19. Juni 2021

J.B.S.Haldane, "Das jüngste Gericht" (1927)





(J.B.S.Haldane)

„Denique montibus altior omnibus ultimis ignis
Surget, inertibus ima tenentibus, astris benignis,
Flammaque libera surget ad aēra, surget ad astra,
Diruet atria, regna, suburbia, castra.

Bernard von Cluny, De contemptu mundi, I, 33-36

Das Gestirn, das wir bewohnen, ist einst entstanden und wird ohne Zweifel einmal ein Ende finden. Es ist schon oft versucht worden, dieses Ende zu schildern, in unterschiedlich ausgefallener Weise. Die christliche Version enthält manches, das unserer Bewunderung wert ist, leidet aber unter zwei entscheidenden Nachteilen. Zum einen schildert sie die Ereignisse aus der Perspektive der Engel und nur eines kleinen Teils der Menschheit. Ein unparteilicher zukünftiger Historiker darf Anspruch auf die Pläne und Kommuniqués des Tieres aus der Offenbarung und seines Gefolges anmelden. Schließlich waren das Tier und sein falscher Prophet durchaus in der Lage, Wunder zu bewirken und ausgezeichnete Propagandisten. Eine Meldung wie „Weiterer Luftangriff auf Babylon abgewehrt. Siebzehn Erzengel von der Flugabwehr abgeschossen“ wäre für die Frühphase des Kriegs kennzeichnend, während „Mehr Greueltaten des Feindes: Prophet in brennenden Schwefel geworfen“ auf die Friedensverhandlungen hinweisen würde.

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Ich selbst ziehe Ragnarok vor, die Götterdämmerung, die in der nordischen Mythologie das gegenwärtige Zeitalter beendet. Hier stellt das Ende der Menschheit nur eine kleine Episode in einem größeren Konflikt dar. Und sie haben vorher gesündigt.

“Hart es I heimi, hordomr mikkil,
Skeggi-aold, skalm-aold, skildir klofnir,
Vind-aold, varg-aold, aðr vaerold steipiz (*)

(Wüst ist die Welt, voll Hurerei,
Beilzeit, Schwertzeit, gespaltene Schilde,
Windzeit, Wolfszeit, bis die Welt einstürzt)

sagt die skandinavische Seherin in der Voluspá. Aber die Taten der Menschen sind nur ein Zeichen der Verderbnis, nicht ihre Ursache. Die Götter werden durch die Mächte der Finsternis besiegt werden. Fenrir, der Wolf, wird Odin verschlingen, und seine Zähne in die Welt schlagen, obwohl er sie nicht verschlingen wird. Am Ende bleibt ein glücklicher Ausgang, der sich vielleicht schon christlichen Einfluß verdankt. Balder steht von den Toten auf, und herrscht über die beiden letzten Nachkommen des Menschengeschlechts. Ein Detail der Geschichte ist besonders bemerkenswert. Während der Kampf noch entbrannt ist, gebiert die Sonne eine Tochter, und beide überleben. Nach der skandinavischen Sicht ist die Sonne, wohltuend aber ziemlich kraftlos, wie sie dort scheint, weiblich – eine Auffassung, die in heißeren Weltgegenden undenkbar wäre.

Nun gehört die Teilung zu den Unarten, zu denen Sterne tatsächlich neigen. Etwa die Hälfte aller uns bekannten „Fix“-Sterne bilden Doppel- und Dreifachsysteme. Der Grund dafür dürfte folgender sein: - Jeder Stern besitzt aufgrund seiner Rotation ein bestimmtes Drehmoment, einen Spin. Während der Stern kühler wird, schrumpft er, behält aber dieses Drehmoment bei. Infolgedessen dreht er sich schneller, bis er sich schließlich zweiteilt, so wie ein zu schnell rotierendes Schwungrad. Es dürfte unwahrscheinlich sein, daß der Sonne ein solches Schicksal bevorsteht, da sie gut vier Wochen benötigt, um sich einmal um ihre Achse zu drehen. Um sich zu teilen, müßte sie das in weniger als einer Stunde tun. Aber wir sehen nur ihre Oberfläche, und im vorigen Jahr hat Dr. Jeans, der Präsident der Royal Astronomical Society, die Vermutung geäußert, daß das Sonneninnere erheblich schneller rotieren könnte, und das es durchaus denkbar sei, daß sie sich morgen teilen könnte. Natürlich ist dieser Fall äußerst unwahrscheinlich. Die Sonne besteht seit mehreren Milliarden Jahren, ohne daß dies vorgekommen ist. Aber anscheinend ist es nicht ausgeschlossen.

Für die Erde wären die Folgen katastrophal. Selbst wenn die Sonnenhitze nicht schlagartig so steigen würde, daß die Menschheit geröstet würde, hätte die Sonne dann keine gleichbleibende Umlaufbahn mehr in Bezug auf die Erde; und jedes Jahr würde sie sich dem Sonnenpaar einmal weiter nähern, und einmal weiter entfernen, je weiter sich die beiden Sonnen voneinander entfernen. Lange bevor wir mit einer davon zusammenstoßen würden, würden wir ihr so nahekommen, daß die Strahlungshitze einer Sonne, die ein Zehntel des Himmels einnehmen würde, die Ozeane verdampfen lassen und die Menschheit vernichten würde.

Die Sonne könnte sich noch anderes einfallen lassen. Sie könnte erkalten – und vor einer Generation sah es so aus, als ob sie das in ein paar Millionen Jahren tun würde. Heute wissen wir, daß es hier auf der Erde seit den Spuren der ersten Eiszeit vor gut einer Milliarden Jahren oder so, von denen die Geologie weiß, nicht wesentlich kälter geworden ist, und daß es keinen Grund gibt, warum das nicht auf sehr lange Zeit so bleiben sollte. Die moderne Physik legt nahe, daß die Sonne noch mindestens eine Million Jahrmillionen lang leuchten wird. Aber lange zuvor wird etwas anderes, Merkwürdiges eintreten, wie wir weiter unten sehen werden.

Gelegentlich explodieren Sterne, indem sie sich gewaltig ausdehnen, enorme Hitze abstrahlen und sich dann wieder beruhigen. Niemand kennt den Grund dafür, aber es scheint Sterne zu betreffen, die der Sonne ähneln. Wenn dies Der Sonne passieren würde, würde die Erde dies so wenig überstehen wie ein Schmetterling in einem Hochofen. Aber solche Sternexplosionen sind selten. Kein Stern in unsere Nähe ist im Lauf der bekannten Geschichte explodiert. Wenn etwa der Sirius auf diese Weise explodieren würde, würde er etwa hell leuchten wie der Vollmond und am Taghimmel sichtbar sein. Solange wir nicht wissen, warum andere Sterne als unser Muttergestirn auf solche Weise enden, können wir nicht sagen, ob uns so etwas bevorsteht.

Andere haben einen Kometen oder einen irrlaufenden Himmelskörper als Zerstörer vorgeschlagen. Dagegen spricht die Tatsache, daß während der letzten hunderte von Jahrmillionen auf keinem Kontinent etwas eingeschlagen sein kann, das mehr als ein paar Meilen im Durchmesser maß. Der große Meteor im Krater in der Wüste von Arizona war vielleicht Teil eines Kometen, und einige der Narben auf der Mondscheibe sind möglicherweise das Resultat eines Zusammenstoßes mit interplanetarer Materie. Die Unwahrscheinlichkeit einer Kollision, die einen Großteil der Erdoberfläche verwüsten würde, ist astronomisch – auch wenn der Meteorit von Arizona bei einem direkten Einschlag London oder New York nicht gut bekommen würde. Es gab die Überlegung, daß die nahe Begegnung mit einem massiven Himmelskörper die Erde aus ihrer Umlaufbahn werfen könnte. Die ungestörten, fast kreisförmigen Bahnen, auf denen alle Planeten um die Sonne kreisen, zeigt, daß ihre Bahnen seit langem nicht gestört worden sind, seitdem sie entstanden sind. Es läßt sich zwar nicht voraussagen, daß dieser Fall nie eintreten wird, aber die Wahrscheinlichkeit, daß dergleichen in der nächsten Million Jahren vorkommt, beläuft sich mit Sicherheit auf weniger als ein zu tausend.

Alle die Möglichkeiten, die ich hier aufgelistet habe, stellen im Grunde Unfälle dar. Einige davon können eintreten, so wie ich bei einem Eisenbahnunglück ums Leben kommen kann; aber so, wie ein Körper auch dann nicht ewig Bestand haben wird, auch wenn mir alle Unfälle erspart bleiben, so besitzt die Erde auf ihrem Weg durchs All etwas, daß die Zustände auf ihr erheblich ändern wird, und das Leben auf ihr sehr wahrscheinlich vernichten wird. Ich beziehe mich auf den Mond.

Unsere skandinavischen Vorfahren haben unseren Begleiter in ihrer Schilderung der Götterdämmerung nicht vergessen:

“Austr byr in aldnar I larnviði
Ok foeðir ar Fenris kinder,
Verð ar þeim aollom nokkar
Tungls tiugari, i trollz hami“

(Im Osten saß die Alte im eisernen Gebüsch
Und nährte dort Fenrirs Kinder.
Von ihnen allen wird eins das schlimmste:
Stiehlt, als Troll verkleidet, den Mond.)

In diesem Fall stimmt die Seherin, die Odin die Zukunft schilderte, weitgehend mit den Erkenntnissen der modernen Astronomie überein. In ferner Zukunft wird sich der Mond so weit der Erde nähern, daß er zerrissen wird und wahrscheinlich die Merkmale der Erdoberfläche auslöschen wird. Einige islamische Theologen haben den ersten Vers der Sure „Der Mond“ – „Die Stunde ist gekommen und der Mond ist gespalten“ – dahingehend gedeutet, daß er sich auf das Ende der Welt bezieht. Aber außerhalb der skandinavischen Welt findet sich bei dem Weltuntergangspropheten die Vorhersage, daß die Sterne vom Himmel fallen werden – was aus dem gleichen Grund eine Unmöglichkeit darstellt, aus dem nicht eine Millionen Elefanten auf eine Maus stürzen können: Sie sind zu groß dafür.

Im Folgenden möchte ich das wahrscheinlichste Ende unseres Planeten so schildern, wie es sich aus anderer Sicht darstellen könnte. Ich habe mich bemüßigt gefühlt, die Katastrophe in einen Abschnitt der Zukunft vorzuziehen, den ich mir noch ausmalen kann. Ich kann mir vorstellen, wie die Menschheit in vierzig Millionen Jahren beschaffen sein wird – denn vor vierzig Millionen Jahren waren unsere Vorfahren mit Sicherheit Säugetiere, und aller Wahrscheinlichkeit nach schon als Affen erkennbar. Aber bei einem Zeitraum von vierhundert Millionen Jahren versagt meine Phantasie. Vor vierhundert Millionen Jahren waren unsere Vorfahren Fische, von sehr primitiver Art. Für unsere Nachkommen kann ich mir eine derartig weitreichende Veränderung nicht mehr ausmalen.

Also habe ich mich des einzigen Mittels bedient, das mir geeignet scheint, um die Katastrophe schneller eintreten zu lassen. Die folgende Schilderung ist als Schulsendung für die Kinder auf dem Planeten Venus in vierzig Millionen Jahren gedacht. Die englische Fassung ist sehr frei gehalten, da uns viele der alltäglichen Kenntnisse unserer Nachfahren heute unverständlich sind:

„Es ist jetzt gewiß, daß das menschliche Leben auf der Erdoberfläche ausgelöscht ist, und sehr wahrscheinlich, daß dort überhaupt kein Leben mehr existiert. Da Folgende ist eine knappe Zusammenfassung der Ereignisse, die zur Zerstörung der alten Heimat unserer Gattung geführt haben.

„Vor 1074 Millionen Jahren näherte sich unsere Sonne dem Riesenstern 381.47.19543 bis auf eine sehr geringe Distanz. Die Gezeitenkräfte, die dadurch in der Sonne ausgelöst wurden, führten dazu, daß ein Teil der Sonnenmaterie als glühende Kaskade herausgelöst wurde. Dieses Gas kondensierte zu denen Planeten, von denen die Erde am schnellsten rotierte. Das Erdenjahr dauerte damals nur wenig länger als heute; aber es umfaßte 1800 Tage, von denen jeder nur ein Fünftel so lang war wie zu der Zeit, als der Mensch auf der Erde erschien. Die flüssige Erde drehte sich einige Jahre als ein Sphäroid mit enormer Ausdehnung am Äquator und Abplattung an den Polen aufgrund ihrer gewaltigen Drehgeschwindigkeit. Dann wurden die Gezeitenwellen, die die Sonne verursachte, größer und größer, bis sich schließlich die oberste Schicht löste und den Mond bildete. Zunächst befand sich der Mond in großer Erdnähe, und der Monat dauerte nur wenig länger als ein Tag.

„Da der Mond große Gezeiten in der immer noch flüssigen Erde verursachte, wurde ihre Rotation durch deren Bremswirkung verlangsamt, denn alle Gezeitenkräfte wirken auf Kosten der Erdrotation. Aber indem er wie eine Bremse auf die Erde wirkte, wurde der Mond auf seiner Bahn nach vorn beschleunigt, so wie eine Bremse nach durch das Rad, das sie abbremst, nach vorn gedrückt wird. Aufgrund dieser höheren Geschwindigkeit entfernte sich der Mond allmählich weiter und weiter von der Erde, die jetzt eine feste Oberfläche ausgebildet hatte, und sowohl der Monat wie auch die Tage wurden länger. Als das Leben auf der Erde entstand, war der Mond schon weit entfernt, und in dem 1600 Millionen Jahren bis zum Erscheinen des Menschen hatte er sich nur um einer geringe weitere Distanz entfernt.

„Zu dem Zeitpunkt, als die Menschen zuerst diese Entfernungen vermaßen, dauerte ein Mondumlauf neunundzwanzig Tage, und die gesamte Leistung der abbremsenden Gezeitenkräfte belief sich auf durchschnittlich 20.000 Millionen Pferdestärken. Es heißt, daß die Bremswirkung der Gezeitenreibung, und damit die Zunahme der Tagesdauer, zuerst von George Darwin entdeckt worden ist, dem Sohn von Charles Darwin, von dem die erste Erklärung für die Evolution stammt. Wir haben aber Grund zur Vermutung, daß es sich bei beiden nur um Sagengestalten handelt, wie im Fall von Moses, Laotse, Jesus und Newton.

„Zu jener Zeit bestand die Auswirkung der Gezeitenreibung darin, daß jedes Jahrhundert, gemessen an dem vorhergegangenen, fast eine Sekunde länger dauerte. Der größte Teil der Reibung entstand in der Beringstraße zwischen Nordasien und Amerika. Sobald die Menschheit die Wärmekraftmaschinen erfunden hatte, fingen sie an, die fossilen Pflanzen, die sie unter der Erdoberfläche fanden, zu oxidieren. Nach einigen Jahrhunderten gingen diese zur Neige, und andere Energiequellenwurden genutzt. Die Energie, die sich aus Wasserkraft gewinnen ließ, war gering; die Windenergie war unzuverlässig; und die Sonnenhitze war nur in tropischen Breitengraden effektiv zu gewinnen. Also nutzte man die Energie der Gezeiten; im Lauf der Zeit wurden sie zur Hauptenergiequelle. Die Erfindung synthetischer Nährstoffe führte zu einem großen Anstieg der Weltbevölkerung, und nach der Einführung der Weltregierung stabilisierte sich bis bei ungefähr zwölf Milliarden. Mit der zunehmenden Verbesserung der Gezeitenkraftwerke nahm ihre Nutzung immer mehr zu, und bevor die Menschheit das Alter von einer Million Jahren erreicht hatte, belief sich Summe der genutzten Gezeitenkraft auf eine Billion Pferdestärken. Die Bremswirkung der Gezeiten stieg auf das Fünfzigfache, und die Tageslänge nahm merklich zu.

„Unter den ursprünglich gegebenen Umständen wären fünfzig Milliarden Jahre vergangen, bis der Tag so lang geworden wäre wie der Monat, aber es war typisch für die Erdbewohner, daß sie nie weiter als auf eine Million Jahre in die Zukunft planten, und daß sie die vorhandene Energie in unglaublichem Ausmaß verschwendeten. Im Jahr 5.000.000 hatte die Menschheit einen Gleichgewichtszustand erreicht: sie lebten in vollkommener Übereinstimmung mit ihrer Umwelt; die durchschnittliche Lebenserwartung betrug dreitausend Jahre; und die Menschen waren „glücklich“ – das heißt, sie lebten so, daß ihre Instinkte befriedigt wurden. Die verfügbare Gezeitenenergie belief sich jetzt auf fünfzig Billionen Pferdestärken. Große Teile des Planeten wurden künstlich beheizt. Die Kontinente wurden umgestaltet, aber die meisten Menschen widmeten sich der Kultivierung sozialer Beziehungen und den Künsten und der Musik – in anderen Worten: der Produktion von Dingen, Klängen und Mustern, die dem Einzelnen Befriedigung verschafften.

„Die menschliche Evolution hatte aufgehört. Die natürliche Auslese war abgeschafft worden, und die langsamen Veränderungen, die sich aus anderen Gründen vollzogen, waren erforscht und ihre Ursachen ermittelt worden und wurden verhindert, bevor sie größere Auswirkungen zeigen konnten. Es stimmt, daß manche atavistischen Züge, die beim Frühmenschen noch auftreten (etwa harte, knochenartige Gebilde in der Mundhöhle) verschwunden waren. Aber hauptsächlich aus ästhetischen Erwägungen zeigte das menschliche Erscheinungsbild keine allzu großen Abweichungen. Die instinktiven und traditionellen Vorlieben der Einzelnen, die immer noch die Partnerwahl bestimmten, führten dazu, daß sich ein bestimmter Typus erhielt. Das bemerkenswerteste Ergebnis der gelenkten Evolution war die fast völlige Beseitigung der Schmerzempfindlichkeit, die vor dem Jahr 5.000.000 erfolgte. Für uns, die wir dem Individuum den höchsten Wert zumessen, scheint dies von zweifelhaftem Wert zu sein.

„Die großen Entdeckungen der Wissenschaft gehörten der Vergangenheit an, und wer sich zu ihrer Ausübung berufen fühlte, beschäftigte sich zumeist mit den komplexeren Problemen der Mathematik, der organischen Chemie oder der Biologie von Pflanzen und Tieren, ohne auf praktisch verwertbare Resultate Wert zu legen. In der Pflanzenzucht verschmolzen Wissenschaft und Kunst in eins, und der Aufwand, der auf die Schöpfung schöner Blumen verwendet wurde, hätte ausgereicht, die menschliche Rasse weitgehend zu verändern. Aber Evolution ist ein Prozeß, den man lieber steuert als ihm zu unterliegen.

„Im Jahr 8.000.000 hatte sich die Tageslänge verdoppelt; die Entfernung des Mondes war um ein Fünftel gewachsen, und der Monat dauerte ein Drittel länger als zu der Zeit, als er zum ersten Mal gemessen worden war. Er wurde klar, daß die Erdrotation jetzt rasch abnehmen würde, und einige Menschen begannen, für die Zukunft zu planen und schlugen die Besiedlung anderer Planeten vor. Die früheren Expeditionen waren allesamt Fehlschläge gewesen. Die Projektile, die von der Erde ausgeschickt worden waren, waren durch den Luftwiderstand zerstört worden, durch Meteoriten im interstellaren Raum, und die, die den Mond erreicht hatten, hatten den Aufprall bei der Landung nicht überstanden. Zwei Expeditionen hatten es geschafft, mit Sauerstoffvorräten zu landen und hatten die von der Erde nicht sichtbare Mondoberfläche kartiert und ihre Erkenntnisse zur Erde gefunkt. Aber die Rückkehr war unmöglich, und die Besatzungen waren auf dem Mond gestorben. Bei diesen frühen Unternehmen waren Zylinder aus Metall mit einem Durchmesser von weniger als zehn Metern und einer Länge von fünfzig oder mehr Metern verwendet worden. Als Startvorrichtung dienten senkrechte Metallröhren von mehreren Kilometern Länge, deren unterer Teil in die Erde eingelassen war. Um den zu überwindenden Luftwiderstand möglichst gering zu halten, wurden sie zumeist in Hochgebirgen gebaut, damit das Projektil beim Austritt möglichst wenig Atmosphäre zu überwinden hatte. Die Luft in den Startröhren wurde abgepumpt und ein Deckel an der Mündung wurde geöffnet, wenn sich das Projektil näherte. Der Start erfolgte mit Hilfe einer Reihe gestaffelter Explosion, durch die eine Austrittsgeschwindigkeit von fünf Kilometern pro Sekunde erreicht wurde, ohne den Schock der Beschleunigung zu groß werden zu lassen. Nachdem sie die dichteren Atmosphärenschichten verlassen hatten, beschleunigten die Projektile nach dem Raketenprinzip, indem sie Explosionen am Heck auslösten. Auch die leeren Hecksegmente wurden bei Bedarf rückwärts abgestoßen. Die Zylinder konnten durch einen Motor in Drehung versetzt werden, oder dadurch, daß die Besatzung an der Wandung entlanglief.

„Sobald das Schwerefeld eines anderen Planeten erreicht worden war, erfolgte die Abbremsung durch die Zündung weiterer Sprengladungen, verschiedene Bremsmethoden wurden ausprobiert und metallische Federbeine wurden ausgefahren und den Schock des Aufpralls aufzufangen. Dennoch endeten die meisten Landungen in einer Katastrophe. Es ist allgemein bekannt, daß heute andere Verfahren zur Anwendung kommen. Der größte Unterschied besteht darin, daß jetzt nach dem Verlassen der Atmosphäre Segel aus metallischer Folie mit einer Fläche von einem Quadratkilometer oder mehr entfaltet werden, um den Strahlungsdruck der Sonne aufzufangen. Diese Flüge benutzen im Grunde dieselben Prinzipien, die schon die alten Segelschiffe antrieben.

„Das Verlangen nach persönlichem Lebensglück, und die Möglichkeit, es auf der Erde zu erreichen, machten solche Unternehmungen unbeliebt. Die Freiwilligen, die an diesen Selbstmordkommandos teilnahmen, waren fast ausschließlich solche, die ihren Lebenspartner früh verloren hatten, oder deren Persönlichkeit aus irgendeinem Grund so abnorm war, daß sie außerstande waren, ein glückliches Leben zu führen. Eine Expedition erreichte erfolgreich den Mars im Jahr 9.723.841 und berichtete, daß eine Besiedlung nicht in Frage käme. Die dort vorherrschenden Lebensformen, die für seine künstliche Bewässerung verantwortlich sind, sind in jenem Beriech des Spektrums, den wir als sichtbares Licht wahrnehmen, blind. Aber sie scheinen über andere Sinne zu verfügen und waren imstande, die Expedition und die einzige weitere nach ihr, die den Mars erreichte, zu vernichten.

„Eine halbe Million Jahre danach fand die erste erfolgreiche Landung auf der Venus statt, aber die Besatzung fiel schließlich den hohen Temperaturen und dem Mangel an Sauerstoff in der Atmosphäre zum Opfer. Danach fanden solche Flüge nur noch selten statt.

„Im Jahr 17.846.151 hatten die Gezeitenmaschinen die erste Hälfte ihres Zerstörungswerks vollbracht. Der Tag und der Monat hatten jetzt die gleiche Länge. Seit Jahrmillionen hatte der Mond die gleiche Seite der Erde zugewendet, und jetzt konnten die Erdbewohner den Mond nur noch von einer Hemisphäre aus sehen. Er stand fest am Himmel über den Resten des alten amerikanischen Kontinents. Der Tag dauerte nun achtundvierzig der alten Tage, und es gab nur noch siebeneinhalb Tage im Jahr. Die Verlängerung der Tagesdauer hatte gewaltige Klimaveränderungen zur Folge. Die Nächte waren bitterkalt, und die Kälte wurde durch die Hitze bei Tag ausgeglichen. Aber es gab Ausnahmen.

„Der Mensch war zu einer Epoche auf der Erde erschienen, die durch die Bildung von Hochgebirgen und wiederkehrende Eiszeiten geprägt war. Die Gebirgsentstehung war fast zum Erliegen gekommen, obwohl in der Frühzeit der Menschheit noch einige Gebirgszüge und zahlreiche Vulkane entstanden waren. Aber kurz vor dem Einsetzen unserer Geschichtsaufzeichnungen waren vier Eiszeiten aufeinander gefolgt, und eine fünfte hatte während der zweiten Jahrhunderttausends des menschlichen Geschichte Teile der nördlichen Kontinente verwüstet. Allerdings war die Ausdehnung des Eises durch menschliche Anstrengungen in recht engen Grenzen gehalten worden. Um das Jahr 220.000 herum war die Eisdecke Grönlands mit Hilfe der Gezeitenenergie allmählich abgeschmolzen worden, und bald darauf war das Nordpolarmeer dauerhaft eisfrei. Kurz danach war dies auch in der Antarktis geschehen. Während der größten Zeit der ersten Hälfte der Menschheitsgeschichte gab es deshalb keine dauerhaften Schnee- oder Eisflächen, außer auf einigen Berggipfeln. Über den ganzen Erdball hinweg war das Klima mild und gleichmäßig, so wie es meist in der Erdgeschichte gewesen war.

„Aber durch die Abnahme der Erddrehung schrumpfte der Äquator, was Erdbeben und Gebirgsauffaltungen in großem Maß zur Folge hatte. Ausgedehnte Landflächen tauchten aus den Ozeanen auf, besonders in der Mitte des Pazifiks. Und mit der wachsenden Tageslänge kam es erneut zu Schneefällen in Hochlagen; in Polnähe gelang es der Sonne mitunter nicht mehr, ihn während des Tages abzuschmelzen, und selbst dort, wo er schmolz, bildete sich Permafrost. Trotz großer Anstrengungen gab es auf der Erde wieder Gletscher und Eisfelder, als der Mond nicht mehr auf- und unterging. Und darüber erzeugten ortsfeste Hochdruckgebiete von Neuem Stürme in den gemäßigten Breiten und regenlose Wüsten in den Tropen.

„Die Tiere und Pflanzen paßten sich nur zum Teil an die enormen Temperaturwechsel an. Fast alle wilden Säugetierarten, Vögel und Reptilien starben aus. Viele der kleineren Pflanzen durchliefen ihren Lebenszyklus innerhalb eines Tages, und überwinterten die Nacht als Samen. Aber die meisten Bäume, die nicht künstlich gewärmt wurden, starben aus.

„Die Zahl der Menschen nahm ein wenig ab, aber es bestand weiterhin ein gewaltiger Bedarf an Energie zur Kühlung und Wärmeerzeugung. Die Gezeiten, die die Sonne fünfzehn Mal im Jahr auslöste, wurden dafür genutzt, und so nahm die Tageslänge weiter zu.

„Vor der Erdoberfläche aus gesehen, begann sich der Mond jetzt wieder zu bewegen – aber in umgekehrter Richtung: er ging im Westen auf und im Osten unter. Erst sehr langsam, und dann mit immer größerer Geschwindigkeit begann er sich der Erde zu nähern. Im Jahr 25.000.000 war er wieder so weit entfernt wie zu der Zeit, zu der die Menschheit entstanden war, und es wurde klar, daß sein Ende, und möglicherweise das der Erde, nur ein paar Millionen Jahre entfernt war. Aber für den größten Teil der Menschheit bedeutete das Ende der Gattung weniger als der eigene persönliche Tod, und so wurden keine wirkungsvollen Maßnahmen ergriffen, um die drohende Katastrophe zu verhindern.

„Denn die menschliche Rasse hat sich nie von vorhergesagten Entwicklungen beeinflussen lassen. Auch nach den Erkenntnissen der Physiologie konsumierten die Menschen noch lange Substanzen, von denen sie wußten, daß sie ihr Leben verkürzten und ihrer Gesundheit schadeten. Auch die fossilen Brennstoffe wurden ohne Rücksicht auf die Zukunft verbrannt. Die weniger pigmentierten Völker der Frühzeit erschöpften die Vorräte unter ihren Kontinenten so rasch, daß der Planet für einige Jahrhunderte unter die Vorherrschaft der gelben Völker aus Asien geriet, wo die Abbaumöglichkeiten später entwickelt worden waren – solange, bis auch ihre Vorräte zur Neige gingen. Die Unpigmentierten scheinen diese Entwicklung vorhergesehen zu haben, aber sie unter nahmen wenig oder nichts dagegen, obwohl nur wenige Generationen in der Zukunft lag. Und das, obwohl sie das Beispiel jener Insel im Nordatlantik vor Augen hatten, auf der Newton und Darwin gelebt haben sollen, und deren Bewohner die ersten waren, die fossile Brennstoffe abbauten und als erste ihre Vorräte erschöpften – woraufhin sie sie aus der Geschichte verschwanden, obwohl sie einmal große Teile der Erdoberfläche beherrscht hatten.

„Im Gegenteil ließen sich viele Bewohner der Erde oft auf merkwürdige Art durch Ereignisse der Vergangenheit leiten. Die frühen Religionen maßen dem großen Wert bei. Wenn unser Sinn hingegen mehr auf die Zukunft gerichtet ist, verdankt sich das größtenteils der Erziehung und der täglichen Propaganda, aber auch, daß in unseren Zellkernen Gene wie etwa H y 149 und P 783 c vorkommen, die Einfluß auf die Ausbildung bestimmter Hirnfunktionen haben und denen nichts auf der Erde entsprach. Aus diesem Grund haben wir uns der gewaltigen Mühe unterzogen, die innere Wärme unsere Planeten zu nutzen, anstatt seine Drehung zu verlangsamen. Sogar heute noch fordert dieser Prozeß alljährlich seinen Tribut an Menschenleben; zu Anfang war dieser Preis noch viel höher – so hoch, daß er für die Anwendung auf der Erde, wo die Menschen ihre Leben und das ihrer Mitmenschen schätzten, nicht in Frage kam.

„Aber wenn auch den meisten Menschen die Zukunft gleichgültig war, so gab es doch Ausnahmen, und Expeditionen zur Venus wurden häufiger unternommen. Nach 284 Fehlschlägen in Folge gelang endlich eine erfolgreiche Landung, und bevor die Besatzung starb, konnte sie die ersten genauen Berichte über die Zustände auf der Planetenoberfläche übermitteln. Aufgrund der Dichte unserer Atmosphäre waren die Lichtsignale der früheren Expeditionen oft nicht auszumachen gewesen. Von da verwendete man Infrarot, das die Wolkendecke ungehindert passieren kann.

„Ein paar hunderttausend Mitglieder des Menschengeschlechts, von denen wir abstammen, faßten den Entschluß, daß es DEM Menschen beschieden sein sollte, ewig zu leben, auch die einzelnen Menschen vergehen würden. Es würde den Menschen nur möglich sein, auf der Venus Fuß zu fassen, wenn sie in der Lage wären, sich an die Hitze und den Mangel an Sauerstoff anzupassen, die dort herrschten, und das war nur durch eine gelenkte Evolution in dieser Richtung zu erreichen, die auf der Erde unternommen wurde. Über die Ursachen der Evolution war genug bekannt, um das Experiment zu ermöglichen. In jeder Generation wurden die Teilnehmer daran neu ausgesucht. Allen, die daran teilnahmen, war es erlaubt, auszuscheiden, und unter den Nachkommen deren, denen es bestimmt sein sollte, die Venus zu erobern, bildete sich eine Tradition und eine erbliche Persönlichkeitsstruktur aus, die es auf der Erde seit fünfundzwanzig Millionen Jahren nicht mehr gegeben hate. Die Züge, die die Soldaten und Heiligen in der Frühzeit der Menschheit geprägt hatten, erlebten eine Wiederauferstehung. Im Angesicht eines Ideals, so erhaben wie die der Religion, aber von der Vernunft bestimmt, angesichts einer Aufgabe, die so handfest, aber unendlich bedeutender war als die Vaterlandsliebe, entwickelte der Mensch von neuem die Fähigkeit zur Selbstüberwindung. Die Mitglieder der Menschheit, die Teil dieser Entwicklung bildeten, waren darüber nicht glücklich. Sie lebten nicht in Übereinstimmung mit ihrer Umwelt. Unter ihnen traten erneut Krankheiten und Verbrechen auf. Denn Krankheiten sind nur eine ungenügende Anpassung an die äußerlichen Umstände, und Verbrechen ein ähnliches Versagen im Verhalten. Aber Krankheit und Verbrechen, wie Heldentum und Märtyrermut, sind der Preis, der für die Weiterentwicklung gezahlt werden muß. Dieser Preis wird vom Individuum gezahlt, und der Nutzen kommt der ganzen Art zugute. Für uns gilt die Regel, daß jeder Einzelne vielleicht ein dutzend Mal im Lauf seines Lebens an seinen eigenen Vorteil denkt. Für unsere Vorfahren, für die das persönliche Lebensglück den höchsten Wert darstellte, muß dieser Preis oft so hoch erschienen sein, und in jeder Generation gab es viele, die sich weigerten, ihn zu zahlen und nun keine Nachkommen mehr haben.

„Zu den Verhaltensweisen, die unsere Vorfahren allmählich überwanden, und die bei uns nur noch als seltene Verirrungen auftreten, zählten nicht nur solche egoistischen Gefühle wie Stolz und persönliche Vorlieben bei der Partnerwahl. Darunter fielen auch Gefühle wie Mitleid (ein unangenehmes Gefühl, das durch das Leiden anderes ausgelöst wird). In einem Leben, das ganz dem Aufgehen in einem Superorganismus gewidmet ist, ist das eine so überflüssig wie das andere, obwohl der Altruismus die Basis der weitaus weniger rigiden Gesellschaft gebildet hatte, die auf der Erde vorherrschte.

„Im Laufe von zehntausend Jahren war eine Spezies entstanden, die zum Leben nur ein Zehntel des Sauerstoffgehalts der irdischen Atmosphäre benötigte, und die Körpertemperatur war um sechs Grad erhöht worden. Die weitere Erhöhung der Körpertemperatur, die mit erheblichen Veränderungen der biochemischen Vorgänge und der Physiognomie verbunden war, war ein erheblich langsamer verlaufender Prozeß. Wesentlich größere Projektile wurden zur Venus entsandt. Von den 1734 gelang nur 11 eine erfolgreiche Landung. Die Besatzungen der ersten beiden überlebten nicht; von den Mitgliedern der nächsten acht stammen wir alle ab. Die Lebensformen auf der Venus verwendeten Moleküle, die zumeist Spiegelbilder derjenigen darstellen, aus denen irdisches Leben aufgebaut ist. Außer zur Fettbildung waren sie nutzlos, und einige von ihnen stellten eine direkte Gefahr dar. Das dritte Projektil, das auf der Venus eintraf, brachte Bakterien mit, die auf der Erde gezüchtet worden waren, um I-Glukose und andere Bausteine des Venus-Lebens zu zersetzen. Zehntausend Jahre Laborarbeit waren zu ihrer Erzeugung aufgewendet worden. Mit ihrer Hilfe wurde das auf dem Planeten vorhandene Leben vernichtet, und er wurde für den Menschen und die sechzig irdischen Spezies, die er mitgebracht hatte, nutzbar.

„Die Geschichte unseres Planeten muß an dieser Stelle nicht noch einmal wiederholt werden. Nach den immensen Schwierigkeiten, denen sich die ersten Pioniere gegenübersahen, haben wir unsere Gesellschaftsform gefunden, in der wir alle Mitglieder eines Superorganismus bilden, der keine Grenzen des Fortschritts kennt. Die Entwicklung des Einzelnen ist unter völlige Kontrolle gebracht worden, und neben bedeutend höheren geistigen Fähigkeiten verfügen wir über zwei neue Sinne. Der eine befähigt uns dazu, Strahlung mit einer Wellenlänge zwischen 100 und 1200 Metern wahrzunehmen, und setzt uns so in jedem Augenblick unseres Lebens, ob im Schlafen oder Wachen, dem Einfluß der Stimme unserer Gemeinschaft aus. Man kann sich schwer vorstellen, wie eine solche völlige Übereinstimmung auf einem anderen Weg zustande gekommen sein könnte. Wir können unser Bewußtsein nicht gegen die Wellenlängen abschotten, über die uns vermittelt wird, daß wir Teil eines übergeordneten, eines göttlichen Gemeinwesens sind – vielleicht des einzigen, das im Universum existiert, und uns über seine Vergangenheit, seine Zukunft und seinen gegenwärtigen Zustand informiert. Wie es scheint, stellten auf der Erde die höheren Künste, der Musik, der Literatur, das moralische Bewußtsein des Einzelnen und in der Frühzeit der Menschheit die Religion und der Patriotismus das Äquivalent zu den Inhalten, die uns heute auf diesen Wellenlängen vermittelt werden. Auf den anderen Wellenlängen werden wir über Dinge informiert, die nicht jedermann zu jedem Zeitpunkt betreffen, und wir können sie ausblenden, wenn wir es wünschen. Ihre Funktion unterscheidet sich nicht wesentlich von der drahtlosen Kommunikation auf der Erde. Der neue Magnetsinn ist weniger bedeutsam, aber er hilft beim Fliegen und bei der Orientierung in unserer undurchsichtigen Atmosphäre. Auf der Erde wäre er so gut wie nutzlos. Wir verfügen auch wieder über Schmerzempfinden, das auf der Erde nur noch rudimentär vorhanden war, aber dem Überleben des Einzelnen unter widrigen Umständen dient und somit der Gemeinschaft nützt. Unsere Entwicklung vollzog sich so rasch, daß die Besatzungsmitglieder des letzten Projektils, das die Venus erreichte, nicht mehr in der Lage waren, mit uns fruchtbare Nachkommen zu zeugen. Aus diesem Grund wurden sie für medizinische Experimente verwendet.

„Während der letzten Jahrmillionen näherte sich der Mond schnell der Erde. Als klar wurde, daß sich die Katastrophe nicht aufhalten ließ, wurde die Nutzung der Gezeitenenergie weitgehend aufgegeben und durch Windkraft und andere Energiequellen ersetzt, wie es in den Berichten heißt, die uns von der Erde erreichten. Aber viele Erdbewohner waren skeptisch, ob der kommende Zerfall des Mondes auch ihr eigenes Ende bedeuten würde, und der Drehimpuls des Erde-Mond-Systems wurde weiterhin in geringem Maß als Kraftquelle genutzt. Im Jahr 36.000.000 betrug die Entfernung des Mondes zur Erde nur noch ein Fünftel wie zu Beginn der Geschichte. Er erschien fünfundzwanzigmal so groß wie die Sonne, und erzeugte vier Mal im Jahr Fluten von zweihundert Metern Höhe. Die Wirkung der Gezeitenkräfte, die die Erde in ihm auslöste, begannen sichtbar zu werden. In den Mondgebirgen wurden gewaltige Bergstürze beobachtet, und Spalten öffneten sich an seiner Oberfläche. Auch auf der Erde kam es vermehrt zu Erdbeben.

„Schließlich begann der Mond zu zerfallen. Als sich die ersten Gesteinsbrocken von seiner Oberfläche lösten, war er der Erde so nahe, daß er ein Zwanzigstel des Himmels bedeckte. Der Teil der Oberfläche, der der Erde am nächsten war und schon von zahllosen Rissen durchzogen war, trieb als Meteoriten bis zu Kilometergröße davon, die die Erde auf eigenen Umlaufbahnen umkreisten. Dieser Prozeß dauerte gut ein Jahrtausend lang an, und schließlich erlosch das Interesse der Erdbewohner daran. Das Ende kam abrupt. Es wurde von der Venus aus beobachtet, aber über seine Anfangsphasen berichteten auch die Signale von der Erde. Der gewaltige Krater, der sich an dem der Erde am nächsten befindlichen Teil der Mondoberfläche gebildet hatte, brach plötzlich auf und spie eine Flut weißglühender Lava aus. Während der Mond die Erde umkreiste, stieg die Temperatur in den Tropen in einem solchen Ausmaß, daß Flüsse und Seen austrockneten und die Vegetation vernichtet wurde.

„Die jahreszeitlichen Farbveränderungen auf der Erde aufgrund der Blütezeiten der Pflanzen, die die Menschen zu ihren Vergnügen gepflanzt hatte, und die von unseren Planeten aus gut sichtbar sind, fanden nicht mehr statt. Es bildeten sich dichte Wolkendecken, die der Erde einen gewissen Schutz boten. Aber das Flammeninferno auf dem Mond nahm weiter an Stärke zu, und die Wirkung der irdischen Schwerkraft führte zu gewaltigen Eruptionen. Innerhalb von drei Tagen war der Mond auseinandergebrochen und bildete einen Ring aus weißglühender Lava und Staub. Die letzte Nachricht, die uns von der Erde erreichte, teilte uns mit, daß sich die gesamte Menschheit ins Erdinnere zurückgezogen hatte – außer in der Antarktis, wo indessen die Eisdecke geschmolzen war und die Lufttemperatur 35 Grad betrug. Einen Tag nach dem Zerfall des Mondes waren die ersten großen Fragmente auf der Erde eingeschlagen. Unter den Trümmern kam es fortlaufend zu Zusammenstößen, und fielen von ihnen stürzten ebenfalls auf die Erde. Durch die Wolken von Dampf und Aschenrauch, die die Erde einhüllten, konnten unsere Astronomen kaum Einzelheiten erkennen, aber nach einiger Zeit wurde deutlich, daß die Tropengebiete der Erde kilometertief unter den Mondtrümmern begraben worden waren, und der Rest des Festlandes von den kochenden Ozeanen überflutet worden waren, obwohl die Umrisse der alten Kontinente noch schwach auszumachen sind. Es gilt als ausgeschlossen, daß dort noch menschliches Leben existiert, und unsere Spektroskope haben keine jener Absorptionsbanden nachweisen können, die als Nachweis für das Fortbestehen von pflanzlichem Leben gelten können.

„Der größte Teil der Mondmaterie hat einen Ring um die Erde gebildet, vergleichbar dem Saturnring, aber von größerer Dichte. Es hat sich noch kein Gleichgewichtszustand eingestellt, und für die nächsten fünfunddreißigtausend Jahre wird es weiterhin zu Meteoriteneinschlägen auf der Erde kommen. Nach Ablauf dieser Frist wird die Erde, die jetzt einen Gürtel von Hochgebirgen aufweist, der sich um den Äquator zieht und von den Polen durch zwei ringförmige Meere getrennt ist, für die Wiederbesiedlung bereit sein. Die Vorbereitungen dafür werden bereits getroffen. Wir haben die verwertbaren chemischen Elemente aus den obersten fünf Kilometern der Kruste unseres Planeten gewonnen, und es ist vorgeschlagen worden, nach der Neubesiedlung der Erde auf beiden Planeten künstliche Berge zu errichten, die über die Heaviside-Schicht hinausragen und so eine Verständigung per Funk anstatt durch Lichtsignale zu ermöglichen.

„Das alte Menschengeschlecht hatte das Glück des Einzelnen kultiviert und war durch Feuer vom Himmel ausgelöscht worden. Man sollte darin keine große Tragödie sehen, da sich Glück nicht addiert. Das Glück von zehn Millionen ist nicht eine Million mal größer als das Glück von zehn Einzelnen. Aber die reibungslose Zusammenarbeit von zehn Millionen Einzelner übertrifft das Handeln des Einzelnen. Darin liegt das Wesen des Superorganismus. Wenn das Ende des Mondes keine Katastrophe zur Folge gehabt hätte, so wie es viele Erdbewohner gehofft hatten, hätte ihre Gattung eine Milliarde von Jahren alt werden können, anstatt neununddreißig Millionen, aber ihrer Errungenschaften wären dieselben geblieben.

„Nach der Erde soll die Besiedlung des Jupiters in Angriff genommen werden. Es ist nicht sicher, ob dieses Vorhaben gelingen wird, denn die Oberflächentemperatur dieses Planeten beträgt minus 130 Grad Celsius, die Schwerkraft ist dreimal so hoch wie auf der Venus und mehr als doppelt so hoch wie auf der Erde, und die Atmosphäre enthält deutliche Anteile an Thron, einem radioaktiven Gas. Die höhere Schwerkraft würde natürlich Körper von unserer Größe zerstören, aber für erheblich kleinere Lebensformen wäre Leben auf dem Jupiter möglich. Aus diesem Grund züchten wir eine Zwergform der menschlichen Spezies, von etwa einem Zehntel unserer Größe, mit kurzen, stämmigen Beinen und sehr massigen Körpern. Auch ihre inneren Organe werden äußerst widerstandsfähig sein. Die Auswahl erfolgt mit Hilfe von Zentrifugen, die eine erhöhte Schwerkraft erzeugen, und in jeder Generation die am wenigsten Geeigneten vernichten. Eine Anpassung an eine solch extreme Kälte, wie sie auf dem Jupiter herrscht, ist nicht durchführbar, aber es ist geplant, Projektile von einem Kilometer Länge loszuschicken, die genügend Energievorräte an Bord haben, um den Bedarf ihrer Mannschaften über mehrere Jahrhunderte zu decken, um ihnen Zeit zu geben, die dort vorhandenen Energiequellen zu erschließen. Man hofft, daß einem unter tausend Projektilen eine sichere Landung gelingt. Wenn die Besiedlung des Jupiters erfolgreich ist, sollen die anderen Planeten des äußern Sonnensystems folgen.

„In gut 250 Millionen Jahren wird unser Sonnensystem eine Region des Weltraums erreichen, in der die Sterne weiter enger zusammenstehen als in unserer gegenwärtigen interstellaren Nachbarschaft. Obwohl geschätzt wird, daß nur ein Stern unter zehntausend Planeten besitzt, die zur Besiedlung geeignet sein könnten, hält man es für möglich, daß wir nahe einem solchen Stern nahe genug kommen werden, um einen Landeversuch zu unternehmen. Wenn wir bis zu jener Zeit die gesamte Materie der Sonnensystems unter unsere Kontrolle gebracht haben, besteht eine gewisse Erfolgsaussicht. Während der Flug von der Erde zur Venus im schnellsten Fall innerhalb eines Zehntel eines irdischen Jahres absolviert werden konnte, beträgt die Zeit, um ein anderes Sonnensystem zu erreichen, hunderte oder tausende von Jahren, und nur sehr wenige Projektile würden ihr Ziel sicher erreichen. Aber bei solchen Unternehmungen kommt es auf die Zahl der Fehlschläge so wenig an wie bei den Pflanzensamen, die der Wind verbreitet wie bei der Aussaat von Spermatozoen oder Pollen. Zudem ist es denkbar, daß das menschliche Gehirn unter den Bedingungen, wie sie auf den äußeren Planeten des Sonnensystems herrschen, ungeahnte neue Fähigkeiten entwickelt, die uns heute noch unvorstellbar sind. Unsere Milchstraße wird mindestens noch achtzig Milliarden Jahre bestehen. Unser Ideal besteht darin, daß vor dem Ablauf dieser Frist alle Materie in ihr, die zum Erhalt des Lebens dienen kann, der Gattung zur Verfügung steht, deren ursprüngliche Heimstatt gerade vernichtet worden ist. Sollten wir dieses Ideal auch nur ansatzweise erreichen können, dann ist das Ende jener Welt, zu dessen Zeugen wir gerade geworden sind, nur eine völlig bedeutungslose Episode gewesen. Und es bleiben noch weitere Galaxien.“

(* Der Buchstabe ð wurde wie das englische th in „then“ ausgesprochen, þ wie das th in „thin.“)

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J.B.S.Haldane (1892-1964; nur Pedanten ohne Kenntnis der tatsächlichen Gepflogenheiten verwenden statt der Namenskürzels die Vornamen John Burton Sanderson), Biologe, Sohn des englischen Biologen John Scott Haldane, älterer Bruder der Autorin Naomi Mitchison (1897-2000) war in den 1920er und frühen 1930er Jahren, zusammen mit R. A. Fisher und Seawall Wright einer der Hauptbeiträger in der Neuformulierung der auf Darwin zurückgehenden Evolutionstheorie, die die Erkenntnisse der Populationsgenetik einbezog und die heute in aller Regel gemeint ist, wenn salopp von „Darwinismus“ die Rede ist. (Weitere Begründer der „neuen Synthese“ waren etwa Theodosius Dobzhanski und Ernst Mayr.) Zu den „stillen Teilhabern“ des Oxforder Zirkels, in denen zu dieser Zeit die Möglichkeiten und Bedingungen der Vererbung und ihrer möglichen Lenkung durch Keimbahnmanipulation diskutiert wurden, zählten nicht nur H. G. Wells und sein Sohn Geoffrey West sowie der Biologie Julian Huxley, die diese neue Sicht zuerst in dem populär gehaltenen Lehrbuch „The Science of Life“ einem größeren Lesepublikum nahebrachten, sondern auch Julian Huxleys jüngerer Bruder Aldous, der aus diesen Brainstorming Sessions viele der dort geäußerten Ideen in seine Antiutopie „Brave New World“ einfließen ließ.

Der zweite Aspekt, der an dieser Stelle nicht unwichtig ist, ist, daß Haldane, wie so viele seine Kollegen ein glühender Anhänger der Ideale des Sozialismus war – und wie zahlreiche von ihnen auch ein entsprechendes Parteibuch in der Tasche führte. Wie unzählige von ihnen brachten die offenkundigen Mißstände und Verbrechen des real existierenden Stalinismus ihn und seine Genossen nicht dazu, den Glauben an diese Ideale zu verlieren oder mit der Partei zu brechen, da das in den Augen der westlichen Intellektuellen an einem Verrat an den Prinzipien gleichgekommen wäre, mit denen die Mißstände der Moderne, der Marktwirtschaft einzig überwunden werden konnten. Zu einem „unsicheren Kantonisten“ machte ab den frühen 1940er Jahren in den Augen der englischen Parteikader Haldanes Opposition gegen die Lehren Trofim Denissowitsch Lyssenkos, die unter Stalins Ägide zum verpflichtenden Glaubensartikel des Sowjetkommunismus erhoben worden waren – und die in Haldanes Augen (korrekterweise) nichts als Pseudowissenschaft darstellten. Zu einem Parteiausschlußverfahren kam es nur deshalb nicht, weil die Partei eine empfindliche Rufschädigung befürchtete, wen sie gegen einem der renommiertesten Wissenschaftler, der sich in ihren Reihen fand, in der Öffentlichkeit vorgehen würde: man wollte den „ewig rückständigen Imperialisten und Ausbeutern“ keine Bestätigung für ihre Ablehnung der wahren Lehre geben. Die Enttäuschung über den vermeintlichen Verrat an diesen Idealen einer kollektiven Plangesellschaft durch die Sowjetunion (und den Westen) führte Mitte der 1950 bei Haldane dazu, daß er sich das Indien Nehrus als neue Wahlheimat erkor, wo man sich eine Industrialisierung des Landes nach dem Vorbild der sowjetischen Fünfjahrespläne aufs Panier geschrieben hatte.

Von Beginn seiner publizistischen Laufbahn verwendete Haldane einen nicht geringen Teil seiner kreativen Energie auf die Vermittlung der neuen naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, vor allem der Biologie, an die „werktätigen Massen,“ zumeist in Form von in eingängigem Plauderton gehaltenen Kolumnen, vor allem für die Zeitung The Daily Worker. Auch sein bis heute bekanntester Essay, „On Being the Right Size“, bis heute immer wieder Pflichtlektüre für Schüler und angehende Studenten, in dem die griffigste Illustration des Square-Cube-Law lieferte – die Begründung, warum es im „realen Leben,“ das die Evolution hervorbringt, keine hüpfenden Elefanten gibt und warum der Stoffwechselumsatz, bzw. der Nahrungsbedarf bei abnehmender Körpergröße je Gewichtseinheit größer wird. (Merkwürdigerweise – oder: bezeichnenderweise – gibt es für dieses Verhältnis im Deutschen keine griffige Bezeichnung.)

„The Last Judgement“ erschien zuerst in der Sammlung „Possible Worlds,“ 1927 im Londoner Verlag Chatto & Windus publiziert – in der auch „On Being the Right Size“ enthalten war.

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Anmerkungen:

„Denique montibus…“: Huxley schätzte das Bildungsniveau seiner Leserschaft hoch genug ein, um seinen Verszitate aus dem Altnordischen der Lieder-Edda Übersetzungen folgen zu lassen, nicht aber den Eingangszeilen aus Bernard von Clunys derber Verssatire De contemptu mundi („Von der Verachtung der Welt“), um die Mitte des 12. Jahrhunderts entstanden.

Schon bald höher als Berge schlagen die Flammen
Die aus den Tiefen, in denen sie schliefen, entstammen.
Steigen hoch in die Lüfte, steigen zum Firmament.
Die Mauern, die Hallen, die Reiche: das alles verbrennt.

„Die Gezeitenkräfte, die dadurch in der Sonne ausgelöst wurden, führten dazu, daß ein Teil der Sonnenmaterie als glühende Kaskade herausgelöst wurde“ – Haldane referiert hier die 1916 von James Jeans aufgestellte „Gezeitenhypothese“ der Planetenbildung, die sich während der folgenden 20 Jahre als Alternative zu der im 18. Jahrhundert von Simon de Laplace und Immanuel Kant formulierten Nebular- bzw. Kondensationstheorie großer Beliebtheit erfreute. Während Laplace & seine Nachfolger davon ausgingen, das Sonnensystem (und andere, die es in den Tiefen des Alls geben mochte) verdankten ihre Entstehung dem Kollaps einer ausgedehnten kalten Gaswolke, die sich im Zentralbereich in der Folge zunehmender Dichte aufgeheizt habe, schlug Jeans nahen Sternbegegnungen als Auslösemechanismus vor. Der entscheidende Einwand gegen diese Hypothese wurde erste 1935 von Henry Norris Russel formuliert: die Sonne, deren Masse 99,9 Prozent des Gesamtmasse des Sonnensystems beträgt, besitzt nur einen verschwindend kleinen Anteil am gesamten dort nachzuweisenden Drehimpuls. Wäre dieser Impuls durch „Tropfenschleuderei“ an die entstehenden „Kinder der Sonne“ weitergereicht worden, müßte sie sich jetzt noch um ein paar astronomische Größenklassen schneller drehen. Die Fissions-Theorie“ hatte für die damals noch rein hypothetischen Einschätzung der Häufigkeit von Planetensystemen drastische Auswirkungen: nach Laplace (und Kant) sollten sie der Regelfall sein, nach Jeans kämen sie seltener vor als Stecknadeln in Heuhaufen. Nicht erst der Nachweis von bislang fast 5000 Planeten außerhalb unseres Sonnensystems macht klar, welcher der konkurrierenden Erklärungsansätze den Sieg davongetragen hat.



Ironischerweise verdankt Jeans (1877-1946, ab 1928 Sir James) seinen bleibenden Ruhm in der Astrophysik dem Versuch, die Rahmenbedingungen der von ihm abgelehnten Kondensationstheorie rechnerisch genauer festzulegen und sie damit handfester widerlegen zu können. Die „Jeans’sche Masse“, die festlegt, oberhalb welcher Masse eine interstellare Gaswolke unter ihrer eigenen Schwerkraft kollabieren kann, ohne von der in ihr entstehenden Temperatur in einen stabilen Gleichgewichtszustand überzugehen, geht auf seine Berechnungen zurück. Hier hat Jeans eine Gemeinsamkeit mit seinem Landsmann und Kosmologie-Kollegen Fred Hoyle (1914-2001), der hartnäckigsten Verfechter der Steady-State-Theorie des Universums gegen die „Schöpfung aus dem Nichts“ durch die Annahme eines „Urknalls“. (Die erste Formulierung der Steady-State-Theorie, die auf ein Bestehen des Universums ohne Anfang und Ende setzt, stammt aus dem Jahr 1928 von Jeans). Hoyle stellte die Theorie der „Nukleosynthese,“ der Entstehung aller Elemente oberhalb des Heliums zur Fusionsprozesse im Sterninnern auf, um nachzuweisen, daß die immensen Drücke und Temperaturen, die in den frühen Fassungen der Theorie des „Big Bang“ dafür postuliert worden waren, nicht benötigt wurden. Das unter Astronomen nur als „F²BH“ bekannte Paper, das 1957 in der Review of Modern Physics erschien (das Kürzel verdankt sich den Initialen Hoyles und seiner drei Mitautoren, Margaret und Geoffrey Burbidge sowie William A. Fowler) und das auf gut 100 Seiten die Mechanismen und Bedingungen dieser Entstehung der chemischen Elemente erläutert, dürfte zu den zehn wichtigsten Publikationen des 20. Jahrhunderts zählen. Böse Zungen behaupten bis heute, daß der Grund, warum Hoyle, anders als seine drei Mitstreiter, die Auszeichnung mit dem Nobelpreis zeitlebens verwehrt blieb, an seinem hartnäckigen Festhalten an der Steady-State-Theorie lag, auch nach ihrer definitiven Widerlegung durch die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung durch Penzias und Wilson im Jahr 1963.

„Es heißt, daß die Bremswirkung der Gezeitenreibung, und damit die Zunahme der Tagesdauer, zuerst von George Darwin entdeckt worden ist, dem Sohn von Charles Darwin“ – George Howard Darwin (1845-1912), zweiter Sohn von Charles Darwin, formulierte die „tidal hypothesis“ (im Deutschen als als „Abspaltungstheorie“ geläufig) zuerst 1879. Darwin vermutete, daß der Pazifik die Stelle kennzeichnete, an der der Teil des oberen Erdmantels, aus dem sich der Mond bildete, fortgerissen worden sei. Auch hier zeigt sich in den nach heutigem Wissenstand aufgestellten Modellen eine hübsche Ironie: man geht heute davon aus, daß der Mond seiner Entstehung der Kollision mit einem etwa marsgroßen Protoplaneten (mitunter Theia genannt) vor etwa 4,4 Milliarden Jahren verdankt, und daß seine Materie zu etwa gleichen Teilen aus Teilen der Erdmantels und den Trümmern der Theia besteht.

„Der Start erfolgte mit Hilfe einer Reihe gestaffelter Explosion, durch die eine Austrittsgeschwindigkeit von fünf Kilometern pro Sekunde erreicht wurde, ohne den Schock der Beschleunigung zu groß werden zu lassen…“ – die „Kanonische Startmethode“ geht natürlich auf Jules Verne respektive die Aktivitäten des Bostoner „Gun Club“ in der Voyage extraordinaire „De la terre à la lune“ (1865) zurück. Die Erkenntnis, daß Barbicane & Co. die geballte Beschleunigung auf die terrestrische Fluchtgeschwindigkeit von 12,8 Kilometer pro Sekunde durch eine einzige Explosion nicht intakt überstehen würden und der Vorschlag, dies durch Staffelung der Sprengladungen abzumildern, kam schon bald bei Besprechungen des Romans auf. Zuletzt kam dieses Verfahren in Stephen Baxters Hommage an Vernes Vorlage, „Columbiad“ (Science Fiction Age, Mai 1996; gesammelt im Band Traces, 2009) zur Anwendung.

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„Die Lebensformen auf der Venus verwendeten Moleküle, die zumeist Spiegelbilder derjenigen darstellen, aus denen irdisches Leben aufgebaut ist. Außer zur Fettbildung waren sie nutzlos, und einige von ihnen stellten eine direkte Gefahr dar.“ Science Fiction zeichnet sich – als ein Genre, das auf Konzepten, auf der Verwendung von Theorien aus den Wissenschaft beruht – durch ein Wechselspiel, einen Austausch und die Entwicklung solcher Konzepte aus. In Arthur C. Clarkes erster „professioneller“ Veröffentlichung, der Kurzgeschichte „Technical Error“ (sie erschien im April 1946 in der ersten Ausgabe des englischen Digests „Fantasy“ – dem ersten Versuch, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ein Genremagazin auf den Markt zu bringen) wird der Protagonist durch einen Kurzschluß in die vierte Dimension geschleudert und findet sich nach dem „Rücksturz“ in unser Raum-Zeit-Kontinuum mit vertauschten Körperseiten wieder. Clarke nimmt hier erkennbar das Thema von H. G. Wells‘ Erzählung „The Plattner Story“ auf, die genau ein halbes Jahrhundert zuvor, im April 1896, in „The New Review“ erschienen war und ein Jahr später Wells‘ erster Sammlung von Texten in diesem Bereich den Titel gab. Auch Plattner kehrt aus der vierten Dimension in „gespiegelter“ Form zurück: als Linkshänder, mit Blinddarm und Herz auf der „falschen“ Körperseite; anfänglich benötigt er zum Lesen einen Spiegel, weil ihm jegliche Schrift spiegelverkehrt erscheint. Anders als Plattner beginnt Richard Nelson in Clarkes Geschichte abzumagern und droht zu verhungern: durch die Spiegelung haben die Proteine, aus denen sich seine Körperzellen aufbauen, ihre Chiralität vertauscht, sind zu „Spiegelbildern“ geworden (Chemikern sprechen von „Enantiomeren“) und nicht mehr in der Lage, organische Moleküle als Nährstoffe zu verwenden. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß Clarke diese Volte Haldanes Text verdankt, in dem dies – soweit mir bekannt ist – zum ersten Mal erwähnt wird. Clarke hat den zweiten Abschnitt von „The Last Judgement“ 1967 als Abschlußtext in seine Anthologie „The Coming of the Space Age“ aufgenommen, als einen von drei Fabulationen unter den Erörterungen und Essays zur praktisch-faktischen Raumfahrt, ihrer Entwicklung und ihren Pionieren (bei den beiden anderen handelt es sich um kurze Auszüge aus Olaf Stapledons „Last and First Men“ (1930) und C. S. Lewis‘ „Perelandra“ (1943).

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Bei „Perelandra“ handelt es sich um den zweiten Teil von Lewis‘ „Space“-Trilogie, die Lewis ausdrücklich als „humanistischen“ Gegenentwurf zu den von ihm als a-human und gegen alles christlich geprägte Ethik gerichteten Aspekten der „Weltraumeroberungsphantasien,“ wie er sie in den Büchern von H. G. Wells, aber eben auch in „The Last Judgement“ oder J. D. Bernals „The World, the Flesh and the Devil“ von 1929 propagiert sah (schon die Titel dürften dem zum Katholizismus konvertierten Lewis schiere Blasphemie gewesen sein). Elwin Ransom, der im ersten Band, „Out of the Silent Planet“ (1938) kurzerhand vom Ingenieur Devine und dem Wissenschaftler Ransome gekidnapt und auf den ersten Flug zum Mars entführt wird – er soll ihnen als Vorkoster dienen, was die Verträglichkeit der Marsluft und -vegetation angeht – wird im Verlauf der Erzählung(en) zum wichtigsten Gegenspieler gegen den besessenen, fanatischen Ransome. Im dritten Teil, „That Hideous Strength“ (1945) schreckt Devine, jetzt als Lord Feverstone auftretend, nicht einmal davor zurück, tatsächlich dämonische Mächte zur Errichtung seiner Weltherrschaft einzusetzen. Weston findet auf der Venus – der „Perelandra“ des Titels – den Tod, als er versucht, den Sündenfall unter den Venusbewohnern zu wiederholen. In Westons Ende, der von Ransom in eine Vulkanspalte gestoßen wird, darf man ein vorweggenommenes Echo im Werk von Lewis‘ Zunftgenossen im Zirkel der akademischen Belletristen der „Inklings“ sehen: Weston ist buchstäblich vom Satan besessen; Smeagol/Gollum erliegt völlig der dämonischen Macht des Einen Rings.

Als Vorbild für die Figur Westons hat Lewis die Person J.B.S.Haldanes gedient – vor allem die rein materialistische, in ihrer Hybris durch nichts begrenzte Haltung zur Welt, zum gesamten Universum, die er hier verkörpert sah. An seinen Studenten und späteren Biographen Roger Lancelyn Green schreibt Lewis am 28. Dezember 1938: „Der unmittelbare Anstoß waren für mich Olaf Stapledons ‚Last and First Men‘ und ein Essay in J.B.S. Haldanes ‚Possible Worlds,‘ die beide die Möglichkeit der Raumflugs ernst zu nehmen scheinen und beide diese absolut amoralische Weltsicht zeigen, die ich bei Weston an den Pranger stellen will. Das ganze interplanetarische Thema gefällt mir als Mythos, und ich wollte es benutzen, um meine eigene christliche Haltung zum Ausdruck zu bringen, während es bisher nur der Gegenseite gedient hat.“

(“What immediately spurred me to write was Olaf Stapledon's Last and First Men … and an essay in J.B.S. Haldane's Possible Worlds both of wh[ich] seemed to take the idea of such [space] travel seriously and to have the desperately immoral outlook wh[ich] I try to pillory in Weston. I like the whole interplanetary ideas as a mythology and simply wished to conquer for my own (Christian) p[oin]t of view what has always hitherto been used by the opposite side.” (Selected Letters, II, S. 236)


An seine Schwester Penelope schreibt Lewis ein halbes Jahr später, am 9. August 1939: „Den Anstoß, das Buch zu schreiben, gab die Entdeckung, daß einer meiner Schüler all diese Träumereien über die Besiedlung anderer Welten ernst nahm und mir klar wurde, daß es Tausende gibt, für die die Hoffnung, daß sich die Menschheit in irgendeiner Weise fortentwickelt und Bestand hat, der einzige Sinn des Universums darstellt – daß eine ‚wissenschaftliche‘ Hoffnung, den Tod besiegen zu können, dem Christentum Konkurrenz machen könnte…!“

"What set me about writing the book was the discovery that a pupil of mine took all that dream of interplanetary colonisation quite seriously, and the realisation that thousands of people in one form or another depend on some hope of perpetuating and improving the human species for the whole meaning of the universe - that a 'scientific' hope of defeating death is a rival to Christianity ... !”


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Auch die Idee, Menschen für die Besiedlung anderer Planeten durch ein „Zuchtprogramm“ an die dort vorherrschenden Umweltbedingungen anzupassen – ein Konzept, das wie nichts sonst die kalte, a-humane, im pejorativen Sinn sozialdarwinistische Sicht auf den Menschen verkörpert, der der Einzelne nichts wert und es nur auf das Erreichen eines Ziel für die Gattung als solche ankommt, ungeachtet jeder Opfer (man könnte es auch eine „stalinistische Sicht in Reinkultur“ nennen), ist in „The Last Judgement“ wohl zum ersten Mal deutlich formuliert worden. In der Ideengeschichte des Genres wird das Konzept zumeist mit dem kleinen Zyklus von Erzählungen in Verbindung gebracht, die James Blish (1921-1975) zwischen 1942 und 1955 verfaßte und die in Buchform 1957 unter dem Titel „The Seedling Stars“ erschienen sind. Blishs Modifikationen der menschlichen Physis fallen freilich um vieles extremer aus als in Haldanes erschreckender Vision: in der Erzählung „Surface Tension,“ dem – einstmals bekanntesten Text zur „Pantropie,“ (zuerst im August 1952 in Galaxy Science Fiction erschienen) erweisen sich die Nachkommen der Menschen als winzige Wasserlebewesen, für die die Oberflächenspannung des Titels die „Grenze zum Weltraum“ darstellt, die überwunden werden muß, um „andere Welten“ – sprich: andere Teiche – erreichen zu können.

Haldane hat bis zum Ende seines Lebens die Neigung zu solch extremen (oder höflicher gesagt: ausgefallenen) Konzepten bewahrt. Ein gewisse Berüchtigkeit hat er durch den Vorschlag erhalten, den er in seinem Vortrag gemacht hat, den er im Rahmen des Symposiums „Man and His Future“ gehalten hat, das die CIBA Foundation, die Stiftung des gleichnamigen Schweizer Pharmakonzerns, vom 26. Bis 30. November 1962 in London veranstaltete, auf der sich allein fünf Nobelpreisträger, unter anderem Joshua Lederberg und Peter Medawar zur Zukunft des Menschheit und ihrer Möglichkeiten äußerten. Haldanes Überlegung ging dahin, daß Bewerber ohne Beine als Astronauten im Vorteil seien: „Die Beine und der größte Teil des Beckens werden nicht gebraucht. Menschen, die durch Unfälle oder Erbschäden ihre Beine verloren hätten, würden sich besonders als Raumfahrer eignen. Wenn eine Substanz gefunden würde, die dieselbe Auswirkung wie Contergan hätte, nur auf die Entwicklung der Beine anstatt der Arme, könnte sie von Nutzen sein, um die Besatzung für den ersten Flug nach Alpha Centauri vorzubereiten, indem sie nicht nur ihr Gewicht, sondern auch den Bedarf an Nahrung und Sauerstoff reduziert.“

"The human legs and much of the pelvis are not wanted. Men who have lost their legs by accident or mutation would be specifically qualified as astronauts. If a drug is discovered with an action like that of thalidomide, but on the leg rudiments only, not the army, it may be useful to prepare the crew of the first spaceship to Alpha Centauri system, thus reducing not only their weight, but their food and oxygen requirements." ("Biological Possibilities for the Human Species in the Next Ten Thousand Years," in:  John Wolstenholme, Hg., Man and His Future, Boston: Little, Brown and Company, 1963, S. 337-361, hier S. 357).


Als die Europäische Raumfahrtbehörde ESA Ende März ein Stellenangebot ausschrieb, in dem sie ausdrücklich um die Bewerbungen von Menschen ohne Beine (oder mit teilweise Amputation von Unter- und Oberschenkeln) für künftige Raumflüge bat, dürfte nicht vielen Haldanes Präzendenzfall in den Sinn gekommen sein. Und natürlich geht es der ESA um „Inklusion,“ um das „Sichtbarmachen,“ darum, „Repräsentanten für Menschen mit Behinderungen“ zu werden (O-Ton: „ working towards enabling professional astronauts with a physical disability to participate to space missions will require from you the willingness to be a spokesperson, not just for the space programme but also for the worldwide community of people with a disability.”). Aber frappierend klingt es schon:

Any person wishing to be selected as the first astronaut with a physical disability in the ESA astronaut reserve must have an eligible disability. The following disabilities are considered to be eligible:

Lower limb deficiency (e.g. due to amputation or congenital limb deficiency) as follows:
Single or double foot deficiency through ankle
Single or double leg deficiency below the knee
Leg length difference (shortened limbs at birth or as a result of trauma)
Short stature (<130 cm)


(Die Stellenanzeige ist am 31. März geschaltet worden – der kleine Zyniker vermutet, daß der 1. April vermieden werden sollte – und gilt bis zum 21. Juni. Nachzulesen ist sie hier.)

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(Fridrikh Arturowitsch Tsander, 1887-1933)

„…daß jetzt nach dem Verlassen der Atmosphäre Segel aus metallischer Folie mit einer Fläche von einem Quadratkilometer oder mehr entfaltet werden, um den Strahlungsdruck der Sonne aufzufangen. Diese Flüge benutzen im Grunde dieselben Prinzipien, die schon die alten Segelschiffe antrieben“ - hier dürfte es sich um die erste Erwähnung eines Raumschiffantriebs durch Sonnensegel handeln – zumindest im Westen. Die erste explizite Formulierung, den Lichtdruck der Sonne zur Beschleunigung von Raumfahrzeugen zu nutzen, stammt von dem in Lettland geborenen Ingenieur und Raketenpionier Friedrich Zander (russisch: Фридрих Артурович Цандер, 1887-1908), der sich seit 1908 mit Problemen der Raumfahrt befaßte und zusammen mit dem bekannteren Vordenker Konstantin Ziolkowski (1857-1935) im Mai 1924 in Moskau die erste „Raumfahrtgesellschaft,“ Общество изучения межпланетных сообщений (Gesellschaft zum Studium interplanetarer Reisen) gründete. Im gleichen Jahr erschien in der Nummer 13 der Zeitschrift Техника и жизнь (Technik und Leben) eine knappe, stichwortartige Zusammenfassung eines Vortrags, den Zander drei Jahre zuvor bei ersten Treffen zu diesem Thema gehalten hatte: „Перелёты на другие планеты“ (Flüge zu anderen Planeten). Und dort heißt es unter den Punkten 7 bis 10:

7. При желании перелететь на другие планеты, необходимо довести ускорение полета до скорости в 11,18 килом. в сек. и в таком случае можно воспользоваться ракетою, но, вероятно, выгоднее будет лететь при помощи зеркал или экранов из тончайших листов. Экраны должны вращаться вокруг их центральной оси — для придания им жесткости. Зеркала не требуют горючего, но они, в случае надобности, могут быть использованы в ракете в качестве горючего. Это — два из их преимуществ; затем они не производят больших напряжений в материале корабля и будут иметь меньший вес, нежели ракета вместе с ее горючим, но зато они могут быть легче взорваны метеорами, нежели ракета.

8. Взамен экранов можно будет, по всей вероятности, применять кольца, по которым течет электрический ток, при чем внутри кольца будет расположена железная пыль, удерживаемая вблизи плоскости кольца силами электрического тока. Пылинки должны быть наэлектризованы статическим электричеством для того, чтобы они держались на некотором расстоянии друг от друга. Если солнечный свет упадет на зеркало, экран или пылинки, он произведет на них определенное давление. При огромных расстояниях, с которыми мы имеем дело в межпланетных пространствах, малые силы дают сравнительно большие скорости полета.

9. Если в межпланетном пространстве будут устроены огромные вогнутые зеркала, которые будут вращаться вместе с астрономическими направляющими трубами вокруг планет, то солнечный свет, собранный ими и направленный на пролетающий на другую планету межпланетный корабль, даст скорости, во много раз превышающие скорости ракет.

10. На основании всех этих положений можно построить ряд межпланетный кораблей.

7. Um andere Planeten zu erreichen, ist es notwendig, eine Beschleunigung von 11,18 Kilometern pro Sekunde zu erreichen. Dafür können Raketen zur Anwendung kommen, aber es ist möglicherweise effektiver, große Spiegel oder Segel zu verwenden, die aus den leichtesten und dünnsten Materialien gefertigt sind. Diese Segel müssen die Längsachse des Schiffs rotieren, um sich unter Zug zu entfalten. Solche Spiegel benötigen keinen zusätzlichen Treibstoff, aber ihr Material kann im Notfall als Treibstoff für die Raketen verwendet werden. Das sind zwei ihrer Vorteile: außerdem üben sie keine störenden Kräfte auf die Struktur des Schiffs aus und haben weniger Masse als die Rakete mit ihren Treibstoffvorrat; allerdings können sie leichter durch Meteoriten getroffen werden.

8. Anstatt von Segeln dürfte es wahrscheinlich auch möglich sein, mehrlagige Folien zu verwenden, die mit Eisenstaub gefüllt sind und durch die ein elektrischer Strom läuft. Der Staub wird durch den Strom in der Mitte zwischen den beiden Folien gehalten, und die elektrische Ladung sorgt dafür, daß die Partikel des Staubs voneinander gleichmäßige Abstände annehmen.

Wenn das Sonnenlicht auf die Segel, Spiegel oder Folien trifft, wird es einen gewissen Druck darauf ausüben. Bei den gewaltigen Distanzen, mit denen wir es bei der interplanetaren Raumfahrt zu tun haben, ergeben sich auch bei sehr geringen Beschleunigungen recht hohe Fluggeschwindigkeiten.

9. Wenn wir große konkave Spiegel in die Umlaufbahn bringen, sie zu einem Verbund arrangieren und anhand der Sterne entsprechend ausrichten, wird das Sonnenlicht, das sie sammeln und das auf ein Raumschiff gerichtet wird, das zu einem anderen Planeten fliegen soll, für höhere Geschwindigkeiten sorgen, als durch Raketenantriebe werden können.

10. Diese Überlegungen lassen den Schluß zu, daß es möglich ist, Raumschiff für Flüge zu anderen Planeten zu konstruieren.

Zumeist wird Ziolkowski in der Literatur als Miturheber der Idee des „Sonnensegels“ (russ: Солнечный парус) „in den zwanziger Jahren“ („1920-е годы“) genannt. Allerdings ist die einzige direkte Erwähnung zum Thema in seiner kurzen, lobenden Antwort auf Zanders Aufsatz erhalten, der zwei Nummern darauf in „Technik und Leben“ erschien. Ich habe nun nicht sämtliche der gut 200 Aufsätze, Arbeiten, und Zuschriften durchgesehen, die Ziolkowskis Oeuvre umfaßt (eine Liste mit Links zu den Texten findet sich hier), aber eine entsprechende Stichwortsuche ergibt keine weiteren Treffer, und ich vermute, daß der Irrtum auf das anonyme Vorwort zu der Auswahlausgabe von 1952 zurückgeht, von wo er sich ungeprüft bis heute in russischen und westlichen Abhandlungen zum Thema fortpflanzt.

Daß Zanders Text die Grundlage für Haldanes Idee gewesen sein dürfte, legt die Erwähnung „Auch die leeren Hecksegmente wurden bei Bedarf nach hinten abgestoßen“ („The empty sections of the tail were also blown backward as required“) nahe, was Zanders Idee, das Material seiner Sonnensegel bei Bedarf als Treibstoff zu verwenden, ja durchaus entspricht. Im Westen waren die Arbeiten Zanders zur Raketentechnik bis zum Erscheinen der ersten russischen Buchausgabe 1967 weitgehend unbekannt (oder in Vergessenheit geraten), aber es ist durchaus möglich, daß eine Übersetzung – oder ein Bericht über die Tagung von 1921 in einer der englischen Zeitungen mit Sympathien für die „rote Revolution“ publiziert worden ist – wie etwa im „Daily Worker,“ für den Haldane seine Kolumne schrieb. Die internationale Vernetzung der Raumfahrtpioniere jener Jahre über alle weltanschaulichen Grenzen hinaus war beachtlich. 1927 gehörte Zander zu den Organisatoren der ersten Ausstellung zum Thema „Raumfahrt“ überhaupt (in der Moskauer Twerskaja-Staße Nr. 68 [*]), auf der Darstellungen und Modelle der Entwürfe zu Raumschiffen und den Grundlagen der Raumfahrt von Robert H. Goddard, Hermann Oberth, Max Valier und dem französischen Raketenpionier Robert Esnault-Pelterie (1881-1957) vorgestellt wurden. Als Publikumsmagnet diente ein dreidimensionales Modell der Mondoberfläche, das im Schaufenster neben dem Haupteingang präsentiert wurde, und als „Gag“ konnten Besucher ein Ticket für den „ersten Flug zum Mond“ erstehen – gültig für den Fall, daß er jemals verwirklicht werden würde. Die Ausstellung, die am 24. April 1927 eröffnet wurde, zog täglich 300 bis 400 Besucher an und wurde während der zwei Monate von gut 10.000 Interessenten besucht. Spätestens hier könnte es zu einem publizistischen Funkenschlag nach England gekommen sein.







(* Es ist nicht ganz leicht, festzustellen, ob das damals als Austellungsort genutzte Haus heute noch existiert. Zum einen wurde die Nummerierung der Gebäude nach der Umbennung der Twerskaja ulitza zu Ehren Maxim Gorkis 1935 geändert – aus dem „Hotel Lux,“ (Interessenten den deutscher Geschichte, besonders der Exilgeschichte der deutschen Kommunisten nicht unbekannt), ebenfalls auf der „geraden“ Straßenseite, der Nordseite gelegen, wurde aus der Adresse Тверская улица 36 die улица Горького 10. Zum anderen wurde ein Großteil der Häuser im Zuge der ebenfalls 1935 in Angriff genommenen Umgestaltung der Moskauer Innenstadtbereichs nach sowjetischen Planvorgaben abgerissen. Das siebengeschossige Mietshaus, das sich heute auf dem Grundstück Twerskaja ul. 28 befindet, stammt aus dem Jahr 1997.)



(Тверская ул., д. 28 корпус 1)

Sollte etwas älteren Lesern beim Stichwort „Mondflugticket“ ein leises Déjà Vu widerfahren, ein „Moment mal…“: ja – die amerikanische Fluglinie Pan Am hat auf dem Höhepunkt des Apollo-Programms, zwischen 1968 und 1971, mehr als 93.000 Reservierungen für die „ersten Mondflüge“ ausgegeben, die sogenannten „First Moon Flight“-Klubkarten. Die Reservierungen erfolgten kostenlos und waren als Reklamegag gedacht. Einer journalistischen Legende zufolge soll dies auf den österreichischen Journalisten Georg Pistor zurückgehen, der 1964 in einem Wiener Reisebüro angefragt hatte, ob es denn möglich sei, einen Flug zum Mond zu buchen. Pan Am nahm die Reservierung an und erklärte auf Nachfrage, man sei sich sicher, daß die ersten Flüge „noch vor dem Jahr 2000“ erfolgen würden. Der kleine Scherz verschaffte der Airline immerhin die Ehre, daß in Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ der Shuttledienst zwischen der Erdumlaufbahn und der Mondbasis im Krater Clavius durch Pan Am erledigt wird. (Daß die Fluglinie 1991 Konkurs anmelden mußte, sei nur am Rande vermerkt.) Weder die Moskauer Organisatoren der „Ersten Weltausstellung von Modellen interplanetarischer Apparate und Vorrichtungen“ (Первая мировая выставка межпланетных аппаратов и механизмов) noch die Chefetage der Pan American Airlines konnten das Lied „Ticket to the Moon“ kennen, das Jeff Lynne 1981 für das Album „Time“ seines Electric Light Orchestra“ schrieb, aber es steht ihnen als Motto, und wenn der Text anhebt: „Remember the good old 1980s / When things were so uncomplicated? I wish I could go back there again / And everything could be the same“ – dann ist man versucht zu sagen: wenigstens EINER, der in Sachen Zukunftsschau recht behalten hat.





Wesentlich geringer scheinen die Wartezeiten auch im angehenden 21. Jahrhundert nicht geworden zu sein. Erinnert sich noch jemand an Sonja Rohde, Geschäftsfrau aus Hagen, die von Richard Branson 2005 die Zusage erhielt, „im nächsten Jahr“ als erste deutsche Frau „ins All zu fliegen“ (genauer: mit dem SpaceShipTwo von Virgin Galactic einen Parabelflug bis n 100 km Höhe zu unternehmen)? Und ob das „dearMoon“-Team um den japanischen Milliardär Yusaku Maezawa tatsächlich in zwei oder fünf oder zehn Jahren tatsächlich den Mond in einer Crew-Dragon-Kapsel von SpaceX umkreisen wird, um eine Nase künstlerischer Inspiration zu schnuppern, steht weiterhin in den Sternen.

***

Womit Haldane allerdings absolut recht hat, ist die Tatsache, daß die Erdrotation durch die vom Mond (und zu einem Dritten der Sonne ausgelösten Gezeiten abgebremst wird und die Bewegungsenergie, die gebundenen Erd-Mond-System erhalten bleiben muß, dazu führt, daß sich der Trabant beständig weiter von ihr entfernt. Seit dem LLR, dem Lunar Laser Ranging- Experiment), bei dem die Besatzungen von Apollo 11, 14 und 15 Reflektoren auf der Mondoberfläche aufstellten, die von der Erde ausgesandte Laserstrahlen spiegeln, läßt sich dieser Wert auch empirisch exakt ermitteln. Diese Experimente sind die einzigen Versuchsreihen, seit nunmehr einem halben Jahrhundert auf dem Mond Daten liefern (die beiden russischen Rover Lunochod 1 und 2, die 1970 und 1973 die ersten Rover auf einem anderen Himmelskörper waren, verfügten ebenfalls über Laserreflektoren). Zurzeit erfolgen die halbjährigen Messungen durch das Observatoire de la Côte d’Azur in Nizza, das Osservatorio Laser di Matera in Italien und das Geodätische Observatorium Wettzell im Bayerischen Wald. Gegenwärtig entfernt sich der Mond um gut 3,8 Zentimeter im Jahr von uns. Im Präkambrium, vor gut 500 Millionen Jahren, betrug die Tageslänge 19 Stunden. Wie sich diese Entwicklung über die Jahrmilliarden fortsetzen wird, die der Erde noch bleiben, ehe sich die Sonne in gut 4,5 Milliarden Jahren zu einem roten Riesenstern aufblähen wird, läßt sich nicht genau berechnen: wie Haldane erwähnt, erfolgt der größte Eintrag in den flachen Bereichen der Kontinentalsockel, wo der Tidenhub am größten ist; dieser Faktor wird durch den künftigen Verlauf der Kontinentaldrift bestimmt; zudem der Einfluß mit dem Quadrat der zunehmenden Entfernung der beiden Himmelskörper schwächer. Isaac Asimov, der sich in zwei Folgen seiner regelmäßigen Wissenschaftskolumne für The Magazine of Fantasy & Science Fiction dieser Fragestellung gewidmet hat („A Long Day’s Journey“ und „The Inconstant Moon“, April bzw. Mai 1979), kam zu dem Schluß, daß es gut 55 Milliarden Jahre dauern würde, bis Erde und Mond einander stets dieselbe Seite zuwenden würden; der Tag und der gleichlange Monat dann 47 heutige Erdtage dauern würde und die Mondentfernung 167.000 Kilometer größer als heute ausfallen würde.- und das bei einer rein linearen Extrapolation, ohne die Abschwächung der Kräfte einzurechnen.

In diesen Zusammenhang fällt auch eine Episode, die in der letzten Woche in den US-Amerikanischen Medien für allerlei Spott gesorgt hat – nämlich die Anfrage des texanischen Kongressabgeordneten Louie Gohmert an Jennifer Eberlien, die stellvertretende Leiterin der US Forest Service, also der obersten Forstbehörde der Vereinigten Staaten. Gohmert, der der Republikanischen Partei angehört, genießt in den amerikanischen Medien aufgrund seiner Ablehnung in Sachen LBGT-Rechten und Abtreibung und seinem Zweifel am „menschengemachten Klimawandel“ einen schlechten Leumund als Ahnungsloser oder vorsätzlich Verstockter. Diese neue Eskapade war ganz dazu geeignet, diesen Eindruck zu verstärken. Gohmerts Anfrage lautete dahingehend, ob die Forstbehörde, „oder BLM“ (womit das Bureau of Land Management gemeint ist, nicht Black Lives Matter), „in der Lage wäre, irgendetwas zu unternehmen, um die Bahn des Mondes um die Erde oder die Umlaufbahn der Erde um die Sonne“ zu verändern. „Es ist klar, daß das Auswirkungen auf unser Klima haben würde.“ Er fügte hinzu, daß ihm ein früherer Leiter der NASA erklärt habe, diese Umlaufbahnen würden sich ändern und Klimaschwankungen zur Folge haben. Eberleins Antwort war ein diplomatisches „wir werden uns damit befassen“ („We will follow you up on that one, Mr. Gohmert.“).

Nun ist - wie so oft in solchen Fällen – nicht zu unterscheiden, ob es sich hier tatsächlich nur um schlichte Ahnungslosigkeit handelt – zumal Gohmert vorher von „Berichten über vermehrte Strahlungsausbrüche auf der Sonne“ sprach – was definitiv nicht der Fall ist, da wir uns im Minimum des 11-jährigen Sonnenfleckenzyklus befinden und sich der angehende 25. Zyklus durch außergewöhnliche Schwäche auszeichnet) – oder ob hier eine schlitzohrige Eulenspiegelei vorliegt. Denn die Erdbahn unterliegt tatsächlich regelmäßigen, langfristigen Störungen bei denen sich sowohl die Exzentrizität der Erdbahn wie auch die Neigung der Erdachse ändern. Diese Zyklen, nach ihrem Entdecker Milutin Milanković „Milanković-Zyklen“ genannt, werden in der Geologie seit gut 40 Jahren als die bestimmenden Faktoren für die Eiszeiten der letzten fünf Millionen Jahre verantwortlich gemacht. Die Neigung der Erdachse von 22,1 bis 24,5 Grad zur Ekliptik schwankt in einem Rhythmus von 41.000 Jahren, die Exzentrizität der Erdbahn, ihre „Rundheit,“ das Verhältnis der großen zur kleinen Halbachse, ändert sich in mehreren überlagerten Zyklen, die zwischen 95.000 und 135.000 Jahre dauern. Die Folge ist, daß die Sonneneinstrahlung in der Gegenwart im Lauf eines Jahres um 6,3% schwankt; bei minimaler „Oval-heit“ der Erdbahn sinkt dieser Wert auf 2 Prozent, im Maximum steigt er auf über 23 Prozent an. Eine weitere Voraussetzung zur Entstehung dauerhafter Eiskappen an den Erdpolen ist die Anordnung der Landmassen: Heutzutage bilden das von Kontinenten eingeschlossene Nordpolarmeer und die Landmasse der Antarktis die Voraussetzung dafür, die während des größten Teils der Erdgeschichte nicht gegeben war. Geologisch gesprochen, befinden wir uns immer noch in einer Eiszeit – die Definition dafür ist eben das Auftreten dauerhafter Polarkappen – nur eben in ihrer wärmsten Phase, dem Interglazial.

Ob nun durchtriebene Eulenspiegelei oder baerbockige Kobolderei – die Antwort auf Gohmerts Frage lautet jedenfalls: „nichts.“ Es gibt nichts, was eine Forstbehörde – oder sonstige menschliche Anstrengung – unternehmen könnte, um die Parameter der Erdumlaufbahn zu beeinflussen. Die Grünen können noch so viele Gezeitenkraftwerke errichten – oder Windmühlen, um der Atmosphäre Bewegungsenergie durch Druckausgleich zu entziehen. Nichts davon wird Einfluß auf diese Schwankungen haben. Nur eine „von außen“ einwirkende Kraft könnte dies bewerkstelligen – etwa die nahe Passage eines massereichen Planeten von außerhalb des Sonnensystems durch die inneren Bereiche unseres Systems. Haldane merkt oben ganz richtig an, daß eine solche Passage zu unwahrscheinlich ist, um sie ernsthaft für die wenigen Jahrmilliarden, die der Erde gewährt sind, zu erwarten steht. Außerdem würden bei zu großer Distanz die Auswirkungen zwar meßbar, aber ohne Konsequenzen bleiben (es dürfte keine Katastrophe darstellen, wenn sich die Jahreslänge außerplanmäßig um ein paar Sekunden ändern würde), während bei einem nahen Zusammentreffen ganz andere Folgen drohen würden, als die Terminierung der nächsten Eiszeit.



U.E.

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