Oder: Ein Gepräch im Hause Steinmeier über den abwesenden deutschen Nationalstaat.
Vor vier Tagen, am 18. Januar 2021, jährte sich zum 150. Mal der "Tag von Versailles," der Gründungsakt des Deutschen Reiches als konstitutionelle Monarchie und die Annahme der Regentschaft durch Wilhelm I, nachdem die neue Verfassung am 1. Januar des neuen Jahres in Kraft getreten war, die Reichstag und Bundesrat am 9. und 10. Dezember ratifiziert hatten. Formell begann mit der Verabschiedung auch die Regentschaft; die Annahme war ein formeller Akt. Es war die Kulmination der Hoffnung auf die Eingung der Deutschen in einem gemeinsamen Nationalstaat, der im Gefolge des Wiener Kongresses erstmals konkrete Gestalt angenommen hatte und beim Hambacher Fest 1832 erstmals zum Ausdruck gebracht worden war. Das Aufgehen, die Unterordnung der bis dahin existierenden Kleinstaaten und Monarchien in einer größeren nationalen Klammer. Das Zögern Wilhelm, den ihm angetragenen Titel des Deutschen Kaisers anzunehmen, verdankte sich diesem Impuls: er befürchtete, daß die Bedeutung Preußens als Primus inter Pares der deutschen Staaten erheblich schwinden würde. Aber mit der Etablierung der von Bismarck beförderten "kleindeutschen Lösung" - unter Ausklammerungs der k.u.k Doppelmonarchie - gab es zum ersten Mal einen Zusammenhalt "der Deutschen" in einer gemeinsamen nationallen Ordnung: etwas das auch das Mittelalter nie gekannt hatte, als das Heilige Römische Reich deutscher Nation zwar über den Ewigen Reichtstag über eine Proklamationsinstanz zur Regelung der Herrschaftsnachfolge und darüber auch in länderübergreifenden Rechtsfragen über eine entsprechende Gerichtsbarkeit verfügte, für das aber in jeder anderen Hinsicht das Urteil Voltaires zutraf: "Ce corps qui s'appelait et qui s'appelle encore le saint empire romain n'était en aucune manière ni saint, ni romain, ni empire." (Er hätte auch noch "ni allemand" hinzusetzen können.)
Man sollte annehmen, daß die Schaffung eines solchen Staates, einer Nation, dem Staatsoberhaupt einer Nation, die sich, bei allen Brüchen und Zäsuren, bei mehreren Neubegründungen, immer noch aus dieser Nationwerdung herleitet, immer noch Teil dieser historischen und kulturellen Matrix ist, zum 150. Jubiläum Anlaß zu einem öffentlichen Gedenken, zu einem Festakt sein sollte. Gemäß dem Tonus der Selbstdarstellung der Bundesrepublik Deutschland nicht mit Gepränge und militärischem Pomp, sondern mit ostentativer Schlichtheit, mit einer geradezu philiströsen Bescheidenheit, aber doch als eine markante Wermarke. In den USA mag man den Nationalfeiertag am 4. Juli mit Paraden und Tschingderassabumm ebenso zelebrieren wie die Französen die Erstürmung der Bastille am 14. Juli, ohne daß die Bürger dieser Nationen von den Leitmedien der Auftrag erteilt erhielten, sich lieber wegen der schwarzen Flecken in ihrer Vergangenheit in Grund und Boden zu schämen. Deutschland ist dies aus den naheliegenden Gründen nicht möglich. Das liegt nicht nur an dem Bruch durch den Massenmord des Dritten Reiches, sondern der daraus resultierenden Memorialkultur der letzten 70 Jahre. Aber immerhin war es bis in die siebziger und achtiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts möglich, das Gedenken an die davorliegenden Epochen, die diesen Staat, seine kulturellen Traditionen und Entwicklungen geprägt haben, zu pflegen, sine ira et studio.