nicht nur getrauert und gestorben, sondern es werden auch kräftige Witze gerissen.

Wir haben in Bochum einmal eine Othello- Inszenierung von Peter Zadek gesehen, in der die Ermordungs- Szene laute Lacher provozierte. Othello wurde als eine Art Schattenriß gezeigt, das ganze war ein Bild aus einem Comic.

Ja, warum nicht? Es war erschütternd, lächerlich. Große Kunst also.



Nun gibt es freilich Grenzen dessen, was uns am Unglück anderer noch ein Lachen abnötigt. Das besagt auch die eingangs zitierte evolutionäre Theorie des Lachens: Ein mildes Mißgeschick war es, wie Stolpern, wie Pupsen, das unsere Vorfahren das Lachen als soziale Bewältigungsstrategie entwickeln ließ. Nicht tödliches Unglück.

Ab welcher Stufe fremden Unglücks Lachen "sich verbietet", das ist schwer zu sagen. Kinder sind da naiv. Sie lachen auch noch, wenn Tom von Jerry (oder vielmehr dem, was Jerry an physikalischen Abläufen listigerweise in seinen Dienst stellt) plattgemacht und verunstaltet wird.

Bei uns zivilisierten Erwachsenen ist hingegen Schluß mit Lustig, wenn es wirklich ernst wird. Also vielleicht schon dann, wenn Kaurismäkis Nicht-Held nicht nur verprügelt wird, sondern im Gefängnis landet.



Mit diesem neuen Film "Lichter der Vorstadt", dem Abschluß der Verlierer- Trilogie, hat Kaurismäki das, was er zuvor versucht hatte, auf die Spitze getrieben. Manchmal bis zur Selbstparodie.

Die Gestalten sind vereinsamt, unfähig zur Kommunikation; das kennen wir aus den früheren Filmen. Jetzt gucken sie einander gar nicht mehr an beim Reden, sprechen ihre Unbeholfenheiten sozusagen nur in die Kamera. Wie beim jungen Kroetz, nur noch viel, viel schlimmer.

Der Held ist diesmal nicht nur ein Verlierer, sondern ein buchstäblich Geprügelter. Daß er verhauen wird, das ist sozusagen der Running Gag dieses Films.

Und daß er mit müder Stimme großspurig ankündigt, er werde demnächst das Große Geschaft aufziehen.

Nachdem er hilflos in der Disco herumgestanden hat, bekennt er sich, sozusagen in der Nachbetrachtung, als begabter Rock- Tänzer.

Er flirtet mit seiner falschen Dulcinea ungefähr so geschickt, wie Monsieur Hulot mit der modernen Technik umging.

Wenn es ihn - auch das ein Running Gag -, zwecks Kontaktaufnahme mal wieder an einen Tresen, in eine Kneipe treibt, dann steht da ein überlebensgroßer Barkeeper oder Wirt.

Wenn er sich in eine Ecke zurückzieht, dann geht die Klotür auf und klemmt ihn ein.



Kurz, dieser traurige Held ist einer wie der Tramp von Charlie Chaplin, mit dem ihn Kaurismäki auch verglichen hat. Und der Film logischerweise voller Slapstick- Effekte.

Also habe ich gelacht. Immer, wenn es lustig wurde.

Nein, nicht immer, nur am Anfang, in den vielleicht ersten zehn Minuten des Films

Denn in dem "Filmkunsttheater", dessen kleiner Saal bis fast auf den letzten Platz von einem kulturell interessierten Publikum gefüllt war - mindestens zwei Kollegen von der Uni mit Frau habe ich gesehen -, wurde fast nicht gelacht.

Mein Lachen wurde nicht geteilt, von ganz Wenigen abgesehen, die aber auch bald verstummten.

Wie ich. Denn in eine stumme, vielleicht gerade von ihrer sozialen Verantwortung erschütterte, das Los der armen Finnen bedauernde, tief ernsthafte Zuschauergemeinde hinein zu lachen - nein, das mochte ich nicht.

Also habe ich mich zusammengerissen, bevor das erste Zischen der Seh- Gemeinschaft meine Lustigkeit kommentiert hätte.

Ich sank - hat meine Frau später gesagt - langsam in mich zusammen und bin wohl gelegentlich eingeschlafen.



Mit Dank an RFN. Titelvignette: Der Ha Ha Guy; eine Werbefingur, die in den USA für Forbes Dry Plates warb, in der Frühzeit der Fotografie.

30. Dezember 2006

Rückblick: Diktaturen morden

Kürzlich habe ich hier über den mysteriösen Tod eines deutschen Studenten in Peking berichtet. Ein ausführlicher Artikel, der die bisher bekannten Einzelheiten schildert, ist heute unter dem Titel "Warum sollte er sich umbringen?" im Kölner Stadtanzeiger erschienen.

Bernhard Wilden war ein gläubiger Katholik; für einen Selbstmord gibt es keinerlei Indizien. Der Pfarrer der katholischen Gemeinde in Peking, zu dem Bernhard Wilden Kontakt hatte, sagte seinem Vater, daß er einen Selbstmord für ausgeschlossen halte.

Einen Tag vor seinem Tod rief er seine Eltern an und bat darum, ihn aus Peking abzuholen. Er fühle sich bedroht. Seine Mutter riet ihm, sofort nach Deutschland zu fliegen; ein Flugticket für einen Notfall hatte er. Dann kam eine Mail von ihm: Er könne das Ticket nicht mehr finden.

Mehrere Mails gingen hin und her, und in seiner letzten schrieb Bernhard Wilden: "Ich glaube, dass ich schon seit vielen Jahren beobachtet werde, was durch eine Kette von Ereignissen immer weiter verstärkt wurde, so dass jetzt ein Heer von Geheimdienstmitarbeitern um mich herum ist." Auf weitere Mails seiner Eltern gibt es keine Antwort mehr.

Sein Körper wurde vor einem Hochhaus im Universitätsbezirk Haidian aufgefunden. Der Obduktionsbericht nennt als Todesursache "Sturz aus großer Höhe".

Sein Vater konnte das Studentenzimmer in Augenschein nehmen. Es sah alles unverändert aus, aber das Flugticket, das Bernhard Wilden immer in seinem Paß hatte, war verschwunden. Ebenso die Tagebücher, die er regelmäßig führte.

29. Dezember 2006

"Deutschland" gegen die Todesstrafe

"Deutschland lehnt Todesstrafe für Saddam Hussein ab" titelte gestern die Financial Times Deutschland. Und der MDR hatte einen Tag zuvor die Schlagzeile: "Italien kritisiert Todesurteil gegen Saddam Hussein".

Eigentlich sollte ich mich über diese deutliche Stellungnahme von zwei europäischen Regierungen freuen, denn ich bin ein Gegner der Todesstrafe. Ich bin, anders als die Mehrheit der Deutschen, nicht dafür, daß Saddam gehängt wird.



Allerdings muß ich sagen, daß ich auch nicht sehr stark dagegen bin. Es gibt Fälle, wo das mir gleichgültig ist. Ich bin, anders gesagt, kein ideologischer Gegner der Todesstrafe.

Sie ist, so habe ich hier argumentiert, im Wortsinn barbarisch: Ein Relikt aus der Zeit vor der Aufklärung. Rational kann man, so behaupte ich, nicht über sie diskutieren, denn es gibt kein rationales Argument dafür, einen Menschen zu töten, wenn man die Gesellschaft auch auf andere Weise vor ihm schützen kann.

Nur passiert in dieser Welt ja vieles, das nicht rational begründbar ist. Also sollen sie ihn von mir aus hinrichten, ihren bestialischen Dikator, die Iraker. Ich finde es falsch, aber sei's drum. Der Mann genießt nicht mein Mitleid. Ich kann gerade in diesem Fall keinen Grund sehen, mich zu Wort zu melden. Es ist mir schlicht egal, ob der Mann hängt.

Mehr noch: Es erschiene mir nachgerade frivol, mich ausgerechnet gegen die Hinrichtung Saddam Husseins zu ereifern. Man muß doch seine Prinzipien nicht gerade dort laut artikulieren, wo das augenscheinlich nicht passend ist. Gegen die Hinrichtung von Eichmann haben damals auch nicht die Regierungen der Welt protestiert.



Die deutsche Regierung aber meldet sich gegen die Hinrichtung von Saddam Hussein zu Wort. Die italienische meldet sich zu Wort.

Die italienische sogar auf höchster Ebene, nämlich durch eine persönliche Intervention des Außenministers D'Alema, langjähriger Vorsitzender der italienischen Kommunisten: "Italien hat die Bestätigung des Todesurteils gegen Saddam Hussein scharf kritisiert. Außenminister D'Alema sagte, als Italiener und als Europäer sei er gegen die Todesstrafe", so kann man es hier lesen.

Und "Deutschland" steht dem kaum nach. "Deutschland lehnt Todesstrafe für Saddam Hussein ab. Die Bundesregierung hat sich erneut gegen die Todesstrafe für den irakischen Ex-Diktator Saddam Hussein ausgesprochen", so lesen wir es indem erwähnten Artikel der Financial Times Deutschland. Immerhin kein Geringerer als der Vize-Regierungssprecher Thomas Steg hat sich in dieser Weise zum Sprachrohr von "Deutschland" gemacht.



Nun gut, auch wenn die Regierung nicht für "Deutschland" im Sinn der von den Demoskopen ermittelten Mehrheitsmeinung spricht - natürlich hat sie jedes Recht, sich gegen die Todesstrafe auszusprechen, auch anhand eines konkreten Falls.

Nur: Kann mir jemand erklären, warum sie es gerade anhand dieses konkreten Falls tut?



Betrachten wir einen anderen konkreten Fall, den hier von der Baptist Press mit Datum vom 14. Dezember 2006 dokumentierten.

Danach hat die chinesische Regierung drei Männer hinrichten lassen, die von einem Gericht in der Stadt Shuangyashan, Provinz Heilongjiang, zum Tod verurteilt worden waren. Die Hingerichteten sind Xu Shuangfu, Li Maoxing und Wang Jun. Sie waren führende Mitglieder einer christlichen Gemeinde, einer sogenannten House Church; einer "Kirche von unten".

Hingerichtet wurden sie, weil sie angeblich Mitglieder einer mafiaähnlichen Gruppe namens "Eastern Lightning" ermordet hatten. Beweise lagen nicht vor. Die Todesurteile wurden ausschließlich aufgrund der "Geständnisse" der Angeklagten gefällt.

Diese waren nach Aussage ihrer Anwälte gefoltert worden, um die Geständnisse zu erzwingen. Zu den Folterungen gehörten laut dem Bericht, auf den ich mich stütze, Elektroschocks, das stundenlange Aufhängen an den Handgelenken, Hungern und Schlafentzug.



Es ist unmöglich, von hier aus zu beurteilen, ob diese drei Hingerichteten schuldig waren oder nicht. Anders als im Fall Saddam Hussein, dessen Schuld dokumentiert ist.

Aber Gegner der Todesstrafe sind dies ja unabhängig davon, ob der Verurteilte schuldig ist oder nicht.

Also hätten doch, nicht wahr, der italienische kommunistische Außenminister D'Alema und der deutsche stellvertretende Regierungssprecher nach der Verurteilung der drei Chinesen darauf hinweisen müssen, daß wir "Europäer" gegen die Todesstrafe sind und deswegen ihre Hinrichtung ablehnen.

Seltsam, nicht wahr, daß der italienische kommunistische Außenminister, daß der deutsche stellvertretende Regierungssprecher nicht diesen Anlaß wahrnahmen, um unsere "europäische" Gegnerschaft gegen die Todesstrafe öffentlich zu artikulieren, sondern daß sie auf die Verurteilung ausgerechnet Saddam Husseins warteten.

28. Dezember 2006

Ketzereien zum Irak (3): Die Mutter aller Überraschungen

Auch wer die Nachrichten sorgsam verfolgt, weiß kaum etwas über die aktuelle wirtschaftliche Lage im Irak. Die Meisten, auch die gut Informierten, werden sich vermutlich sagen: Sie wird wie die allgemeine Lage sein, also miserabel. Kurz vor dem Zusammenbruch, wie der ganze Irak.

Falsch, ganz falsch. Über die Wirtschaftslage im Irak berichtet in der vom 1. Januar 2007 datierten Ausgabe Silvia Spring in Newsweek International. Untertitel des Artikels: In what might be called the mother of all surprises, Iraq's economy is growing strong, even booming in places. Man könnte es die Mutter aller Überraschungen nennen, daß die irakische Wirtschaft stark wächst, stellenweise gar boomt.

Überraschend warum? Überall auf der Welt hat der Sturz einer Diktatur, hat die Durchsetzung einer freiheitlichen Gesellschaft und hat der Aufbau des Kapitalismus eine Freisetzung von Kräften bewirkt, die in wenigen Jahrzehnten aus der Armut führte. Man konnte und kann das in Spanien sehen, in Lateinamerika, in ganz Osteuropa.

Natürlich ist der Irak keine Ausnahme. Der Terrorismus und die gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen religiösen Extremisten behindern diesen Prozeß. Aber er findet trotzdem statt, wenn auch langsamer, als ohne diese Hindernisse.



Im Irak gibt es heute 7,1 Millionen Handys; vor zwei Jahren waren es 1,4 Millionen. Laut dem Londoner Wirtschaftsinstitut Global Insight boomt das Immobiliengeschäft. Das Bauwesen, der Groß- und Einzelhandel sind ebenfalls in einer gesunden Verfassung. Nach einer Untersuchung der US Chamber of Commerce gibt es im Irak jetzt 34000 eingetragene Unternehmen. Vor drei Jahren waren es 8000. Das Bruttosozialprodukt ist laut Global Insight 2005 um 17 Prozent gewachsen. Die Wachstumsprognose für 2006 ist 13 Prozent.

Die Weltbank ist erheblich konservativer in ihrer Schätzung: 4 Prozent für 2006. Nur: Wer, der die ständigen Meldungen vom wachsenden Chaos im Irak liest, hätte gedacht, daß selbst eine äußerst konservative Schätzungen dem Land ein hohes Wirtschaftswachstum bescheinigen?

Woher kommt das Kapital für diese boomende Wirtschaft? Wesentlich aus den Öleinnahmen und aus Anleihen, die das Ausland gibt. Da die Sicherheitslage in einer Schlüsselregion, den Ölfeldern im Süden, sich günstig entwickelt, dürften diese Einnahmen weiter anwachsen.



Man darf, schreibt Silvia Spring weiter, dabei aber nicht die noch immer bestehenden Probleme des Irak übersehen. Die Arbeitslosigkeit liegt zwischen 30 und 50 Prozent. Frühere Staatsunternehmen sind praktisch zusammengebrochen. Viel zu viel Geld muß für Sicherheit ausgegeben werden; bis zu einem Drittel der Kosten.

Dennoch gibt es, wie es in dem Artikel heißt, vibrancy at the grass roots that is invisible in most international coverage of Iraq, ein Vibrieren in der Tiefe, das im größten Teil der internationalen Berichterstattung über den Irak nicht zu bemerken ist.

Der Geldkreislauf ist in Gang gekommen. Der Durchschnittsiraker hat Geld. Viele haben in der Zeit der Sanktionen große Rücklagen angesammelt, die sie jetzt ausgeben. Importwaren werden immer erschwinglicher, weil Zölle und Handelsbarrieren abgebaut wurden. Seit dem Sturz von Saddam sind die Löhne und Gehälter um 100 Prozent gestiegen. Die Einkommenssteuer wurde von 45 auf 15 Prozent gesenkt. Die USA wollten damit vor allem die mittelständische Wirtschaft ankurbeln, und es funktioniert.



Auch sonst zeigt der Irak viele Anzeichen eines wirtschaftlichen Aufschwungs.

Das vielleicht offensichtlichste Anzeichen, schreibt Silvia Spring, ist das fürchterliche Verkehrschaos. Durch Straßenbomben passiert weniger als durch die Autos, die heute im Irak herumfahren - fünfmal mehr als vor dem Krieg.

Die Geschäfte werden mit billigen chinesischen Waren überschwemmt. Die Immobilienpreise sind um mehrere hundert Prozent gestiegen - was, schreibt Silvia Spring, darauf hindeutet, daß die Iraker in Bezug auf die Zukunft optimistischer sind als die meisten Amerikaner.

Das Wirtschaftsministerium funktioniert. Unglaublich, yet it's a fact - aber so ist es halt, heißt es in dem Artikel. Die Regierung ist dabei, die hochzentralisierte Wirtschaft aus Saddams Zeiten zu liberalisieren.

Die Sicherheit ist natürlich der kritische Faktor. Der Irak wird zwar immer mehr, schreibt Silvia Spring, als einer der Märkte der Zukunft gesehen - aber am Ende wird es darauf ankommen, daß man das immer noch bestehende Sicherheitsproblem in den Griff bekommt.



Gut möglich, daß Silvia Spring und ihr im Irak stationierter Mitarbeiter Michael Hastings die Lage im Irak zu positiv sehen. Wie dem auch sei - Newsweek ist ein der Objektivität verpflichtetes Nachrichtenmagazin. Und kein Bush- freundliches. Der Artikel von Silvia Spring verdient es also, ernstgenommen zu werden.

Zumindest zeigt er, wie einseitig, wie klischeehaft die meisten deutschen Medien berichten.

Und wie unprofessionell. Man bites dog, das ist bekanntlich eine Nachricht. Und nicht Dog bites man. Also müßten doch eigentlich alle TV-Sender, alle Zeitungen sich für die positiven Aspekte der Entwicklung im Irak interessieren, aus dem trivialen Grund, daß dies News sind. Interessant, unerwartet, überraschend. Also fit to print.

27. Dezember 2006

Frau des Jahres

"Wer ist für Sie die Frau des Jahres?" fragt im Augenblick die Welt.

Ergebnis nach knapp 10 000 Antworten: Platz 3 mit 11,1 Prozent für Ayaan Hirsi Ali. Auf Platz 2 liegt mit 12,1 Prozent Natascha Kampusch. Siegerin mit großem Abstand (21,2 Prozent) ist die Kanzlerin Angela Merkel.

Gewiß sind Internet-Umfragen nicht repräsentativ. Aber ein Spitzenpolitiker, der versagt hat, würde auch in einer Internet-Umfrage nicht auf Platz eins landen.

Angela Merkel ist eine erfolgreiche Kanzlerin, bis jetzt. Nicht nur wegen des Aufschwungs, sondern in meinen Augen vor allem deshalb, weil sie den internationalen Vertrauensverlust, den Schröders schaukelnde Außenpolitik mit sich gebracht hatte, nicht nur gestoppt hat, sondern sogar Deutschland eine starke Position zurückgewinnen konnte. Langfristig eine entscheidende Voraussetzung auch für wirtschaftlichen Erfolg.



Es gab kürzlich hier eine interessante Diskussion über die Bilanz der Kanzlerin nach einem Jahr. Meine eigene, positive Bewertung fand nicht viel Zustimmung bei den Kommentatoren.

Ich kann das auch nachvollziehen, weil die Kanzlerin eindeutig nicht die Politik macht, die sie im Wahlkampf in Aussicht gestellt hatte.

Die Frage ist nur, warum. Ein kluger Kommentator, Boche, hat die Alternativen in der zitierten Diskussion präzise genannt: "Du glaubst, dass Merkel ganz anders würde, wenn sie könnte. Ich glaube, sie macht prinzipiell sozialdemokratische Politik, weil sie ihre liberalen Vorwahl-Ausflüge nie ernst gemeint oder vielleicht auch nicht verstanden hat."

In der Tat - es ist eine Frage der subjektiven Bewertung, wie man die Diskrepanz zwischen dem, was die Wahlkämpferin Merkel vermittelte und dem, was die Kanzlerin der Großen Koalition tut, interpretiert. Meine Sicht ist, daß die Kanzlerin - als Naturwissenschaftlerin - gelernt hat, Daten nüchtern zu bewerten und aus ihnen die Folgerungen zu ziehen, die sie nahelegen oder vielleicht gar erzwingen.

Sie ist meines Erachtens klug genug, um zu sehen, daß jede Spielart des Sozialismus, auch die sozialdemokratische, nur zu mehr Armut und mehr Unfreiheit führen kann. Aber sie ist - denke ich - eben auch nüchtern genug, aus dem Wahlergebnis 2005 die erforderlichen Konsequenzen zu ziehen: Selbst bei diesen Wahlen in einer Situation, in der Rotgrün so bankrott gegangen war, wie eine Regierung überhaupt nur bankrott gehen kann, reichte es nicht für eine bürgerlich-liberale Mehrheit.

Das hatte, wahlstatistisch betrachtet, zwei simple Gründe: Erstens wählen nicht nur die Westdeutschen, sondern auch die Bürger der Neuen Länder. Zweitens haben wir das Frauenwahlrecht. Bei den Westdeutschen, bei den Männern hatte Schwarzgelb 2005 die Mehrheit. Bei den Ostdeutschen, bei den Frauen hatte - das muß man auch realistisch sehen - eine Volksfrontregierung aus SPD, Grünen und Kommunisten die Mehrheit.

Politologisch betrachtet, lag ein wesentlicher Grund für das schlechte Abschneiden der CDU darin, daß sie ihren Wahlkampf weitgehend auf dieselben Wählergruppen abstellte wie die FDP.

Das hat - in meiner subjektiven Sicht - der persönlichen politischen Haltung von Angela Merkel entsprochen. Aber es war, wahlstrategisch, eine Eselei. Zwei potentielle Koalitionspartner sollten so wenig, wie das nur irgend geht, um dieselben Wähler konkurrieren.



Auch die jetzigen Umfragen ergeben in der Regel keine absolute Mehrheit für eine Regierung aus CDU und FDP. Eine solche Mehrheit (von der ich überzeugt bin, daß Angela Merkel sie will) ist nur zu bekommen, wenn die CDU ihre soziale Tradition pflegt (die sie ja immer hatte) und dabei in Kauf nimmt, daß liberale Wähler zur FDP abwandern.

Eine sich liberal akzentuierende CDU, die im selben Revier Wählerstimmen jagt wie die FDP - das wäre das sicherste Mittel, die Wahlen 2009 zu verlieren.

Das, denke ich, hat die Kanzlerin kühl analysiert. Und sich dabei nicht nur ihres naturwissenschaftlich geschulten Verstands bedient, sondern auch der Erfahrungen, die sie als Schülerin Helmut Kohls gemacht hat.

Wenn sie jetzt weniger liberal auftritt als im Wahlkampf, dann liegt das also zwar offenkundig und vordergründig daran, daß sie nun einmal einer zur Hälfte sozialdemokratischen Regierung vorsteht. Aber ich denke, es ist auch eine strategische Entscheidung, die traditionelle Bandbreite der CDU nicht zu verengen. Es ist ja wenig erquicklich, das Richtige zu verkünden, wenn man es nicht auch durchsetzen kann.

26. Dezember 2006

Ein Road Movie. Und Filme überhaupt

Gleich zweimal lief in diesen Weihnachtstagen im TV das Road Movie aller Road Movies: The Straight Story von David Lynch. Der doppeldeutige Titel ist, wie so oft, in der deutschen Übersetzung hopps gegangen. (Seltsam - die albernsten Titel von US-Filmen werden in Deutschland auf Englisch übernommen. Wenn es aber mal wirklich ein schwer übersetzbares Wortspiel gibt, dann ausgerechnet findet der Verleih einen Titel, der gezielt danebengeht: "Eine wahre Geschichte"; dümmer geht's nümmer).



Ich mag Road Movies sehr. Vielleicht ist das Road Movie ja der schlechthinnige Film.

Film, das heißt, daß man die Realität leugnet. Dazu gehört die Dunkelheit des Filmtheaters. Der Vorhang geht auf. Früher gingen sogar mindestens zwei Vorhänge auf. Erst hob sich der geraffte, dann ging der theatermäßige auseinander. Oder auch in umgekehrter Folge. Dann der Gong. Dann Pause. Dann langsame Verdunklung. Und dann war man eingestimmt. Entrückt. Weg vom richtigen Leben.

Realistischer Film, Cinéma Vérité, gar der sozialkritische Film der Kommunisten, das ist eine große Dummheit. Ungefähr wie eine esoterische Wissenschaft oder wie eine ungerechte Jurisprudenz.

Film ist, natürlich, unrealistisch. Kintopp halt. Die Realität hat man doch außerhalb des Kinos. Die Leute ins Kino einzuladen, damit sie dort etwas über "ihre Probleme", über "die Gesellschaft" lernen - welche unglaubliche Borniertheit. Welche Tristesse, welche Langeweile, diese politischen Filme.

Welche Arroganz auch von denjenigen, die das propagieren und die sich, ganz hochnäsige Volkserzieher, damit darüber erheben, daß "Lieschen Müller" im Kintopp sich an der Bebilderung seiner Träume erfreut. Ja, was denn sonst?



Film ist, trivialerweise, "Flucht aus dem Alltag", wie Theater überhaupt. Das Road Movie zeigt eine "Flucht aus dem Alltag". Insofern ist das Road Movie dasjenige Genre, in dem das Wesen des Mediums und sein Inhalt sich besonders nah kommen; the medium is the message, oder vielmehr: the message fits the medium.

Ausbrechen, abhauen, weg. Das ist ein Urthema, der Jugend zumal. Man schippert los, ob als Argonaut oder als einer der Crew von Ulysses. Oder man zieht in die Welt als Parzifal, als Simplicius Simplicissimus, als der Grüne Heinrich, als Easy Rider.

Oder als Seemann, der dann Heimweh nach Sankt Pauli hat, aber seine Heimat ist das Meer, und nur ihr kann er treu sein.

Nur raus, was Neues sehen. Sicherheit aufgeben, um die Welt, aber natürlich vor allem sich selbst, kennenzulernen.

Notfalls es sich zeigen zu lassen, wenn man es selbst nicht erleben kann, weil immobil. Wie Hans Castorp, der runter-, oder auch hochgekommene Parzifal. Die Karikatur, die dekadente Variante des Parzifal. Aber, eingewickelt in seine Decken auf seinem Balkon, bleibt er ja neugierig. Wie meist bei Thomas Mann die dekadente Variante eines großen Themas.

Ich hatte das sehr heftig. Nur weg. Anderswo als am Heimatort studieren. In den Semesterferien ins Ausland. Mit fast keinem Geld irgendwie durchkommen. Als "Tramper" damals wußte man nie, wo man schlafen würde. In der Jugendherberge, das war gut. Im Abri Municipal, nun ja. Notfalls auf einer Bank oder einfach im Gras, warum nicht. Im Polizeigewahrsam, das war oft erstaunlich komfortabel, jedenfalls in Deutschland, mit einem guten Frühstück.



In der Straight Story ist das alles genauso. Nur ist derjenige, der da loszieht, kein hoffnungsfroher Jüngling, sondern eine alter Mann.

Das Klischee wird also gegen den Strich gebürstet. Er bricht nicht auf ins Leben, sondern er versucht, ein vergehendes Leben noch zu erhaschen. Oder zwei: Seines, das seines Bruders. Und er braust nicht los, sondern er kriecht und krabbelt, lächerlicher geht es ja nicht, auf seinem Rasenmäher über die Landstraßen.

Das ewige Klischee also, nur daß alles anders ist. Das macht einen Film interessant: Er benutzt das Schema, variiert es aber. Reiten, reiten, reiten. But the man who "rides" - sitzt nicht im Sattel, sondern auf einem armseligen Gerät. Es ist alles erbärmlich, also wahr, also anrührend.

Ein schöner Film. Wir haben ihn damals im Kino gesehen. Jetzt noch einmal im TV. Das war nur ein Abklatsch, weil eben ein solcher Kino- Kino- Kinofilm logischerweis nur im Kino richtig genossen werden kann.

25. Dezember 2006

Diktaturen morden

Diktaturen morden. Ja, natürlich. Hitler hat Millionen ermordet, Stalin hat Millionen ermordet, Pol Polt. Mao war vermutlich der größte Massenmörder des Zwanzigsten Jahrhunderts. Der einzige dieser Mörder, der immer noch verehrt wird.

Man kann das nüchtern zur Kenntnis nehmen. So sind sie halt, die barbarischen Diktaturen.



Von der Nüchternheit bleibt nichts, wenn man von einem einzelnen Schicksal erfährt. Hier ist zu lesen, wie ein Deutscher, der in Peking studierte, ohne sich der Diktatur unterzuordnen, vorgestern zu Tode kam.

Ich habe Bernhard Wilden nicht persönlich gekannt. Ich wußte aber viel über ihn. Er war ein ungemein intelligenter Mensch, der sich zum Beispiel das Chinesische selbst beigebracht hatte. Er war ein überzeugter Katholik, und er hat jahrelang in China studiert. Er war einer von denen, von denen man Bedeutendes erwarten konnte. Er glaubte an die Macht des Wortes, des persönlichen Einstehens für seine Überzeugung.

Wahrscheinlich war er auch naiv. Er hat die Brutalität der Diktatur, in der er lebte und von deren Veränderbarkeit er wahrscheinlich überzeugt war, unterschätzt.

Naiv, ja. Auch die Geschwister Scholl waren naiv.

24. Dezember 2006

Metasprachliche Metalust : Theodor W. Adorno. Und ein wenig Nostalgie

Eigentlich wollte ich heute noch einen schönen Blog schreiben. Aber weiß der Geier - alles, was ich angefangen habe, wurde nichts Rechtes. Nicht überzeugend, keine runde Argumentation, nicht gut geschrieben.

Andererseits möchte ich denjenigen, die hier mitlesen, täglich doch wenigstens einen Beitrag anbieten, der es rechtfertigt, daß sie in Zettels Raum gucken. Sonst könnten sie ja gleich wegbleiben.

Was tun? Ja, natürlich, Recycling. Ist was im Archiv, im Stehsatz, was aktuell paßt? Leider nein.

Also zitiere ich jetzt etwas, was ich heute Abend in einem anderen Blog geschrieben habe. Und rechtfertige das damit, daß ich damit Reklame für diesen anderen Blog mache: Metalust und Subdiskurse. Das Zitat ist allerdings redigiert, weil ich das Redigieren nicht lassen kann.

Mit anderen Worten, da ich heute mit der Lust des Schreibens nicht recht reüssiere, gönne ich mir die Metalust des Zitierens, und zwar in der Extremform des Selbstzitats.

Ich bin radikal anderer Meinung als die, die jenen anderen Blog betreiben. Aber sie sind intelligent, sie sind witzig, sie sind - da bin ich allerdings nicht ganz sicher - nach meiner Vermutung sogar liberal. Sie sind also lesenswert.



In dem Kommentar, den ich bei "Metalust und Subdiskurse" geschrieben habe, geht es um die Frankfurter Schule. Nein, nicht die "Neue Frankfurter Schule", deren größter Geist der geniale Robert Gernhardt gewesen ist (und ich gönne mir die Metalust, auf diesen Blog hinzuweisen, den in meiner Selbstkritik bisher besten in "Zettels Raum"; nur scheint's keiner zu merken). Sondern die gute alte Frankfurter Schule. Adorno, Horkheimer, Habermas also.

In der Passage, die ich jetzt zitiere, geht es um Adorno.



Wer sich auch nur ein wenig für für Philosophie interessiert, der ist als Schüler, wenn er ordentlich liest, von Nietzsche begeistert. Oder vielleicht (das war ich) von Wittgenstein.

Warum? Weil sie - Schopenhauer auch, stefan george, Oswald Spengler - mehr Schöngeister waren als Philosophen. Man läßt sich vom Stil berauschen. Man liebt sie, weil sie so schön schreiben können. Ob das eigentlich auch stimmt, was sie behaupten, tritt dagegen in den Hintergrund.

Jung sein, das heißt auch, die Ästhetik zuvorderst sehen. Man ist ja in einem Alter, in dem man die Schöne, den Schönen, also auch das Schöne sucht. Das hat die Natur so gewollt.

Adorno schreibt schön. Das ist, glaube ich, das Geheimnis der unverdienten Anerkennung, die ihm zuteil wird. Und es ist das, was mich nach dem Abitur kurzzeitig für ihn begeistert hat. Ein deutscher Valéry, so erschien er mir.



Ich habe ihn dann, in meinen Frankfurter Semestern, als einen arg eitlen und irgendwie auch dummen Menschen erlebt. Jeder Satz seiner Vorlesung war sozusagen mit dem Subtext unterlegt: Schaut's an, wie schlau ich bin, der Adorno. Er spitzte den Mund und ließ seine klugen Sentenzen daraus wohlgeformt hervorquellen. Oder sagen wir, er ließ sie ins Auditorium gleiten.

Mir schien, daß es ihm nie um die Sache ging, sondern immer nur um den Eindruck, den er mit seiner Brillanz erzeugen wollte. Adornos Vorlesungen waren im Grunde keine Vorlesungen, sondern sie waren Celebrations, in denen der Redner Adorno seinen Helden Adorno ínszenierte, ad majorem Adorni gloriam.

Etwas weniger lustig gesagt: Es fehlte Adorno völlig die wirkliche Klugheit desjenigen, der sich in Frage stellt, der die Berechtigung auch alternativer Meinungen sieht.

Ich habe nie erlebt, daß er Meinungen gegeneinander abwog und die Möglichkeit offenlies, daß auch andere als die seine richtig sein konnten. Er hat überhaupt nie das Für und Wider von irgendetwas untersucht.

Sondern er hat das, was sich Teddy ausgedacht hatte, ex kathedra verkündet. Nein, nicht verkündet, sondern in Szene gesetzt. Eine Mise en scène, das ware die Vorlesungen Adornos, so wie sie mir lebhaft vor Augen stehen.

Kurz, er war kein skeptischer, an einer fairen Auseinandersetzung interessierter Wissenschaftler, sondern vielleicht ein Künstler. Ein egomaner Künstler. Vielleicht.

Denn: War er ein einigermaßen guter Künstler? Das weiß ich nicht. Mir ist seine Manieriertheit inzwischen unerträglich; aber ich gebe zu, daß das Geschmackssache ist. Ich habe als junger Mensch auch Thomas Mann geschätzt, und heute stößt mich seine Gestelztheit ab.



Also keine Werturteile. Aber zum Schluß ein wenig, sagen wir, Zeitzeugenschaft:

Ich habe damals in Frankfurt die "Philosophische Terminologie" gehört, in der Adorno sich hauptsächlich über Heidegger lustig machte. Und zwar auf dem Niveau rheinischen Karnevals. Die Lacher hatte er, aber man vermißte irgendwie den dreifachen Tusch, wenn er wieder eine Sottise produziert hatte.

Ich habe, als angehender Naturwissenschaftler, damals meine Tage hauptsächlich im Labor verbracht, in Statistik- Kursen, beim Herrichten von Nerv- Muskel- Präparaten; dergleichen. Wenn man dergestalt wissenschaftlich ständig mit der Realität zusammenstößt, dann bekommt die Adorno'sche Luftigkeit, dieses Fehlen jeder Bereitschaft, Nachprüfbares zu formulieren, einen, sagen wir hallodrihaften Charakter.

Ja, ich bin in seine Vorlesung gegangen. So, wie die Griechen nach den ernsthaften Aufführungen sich noch ihr Satyrspiel ansahen.

23. Dezember 2006

Ketzereien zum Irak (2): Die Nachrichtenlage

Es ist im Grunde absurd: Der Irak steht im Mittelpunkt des Medieninteresses, und doch wird aus dem Irak kaum berichtet.

Es wird "kaum berichtet" in dem Sinn, daß die - freilich sehr lebhafte - Berichterstattung sich auf Anschläge von Terroristen beschränkt. Und auf die Schwierigkeiten der US-Regierung und des US-Militärs, diese terroristischen Aktivitäten zusammen mit der irakischen Armee einzudämmen. Der Irak wird uns ganz überwiegend als ein Schlachtfeld vorgeführt; und als ein politisches Chaos.

Wenn ich auf das hinweise, was darüber hinaus im Irak sich abspielt, sich entwickelt, vorangeht - dann hat das also, in Deutschland, in dieser manchmal sehr uniformen Medienlandschaft, wohl etwas Ketzerisches. Deshalb der Titel dieser Serie.



Der Irak hat ein massives, ein leider noch längst nicht beherrschtes Terrorismus-Problem. Nur ist der Irak ja nicht nur ein Land, das ein Terrorismus-Problem hat. So wenig, wie Deutschland nur ein Land mit Arbeitslosigkeit und Rechtsextremismus ist.

Aber die Berichterstattung aus dem Irak in der Mehrheit unserer Medien - sie ist ungefähr so, als würde die weltweite Berichterstattung aus Deutschland sich darauf beschränken, von der Not der Arbeitslosen und der Frechheit der Neonazis zu berichten.

Hier sind ein paar Informationen, die man im Blog Iraq the Model, geschrieben überwiegend von zwei Autoren aus Bagdad, Mohammed und Omar, in den letzten Tagen und Wochen lesen konnte. Leider sind die Beiträge nicht einzeln verlinkbar; man muß also ein wenig scrollen, um sie zu finden (Hervorhebungen von mir):



  • Auf den neuesten Beitrag, den Blog vom 20. Dezember, habe ich gestern hier aufmerksam gemacht: Omar sieht die aktuell anstehende politische Aufgabe darin, die gemäßigte, demokratisch gesonnene Mehrheit bei den Schiiten ebenso wie bei den Sunniten aus ihrer Abhängigkeit von den jeweiligen Extremisten zu lösen. Für mich gestern ein Anlaß, auf das allgemeine Problem einzugehen, wie Demokraten mit den Extremisten "ihrer Richtung" umgehen.



  • Blog vom 15. Dezember: Darin berichtet Mohammed über aktuelle Überlegungen zu einer Regierungsumbildung, die diesem Ziel dienen würde. Er erörtert die Chancen, daß sich bestimmte Gruppen beteiligen würden, und kommt dann zu einem interessanten Punkt:
    Either they insist on their obsolete doctrine and keep falling back in the face of liberal democracy which eventually leads to their defeat as a political power or, the moderate elements of political Islam, such as the two in the front in question, consider redesigning their policy and agenda in such a manner that avoids conflicts with other powers and accepts the concept of power-sharing and stop imposing their vision as the one and only right one to accept being a partner, not a sole leader. The good thing in all of this however is that extremism will be the loser and will keep shrinking on the long term.
    "They", das sind die nicht-terroristischen islamischen Gruppen. Was er von ihnen erwartet, das ist der Verzicht darauf, ihre eigene politische Vision gegen die der anderen vollkommen durchzusetzen. Sie müssen, meint er, sich demokratischen Spielregeln anbequemen. Die Extremisten, glaubt er, werden die Verlierer sein.



  • Blog vom 9. Dezember: Der Irak hatte dieses Jahr Öleinnahmen von 35 Milliarden Dollar, 14,3 Prozent mehr als vergangenes Jahr. (Da sieht man, wie die Ölkonzerne den Irak ausbeuten; Anmerkung von Zettel). Die Regierung hat es, schreibt, Mohammed, kaum geschafft, dieses ganze Geld auszugeben - nicht nur wegen des Terrorismus, sondern auch wegen mangelnder Effizienz der Behörden. Jetzt wird im Parlament diskutiert, die Bezüge der Beamten zu erhöhen und/oder einen Teil der Öl-Einkünfte direkt an die Bürger auszuschütten.

    Damit könnte die Entwicklung des privaten Sektors im Irak weiter angekurbelt werden. Und diese Passage zitiere ich wörtlich und übersetze sie, weil sich vielleicht viele bei der Lektüre die Augen reiben werden:
    The private sector in Iraq had witnessed giant leaps immediately after the fall of Saddam; that could be seen in the form of the thousands of private businesses that were established in the course of the past three years and that had a direct positive effect on the standards of living after long years of deprivation. It's worth mentioning that between 1946 and the beginning of 2003 a total of 8374 businesses were registered while between April 2003 and the end of 2005 more than 20,000 have been registered. During last month alone 286 new businesses were added. Such statistics seem quite extraordinary under the current security situation which sadly continues to overshadow and limits further improvement of this aspect of life in Iraq.

    Der private Sektor im Irak hat nach dem Fall Saddams einen gigantischen Sprung nach vorn erlebt; das zeigte sich in Gestalt tausender von Privatunternehmen, die im Verlauf der letzten drei Jahre gegründet wurden und die nach langen Jahren des Mangels eine unmittelbare Auswirkung auf den Lebensstandard hatten. Es verdient erwähnt zu werden, daß zwischen 1946 und Anfang 2003 insgesamt 8374 Unternehmen eingetragen wurden, während zwischen April 2003 und Ende 2005 mehr als 20 000 eingetragen wurden. Im letzten Monat allein kamen 286 Unternehmen hinzu. Solche Statistiken erscheinen recht außergewöhnlich unter der gegenwärtigen Sicherheitssituation, die leider weitere Verbesserungen dieses Aspekts des Lebens im Irak überschattet und beschränkt.



  • Blog vom 7. Dezember: Hier zitiert Omar diese offizíelle Mitteilung über die Gefangennahme zahlreicher Führer der terroristischen Ansar al-Sunna.

    Wo in den deutschen Medien wurde darüber berichtet? Während jeder Anschlag von Terroristen eine Meldung, oft einen Aufmacher, wert ist. Die Berichterstattung in den deutschen Medien hat insofern große Ähnlichkeit mit der Wehrmachtsberichterstattung: Die Erfolge der einen Seite (der Wehrmacht damals, der irakischen Terroristen heute) werden groß herausgestellt. Die der anderen Seite (der Alliierten damals, der MNF und der Irakischen Armee heute) werden unterschlagen oder heruntergespielt.


  • Warum diese Unvollständigkeit, diese Einseitigkeit der Nachrichten, die uns Deutsche aus dem Irak erreichen? Well, that's another question.

    Ob ich sie beantworten kann, weiß ich noch nicht. Aber mir scheint, daß die Unehrlichkeit, die Einseitigkeit, die Ereiferung in Sachen Irak zu den weniger erfreulichen Episoden linken Denkens in Deutschland, in Europa gehört.

    Es war ja sehr heftig getroffen, das linke Denken, durch das Scheitern des Sozialismus. Und mir scheint, am Irak versucht es sich jetzt wieder aufzurichten.

    22. Dezember 2006

    Ketzereien zum Irak (1): Iraker, Demokraten, Extremisten

    Als ich in den siebziger Jahren bei den Jung-sozialisten in der SPD aktiv war, stellte sich uns Jusos häufig die "Bündnisfrage". Mannigfache Kommunisten, Maoisten, "Basis- Gruppen", Leute jedenfalls, die den demokratischen Rechtsstaat bekämpften, machten eine Aktion, veranstalteten eine Demo. Sollte man mitmachen? Oder sollte man sich den Extremisten verweigern, auch wenn man mit ihnen Gemeinsamkeiten in Bezug auf das konkrete Ziel einer solchen Unternehmung hatte; sagen wir, den Abbau von Raketen?

    Die Antwort fiel unterschiedlich aus. Aber daß sich die Frage überhaupt stellte, ob Demokraten mit Feinden des demokratischen Rechtsstaats gemeinsame Sache machen sollten, war bezeichnend für eine damals weitverbreitete Sichtweise.

    Zumindest in der SPD-Linken herrschte die Vorstellung, daß Kommunisten "Genossen" waren, bei allen ideologischen Differenzen. Letztlich auf "unsrer Seite" stehend, uns Sozialdemokraten näher als die "Rechten". Mit den Kommunisten hatte man Differenzen. Die Rechten der CDU, der CSU, der FDP, das waren die politischen Feinde.

    Die damalige SPD-Führung sah das zum Glück anders. Von den Kommunistenfreunden bei den "Stamokaps" wurden viele aus der Partei ausgeschlossen. (Und freilich oft genug später wieder aufgenommen. Ich habe solche Fälle mehrfach erlebt. Der bekannteste Betroffene war Klaus Uwe Benneter, der 1977 wegen seiner Befürwortung einer Bündnispolitik mit den Kommunisten ausgeschlossen, 1983 wieder in die SPD aufgenommen und 2004 deren Generalsekretär wurde).



    In einem politischen System mit relativ starken extremistischen Parteien oder Strömungen stellt sich den Demokraten immer diese Frage, ob man um taktischer oder strategischer Vorteile willen, oder auch aus Überzeugung, mit Extremisten paktieren darf. Im Augenblick wird sie in Europa sehr unterschiedliche beantwortet - unterschiedlich in den einzelnen Ländern; unterschiedlich auch, was Links- oder Rechtsextremisten angeht.

    In Frankreich paktiert die demokratische Linke mit den Kommunisten, während die demokratische Rechte jede Zusammenarbeit mit den Rechtsextremisten strikt ablehnt. In Italien haben sich Links- und Rechtsallianzen gebildet, die auf beiden Seiten Extremisten einschließen; auf der Linken sind gleich mehrere kommunistische Parteien an der Allianz beteiligt, die Prodi die Regierungsmacht eingebracht hat. In Großbritannien ist es dagegen undenkbar, daß eine demokratische Partei ein Bündnis mit den Kommunisten oder den Nationalisten eingehen würde.

    In Deutschland gab es seit der Gründung der Bundesrepublik den Konsensus - die berühmte "Gemeinsamkeit der Demokraten" -, daß keine demokratische Partei jemals mit Extremisten zusammenarbeitet. Die SPD hat diese Gemeinsamkeit aufgekündigt, als sie sich in Sachsen- Anhalt von den Kommunisten "dulden" ließ. Das war das erste Scheibchen der Salami- Taktik, die konsequenterweise zur Regierungsbeteiligung der Kommunisten in Mecklenburg- Vorpommern und in Berlin führte, wo sie gerade wieder erneuert wurde.




    Die Erinnerung an die siebziger Jahre ist mir durch den Kopf gegangen, als ich heute im Blog Iraq the Model den Kommentar von Omar zur aktuellen politischen Situation im Irak gelesen habe.

    Omars These ist, daß die momentanen Schwierigkeiten im Irak wesentlich daraus resultieren, daß die Demokraten auf beiden Seiten der konfessionellen Trennlinie ihre Allianzen mit den jeweiligen Extremisten geschlossen haben: "... they have their hands tied by former deals or affiliations with current-or former-extremist allies of the same sect as theirs". Ihnen sind die Hände dadurch gebunden, daß sie früher Vereinbarungen und Verbindungen mit jetzigen oder früheren extremistischen Verbündeten derselben Konfession hatten.

    Omar meint, daß sich im Augenblick eine breite Allianz gegen die Extremisten auf beiden Seiten bildet, und er verlangt, daß deren Anstrengungen von den USA militärisch unterstützt werden sollen. Und zwar, indem der Ministerpräsident Maliki besser gegen Sadr und seine Leute geschützt wird. Und andererseits mit dem Ziel " to ... deal a lethal blow to Sadr and his militia in order to render him unable to inflict harm on Maliki and other members of the UIA." Sadr einen tödlichen Schlag verpassen, so daß er nicht mehr die Fähigkeit hat, Maliki und anderen Mitgliedern der UIA [United Iraqi Alliance, der Schiitenpartei] zu schaden.



    Mir scheint, Omars Analyse trifft die Situation im Irak. Die große Mehrheit der Bevölkerung will ja einen demokratischen Rechtsstaat; das hat sie bei den Wahlen und bei der Volksabstimmung über die Verfassung bewiesen. Die Extremisten aller Couleur sind weder in der Gesellschaft verankert, noch haben sie eine militärische Chance.

    Aber solange sie Einfluß auf die demokratisch gesonnenen Schiiten, die demokratisch gesonnenen Sunniten haben, können sie ihre Strategie, den Irak in den Bürgerkrieg zu treiben, erfolgreich verfolgen.

    Wie es im Irak weitergeht, wird davon abhängen, ob sich am Ende die Gemeinsamkeit der Demokraten durchsetzt (ob sich also die Mehrheit der Schiiten, die Mehrheit der Sunniten verständigen können), oder ob die Demokraten Geiseln der Extremisten ihrer jeweiligen Seite werden. Die Bürgerkrieger in Nordirland waren erst besiegt, als sich die Gemäßigten auf beiden Seiten von ihnen abgewandt hatten; nicht anders ist es der ETA im Baskenland gegangen und den Cagoules, die in Korsika auch einmal darauf gehofft hatten, einen Bürgerkrieg zu entzünden.



    Das nämlich ist immer die Strategie von Extremisten gewesen: Konflikte zu schüren, Volksgruppen gegeneinander zu treiben, in der Erwartung, daß am Ende die Friedlichen, die Demokraten sich für die Gemeinsamkeit mit den jeweiligen Extremisten entscheiden, statt für die Gemeinsamkeit der Demokraten.

    Omar ist erstaunlich optimistisch, daß die Demokraten im Irak dem widerstehen werden, mit Hilfe der USA:
    Together we succeeded in reducing the threat posed by al-Qaeda when it was identified as the biggest threat to Iraq's stability and security and now together we can do the same with Sadr and other thugs (...).

    Wir waren gemeinsam erfolgreich, als es darum ging, die von der Al Kaida ausgehende Gefahr zu verringern, als sie als die größte Bedrohung der Stabilität und Sicherheit des Irak erkannt worden war. Und jetzt können wir gemeinsam dasselbe mit Sadr und anderen Schurken machen (...).



    Vor einigen Tagen hat, weitgehend unbeachtet von unseren Medien, in Kairo einer von der Arabischen Liga organisierte irakische Versöhnungskonferenz stattgefunden. Im Irak haben gestern die USA die Kontrolle über die Provinz Nadschaf an die irakischen Streitkräfte übergeben. Auch das erschien nicht in den Schlagzeilen.

    Stattdessen wurde die Ente verbreitet, Bush spreche nicht mehr von einem Sieg im Irak-Krieg.

    In Wahrheit sind es die Terroristen, die keine Aussicht auf einen Sieg haben. Was sie allenfalls erreichen können, das ist ein Anomie; eine Situation wie, sagen wir, zeitweilig in Kolumbien oder in Somalien.

    Gewinnen können die Terroristen nicht. Nicht die El Kaida, nicht die Baath- Terroristen und nicht die Milizen von Sadr. Sie können sich, wenn sie erfolgreich sind, nur gegenseitig dezimieren.

    Oder aber die Demokraten im Irak befreien sich aus ihren Abhängigkeiten von den Extremisten und bauen mit Hilfe der USA einen demokratischen Irak auf. Nicht die Vorzeige- Republik, die sich viele im Westen vielleicht erhofft hatten. Aber doch einen Staat mit ungleich mehr politischer Freiheit und Rechtssicherheit als in allen anderen Staaten der Region, von Israel abgesehen.



    Anmerkung: Dies ist, ohne daß ich das zunächst beabsichtigt hatte, der erste Teil einer Serie "Ketzereien zum Irak". Der Titel wurde entsprechend umbenannt, am Text aber nichts geändert.

    21. Dezember 2006

    Eingebrannt. Über Denken und Sprache, CDs und eine große Enttäuschung

    Erlebnisse von besonderer Bedeutung "brennen sich ins Gedächtnis ein"; so pflegen wir zu sagen. Diese Redensart kommt von einer sehr alten Maltechnik, dem Einbrennen (Enkaustik). Dabei werden die Farbpigmente mit Wachs gemischt und heiß auf Metall oder eine andere Unterfläche aufgetragen. Das Einbrennen führt zu außerordentlich haltbaren Bildern. Daß wir noch heute farbige Werke aus dem alten Ägypten und aus Pompeji bewundern können, verdanken wir wesentlich dieser Technik. Insofern ist die Metapher des "Einbrennens ins Gedächtnis" glücklich gewählt.



    Die Sprache, so ungefähr hat es Herder einmal ausgedrückt, besteht aus abgesunkenen Metaphern. Vieles, was uns gar nicht mehr als Metapher vorkommt, war ursprünglich die Übertragung eines oft bildhaften Sinns auf einen ähnlichen Sachverhalt. Wenn ich das hier ins Spiel bringe, dann bin ich nicht auf dem Holzweg.

    Das bereichert die Sprache, kann aber auch zu Irrtümern führen. Der ursprüngliche Sinn schwingt manchmal noch mit, ungewollt und mit unter Umständen fatalen Folgen.

    Solche Irrtümer sind in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts Benjamin Lee Whorf aufgefallen, einem Ingenieur für Brandschutz. Ein Unglück, das er untersuchte, hatte zum Beispiel nach seiner Auffassung die folgende Ursache: Teer in Fässern wurde von Arbeitern als nicht brandgefährlich betrachtet, weil er nicht "brannte", das heißt keine Flammen aus ihm schlugen, wie das die Metapher des Brennens nahelegt. Er "brannte" aber sehr wohl im chemischen Sinn (das heißt, es gab eine exotherme Reaktion) und entzündete dadurch anderes Material.

    So rekonstruierte es der Brand- Experte Whorf, der später zu einem großen Sprachforscher wurde.



    Die Metapher des Brennens ist vor gut zwei Jahrzehnten in ein neues Gebiet vorgedrungen: CDs und DVDs werden "gebrannt"; eine wortgetreue Übersetzung von to burn und eine treffende Bezeichnung für den Vorgang, mit dem zunächst CDs beschrieben werden: Das Einbrennen von Vertiefungen, den pits, in die lands, die höhere Umgebung in der Aluminiumbeschichtung, die auf eine Kunststoffgrundlage aufgebracht ist.

    Wie schön, dachte ich damals - jetzt haben wir wieder etwas für's Leben, ja für die Ewigkeit. Wie bei den Schellack- Schätzchen.



    Die alten Schallplatten waren (und sind) nämlich im Grunde sehr dauerhaft. Sie leiden zwar unter Kratzern; auch muß man mit dem bekannten Knistern aufgrund elektrostatischer Aufladung der Platte rechnen, was sich mit gewissen Tinkturen in Schranken halten läßt. Aber richtig verblassen, sich verwischen, sich auflösen kann sich die Rille kaum, in die die Informationen ja ganz mechanisch eingekerbt sind.

    Das Tonband - das bekamen viele sehr bald mit, die es ab den sechziger Jahren zusätzlich zur Schallplatte verwendeten - war da anders. Magnetisierungen auf einem Kunststoffband - die können schnell weg sein. Einmal ein kräftiger Magnet an die Spule oder Kassette gehalten, und aus ist es mit der schönen Musik.

    Da bekam man ein erstes Mal eine Vorstellung von der Vergänglichkeit gespeicherter Information. Ein kleiner Kulturschock für meine Generation, die mit den fast unvergänglichen Medien des Buchs und Schallplatte aufgewachsen war.



    Schlimmer noch wurde es mit den Disketten. Mein erster Rechner war der (oder vielmehr die) Joyce. An eine Festplatte war damals, Anfang der Achtziger, nicht zu denken. Also wurde beim Start das gesamte Betriebssystem CP/M von Diskette geladen. Und plötzlich, eines Tages, nachdem ich Joyce ein paar Jahre besessen und geliebt hatte, ging das nicht mehr. Irgendwann streikte auch die Backup- Diskette, und Dateien ließen sich nicht mehr lesen.

    Der Zahn der Zeit hatte zu knabbern begonnen. Andere Diskettenformate waren nicht besser dran. Gegen diese Vergänglichkeit der Disketten war ja das Tonband, war die Audio- Kasette geradezu verfallsresistent gewesen! Damals ertönten die ersten warnenden Stimmen der Fachleute, was die Vergänglichkeit der modernen Speichermedien angeht.



    Zurück zum Brennen. Festplatten waren sicherer als Disketten. Das Sicherste an Speichermedien aber schien uns beschert zu werden, als die CD, zuerst als Audio-Speichermedium eingeführt, als CD-ROM in die Welt der Rechner ihren Einzug hielt. Denn wie bei der Schallplatte wurde da ja wieder sozusagen gemeißelt. Vertiefungen und Erhebungen, Berg und Tal, geritzt in einen "Silberling" - was konnte es Beständigeres geben? Manchmal gar noch mit Gold überzogen! Fast wie die zehn Gebote in dem Stein, in den Gott sie gehauen hat.

    Für die Ewigkeit. So dachte jedenfalls ich. So dachten viele, als wir in den Neunzigern die ersten CD-ROMs erwarben, mit einem Lexikon darauf oder dergleichen.

    Wir vertrauten der Metapher des Brennens. Und fielen ihr zum Opfer.

    Denn: Pustekuchen. Wegpusten läßt sie sich nachgerade, die Information auf CDs. Jedenfalls in den Varianten, die später hinzutraten. Heute hat das ZDF darüber berichtet; und wenn ich gerade erst die heute- Sendung des ZDF für ihre USA- Berichterstattung kritisiert habe, so möchte ich dem ZDF für diesen Bericht und das zugehörige Material ein Lob aussprechen. Ich empfehle es, dieses Material zu lesen. Dort stehen viele der traurigen Einzelheiten. Das eine oder andere will ich jetzt ergänzen.



    Warum überhaupt Erhöhungen und Vertiefungen zur binären Kodierung? Weil der Laserstrahl je nach Distanz logischerweise unterschiedlich lange braucht, um reflektiert zu werden. Das kann man als Phasenverschiebung des reflektierten relativ zum ausgesandten Laserstrahl messen; und das ist der ganze Zauber. Aus einer Vertiefung ist er etwas später zurück als aus einer Erhöhung.

    Aber eine Phasenverschiebung kann man auch anders erreichen als durch verschiedene Distanz. Und das wurde notwendig, als man wiederbeschreibbare CDs haben wollte.

    Man konnte ja nicht gut Berge und Täler immer wieder einebnen und immer wieder neu entstehen lassen; das hätte kein Silberling ausgehalten. Also mußte eine andere Lösung gefunden werden.

    Die Findigen in den Labors der Konzerne fanden eine namens AgInSbTe, einer, wie der Name es andeutet, Legierung aus Silber, Indium, Antimon und Tellurium. Diese Legierung hat die die schöne Eigenschaft, sich unter der Wärme eines geeigneten Laserstrahls vom kristallinen in den amorphen Zustand zu begeben. Und in diesen beiden Zuständen hat AgInSbTe unterschiedliche Reflektionseigenschaften; wie die Vertiefungen und Erhöhungen der herkömmlichen CD. Womit man wieder die Phasenverschiebung hatte. Andere, ähnliche Verfahren, die mit Farben arbeiteten, wurden entwickelt, was zur Vielfalt der Wiederbeschreib-Normen führte.



    Schön, sehr schön. Aber vorbei war es damit mit dem Einmeißeln, à la Berg Sinai.

    Denn auch der Zahn der Zeit verwandelt AgInSbTe aus dem kristallinen in den amorphen Zustand. Es ist ungefähr so, als würde in einer mittelalterlichen Handschrift die Tinte allmählich auslaufen und eine uniforme Fläche erzeugen. Ähnlich ist es bei den anderen, auf Farben basierenden Verfahren. Kurz, die wiederbeschreibbaren CDs haben mit einem Pudding mehr Ähnlichkeit als mit Moses' Gesetzestafeln.



    Ich sammle Material zu Arno Schmidt. Zu meinen Schätzen gehören Aufzeichnungen der "Nachtprogramme" aus den fünfziger Jahren, eigenhändig auf CD-ROM gebrannt.

    Jetzt, nachdem ich mich mit dem ganzen Ernst der Situation vertraut gemacht habe, ist mir ein großer Schrecken in die Glieder gefahren, daß die Lebensspanne dieser CD-ROMs geringer sein könnte als die mir vom Schicksal zugedachte.

    Vielleicht sollte ich das alles auf Videoband überspielen.

    Aber was ist, wann mein Videorekorder kaputt geht und auch das nagelneue, noch nicht ausgepackte Ersatz- Gerät, das ich sicherheitshalber erworben habe? Und dann gibt es vielleicht gar keine Videorekorder mehr zu kaufen.

    Die Vergänglichkeit, sie rückt näher.

    Rückblick: Die NPD und der Islamismus

    Vor vier Monaten gab es hier einen Beitrag über die Verbindungen zwischen der NPD und Islamisten. In Zettels kleinem Zimmer wurde das später mehrfach aktualisiert.

    Jetzt macht Oliver Luksic auf neue Informationen zu diesen Zusammenhängen aufmerksam.



    Man sollte das gewiß nicht überbewerten. Natürlich ist es eine Zweckallianz, durch gemeinsame Feinde und punktuell gemeinsame Interessen begründet. Aber es wirft doch ein interessantes Licht darauf, wie bedenkenlos Extremisten auch mit denen paktieren, die ihre ideologischen Antipoden sind.

    So sehr sie ihre Ideologie als politisches Instrument einsetzen - in der Praxis sind sie die größten Machiavellisten. Wir erinnern uns an den Hitler-Stalin-Pakt.

    20. Dezember 2006

    Marginalie: Bush spricht. Das ZDF berichtet

    "US-Präsident Bush spricht erstmals ... nicht mehr von einem Sieg im Irak-Krieg". So stand es auf der WebSite des ZDF unter der Überschrift "Kehrtwende im Irak-Krieg - Keine Rede mehr von Sieg".

    Die Meldung berichtet unter anderem über die heutige Pressekonferenz des amerikanischen Präsidenten. Und was sagte Bush auf dieser Pressekonferenz? Reuters zitiert ihn wörtlich (Hervorhebung von mir):
    My administration will work with Republicans and Democrats to fashion a new way forward in Iraq. Victory is still achievable.

    Meine Regierung wird mit Republikanern und Demokraten zusammenarbeiten, um einen neuen Weg vorwärts im Irak zu gestalten. Der Sieg ist weiter erreichbar.



    Die Nachrichtenredaktion des ZDF hatte ihre Behauptung auf diese Meldung der Washington Post gestützt und diese falsch übersetzt.

    Hätte sie mal hier mitgelesen.

    Rückblick: Der Merkel-Aufschwung

    Ein Rückblick diesmal nicht auf einen früheren Beitrag hier in "Zettels Raum", sondern auf einen Diskussionsstrang in Zettels kleinem Zimmer:

    Er ist gerade mal knapp drei Wochen alt. Aber das, was sich damals abzeichnete, hat in dieser kurzen Spanne gewaltig Fahrt aufgenommen: Der Merkel- Aufschwung.

    Ja, der Merkel- Aufschwung; so, wie die Rezession von 1966 manchmal als die Erhard- Rezession bezeichnet wurde. Natürlich hatte diese Rezession - damals wurde dieses Wort zum ersten Mal im Deutschen heimisch - viele Gründe; aber ein wesentlicher Faktor war doch die Person eines Bundeskanzlers, in den man kein Vertrauen mehr hatte. Der sich als genau das erwiesen hatte, was Adenauer über ihn gesagt hatte: "Der Herr Erhard ist kein Politiker".



    In diesen Tagen überschlagen sich nachgerade die Jubelmeldungen über den Zustand der Wirtschaft. "Die deutsche Wirtschaft befindet sich in einem außerordentlich starken Boom wie zuletzt 1990", so zitiert die FAZ den Ifo-Chef Hans-Werner Sinn. Und Holger Schmieding von der "Bank of America" sagte laut derselben Quelle: "Der Aufschwung wird bis in das Jahr 2008 robust bleiben". Von "Boom-Laune" berichtet die Tagesschau.

    Ebenfalls heute haben verschiedene Experten einen kräftigen Rückgang der Arbeitslosigkeit für das kommende Jahr vorhergesagt; und der Einzelhandel ist mit dem Weihnachtsgeschäft "besonders zufrieden".



    Wie vor drei Wochen geschrieben: Man reibt sich die Augen. Der Mehltau, der unter Rotgrün über Deutschland lag, ist wie weggeblasen. Die Dauer- Depression, die Zukunftsangst, die Globalisierungsfurcht, die Rotgrün mit sich gebracht hatten - was ist davon geblieben?

    Jaja, ich weiß. Derartige Entwicklungen sind immer vielen Ursachen geschuldet, das ist eine Binsenweisheit. Die deutsche Wirtschaft hat in den letzten Jahren eine große Umstrukturierung hingelegt, die sich jetzt auszahlt. Der Märchensommer 2006 hat das Seine zur Aufhellung der Stimmung beigetragen. Nach der langen Stagnation war ein Aufschwung ohnehin fällig. Und so fort.

    Alles, wahr, alles trivialerweise wahr. Nur sollte man den Einfluß der politischen Rahmenbedingungen nicht unterschätzen.

    Schröder hatte 1998 die Wahlen mit dem Slogan "Die neue Mitte" gewonnen. Er hatte den Wählern einen leibhaftigen Liberalen, Jost Stollmann, als künftigen Minister für Wirtschaft präsentiert. Kaum war er Kanzler, galt das alles nicht mehr, und statt der neuen Mitte bestimmte die alte Linke, angeführt von dem Superminister Oskar Lafontaine, zusammen mit den Gewerkschaften, im Kabinett vertreten durch Walter Riester, die Wirtschaftspolitik.

    Da hatte Schröder, kaum im Amt, zum ersten Mal das gemacht, was hinfort zum traurigen Markenzeichen rotgrüner Politik wurde. Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln. Heute hüh, morgen hott. Gesetze, mit deren "Nachbesserung" begonnen wurde, kaum daß sie im Bundesgesetzblatt standen. Unverfrorene Versprechungen wie "Halbierung der Arbeitslosigkeit". Ein Finanzminister, dessen Prognosen am Ende so ernst genommen wurden wie die Jahresprognose eines Jahrmarkts-Astrologen. Eine Regierung, die ihre Geschäfte so führte, wie der Billige Jakob seine Waren anpreist.



    Investitionsentscheidungen, Standortentscheidungen verlangen eine hinreichend sichere Planungsgrundlage, also eine verläßliche Regierung. Eine derart unsolide Regierung wie die der Rotgrünen erzeugte das Gegenteil von Planungssicherheit.

    Die leise, bestimmte und zuverlässige Art, in der die Kanzlerin Merkel regiert, hat das Vertrauen zurückgebracht, das die rotgrünen Hallodris in sieben Jahren ihres Regierungs- Schmierentheaters verspielt hatten.

    Auf Vertrauen allein läßt sich kein Wirtschaftsaufschwung bauen, das ist wahr. Aber ohne Vertrauen ist er nicht zu bekommen.

    19. Dezember 2006

    Rückblick: Ein Schädel und ein Skandal

    Knapp zwei Monate ist er jetzt her, der "Bundeswehr- Skandal", der damals sogar die ARD- Tagesschau zu einem "Brennpunkt" veranlaßte. Von der "Schändung eines Toten" durch Bundeswehr- Soldaten berichtete Spiegel- Online; von "Abscheu" und "Entsetzen".

    In dem Blog zu diesem Thema habe ich damals versucht, die Proportionen zurechtzurücken. "Die an dem Vorfall beteiligten Soldaten haben sich einen Rüffel verdient. Das zu einem Skandal aufzuplustern, ist lächerlich", war das Fazit.

    Aufgeplustertes pflegt früher oder später in sich zusammenzufallen. Das ist jetzt geschehen. Niemand hat "einen Toten geschändet", wie Spiegel- Online phantasiert hatte, oder auch nur die Totenruhe gestört. Es hatte eine Disziplinlosigkeit gegeben, makabre Scherze mit herumliegenden Totenschädeln.

    Die Beteiligten bekommen dafür ihre Disziplinarverfahren, und das war's denn auch. "So endet eine Affäre, deren Wellen hoch schlugen ..., recht sang- und klanglos", schreibt dazu heute die FAZ.



    Den Blog hatte ich an dem Tag geschrieben, als der "Skandal" begann. Alle Fakten, so wie sie jetzt aktenkundig sind, waren damals also schon bekannt. Jeder Journalist, der sich um das Thema kümmerte, mußte zu dem Schluß kommen, den ich damals gezogen habe.

    Warum dann der tagelange "Skandal"? Warum diese Berichterstattung wider besseres Wissen? Manchem mag die Frag naiv erscheinen. Die einen meinen zu wissen, daß es immer nur um Auflage geht, um Sehbeteiligung. Andere sind ebenso überzeugt, daß so etwas politisch gesteuert und gewollt ist; hier als Inszenierung zur Diskreditierung der Bundeswehr, zur Diskreditierung des deutschen Afghanistan- Einsatzes, letztlich ein Stück Agitation im Kampf gegen die USA, gegen die Freiheit.

    Wie will man das herausfinden, wie die Motive ergründen? Ich habe diese Frage in den Blog offengelassen, und ich weiß jetzt nicht mehr als damals. Am ehesten neige ich der Vermutung zu, daß es eine Kombination beider Motive ist; in unterschiedlichem Mischungsverhältnis bei den einzelnen Journalisten, den einzelnen Medien. Mit den Grenzfällen, daß es nur um's Geschäft geht oder nur um politische Agitation.

    Marginalien

    Marginalien sind nichts anderes als Randbemerkungen. Aber "Marginalie" klingt im Deutschen zierlicher, leichter, unverbindlicher als "Randbemerkung".

    Wenn es, wie ich das vorhabe, künftig in Zettels Raum immer mal wieder "Marginalien" geben wird, dann sind das kurze Blogs; kurz jedenfalls in Relation zur Länge der meisten Beiträge.

    Marginalien, das sind nur Einfälle, kleine Gedanken. Aperçus. Zu deutsch: Verstandenes, Begriffenes, Wahrgenommenes. Und sozusagen punktuell Mitgeteiltes, ohne den Versuch, eine Argumentation zu entwickeln.




    Ich habe, wie immer, am Montag den SPIEGEL gelesen; in Teilen natürlich. Ich werde ihn im Lauf der Woche vollständig lesen; so, wie ich es tue, seit mir der SPIEGEL als Acht- oder Neunjährigem den Blick in die Welt eröffnet hat. Das ist bei mir eine Zwangshandlung. Auf den SPIEGEL lasse ich nichts kommen; das ist wie eine religiöse Konditionierung.

    Aber man lökt gegen den Stachel, natürlich.



    Also, erstens, Seite 5: Das ist die Seite der Hausmitteilung. Nur, so seltsam hat vermutlich noch nie eine Hausmitteilung geendet, seit der SPIEGEL diese Rubrik eingeführt hat:
    ... wird in einem der nächsten Hefte ein Stück über die Bildungsmisere der Schulen veröffentlicht.
    Ein Stück? Dann wird vermutlich demnächst die Schaubühne am Lehniner Platz einen Artikel von Botho Strauss aufführen?

    Und was soll diese Ankündigung überhaupt am Ende der "Hausmitteilung"; im Anschluß an den Hinweis, daß der nächste SPIEGEL schon kommenden Freitag erscheint?

    Seltsam das. Sehr seltsam.



    Zweitens, Seite 37: Ein Interview mit einem Sozialisten - nämlich einem Mitglied der PDS-Fraktion im Bundestag. Dieser Mann, der es früher einmal bis zum Richter am Bundesgerichtshof gebracht hatte, war kürzlich Praktikant beim BND.

    Nicht schlecht, die Idee. Vermutlich hatten beide beteiligte Seiten sich vorgenommen, den anderen nach Kräften auszutricksen. Sozialist gegen Sicherheitsdienst des Klassenfeindes - das hat ja schon was.

    Wem das Übertölpeln des Anderen besser gelungen ist, das wollen wir mal offenlassen. Vermutlich waren beide zufrieden. Jeder dachte, daß er den Anderen prima reingelegt hatte; so denke ich mir das.

    Aber was sagte dieses Mitglied einer sozialistischen Fraktion über den BND im Interview mit dem SPIEGEL?
    "Als eher geheimdienstkritischer Beobachter war ich überrrascht, wie viele intelligente Menschen mit Hochschulabschluß dort versammelt sind".
    Ja, glaubte der denn, der BND sei wie das MfS?



    Drittens, Seite 26: Der dickste Klops im SPIEGEL dieser Woche ist dort zu finden, wo ich ihn am wenigsten vermutet hätte: In einem Artikel, der von Jan Fleischhauer, Dietmar Hipp, Horand Knaup, Ralf Neukirch unterzeichnet ist. Exzellente Journalisten, alle vier.

    Aber wer von den vieren hat wohl dies zu verantworten:
    "... ist er [Köhler] der Regierung bei ihrer vornehmsten Aufgabe, der Gesetzgebung, in den Rücken gefallen..."
    Die Gesetzgebung als die vornehmste Aufgabe der Regierung?

    Dann ist ja vermutlich die Führung der Regierungsgeschäfte die vornehmste Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts? Und die höchstrichterliche Rechtsprechung die vornehmste Aufgabe des Bundestags?

    18. Dezember 2006

    In eigener Sache

    Die Wiener "Presse" hat in ihrem Meinungsteil eine Rubrik "Fangnetz", in der mehrfach pro Woche ein Artikel aus einem Weblog in längeren Auszügen zu lesen ist.

    Ich freue mich, daß der Beitrag, der für die morgige Ausgabe ausgewählt wurde, aus "Zettels Raum" kommt.

    Auch künftig wird man vielleicht gelegentlich das eine oder andere aus "Zettels Raum" dort zitiert finden können.

    17. Dezember 2006

    Kein schöner Tod. Aber eine schöne Leiche

    Der Gouverneur von Florida, Jeb Bush, hat die Vollstreckung der Todesstrafe in seinem Bundesstaat ausgesetzt, nachdem es bei einer Hinrichtung am Mittwoch 34 Minuten gedauert hatte, bis der Delinquent endlich tot war.

    Die Todesstrafe ist eine barbarische Strafe, und zwar im Wortsinn: Sie hat etwas Archaisches. Ein Relikt aus traditionellen Kulturen, aus voraufklärerischer Zeit. Fast zu allen Zeiten und in allen Kulturen hatte ihr Vollzug zwei charakteristische Merkmale:
  • Die Hinrichtung war grausam, oft unbeschreiblich grausam. Wer sich die abstoßenden Details ansehen will, der findet in der Wikipedia alle bekannten Exekutionsarten sorgfältig beschrieben. Ein Panoptikum des sozial akzeptierten, ja von Religion, Sitte und Gesetz gebotenen Sadismus. Ein cave! auch in Bezug auf das, was Menschen Menschen antun können, sanktioniert durch die Normen ihrer Gesellschaft.

  • Der Vollzug der Todesstrafe war ein soziales Ereignis. Eine öffentliche Zeremonie, ein Schauspiel; manchmal etwas geradezu Festliches. Ein Event, um es in heutiger Sprache zu sagen.



  • Von diesem archaischen Charakter der Todesstrafe ist heute kaum etwas geblieben; auch wenn sie in zivilisatorisch zurückgebliebenen Ländern wie dem Iran, Saudi-Arabien und China noch öffentlich vollstreckt wird, und teilweise (wie beim Steinigen im Iran) auch noch mit großer Grausamkeit.

    Insgesamt hat sich aber doch die Menschlichkeit so weit durchgesetzt, daß man mit dem Delinquenten meist kurzen Prozeß macht. Und dort, wo seit der Aufklärung in zivilisierten Ländern noch von Staats wegen getötet wird, geschah und geschieht das durchweg unter weitgehendem Ausschluß der Öffentlichkeit.

    Am konsequentesten war in dieser Hinsicht die DDR, in der Hinrichtungen sogar vor den Angehörigen geheimgehalten und in einem sozusagen überfallartigen Verfahren vollzogen wurden. Das letzte Opfer dieser Methode des Hinrichtens war Werner Teske, der 1981 in der Weise getötet wurde, daß der Henker aus einer Tür hinter ihn trat und ihn erschoß. Mit diesem "unerwarteten Nahschuß" setzte die DDR sozusagen den Schlußpunkt unter eine Entwicklung, die seit der Aufklärung weg von der öffentlichen und grausamen Exekution geführt hat.



    In den USA hat diese Entwicklung etwas hervorgebracht, das an dem jetzt aktuellen Fall wieder einmal besonders augenfällig - und in seiner ganzen Absurdität - hervorgetreten ist: Eine Vorliebe für unblutige Hinrichtungsarten.

    Wenn man jemanden schnell und weitgehend schmerzlos töten möchte, kann man das durch Köpfen oder Erschießen tun. Aber dabei wird Blut vergossen. Grausam sind diese Hinrichtungsarten nicht für den Delinquenten, aber unter Umständen für denjenigen, der sich das ansehen muß. In den USA wird infolgedessen (mit wenigen Ausnahmen) auf drei Arten hingerichtet, die zu einer schönen Leiche führen, einem heilen Körper des Toten: Vergasen, Elektro-Exekution, die Giftspritze.

    Alle drei Hinrichtungsverfahren sind mit einem - im Vergleich zum Erschießen, Köpfen, sogar zum Henken - langen Todeskampf verbunden; manchmal gelangen fürchterliche Einzelheiten an die Öffentlichkeit. Aber am Ende hat man eine schöne Leiche.



    Ist das pervers? Ja, gewiß.

    Für die Todesstrafe gibt es keine rationale Begründung. Ihre Irrationalität und Inhumanität hat schon 1764 der italienische Aufklärer Cesare Beccaria in seinem Buch Dei delitti e delle pene (Über die Verbrechen und die Strafen) dargelegt; das achtundzwanzigste Kapitel dieses Werks enthält so gut wie alle Argumente gegen die Todesstrafe.

    Für die Todesstrafe gibt es aber sehr wohl irrationale Motive. Sonst wäre sie ja nicht in fast allen Kulturen zu allen Zeiten heimisch gewesen. Die Art, wie man sie stets vollstreckt hat - grausam und öffentlich - weist auf diese Motive hin: gemeinsame Rachsucht, gemeinsame Schaulust, die gemeinsame Lust am Entsetzlichen.

    Wenn man also schon, wie in den USA, Menschen langsam und qualvoll vergast, elektrokutiert (ja, so heißt das, electrocution), wenn man sie an der Giftspritze sterben läßt - warum dann nicht wieder öffentlich, vielleicht im Rahmen einer großen TV-Show? Und warum nicht auf andere Arten, die auch nicht qualvoller sind - henken, verbrennen, in eine Schlangengrube werfen, von Elefanten zertreten lassen?



    PS für Begriffsstutzige: Nein, diesen letzteren Vorschlag meine ich nicht ernst.

    PS für Antiamerikaner: Die letzte Hinrichtung in Großbritannien fand 1964 statt, die letzte in Frankreich 1977. Der US-Staat Michigan schaffte die Todesstrafe 1847 ab.

    Venezuela auf dem Weg in den real existierenden Sozialismus

    Das erste Mal ist es mir Mitte August aufgefallen, als der staatliche cubanische TV-Sender CubaVision einen Bericht aus Castros Krankenzimmer brachte: Nicht der amtierende Präsident, Fidels Bruder Raùl, wurde als Besucher groß herausgestellt, sondern Hugo Chávez.

    Ich habe das dann ein wenig verfolgt und in "Zettels kleinem Zimmer" von Zeit zu Zeit dokumentiert: Wie Chávez von der cubanischen Propaganda immer mehr als der Nachfolger Castros aufgebaut wurde. Als Nachfolger mindestens, was die Führung des lateinamerikanischen Kommunismus anging. Aber vielleicht auch, wer weiß, mit der Perspektive einer Vereinigten Bolivarischen Republik aus Cuba und Venezuela.

    Parallel zu dieser propagandistischen Herausstellung von Chávez durch Cuba häuften sich die Hinweise darauf, daß die Wahlen vom 3. Dezember die letzten halbwegs freien Wahlen in Venezuela sein würden. Daß es Chávez mit Hilfe von Zehntausenden von cubanischen Geheimdienstlern, die bereits im Land waren, schaffen würde, diese Wahlen zu gewinnen, war klar. Und danach würde er freie Hand haben.



    Jetzt ist Venezuela auf dem Weg in die Dikatur des Proletariats. Chávez ist offensichtlich entschlossen, die Weichen dafür sofort zu stellen. Das zeigen zwei Meldungen, die gestern zu lesen waren.

    Die eine verbreitet der englischsprachige Dienst der cubanischen Nachrichtenagentur Prensa Latina. Sie erscheint mir so interessant, daß ich sie vollständig dokumentiere und übersetze (Hervorhebungen von mir):
    Chavez for United Socialist Party

    Caracas, Dec 16 (Prensa Latina) The creation of a united organization of the revolution, the construction of socialism and constitutional changes stand as key points of the Venezuelan political agenda from 2007. In his most recent speech on those issues, President of the Republic Hugo Chavez announced the creation of the Venezuelan United Socialist Party "because that is what the revolution requires" and called on his followers to support that idea.

    "Socialism constitutes the central axis within such a wide spectrum of challenges," the dignitary said. Chavez called for those organizations supporting him to give up individual colors and acronyms because what the revolution really needs is a united party instead of an alphabet soup, he stressed.

    Similarly, he called to maintain the battalions and squad structures of the Miranda Command created in the context of December 3 elections as the base of the Socialist United Party. In relation to the constitutional changes, the president stated that the reforms should entail the call for a Constituent Assembly.

    Chávez für eine Sozialistische Einheitspartei

    Caracas, 16. Dezember (Prensa Latina). Die Schaffung einer vereinigten Organisation der Revolution, der Aufbau des Sozialismus und Verfassungsänderungen bilden die entscheidenden Punkte der venezolanischen politischen Agenda für 2007. In seiner neuesten Ansprache zu diesen Themen verkündete der Präsident der Republik, Hugo Chávez, die Schaffung der Venezolanischen Sozialistischen Einheitspartei, "weil das die Revolution verlangt", und rief seine Anhänger dazu auf, diese Absicht zu unterstützen.

    "Der Sozialismus bildet die Hauptachse innerhalb eines solchen weiten Spektrums von Herausforderungen", sagte der Würdenträger. Chávez forderte diejenigen Organisationen, die ihn unterstützen, dazu auf, die einzelnen Farben und Abkürzungen aufzugeben, denn das, was die Revolution wirklich braucht, ist eine Einheitspartei, statt einer Buchstabensuppe, betonte er.

    Zugleich rief er dazu auf, die Strukturen der Bataillone und Schwadrone des Miranda- Kommandos, die im Zusammenhang mit den Wahlen vom 3. Dezember geschaffen wurden, als Basis der Sozialistischen Einheitspartei zu nutzen. Hinsichtlich der Verfassungsänderungen stellte der Präsident fest, daß die Reformen zur Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung führen sollten.

    Wie erinnerlich, begann die Herrschaft der Bolschewiken damit, daß es ihnen gelang, eine Verfassungsgebende Versammlung zu dominieren, obwohl sie numerisch damals noch in der Minderheit waren. Chávez ist heute in einer ungleich besseren Position; auch in einer weit besseren als die KPD, als sie 1946 vor der Aufgabe stand, die viel größere SPD zu schlucken.



    Die zweite heutige Meldung aus Venezuela findet man zum Beispiel bei Bloomberg: Wie die Bloomberg-Korrespondentin Theresa Bradley aus Caracas berichtet, hat der venezolanische Kongreß einstimmig (mit 167 zu 0 Stimmen) ein Gesetz gebilligt, das eine Arbeitsdienstpflicht für alle Bürger und Bürgerinnen Venezuelas einführt. Als Ziel nennt die Regierung, "to generate a culture capable of putting the collective before the individual"; also eine Kultur zu schaffen, die in der Lage ist, das Kollektiv vor das Individuum zu stellen.

    Das neue Gesetz bestimmt, daß jede Person zwischen 15 und 50 Jahren zwei Jahre lang mindestens fünf Stunden im Monat gemeinnützige Arbeit leisten muß; und zwar in Schulen, Parks, Job-Zentren und auf dem Bau. Studenten müssen nach ihrem Abschluß ein ganzes Jahr im Arbeitsdienst arbeiten.

    Das Gesetz verpflichtet jedes Privatunternehmen und jede Behörde dazu, einen eigenes Sozialdienst-Netz einzurichten. Ein Komitee wird das alles überwachen. Es wird des weiteren eine neue Regierungsbehörde eingerichtet, die vom Ministerium für Volksbeteiligung (Ministry for Popular Participation) koordiniert wird.

    Wer seiner Arbeitsdienstpflicht nicht nachkommt, wird mit Geldstrafe oder mit zusätzlichen Arbeitsdienst-Stunden bestraft.

    Ein fast perfektes Gesetz, scheint mir, um den Übergang zur Diktatur des Proletariats einen entscheidenden Schritt voranzubringen.

    Denn alle Bürger unterliegen damit der Kontrolle einer Arbeitsbehörde. Und wer sich weigert, in Parks oder auf dem Bau zu arbeiten - auch wenn er Unternehmer, Künstler oder Professor ist, oder wenn eine alleinerziehende Mutter sich weigert, ihre Kinder im Stich zu lassen -, der ist automatisch ein Gesetzesbrecher.



    Meine Vermutung war und ist zugegebenermaßen spekulativ: Daß es zwischen Cuba und Venezuela auf eine Kooperation, wenn nicht einen staatlichen Zusammenschluß hinausläuft. Mit Chávez als dem Nachfolger Castros. Mit dem venezolanischen Öl und dem Repressionsapparat Cubas, die, vereint, das Überleben dieser bolivarischen Variante des Kommunismus vermutlich für einige Zeit sichern könnten.



    Noch eine Bemerkung: Ich wundere mich immer wieder darüber, wie gutgläubig viele Demokraten es den Kommunisten der PDS abnehmen, daß sie in der "Demokratie angekommen" seien, daß sie auf das Ziel der erneuten Errichtung einer Diktatur des Proletariats verzichtet hätten. Hier habe ich dieses Staunen zu formulieren versucht.

    Manche, die Kleingläubigen unter den Kommunisten, mögen ja resigniert haben. Aber die wirklich von ihrem Glauben durchdrungenen Marxisten müssen doch aus dem, was sich im Augenblick in Lateinamerika zuträgt, größte Hoffnung schöpfen.

    Gut, der erste Anlauf ist gescheitert. Aber es ist aus ihrer Sicht doch mit Händen zu greifen, daß der nächste Versuch, die Diktatur des Proletariats zu realisieren, bereits sehr erfolgversprechend im Gang ist.

    Und da sollten sie jetzt die Flinte ins Korn werfen und ihre kommunistische Überzeugung aufgeben? Dat kannse deine Omma erzählen, sagt man im Ruhrgebiet.

    16. Dezember 2006

    Kleinstaaterei? Ja, natürlich.

    Uns Deutschen droht schlimmes Ungemach. Wie Sat1 meldet, "warnte" der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung- Genuss- Gaststätten (NGG), Franz Josef Möllenberg, daß Deutschland sich "lächerlich machen" könne. Der Präsident der Ärztekammer, Jörg-Dietrich Hoppe, verwendete für das drohende Chaos gar das Wort "aberwitzig".

    Laut FAZ sagte der niedersächsische Ministerpräsident Christian Wulff, man wolle alles daran setzen, "einen Flickenteppich zu vermeiden". Und sein nördliches Nachbarland sieht, wie die Lübecker Nachrichten melden, die Lage ähnlich ernst: ""Wenn Deutschland jetzt in die Kleinstaaterei zurückfallen würde, ... dann wäre das wirklich peinlich", so die schleswig- holsteinische Ministerin für Gesundheit.



    Der geneigte Leser, die geneigte Leserin, wird längst erraten haben, welches Schreckens- Szenario diese Funktionäre und Politiker an die Wand malen: Es könnte passieren, daß das Rauchverbot in Gaststätten in den deutschen Ländern unterschiedlich geregelt wird.

    Das entspricht der Gesetzeslage nach der ersten Stufe der Reform des Föderalismus. Die die Gaststätten betreffende Gesetzgebung ist durch sie zur Ländersache geworden.

    Die Föderalismus- Reform war weithin begrüßt worden. Aber jetzt, da wir diese Reform haben, scheint vielen erst aufzugehen, was wir mit ihr Schreckliches bekommen haben: Was wir tun und lassen dürfen, ist vielleicht demnächst von Bundesland zu Bundesland verschieden. Jedenfalls, sobald wir uns am Tisch eines Restaurants niedergelassen oder den Hocker am Tresen erklommen haben.

    Die Angst vor dieser fürchterlichen Perspektive geht um, und sie scheint zuzunehmen.

    Vor ein paar Tagen habe ich einen TV-Bericht gesehen, in dem zu diesem Thema der Gast einer Kneipe im Thüringischen befragt wurde. Er saß am Tresen vor seinem Bier und sinnierte darüber, daß er dann ja vielleicht in Thüringen in der Kneipe rauchen dürfe und ein paar Kilometer entfernt, schon im Hessischen, nicht. Und wie solle man immer wissen, ob man nun gerade in Thüringen sei oder in Hessen?

    Tja, wie soll man?

    Ähnliche Sorgen scheinen die meisten Bundesbürger umzutreiben. Laut gestrigem Politbarometer sprachen sich 80 Prozent der Befragten für eine bundeseinheitliche Regelung des Rauchverbots aus.



    In Deutschland, so wird oft behauptet, gebe es eine historisch tief verwurzelte föderalistische Tradition. Das stimmt insofern, als Deutschland buchstäblich über ein Jahrtausend ein Land der Stämme mit ihren Herzögen und Königen, dann ein Land der Kleinstaaten gewesen ist; in der Tat ein "Flickenteppich".

    Auch das Bismarck-Reich, auch die Weimarer Republik waren ja in Länder gegliedert. Es gab überhaupt nur zwei Episoden eines deutschen Einheitsstaates; und das waren die beiden schlimmsten in der deutschen Geschichte: Den Nazi-Staat, der die Länder faktisch (aber nicht eigentlich formal) abgeschafft hatte, und den SED-Staat, der sie vollkommen beseitigt hatte.

    Woher also dieses blanke Entsetzen angesichts des Gedankens, daß man im einen Bundesland am Tresen seine Camel rauchen darf, im anderen nicht? Ich weiß es nicht; aber es kommt mir so vor, als habe sich, gewissermaßen als Unterströmung, in Deutschland längst ein einheitsstaatliches Denken durchgesetzt. Mir scheint, daß auch hier das gemeinsame Erbe der Nazis und der Kommunisten nicht nur nicht überwunden, sondern noch sehr virulent ist.

    "Wozu eigentlich diese Länder? Die kosten uns doch nur Geld. Wir müssen sechzehn Parlamente und Regierungen bezahlen. Die Lehrpläne in den Schulen sind verschieden. Die einen Länder sind reich und die anderen arm. Ohne die Länder ginge es gerechter zu in Deutschland." Ich kenne keine Umfrage, die die Meinung zu solchen Statements gemessen hätte. Aber ich vermute, daß die Zustimmungsquote sehr hoch wäre.

    Mit anderen Worten, ich vermute und fürchte, daß wir Deutschen im Grunde keine Föderalisten (mehr) sind. Vielleicht mit Ausnahme der Bayern.



    Reden wir nicht vom Föderalismus allgemein und historisch. Reden wir vom Föderalismus in Bezug auf das Rauchverbot. Und erheben wir den Blick, lassen wir ihn schweifen und richten wir ihn auf die USA. Hier ist eine Liste der Rauchverbots- Regelungen in den USA.

    In Citronelle, Alabama, ist seit dem 1, März 2006 das Rauchen am Arbeitsplatz, in Restaurants, in Bars, in Tagesstätten und in öffentlichen Parks verboten. In Pell City, immer noch Alabama, ist hingegen das Rauchen seit April 2006 in Restaurants, aber nicht in Bars verboten. In Restaurants ist es erlaubt, wenn der Raucherbereich von dem der Nichtraucher getrennt ist und er eine eigene Abluftanlage hat.

    Das war jetzt Alabama; und ich habe es aus Faulheit ausgesucht, weil es oben auf der alphabetischen Liste steht. Der Leser, die Leserin ist eingeladen, die Liste durchzugehen. Bis, sagen wir, West Virginia. Dort gibt es Einschränkungen des Rauchen in unterschiedlichem Umfang, außer in Mingo County, Pocahontas County und Monroe County, wo weiter alle überall rauchen dürfen. Oder bis zu Wisconsin, wo in der Stadt Madison seit dem ersten Juli 2005 Rauchverbote gelten. Aber man ist dort doch so raucherfreundlich, daß "Zigarrenbars" zugelassen bleiben.



    So funktioniert Demokratie. Die Bürger selbst entscheiden, was in ihrer Gemeinschaft gilt und was nicht.

    Und wem es in einer Gemeinde nicht gefällt, wer deren Gesetze nicht mag, der zieht eben dorthin, wo er sich mehr wohlfühlt.

    Kleinstaaterei? Ja, natürlich. Oder, wenn wir es europäisch- gestelzt audrücken wollen: Subsidiarität!