10. November 2006

Zum Jahrestag des Mauerfalls: Ein fiktiver innerer Monolog

Die DDR ist Vergangenheit. Ist die DDR Vergangenheit? Ich sehe keine Anzeichen dafür, daß diejenigen, die die DDR regiert haben, deren Ende als das Scheitern ihres Bestrebens ansehen, eine sozialistische Gesellschaft zu errichten.

Das hat diesen Beitrag motiviert, eine Fiktion. Ich stelle mir einen Menschen aus der DDR-Elite vor, der auch nach der Wende noch politisch Karriere machen konnte. Sagen wir, er war in der DDR leitender Funktionär in einem Berufsverband, dem alle in diesem Beruf Tätigen angehören mußten, oder er war ein leitender Kulturfunktionär. Er war das nicht aus Opportunismus, sondern aus Überzeugung; ein Mensch, der an die Richtigkeit des Marxismus-Leninismus glaubt. Jetzt arbeitet er - so stelle ich es mir vor - immer noch an führender Stelle in seiner Partei, auch wenn diese sich inzwischen in PDS umbenannt hat und in Linkspartei.

Ich stelle mir vor, was er denkt. Das Folgende ist also erdacht: Das, was Zettel sich denkt, was dieser von ihm gedachte Ex-Funktionär sich denkt.



In welcher historischen und strategischen Situation befinden wir uns?

Der Untergang der DDR und des gesamten real existierenden Sozialismus in Europa ist der bisher größte Rückschlag, den wir seit dem Beginn der kommunistischen Bewegung erlitten haben. Wir haben ihn teils dem Verrat Gorbatschows zu verdanken. Teils geht er aber auch auf schwere Fehler zurück, die wir beim Aufbau des Sozialismus gemacht haben. Wir müssen aus diesem Rückschlag die Konsequenzen ziehen. Aber die Konsequenz kann nicht sein, auf das Ziel des Aufbaus des Sozialismus zu verzichten.

Wir werden über den Kapitalismus siegen, weil die unumstößlichen Gesetze der Geschichte es so bestimmen. Marx hat uns gelehrt, daß der Kapitalismus zum Untergang verurteilt ist und daß die Dialektik der Geschichte mit Notwendigkeit die Diktatur des Proletariats, den Sozialismus und schließlich den Kommunismus hervorbringen wird.

Wir sehen in unserer Gegenwart, wie die Widersprüche im Kapitalismus immer mehr zunehmen, wie er immer mehr an Massenloyalität einbüßt. Die Klassengegensätze verschärfen sich; immer mehr zerfällt die Gesellschaft in wenige Reiche, die immer reicher werden, und die Masse der Lohnabhängigen, die immer mehr ins Prekariat absinkt. So hat es Marx vorhergesagt, und so tritt es jetzt ein. In Deutschland vertraut bereits die Mehrheit nicht mehr der bürgerlichen Demokratie. Noch ist keine revolutionäre Situation erreicht, aber die objektiven Tendenzen der Geschichte bewegen sich auf sie zu.

Es wäre abwegig, unwissenschaftlich und kleinbürgerlich, in dieser Situation das Ziel der Diktatur des Proletariats und der anschließenden Entwicklung hin zum Kommunismus fallenzulassen. Vielmehr ist das Scheitern des ersten Versuchs, einen realen Sozialismus in Europa zu schaffen, nur eine verlorene Schlacht, nicht der verlorene Krieg. Wir müssen jetzt klug sein, uns geschickt tarnen und geduldig warten, bis die objektiven Bedingungen dafür herangereift sind, wieder zum Aufbau des Sozialismus überzugehen. Wir müssen unter den gegenwärtigen Bedingungen parlamentarisch arbeiten und Machtpositionen erobern, die wir benötigen, wenn die sozialistische Revolution wieder auf der Tagesordnung der Geschichte stehen wird.



Wie kam es zu dem schweren Rückschlag vom 9. November 1989?

  • Unserer größter Irrtum war die Hoffnung, der Sozialismus ließe sich in einem Staat aufbauen, der nur einen Teil Deutschlands umfaßte. Wir haben zwar mit allen Mitteln versucht, die BRD zur Anerkennung der DDR zu bringen, und hatten die SPD auch soweit. Aber die reaktionären Kräfte und vor allem das in ihren Diensten urteilende BVG haben das verhindert. Die BRD hat die DDR nicht als Staat anerkannt. Unsere Menschen lebten dadurch geistig immer zum Teil in der BRD. Sie verglichen die Lebensbedingungen im Sozialismus mit denen in der BRD, wie das Fernsehen sie ihnen vorgaukelte. Sie wollten latent immer Bundesbürger werden. Deshalb war unser Grenzregime erforderlich, das uns erst recht die Loyalität vieler unserer Menschen gekostet hat.

  • Unser zweiter schwerer Fehler war es, daß es uns nicht gelungen ist, die Produktivkräfte so zu entfalten, wie das im Kapitalismus geschah und geschieht. Die materiellen Bedürfnisse unserer Menschen konnten niemals hinreichend befriedigt werden. Das lag an einer Planungsstruktur, die die Möglichkeiten der modernen Technik der Kommunkation und Steuerung nicht genutzt hat.

  • Ein dritter Fehler war, daß wir uns antiquierter Methoden der Agitprop bedient haben. Das ND war langweiliger als der Rundbrief eines Kaninchenzüchtervereins. Die Propaganda in der "Aktuellen Kamera" war so plump und so durchsichtig, daß niemand sie ernst nahm und selbst treue Genossen sich aus dem Westfernsehen informierten. Wir waren propagandistisch schon lange nicht mehr auf der Höhe der Zeit, als die DDR zusammenbrach.



  • Was folgt daraus für unsere jetzige Strategie und Taktik?

  • Der Sozialismus ist für wenigstens eine Generation diskreditiert. Folgerung: Wir reden vorerst überhaupt nicht vom Aufbau des Sozialismus oder gar vom Übergang zur Diktatur des Proletariats. Wir stellen uns als eine soziale Partei dar, die die Sorgen der kleinen Leute ernst nimmt und die die kapitalistischen Ausbeuter bekämpft. Wir bekennen uns ausdrücklich zum Grundgesetz; so, wie es die DKP zu Zeiten der alten BRD getan hat.

  • In dieser jetzigen Phase geht es um dreierlei: Erstens die Organisation intakt zu halten. Zweitens Sympathie für uns zu gewinnen, uns als Partei der sozialen Gerechtigkeit, als Partei der Kleinen Leute zu profilieren. Und drittens geht es darum, zur Zuspitzung der Widersprüche in der jetzigen Phase des Imperialismus beizutragen, indem wir die SPD mit Forderungen unter Druck setzen, die bei ihrer Realisierung die Krise des Kapitalismus weiter verschlimmern würden, die andererseits aber auch die SPD nur schwer ablehnen kann, weil sie das Etikett "soziale Gerechtigkeit" tragen.

  • Wenn dann die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus wieder zu einem allgemeinen Zusammenbruch geführt hat, wie Ende der Zwanziger Jahre, wird sich das Kräfteverhältnis zu unseren Gunsten ändern. Irgendwann werden die Menschen vom Kapitalismus und der angeblichen Demokratie des bürgerlichen Staats so enttäuscht sein, daß sie Alternativen suchen. Sie werden sie teils bei den Faschisten suchen, teils bei uns. Es wird sich also wieder eine Situation ergeben ähnlich wie um 1930.

  • Ein Teil unserer Vorbereitung auf diese Situation besteht darin, daß wir schon jetzt alle politischen Kräfte rechts von der Sozialdemokratie als faschistisch oder faschistoid im allgemeinen Bewußtsein verankern. Das Ziel muß es sein, daß SPD und PDS als eine gemeinsame Linke wahrgenommen werden und CDU und FDP zusammen mit den Rechtsextremisten als reaktionäre Kräfte, gegen die wir Antifaschisten kämpfen. Es muß ein linkes Lager geben, zu dem wir gerechnet werden, und ein rechtes, zu dem von der CDU bis zur NPD alle rechts von der SPD gehören.

  • In der bevorstehenden allgemeinen Krise des Kapitalismus wird dann die SPD eher bereit sein, mit uns zusammenzugehen als mit den reaktionären Kräften. Jedenfalls dann, wenn wir alles getan haben, die SPD-Linke zu stärken. Damit ist die strategische Situation ungleich günstiger als 1930. Wenn es uns gelingt, die SPD mit uns in eine gemeinsame Front zu bringen, werden wir in diesem linken Bündnis sehr schnell die Macht übernehmen, so wie nach der Gründung der SED. Wir werden das dank unserer überlegenen Theorie und unserer ungleich besseren Organisation und Disziplin. Damit sind beste Voraussetzungen für eine erneute sozialistische Revolution gegeben. Auch Lenin hat aus einer extremen Minderheitsposition heraus die Macht erobert.



  • Wie wird dann der erneute Aufbau des Sozialismus aussehen müssen, damit er diesmal Bestand hat?

  • Nach der Wiedererrichtung des Sozialismus werden wir die Fehler der DDR vermeiden. Eine BRD, die uns die Loyalität unserer Menschen stiehlt, wird es dann ja nicht mehr geben. Wir werden die modernste Computertechnologie einsetzen, um die materiellen Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen. Wir werden uns in der Agitprop der medialen Mittel bedienen, die wir in der BRD erlernt haben.

  • Selbstverständlich wird es aber auch in diesem neu aufzubauenden Sozialismus weder ein Mehrparteiensystem geben, noch ein mit irgendwelchen Befugnissen ausgestattetes Parlament, noch gar eine Justiz, die von den Weisungen der Leitung unabhängig wäre. Gerade das Scheitern der DDR lehrt uns, daß wir unseren Feinden keinen Spielraum lassen dürfen. Der neue Sozialsmus wird viel mehr tun, als es die DDR jemals geschafft hat, um seinen Menschen das Bewußtsein von Zufriedenheit zu geben. Aber niemals darf ihnen auch nur der geringste Einfluß auf die Enscheidungen der Parteileitung und der Regierung gegeben werden. Der demokratische Zentralismus allein wird den Bestand des Sozialismus und schließlich den Übergang zum Kommunismus gewährleisten. Nur so können wir verhindern, daß uns erneut die Macht entgleitet. Wir werden uns den Sieg des Sozialismus nicht noch einmal aus den Händen winden lassen.



  • Soweit meine Fiktion; soweit mein Versuch, mich in die Gedankwelt eines Politikers zu versetzen, der der DDR bis zu ihrem Ende aus marxistisch-leninistischer Überezugung treu gedient hat und der nun in der Bundesrepublik Politik macht.

    Vielleicht ist sie ohne Bezug zur Realität, meine Fiktion. Ich weiß das nicht, denn ich kenne so jemanden nicht, habe also schon gar nicht Kenntnis davon, was er wirklich denkt. Ich habe mir nur einmal zu vorzustellen versucht, wie er denkt.

    Dieser Blog erscheint etwas verspätet, am 10.11. Wer ihn gar nicht ernst nehmen kann, der möge ihn als verfrüht lesen, als meinen Beitrag zum 11.11., dem Beginn der Närrischen Zeit.