30. September 2009

Marginalie: Schon wieder muß ich Daniel Cohn-Bendit zustimmen. Anmerkung zur Affäre Polanski

Daniel Cohn-Bendit, wenn er im deutschen TV auftritt, ist mir schwer erträglich: Dieses Pathos, diese mit reichen Gesten unterstrichene Rhetorik, diese emotionale Färbung auch noch der trivialsten Feststellung. Einer, der ständig ein wenig zu aufgeregt ist. Nach deutschen Maßstäben.

Daniel Cohn-Bendit ist einer der wenigen Menschen, die wirklich binational sind. Er ist Sohn eines Deutschen und einer Französin. Er hat seine Kindheit in Frankreich verbracht, seine Gymnasialzeit bis zum Abitur in Deutschland. Als Student war er, wie man weiß, einer der Anführer der 68er Revolte in Frankreich; "Dany le Rouge". Der rote Dany - das mag auf seinen Haarschopf verwiesen haben, vor allem aber auf seine politische Haltung. Er soll zwecks Beförderung der Revolution die tolle Idee beigesteuert haben, die Trikolore durch eine rote Fahne zu ersetzen.

Aufgrund seiner Revoluzzerei wies ihn Frankreich aus; und in den nächsten Jahrzehnten war er ein Deutscher. Ein Frankfurter Sponti; einer dieser Polit-Intellektuellen, die nie etwas Anständiges gelernt und die nie einen richtigen Beruf ausgeübt haben. In der Partei "Die Grünen" konnte er nicht recht reüssieren; außer auf der Europa- Ebene. Inzwischen hat er das, was man gern den "Lebensmittelpunkt" nennt, wieder nach Frankreich verlagert.

Also hat man ihn in den letzten Jahren oft im französischen Fernsehen gesehen. Gesehen und gehört; auch in Sendern wie LCP und France24, die man auch in Deutschland empfangen kann. Und schau an: Da wirkte Cohn-Bendit auf mich ganz anders. Seine Rhetorik wird im lateinischen Kulturkreis nicht so wahrgenommen wie im teutonischen. Da ist nichts Clowneskes; da fügt einer sich ein in seine intellektuelle Umgebung.



Mich hat diese überraschende Erfahrung dazu gebracht, Cohn-Bendit mit anderen Augen zu sehen. Ein Kommunist war er ja nie, schon gar nicht ein Stalinist. Er war ein linker Anarchist. Zwischen den, sagen wir, nicht- spinnerten Anarchisten und uns Liberalen gibt es durchaus interessante gemeinsame Fragen; vielleicht sogar die eine oder andere übereinstimmende Antwort.

Zum Beispiel, was die Freiheit Osteuropas angeht, die durch den russischen Imperialismus bedroht wird. Dazu hat Cohn-Bendit sich bemerkenswert klar geäußert, im Verein mit keinem Geringeren als Otto von Habsburg; siehe Ein gemeinsamer Text von Otto von Habsburg und Daniel Cohn-Bendit - kann es das geben? Es gibt es; ZR vom 24.2.2009.

Und nun wieder: Es geht um die Affäre Polanski. Der Regisseur Roman Polanski ist bekanntlich seit Jahrzehnten auf der Flucht vor der amerikanischen Justiz, die ihm vorwirft, im Jahr 1977 eine Dreizehnjährige sexuell mißbraucht zu haben. Nun wurde er in der Schweiz festgenommen; über seine Auslieferung muß entschieden werden.

Eigentlich sollte man meinen, daß eine solche Affäre eine juristische Angelegenheit ist. Es geht da um Rechtssysteme, um Auslieferungsrecht, natürlich auch um die Schuld oder Nichtschuld Polanskis.

Aber in Frankreich - Polanski ist französischer Staatsbürger - erhob sich eine Welle der Unterstützung, die bis in die Regierung hineinreichte. Der Außenminister Kouchner setzte sich für ihn ein. Der Kultusminister Frédéric Mitterand fand gar - so zitiert ihn der Nouvel Observateur - die Festnahme Polanskis "absolument épouvantable"; ganz und gar entsetzlich. Und das wegen, so Mitterand, einer "histoire ancienne qui n'a pas vraiment de sens"; einer alten Geschichte, die eigentlich keinen Sinn hat.

Das löste, man kann es sich denken, Widerspruch aus. Und unter den deutlich Widersprechenden war Daniel Cohn-Bendit. Der Nouvel Observateur:
"C'est une des histoires les plus dures puisque c'est vrai qu'il y a eu viol sur une jeune fille de 13 ans qui elle-même dit : 'j'ai pas porté plainte' et à un moment elle dit 'j'ai reçu beaucoup d'argent'", a déclaré Daniel Cohn-Bendit sur Europe 1.

"C'est un problème de justice et je trouve qu'un ministre de la Culture, même s'il s'appelle Mitterrand, devrait dire : j'attends de voir les dossiers", a ajouté l'ancien leader de mai 68 prenant le contre-pied des nombreux soutiens en France apportés au réalisateur, y compris au sein du gouvernement et de la majorité.

"Das gehört zu den härtesten Vorfällen. Denn es ist ja wahr, daß ein dreizehnjähriges Mädchen vergewaltigt wurde, das selbst gesagt hat: "Ich habe keine Anzeige erstattet", und dann hat sie auch gesagt: "Ich habe viel Geld erhalten". Das sagte Cohn-Bendit auf [dem französischen Sender; Zettel] Europe 1.

"Es handelt sich um ein Problem der Justiz, und ich finde, daß ein Kultusminister, auch wenn er Mitterand heißt, sagen sollte: Ich möchte erst einmal die Akten sehen", fügte der einstige Anführer des Mai 1968 hinzu. Damit positionierte er sich gegen zahlreiche Unterstützungen, die dem Regisseur in Frankreich zuteil geworden waren; auch innerhalb der Regierung und der Regierungskoalition.
Gut tat er daran, der Daniel Cohn-Bendit, sich so zu positionieren. Wie auch im Fall der Freiheit Osteuropas.

Nein, so richtig ans Herz wachsen wird er mir damit nicht. Er kann sich bemerkenswert flegelhaft benehmen, wie zum Beispiel gegenüber dem tschechischen Staatspräsidenten; siehe Ein Dialog zwischen dem Abgeordneten Daniel Cohn-Bendit und dem Staatspräsidenten Vaclav Klaus; ZR vom 8.12.2008.

Cohn-Bendit war und ist immer noch ein linker Phantast und ein Mensch mit außerordentlich schlechten Manieren. Einer von diesen Leuten, bei denen man den Eindruck hat, daß sie in der Pubertät steckengeblieben sind. Aber er ist auch ein Mann mit Courage und einer, von dem ich denke, daß er das meint, was er sagt. Sein Eintreten für Freiheit und Rechtsstaatlichkeit nehme ich ihm ab.



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29. September 2009

Zitat des Tages: Steinmeier und die Sprache der Linken. Wieder wird die SPD einen Vorsitzenden verschleißen

Also muss die SPD nach den Sozialreformen womöglich eine weitere Kehrtwende vollziehen. (...) Denn wer die Linkswähler zurückholen will, muss rasch deren Sprache sprechen lernen. Steinmeier wird den Linken geben, oder andere werden ihn dazu drängen – ihn, der in der großen Koalition die Rente mit 67 oder die höhere Mehrwertsteuer mitbeschlossen hat und der noch im Sommer rot-rote Koalitionen selbst auf Länderebene ablehnte.

Nicht wahr, bis hierhin klingt das wie ein Kommentar aus der "Süddeutschen Zeitung", aber nicht wie ein Kommentar aus der "Welt".

So geht es aber weiter:

Wer soll ihm glauben? Und wie soll das gut gehen?

Schreibt Torsten Krauel in "Welt- Online".


Kommentar: Wie wahr. Die SPD wird sich jetzt nach links orientieren. Sie wird in der Opposition das Volksfront- Bündnis schmieden, das sie 2013 zurück an die Macht bringen soll.

Die beiden rivalisierenden Schmiede dieses Bündnisses, Andrea Nahles und Klaus Wowereit, haben freilich Grund, sich vorerst bedeckt zu halten. Sie wollen möglichst wenig mit der jetzigen Niederlage assoziiert werden. Sie brauchen Zeit, die Flamme zu erhitzen und das Schmieden vorzubereiten.

Also schieben sie Steinmeier nach vorn. Parole: Hannemann, geh du voran. Man wird ihn nicht nur zum Vorsitzenden der Fraktion machen, sondern auch noch zum Vorsitzenden der Partei.

Man wird ihn verschleißen, so wie diese Partei eine ganze Riege von Vorsitzenden verschlissen hat. Zuletzt den noblen Platzeck, der die Flucht ergriff, als er einen Blick in das Haifischbecken geworfen hatte, und den biederen Beck, der sich täppisch in der Beteiligung am Intrigenspiel versuchte.

Steinmeier wird nie Kanzler werden. Er wird auch nicht noch einmal Kanzlerkandidat werden. Die SPD-Linke wird ihn absägen, sobald er seine Funktion erfüllt hat.



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28. September 2009

Zitat des Tages: Gregor Gysi dreht's wieder einmal, wie es gerade paßt

Das eigentlich Herausragende des Ergebnis [sic] ist, dass die Linke ein zweistelliges Ergebnis erzielt hat, das hat es seit 1949 nie in der Bundesrepublik gegeben.

Gregor Gysi laut FAZ.Net über den Wahlausgang.


Kommentar: Eine erstaunliche Aussage, denn die Partei "Die Linke" ist diesmal zum ersten Mal zu Bundestagswahlen angetreten.

Wen also meint Gysi mit "seit 1949"? Die KPD, die SEW, die ADF, die DFU, die DKP? Die allerdings traten schon früher auf. Und schnitten in der Tat erbärmlich ab.

Es waren freilich allesamt auch nicht einfach "linke" Parteien, sondern Kommunisten; teilweise unter Tarnnamen. Daß Gysi seine Partei in diese Ahnenreihe stellt, ist ein erstaunliches Eingeständnis. Bisher las man's anders.

Aber wenn unter allen diesen Etiketten immer nur dieselben Kommunisten antraten (was ich Gysi gern konzediere), dann müßte man doch vernünftigerweise auch die SED einbeziehen. Deren Ergebnisse lagen nicht nur im zweistelligen, sondern schon fast im dreistelligen Bereich.

Aber er sprach doch nur von der Bundesrepublik, der Gregor Gysi? Dann freilich dürfte er bei seinem Vergleich auch für die jetzigen Wahlen nur die Ergebnisse aus der alten Bundesrepublik zum Vergleich heranziehen. Und dort gab es auch diesmal keineswegs "ein zweistelliges Ergebnis".

Er dreht's also, wie es ihm paßt. Solche kleinen Tricks sind es, mit denen sich ein Mensch entlarvt.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Nachtrag am 1. 11. 2009: Mit Dank an che2001 für den Hinweis darauf, daß ich statt "ADF" irrtümlich "AUD" geschrieben hatte.

27. September 2009

Marginalie: Mein schwarzgelbes Kabinett

Bundeskanzlerin: Angela Merkel (CDU)

Außenminister und Vizekanzler: Guido Westerwelle (FDP)

Innenminister: Günther Beckstein (CSU)

Finanzminister: Hermann Otto Solms (FDP)

Verteidigungsminister:
Wolfgang Schäuble (CDU)

Wirtschaftsminister: Karl-Theodor zu Guttenberg (CSU)

Justizministerin:
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP)

Europaminister: Eckart von Klaeden (CDU)

Minister für Forschung, Technologie, Wissenschaft und Umwelt:
Hans-Olaf Henkel (parteilos)

Minister für Arbeit, Mittelstand, Landwirtschaft und Soziales: Rainer Brüderle (FDP)

Ministerin für Gesundheit, Familie, Jugend und Sport: Ursula von der Leyen (CDU)



Keine weiteren Ministerien.



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Wahlen '09 (22): Wow!

Es sieht so aus, als sei das - aus meiner Sicht - überhaupt beste Ergebnis herausgekommen: Eine schwarzgelbe Regierung mit einer außerordentlich starken FDP.

So ganz sicher bin ich, fünfzehn Minuten nach Schließung der Wahllokale, noch nicht. Auch Stoiber war schon zum Wahlsieger ausgerufen worden.

Aber wenn es denn so kommt: Wir sind noch einmal davongekommen.

Nein, das ist zu wenig gesagt: Wir haben dann seit heute jede Chance für eine positive Entwicklung unseres Landes.

Nachtrag um 20 Uhr: Das Ergebnis scheint jetzt festzustehen. Ein Aufschwung wie nach 1949 ist möglich.

In der Opposition wird es jetzt darum gehen, ob die SPD ihre Führungsrolle behält oder hinter die Kommunisten zurückfällt.

Wie auch immer - der Wahlkampf 2013 wird ein Lagerwahlkampf sein; zwischen dem liberalkonservativen Lager und der Volksfront.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

Marginalie: Anmerkung zum (vermutlichen) heutigen Wahlerfolg der Kommunisten

Dort, wo die Kommunisten regieren, ist die Wahlbeteiligung erfreulich hoch. Bei den letzten Wahlen in Cuba lag sie zum Beispiel bei 96,89 Prozent, was umso bemerkenswerter ist, als es gar nichts zu wählen gab. Um die 614 zu vergebenden Mandate bewarben sich nämlich genau 614 Kandidaten; siehe Heute wählt Cuba!, ZR vom 20. 1. 2008.

Wo die Kommunisten noch nicht regieren, da profitieren sie hingegen von einer niedrigen Wahlbeteiligung. Denn der Kern ihrer Anhänger ist, wie bei jeder extremistischen Partei, überdurchschnittlich politisch interessiert. Für sie ist es keine Frage, daß sie wählen gehen.

Jetzt, zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale, zeichnet sich eine niedrige Wahlbeteiligung ab. Vielleicht steigt sie noch etwas dank der Wähler, die erst wählen gehen, wenn sie vom Sonntagsausflug bei strahlendem Sonnenschein zurück sind. Aber es ist unwahrscheinlich, daß sie am Ende des Tages hoch sein wird.

Das könnte einer der Gründe dafür sein, daß die Kommunisten heute einen großen Sieg feiern werden. Aber als Erklärung reicht es natürlich nicht.

Woher jetzt dieser Zulauf zu den Kommunisten sogar im Westen? Wegen der Krise? Gewiß nicht. Auch in früheren Krisen blieben die Kommunisten in der Bundesrepublik marginal; weit entfernt von der Fünf- Prozent- Hürde.

Entscheidend dürfte sein, daß es den Kommunisten gelungen ist, nicht mehr als extremistisch wahrgenommen werden. Dazu hat die Einverleibung der WASG beigetragen; sodann der ehemalige SPD-Chef Lafontaine als Aushängeschild; vor allem aber die freundliche Art, in der die Massenmedien die Kommunisten behandeln. Mit einer Super- Fairness, von der die Extremisten auf der Rechten noch nicht einmal träumen können.

Die Kommunisten sind, mit anderen Worten, gesellschaftsfähig geworden. Man findet nichts mehr dabei, sich zu ihnen zu bekennen und sie zu wählen.

Obwohl ihr Vorsitzender Lothar Bisky in Personalunion der Vorsitzende fast aller Kommunisten Europas ist (siehe Lothar Bisky, Vorsitzender von zwei Parteien; ZR vom 1. 9. 2008), präsentieren sich die deutschen Kommunisten nicht unter diesem Etikett, sondern sie spielen erfolgreich die Rolle des Anwalts des Kleinen Mannes.

Würden sie noch als extremistisch wahrgenommen werden, dann hätten sie damit wenig Erfolg. Aber getarnt als eine seriöse Partei sind sie dabei, das Feld zu besetzen, das bisher die Domäne der SPD war.



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Wahlen '09 (21): Krisenwahlen. Schicksalswahlen. Erinnerung an 1949

Angela Merkel wird auch nach diesen Wahlen Kanzlerin bleiben. Dennoch sind sie Schicksalswahlen. Das liegt an der Situation, in der wir zur Wahl gehen.

Die deutsche Befindlichkeit ähnelt derjenigen des Reiters über den Bodensee, der furchtlos über das vereiste Gewässer galoppiert, weil er sich auf festem Land wähnt. Dieser Wahlkampf fand mitten in der schwersten Wirtschaftskrise statt, die uns seit Bestehen der Bundesrepublik getroffen hat. Aber seltsam - wir taten so, als sei dies gar nicht die Lage.

Die Krise hätte das beherrschende Thema des Wahlkampfs sein müssen; stattdessen wurde über die Rente ab 67, über Afghanistan, gar über die Nutzung der Kernenergie gestritten. Der Dienstwagen einer Ministerin hat uns mehr beschäftigt als die Frage, ob es mit unserem Wohlstand demnächst vorbei sein wird.

Statt der Metapher des Reiters über den Bodensee könnte man auch an das Bild eines schwer leck geschlagenen Dampfers denken, dessen Besatzung sich damit beschäftigt, die Passagiere bei Laune zu halten, statt daß man etwas gegen die Havarie tut.



In Krisen werden die Karten neu gemischt. Schon jetzt ist absehbar, daß China aus der gegenwärtigen Krise als eine ökonomische Weltmacht hervorgehen wird. Ob die USA diesen Status nach der Bewältigung der Krise noch werden beanspruchen können, ist zweifelhaft.

Wie wird Europa aus der Krise herauskommen, wie insbesondere Deutschland? Das hätte die zentrale Frage dieses Wahlkampfs sein müssen. So, wie wie bei den Wahlen zum ersten Bundestag 1949 die zentrale Frage gewesen war, wie Deutschland aus dem Elend der Nachkriegszeit herauskommt; ob mittels einer Planwirtschaft, wie die SPD sie wollte, oder durch Ludwig Erhards Soziale Merktwirtschaft.

Auch damals wurden die Karten neu gemischt.

England, das nicht den Sieger Churchill wiedergewählt hatte, sondern sich für den Sozialisten Clement Attlee entschied, stieg wirtschaftlich ab; spiegelbildlich zum Aufstieg des besiegten Deutschland.

Das Vereinigte Königreich konnte in den fünfziger Jahren mit dem ebenfalls links regierten Frankeich um den Titel "der kranke Mann Europas" konkurrieren. In der britischen Presse wurde damals gefragt, wer eigentlich den Krieg gewonnen hätte - Deutschland, in dem sich der Wohlstand ausbreitete, oder das niedergehende England.



Nein, ich will die jetzige Krise nicht mit der Nachkriegszeit gleichsetzen. Aber die Erinnerung an 1949 zeigt, daß es Wahlen gibt, in denen die Weichen gestellt werden; Schicksalswahlen.

Daß auch die heutige Wahl diesen Charaker hat, mögen Sie, lieber Leser, vielleicht als eine maßlose Übertreibung sehen. Das solle eine Weichenstellung sein, werden Sie fragen, wo es doch nur darum gehen wird, mit welchem kleineren Partner die Kanzlerin weiterregiert?

Ginge es nur darum, dann hätten Sie mit diesem Einwand vielleicht recht. Aber eine Weichenstellung entscheidet ja nicht nur darüber, wo der Zug auf den nächsten Metern fährt; sie bestimmt auch, wo er nach unter Umständen hunderten von Kilometern ankommt.

Regiert die Kanzlerin künftig zusammen mit der FDP, dann kann das der Beginn einer neuen Epoche des Wohlstands und des Aufstiegs sein. Setzt eine solche Koalition die richtigen Rahmenbedingungen, dann wird sich aus der jetzigen Krise heraus eine Dynamik entwickeln, die durchaus derjenigen in den Jahren des "Wirtschaftswunders" vergleichbar sein könnte.

In einer Koalition mit der SPD wird das kaum gelingen können; mit einer SPD, die zunehmend unter die Kontrolle ihres linken Flügels gerät und die - vom Gesundheitswesen bis zu Mindestlöhnen und Steuererhöhungen - noch einen ganzen Katalog unerfüllter Forderungen hat, die sie in der neuen Legislaturperiode als Regierungspartei durchzusetzen versuchen würde.

Aber das allein macht diese Wahl noch nicht zu einer Schicksalswahl Entscheidend ist, daß eine Neuauflage der Großen Koalition instabil wäre.

Die Kommunisten werden heute ein Ergebnis bekommen, das sie als einen großen Wahlsieg feiern werden. In der SPD wird man die (richtige) Analyse anstellen, daß ihre traditionelle Klientel immer mehr zu den Kommunisten überläuft, die sich als die eigentliche, die bessere SPD darzustellen wissen. Das funktioniert - werden die SPD-Analytiker folgern - so lange, wie sich die SPD in einer Koalition mit der Union befindet und deshalb Kompromisse schließen muß.

Aus der Sicht der SPD kann also eine Neuauflage der Großen Koalition nur eine Übergangslösung sein; eine Etappe auf dem Weg zur Volksfront. Sehr wahrscheinlich würde die SPD eine Große Koalition im Lauf der Legislaturperiode verlassen und die Führung einer Volksfront- Regierung übernehmen. Die Verfassung bietet dafür den einfachen Weg des Konstruktiven Mißtrauensvotums.

Die wirtschaftliche Dynamik, die Deutschland so dringend auf dem Weg aus der Krise braucht, wäre dann dahin.

Schon zusammen mit den Grünen hatte die SPD es zwischen 1998 und 2005 fertiggebracht, Deutschland jenen schon genannten Titel "der kranke Mann Europas" zu verdienen. Und das ohne den Hintergrund einer tiefen Wirtschaftskrise. Wie lange würde wohl in der jetzigen Krise eine linke Koalition dafür brauchen, in der auch noch die Kommunisten über die Wirtschafts- und Sozialpolitik mitbestimmen?

Gewiß, eine Volksfront- Regierung wird nicht gleich den Sozialismus ausrufen. Aber sie wird Maßnahmen ergreifen, die in der Summe darauf hinauslaufen, die Dynamik der Wirtschaft abzuwürgen. Deutschland wird dann einer der großen Verlierer der Krise sein.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

26. September 2009

Wahlen '09 (20): Der größte Verlierer ist der Wahlsieger. Der größte Gewinner ist der eigentliche Verlierer. Das könnte das paradoxe Ergebnis sein

Der zu Ende gehende Wahlkampf bestand aus drei Phasen.

In der ersten legte die SPD einen guten, professionellen Start hin, während die Union sich so benahm, als ginge sie das Ganze gar nichts an. Das war die Zeit, in der die erste Folge dieser Serie mit dem Titel erschien: "Kann Angela Merkel die Wahlen noch gewinnen? Es wird schwer werden". So war die Lage im April und im Mai.

Die zweite Phase reichte von ungefähr den Europawahlen Anfang Juni bis Mitte September. Das war die Zeit, in der dieser Wahlkampf seine ganze Langeweile entwickelte; siehe Yes, we gähn. Vier Gründe, warum dieser Wahlkampf solch ein öder Langweiler ist. Das war die Zeit, in der die Union und die FDP zusammen knapp, aber konsistent vorn lagen. Manche hielten damals die Wahl schon für gelaufen. In Wahrheit war alles in der Schwebe, weil ein richtiger Wahlkampf gar nicht stattfand. Es bestand ein, wie ich es damals genannt habe, indifferentes Gleichgewicht.

In der jetzt zu Ende gehenden "heißen" Phase - und so richtig erst in den vergangenen beiden Wochen - fand er statt, der Wahlkampf. Das lag daran, daß es der SPD nach mehreren vergeblichen Anläufen doch noch gelang, eine gewisse Selbstmotivierung hinzubekommen. Es lag auch daran, daß die FDP vor knapp einer Woche endlich Farbe bekannte und sich eindeutig einer Ampel verweigerte. Es lag drittens daran, daß das Thema Afghanistan in den Vordergrund rückte und damit sich die Kommunisten als "Friedenspartei" darstellen konnten.

Das brachte Schwung in den Wahlkampf dieser drei Parteien; einen Schwung, der sich morgen in einen Umschwung - einen last minute swing, einen Umschwung in letzter Minute - umsetzen könnte. Einen Umschwung hin zu diesen drei Parteien und weg von der Union, die es nicht verstanden hat, wenigstens in der Endphase des Wahlkampfs Themen zu setzen und ihre Wähler zu motivieren.

Am 1. September stand hier zu lesen:
Ob es aber auch in der jetzt beginnenden Endphase des Wahlkampfs noch richtig ist, auf eine Emotionalisierung der eigenen Anhänger zu verzichten, das darf füglich bezweifelt werden. Ob die Botschaft "Die Kanzlerin hat uns doch prima durch die Krise gebracht. Also weiter so!" ausreicht, um der heißen Phase des Wahlkampfs den Stempel der Union aufzudrücken, ist zumindest fraglich.
Heute ist es nicht mehr fraglich. Was ich damals befürchtet habe, ist eingetreten.



Der kleine, aber stabile Vorsprung für Schwarzgelb ist damit dahin. Eine gestern veröffentlichte letzte Umfrage von Forsa sieht die Union nur noch bei 33 und die SPD bei 25 Prozent. Ebenso bemerkenswert sind die 14 Prozent für die FDP und die 12 Prozent für die Kommunisten. Mit den 10 Prozent der Grünen liegen damit Schwarzgelb und die Volksfront gleichauf bei je 47 Prozent.

Eine Momentaufnahme, gewiß; und fehlerbehaftet wie jede Umfrage. Aber doch eine Illustration dessen, was sich in den vergangenen beiden Wochen entwickelt hat. Schwarzgelb kann es immer noch schaffen; vielleicht allerdings nur durch Überhangmandate. Aber die Gefahr, daß es nicht reicht, ist einen Tag vor der Wahl größer als irgendwann im letzten halben Jahr.

Und wenn es nicht reicht für eine Koalition aus der Union und der FDP, dann hätten wir sehr wahrscheinlich die im Titel genannte paradoxe Situation:

Die SPD hatte sich von Anfang an das Ziel gesetzt, in der einen oder anderen Koalition an der Regierung zu bleiben. Scheitert Schwarzgelb, dann hat sie dieses Ziel erreicht. Sie ist dann insofern der eigentliche Wahlsieger; denn weder Union noch FDP hätten dann ihr Wahlziel erreicht, und auch nicht die Grünen.

Zugleich wäre aber die SPD der Verlierer dieser Wahl. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik noch unterbieten; dieses hatte sie mit 28,8 Prozent bei den Wahlen zum 2. Deutschen Bundestag am 6. September 1953 gehabt.

Genau umgekehrt würde es sich mit der FDP verhalten. Sie hat exzellente Aussichten, ihr bisher bestes Ergebnis (12,8 Prozent bei den Bundestagswahlen am 17. September 1961) noch zu übertreffen. Und dennoch wäre sie durch die Schwäche ihres Partners CDU/CSU zur Opposition verurteilt.

Sie wäre dann der große Gewinner und doch zugleich der große Verlierer. Die FDP ist seit 1998 in der Opposition; bis zum Ende der neuen Legislaturperiode werden es 15 Jahre geworden sein. Aus der Partei, die einmal auf das Regieren abonniert gewesen war - sei es zusammen mit Adenauer, Erhard und Kohl; sei es mit Brandt und Schmidt - , wäre dann eine Dauer- Oppositionspartei geworden.



Das ist, lieber Leser, die Lage, wie ich sie unmittelbar vor dieser historischen Wahl sehe. Welche Konsequenz daraus aus meiner Sicht folgt, habe ich vor einer Woche darzulegen versucht:

Wenn Sie nicht wollen, daß wir künftig - vielleicht nach der Übergangsperiode einer nochmaligen Großen Koalition - von der Volksfront regiert werden, dann sollten sie alle eventuellen Bedenken zurückstellen und Ihre Stimme der FDP geben; möglicherweise ihre Erststimme der Union.

Das wäre das, was die Franzosen voter utile nennen; nützlich wählen. Wenn Sie statt nützlich sich demonstrativ verhalten, indem Sie zu Hause bleiben, ungültig wählen oder ihre Stimme den Piraten oder einer anderen Splitterpartei geben - dann sollten Sie sich im Klaren darüber sein, daß Sie damit Mitverantwortung für einen möglichen erneuten Versuch tragen, in Deutschland den Sozialismus einzuführen.

Der Wahlkampf hätte eigentlich um diese zentrale Frage geführt werden müssen: Wollen wir das Weiterbestehen einer freien, demokratischen, rechtsstaatlichen Republik, oder soll Deutschland auf den Weg hinein in ein neues sozialistisches Experiment geschickt werden?

Guido Westerwelle hat diese Alternative in seiner Rede in Hannover klar beschrieben. Aber dieses Thema hat nicht den Wahlkampf der FDP geprägt; schon gar nicht denjenigen der Union. Das war der große Fehler beider Parteien. Hoffen wir, daß er sich morgen nicht rächen wird.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

25. September 2009

Zitat des Tages: "Dann haben die Meere zu viel Wasser". Grüne Volksverdummung

Das Wetter auf der ganzen Welt nennen wir Klima. Durch die Abgase wird es immer wärmer. Dadurch tauen die Eis-Berge. Dann haben die Meere zu viel Wasser. Und es gibt Hoch-Wasser.

Aus dem Wahlprogramm der Partei "Die Grünen" in sogenannter "Leicht- Sprache", zitiert von Oliver Tolmein in "FAZ.Net"


Da sagt Zettel: Die Verbreitung von Dummheiten im Volk nennen wir Volksverdummung. Durch Leicht- Sprache wird das Volk immer dümmer. Dadurch wählt es die Grünen. Dann haben die Grünen viele Sitze. Und das Volk wird noch mehr verdummt.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Calimero.

24. September 2009

Marginalie: Ein gemeinsamer Text von Otto von Habsburg und Daniel Cohn-Bendit - kann es das geben? Es gibt es

Der Text ist am Dienstag in seiner deutschen Version in der "Welt" erschienen. Aufmerksam geworden bin ich auf ihn durch den Blog Alemania: Economía, Sociedad y Derecho. Die englische Version hat der britische Guardian publiziert. Dort wird der Text als Offener Brief bezeichnet.

Zu den weiteren Verfassern neben Cohn-Bendit und Otto von Habsburg gehören u.a. Vaclav Havel und Adam Michnik, die vor 1989 wegen ihres Einsatzes für die Freiheit in der damaligen CSSR und in Polen von den Kommunisten verfolgt wurden.

Es handelt es sich also nicht um einen jener "Aufrufe", in denen Regisseure, Künstler usw. etwas "fordern" oder "verurteilen"; siehe Jetzt aufrufen sie wieder; ZR vom 9. 9. 2009. Sondern diejenigen, die den Text publizieren, sind Menschen, die das Thema hautnah kennen, über das sie schreiben.

Dieses Thema ist der russische Imperialismus. Er war vor gut einem Jahr in den Schlagzeilen, als russische Truppen in Georgien und georgische Truppen in den von Separatisten kontrollierten Landesteil Südossetien einmarschiert waren. Auch hier in ZR gab es damals zahlreiche Artikel zu diesem Thema; u.a. die vierteilige Serie Georgien und der russische Imperialismus. Die militärisch weit überlegenen Russen siegten bekanntlich. Seither ist es um Georgien in den Medien still geworden.

Der aktuelle Anlaß für die Publikation des Offenen Briefs ist die bevorstehende Veröffentlichung eines Berichts der EU über den Georgien- Krieg. Nach dem, was darüber durchgesickert ist, wird dieser Bericht Georgien für den Krieg verantwortlich machen.

Dagegen wenden sich die Autoren des Offenen Briefs; und zwar mit - wie mir scheint - guten Gründen:
... eine Großmacht wird immer einen Vorwand finden oder konstruieren, um in einen Nachbarstaat einzumarschieren, dessen Unabhängigkeit sie stört. Wir sollten uns erinnern, dass Hitler den Polen 1939 vorwarf, mit den Feindseligkeiten begonnen zu haben, ebenso gab Stalin den Finnen die Schuld, als er 1940 in ihr Land einmarschierte. Gleichermaßen lautet im Falle Georgiens und Russlands die entscheidende Frage nicht, welcher Soldat den ersten Schuss abgegeben hat, sondern vielmehr, welches Land in das andere einmarschiert ist.
Die Parallele zum deutsch- sowjetischen Überfall auf Polen und dem sowjetischen Überfall auf Finnland mag auf den ersten Blick weit hergeholt erscheinen.

Gewiß ist Putin kein Hitler oder Stalin; und gewiß wird der Einmarsch nach Georgien nicht einen Weltkrieg auslösen. Aber Putins Ziel, Rußland die Hegemonie über die Länder an seiner Peripherie zu sichern, steht durchaus in der Tradition der Sowjet- Politik. Auch der Einsatz überlegener militärischer Macht, um dieses Ziel zu erreichen.

Und noch eine weitere, beklemmede Parallele sehen die Autoren:
Die EU wurde gegen die Versuchungen Münchens und des Eisernen Vorhangs errichtet. Es wäre zutiefst katastrophal, wenn wir in irgendeiner Form den Eindruck erweckten, jene Art Praktiken stillschweigend hinzunehmen, die unseren Kontinent in den Krieg gestürzt und für den größten Teil des letzten Jahrhunderts geteilt haben. Auf dem Spiel steht nicht weniger als das Schicksal des Projekts, dem wir auch weiterhin unser Leben widmen: der friedlichen und demokratischen Wiedervereinigung des europäischen Kontinents.
In der Tat hat die Politik der EU gegenüber den Hegemonial- Ansprüchen Rußlands manche Ähnlichkeit mit der Appeasement- Politik der Dreißiger Jahre. Damals sprach man in den westlichen Demokratien oft von den "berechtigten Forderungen" Hitlers. Heute wird Verständnis für die "Sicherheitsinteressen" Rußlands geäußert, dem ein hegemonialer Einfluß auf Länder wie die Ukraine und Georgien sozusagen zustehe.

Besonders besorgniserregend ist, daß die USA des Präsidenten Obama auf einen solchen Kurs der Anerkennung russischer Hegemonie umgeschwenkt zu sein scheinen. Was sich schon kurz nach Obamas Amtsantritt abgezeichnet hatte (siehe Obamas wackelnde Regierung; ZR vom 10.2.2009), ist jetzt Realität geworden: Die USA werden das Raketenabwehr- System in Polen und Tschechien nicht errichten. Sie anerkennen damit die russischen Machtansprüche in Osteuropa.



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23. September 2009

Würden Sie den letzten Bundestag noch einmal wählen? Ein Gastkommentar von Kallias

Eine ähnliche Frage wird einem oft gestellt, wenn man aus dem Urlaub zurückkommt: "Würdest du nochmal hinfahren?" Damit ist nicht gemeint, ob man die Reise wiederholen möchte, sondern ob man alles in allem zufrieden war. Eine gute Frage, die auch beim Wählen helfen kann.

Wen am Sonntag wählen? Bei fast allen Wortmeldungen dazu geht es um Fragen, welche die Zukunft betreffen - wie wir unsere Wunschregierung ins Amt bringen können, was die diversen Parteien vielleicht tun werden, was in den Programmen Gutes und weniger Gutes steht, von wem wir was erwarten können.

Diese Orientierung an der kommenden Periode ist naheliegend: Wir wählen ja den nächsten Bundestag, nicht den letzten noch einmal. Und in der Zukunft soll es besser werden; die Vergangenheit läßt sich sowieso nicht mehr ändern. Dennoch ist es falsch, in dieser Weise nach vorne zu sehen.

Erstens haben wir Wähler das schon früher so gehalten und dabei zahlreiche Reinfälle erlebt. Wer etwa 1998 die versprochene Neue Mitte gewählt hat, bekam ein rotgrünes Projekt geliefert; wer 2002 das rotgrüne Projekt fortgesetzt sehen wollte, bekam die Agenda 2010 um die Ohren gehauen; wer 2005 die Liberale Merkel als Bundeskanzlerin haben wollte, musste ihren legendären Linkskurs erleben.

Wenn wir am Sonntag bei der FDP oder der CDU ankreuzen, wissen wir genausowenig, was wir bekommen werden; und zwar weder, wenn es für Schwarzgelb reicht, noch im anderen Fall. All die komplizierten Betrachtungen, wem man mit welcher Stimmabgabe um 18.00 zur Mehrheit verholfen haben wird, sind angesichts des 18.01-Problems, daß wir nicht wissen, was die Politiker dann machen werden, eigentlich für die Katz.

Zweitens wissen die Parteien ja, daß sie wegen der Erwartungen gewählt werden, die man mit ihnen verbindet. Folglich konzentrieren sie sich darauf, Erwartungen zu manipulieren, statt Ergebnisse herauszustreichen.

Da man naturgemäß die Zukunft schlechter kennt als die Vergangenheit, fällt es schwer, sich diesen Manipulationen zu entziehen.

Wie oft wurde zum Beispiel schon versprochen, man werde in ein paar Jahren einen ausgeglichenen Bundeshaushalt vorlegen - kein Problem, denn wenn daraus nichts wird, bringt man einfach ein neues Versprechen, eine neue Jahreszahl. Niemals hat dagegen jemals ein Finanzminister behaupten können, er hätte einen solchen Haushalt vorgelegt, wenn es nicht gestimmt hat. Fakten kann man auch durch Interpretationen verschleiern, doch sind solche Manipulationen leichter aufzudecken, als die Versprechungen zu durchschauen sind, es werde allerlei per Krafteinsatz und Programmaussage besser werden.

An diesen Verhältnissen sind die Wähler schuld, die sich an Erwartungen orientieren: Sie bekommen, was sie haben wollen. Sie bekommen immer wieder schöne Erwartungen aufgebunden. Wenn wir dagegen Resultate haben wollen, müssen wir aufgrund der Resultate wählen, und das heißt, nicht länger in die dunkle Zukunft zu starren, sondern die Vergangenheit in Augenschein zu nehmen. Das heißt insbesondere, uns auf die Ergebnisse des Regierungshandelns zu konzentrieren.

Fragen wir uns also an erster Stelle, ob die Regierung gut genug gewesen ist; ob sie einigermaßen das geleistet hat, was man von einer Regierung erwarten kann. Dann sollten wir sie wiederwählen.

Wichtig dabei ist, keine Wunderdinge zu verlangen, denn wenn die Regierung fest damit rechnen muß, abgewählt zu werden, dann wird sie sich auch nicht besonders anstrengen, sondern lieber das Regieren genießen.

Zu niedrig darf die Meßlatte andererseits auch nicht liegen, sonst gibt es keine anstrengenden und Mut erfordernden Taten. Belohnen wir dagegen annehmbare Leistungen, dann werden wir unsere Politiker dazu erziehen, Qualitätsarbeit abzuliefern.

Findet man nun, daß die Regierung zu schlecht war, um die Wiederwahl zu verdienen, sollte man die Opposition wählen, und zwar auch dann - das ist der springende Punkt bei dieser Überlegung - wenn ihr Personal und ihr Programm wenig vertrauenerweckend wirken. Denn wenn sie an die Regierung kommt und dort erwartungsgemäß versagt, dann wählt man sie eben beim nächsten Mal wieder ab. Das machen die nicht oft!

Und daher finde ich es ungünstig, auf diesen oder jenen wunden Punkt bei der FDP zu starren und sich zu fragen, ob man eine solche Partei wählen kann. Findet man als bürgerlicher Wähler, daß die Große Koalition alles in allem gute Arbeit abgeliefert hat, wähle man die Union. Sieht man das nicht, sollte man die FDP als bürgerliche Oppositionspartei unterstützen.

Bei der CDU soll man schon genau und kritisch hinsehen - sie hat regiert. Bei der FDP kann man großzügiger sein. Schließlich wissen wir ja nicht, was von ihr kommen wird, wenn sie erst einmal regiert. Sie jedoch sollte wissen, daß wir ihr dabei genau auf die Finger sehen werden.

Nur so wird alles besser.



© Kallias. Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Florian, Ungelt und R.A., die eine frühere Fassung des Kommentars in Zettels kleinem Zimmer bereits kommentiert haben.

Was wollen wir eigentlich in Afghanistan? Sie werden staunen: Präsident Obama läßt jetzt darüber nachdenken

Zu den herausragenden Fähigkeiten des genialen Verkäufers Barack Obama gehört es, etwas unter einem falschen Etikett zu verkaufen.

Er hat sich selbst, der nach amerikanischen Maßstäben linksaußen im politischen Spektrum steht, erfolgreich als einen Mann der Mitte verkauft, den großen Einiger aller Amerikaner. Er hat es fertiggebracht, die buchstabengetreue Fortsetzung der Irak- Politik von Präsident Bush als "Abzug aus dem Irak" zu verkaufen; siehe Barack Obamas Mogelpackung. John McCain sagt, wie es ist; ZR vom 27. 2. 2009.

Und er hat seine Weigerung, seine Unfähigkeit oder seine Unwilligkeit, sich für eine Strategie für Afghanistan zu entscheiden, als eine "umfassende Strategie" für Afghanistan zu verkaufen gewußt.

Das geschah in einer Rede, die Obama am 27. März dieses Jahres vor ausgewählten Zuhörern im Weißen Haus gehalten hat; Sie können Sie hier nachlesen.

Ich habe diese Rede am 31. März kommentiert und - mit Bezug hauptsächlich auf eine Analyse von Fred Kaplan - darauf hingewiesen, daß Obama in ihr eben gerade keine konsistente Strategie entwarf.

Die beiden zentralen strategischen Alternativen habe ich damals so zusammengefaßt:
Worum geht es? Die USA stehen vor der Wahl zwischen zwei Strategien, die beide seit langem ihre Verfechter haben: Einer Strategie der Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency, abgekürzt COIN) und einer Strategie der Terrorbekämpfung (counterterrorism, CT).

Vom Wort her hört sich das ähnlich an; aber es handelt sich um sehr verschiedene Strategien.

Anhänger von COIN (manchmal die COIN-dinistas genannt) vertreten die Meinung, daß man einen Aufstand nicht primär mit militärischen Mitteln bekämpfen kann. Zentral sei es, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen, diese gegen die Aufständischen zu schützen, eine Infrastruktur zu schaffen, die der Bevölkerung hilft. Nur so ließe sich ein Aufstand "austrocknen".

Natürlich halten auch die COIN-dinistas die militärische Bekämpfung der Aufständischen für erforderlich, aber nur als eine der Maßnahmen innerhalb einer solchen umfassenderen Strategie. Belasse man es beim militärischen Kampf, dann - so diese Denkrichtung - hätte die Bevölkerung nur unter der Anwesenheit der fremden Truppen zu leiden und werde in die Arme der Aufständischen getrieben.

Die Anhänger von CT leugnen nicht, daß COIN schön wäre. Sie bezweifeln aber, daß es in Afghanistan machbar ist. Dazu fehle es an Geld, an Truppen und auch an Zeit. Sie sehen es als das einzige Ziel an, die Kaida militärisch zu besiegen. Damit sei der Sicherheit der USA Genüge getan.
Wenn man die damalige Rede Obamas genau analysierte, dann zeigte sich, daß sie die Entscheidung zwischen diesen beiden Strategien vermied. Es war, als hätten Anhänger beider Denkschulen an ihr mitgeschrieben.

Aber allgemein wurde diese Rede als Entscheidung für eine Strategie der counterinsurgency verstanden; und Obama mag sie in der Tat so gemeint haben. Jedenfalls hat der von ihm ernannte neue Oberkommandierende in Afghanistan, General Stanley McChrystal, offenbar den Auftrag, eine Strategie der counterinsurgency zu verfolgen; siehe Bombardierte Tanklastzüge, die Taliban, der deutsche Wahlkampf; ZR vom 7. 9. 2009.

Oder solle man sagen "er hatte offenbar den Auftrag"?

Denn es sieht ganz danach aus, daß Barack Obama jetzt schon wieder über eine Strategie für Afghanistan nachdenken läßt. Jetzt, noch nicht einmal ein halbes Jahr nach der großspurigen Verkündung seiner "umfassenden, neuen Strategie", die er damals als das "Endergebnis einer sorgfältigen Überprüfung der Politik" (the conclusion of a careful policy review) angepriesen hatte.



Jetzt häufen sich die Hinweise darauf, daß das Endergebnis doch kein Endergebnis gewesen war, sondern bestenfalls eine Zwischenrechnung. Besonders informativ ist dazu der Artikel von Julian E. Barnes in der gestrigen Los Angeles Times; Überschrift: "Obama is reevaluating Afghanistan war strategy"; Obama nehme eine Neubewertung der Strategie für den Krieg in Afganistan vor.

Seit Wochen fordere der Oberkommandierende McChrystal zusätzliche Truppen, schreibt Barnes, um seinem Auftrag gerecht werden zu können. Das Weiße Haus hätte ihn aber angewiesen, keinen förmlichen Antrag dieses Inhalts zu stellen.

Warum nicht? Barnes:
Obama signaled last week, in an appearance with the Canadian prime minister, that a deeper administration review was underway. "It's important that we also do an assessment on the civilian side, the diplomatic side, the development side, that we analyze the results of the election, and then make further decisions moving forward," he said.

One defense analyst who regularly advises the military and who spoke on condition of anonymity said the administration was suffering from "buyer's remorse for this war." "They never really thought about what was required, and now they have sticker shock," the analyst said.

Obama signalisierte vergangene Woche bei einem Auftritt zusammen mit dem kanadischen Premierminister, daß eine gründliche Überprüfung innerhalb der Regierung im Gange sei. "Es ist wichtig, daß wir auch eine Bewertung auf der zivilen Seite vornehmen, der diplomatischen Seite, der entwicklungspolitischen Seite; daß wir die Ergebnisse der Wahl analysieren und dann weitere, nach vorn gerichtete Entscheidungen treffen" sagte er.

Ein verteidigungspolitischer Analytiker, der das Militär regelmäßig berät und der sich unter der Bedingung äußerte, anonym zu bleiben, sagte, daß die Regierung in Bezug auf diesen Krieg unter der "nachträglichen Bereuung eines Kaufs" leide. "Sie haben niemals wirklich daran gedacht, welches die Anforderungen sind, und jetzt erschrecken sie, wo sie das Preisetikett sehen".
Es könnte also gut sein, daß es mit der counterinsurgency bald schon wieder vorbei sein wird:
The administration's alternative would be a narrow objective focusing primarily on disrupting Al Qaeda, as well as the leadership of the Taliban or other extremist groups, which would require fewer than the 68,000 troops currently approved for the war.

Die Alternative der Regierung wäre eine eng begrenztes Zielsetzung, die Ausrichtung hauptsächlich auf die Zerschlagung der Kaida und der Führung der Taliban sowie anderer extremistischer Gruppen. Dies würde weniger als die 68.000 Mann verlangen, die gegenwärtig für den Krieg genehmigt sind.
Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln, sagt dazu der Berliner.

Als Obama vor einem halben Jahr einen Schwenk hin zur counterinsurgency erkennen ließ, gab es viel Beifall vor allem aus Europa, wo man schon immer dem "zivilen Wiederaufbau" in Afghanistan den Vorrang eingeräumt hatte.

Nur muß man einen solchen zivilen Wiederaufbau auch militärisch schützen können; und Präsident Bush hat im Irak leidvoll erfahren müssen, welche Opfer das verlangt.

Es scheint, daß sein Nachfolger diese Opfer in Afghanistan nicht bringen will. Er hat jetzt das Preisschild gesehen und ist erschrocken.



Falls die Entscheidungen im Weißen Haus so fallen, wie es Barnes aufgrund seiner Recherchen erwartet, dann wird das weitreichende Folgen für den Einsatz der Bundeswehr haben.

Keines der in Afghanistan militärisch engagierten Länder hat so sehr auf den zivilen Wiederaufbau gesetzt wie Deutschland. Keines war aber andererseits so wenig bereit, aggressiv Krieg zu führen, um diesen Aufbau zu schützen.

Dafür war man auf die Amerikaner angewiesen. Eine Kehrtwende Obamas in Richtung counterterrorism würde unsere Soldaten im Wortsinn auf einsamem Posten lassen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Taliban im Süden Afghanistans, aufgenommen im Dezember 2006. Als Werk der US-Regierung (Voice of America) in der Public Domain (Ausschnitt).

22. September 2009

Zitat des Jahres: "... am 27. September um 18.01 Uhr"

Süddeutsche Zeitung: Wenn Westerwelle eine Ampel aus SPD, Grünen und FDP ausschließt...

Steinmeier: ...höre ich nicht auf, Wahlkampf zu machen. Ich weiß aus Erfahrung, dass auch die FDP frühestens am 27. September um 18.01 Uhr eine Bewertung des Wahlergebnisses vornehmen kann und wird.


Der Kanzlerkandidat der SPD im Interview mit Nico Fried und Wolfgang Krach von der "Süddeutschen Zeitung".


Kommentar: Vielleicht ist es ein wenig voreilig, schon Ende September das Zitat des Jahres zu küren. Ich glaube aber nicht, daß das, was Frank- Walter Steinmeier da ... tja, wie soll man sagen? ... hat fallen lassen, was er rausgelassen, was er preisgegeben hat -, daß das im letzten Quartal des Jahres noch übertroffen werden wird.

"Auch die FDP", sagt er. Auch sie werde erst am Wahlabend eine "Bewertung des Wahlergebnisses" vornehmen. Und zwar - das geht aus dem Kontext hervor - in Bezug darauf, ob sie eine bestimmte Koalition ausschließt.

Das verräterische "auch" besagt: So, wie beispielsweise auch die SPD. Die zwar versichert, sie werde im Bund nicht mit der Partei "Die Linke" zusammenarbeiten. Aber "auch" sie wird - so sagt es dem Kandidaten Steinmeier seine Erfahrung - die Situation nach Schließung der Wahllokale neu bewerten.

Interpretiere ich zu viel an unfreiwilliger Ehrlichkeit in Steinmeiers Aussage hinein?

Ich glaube nicht. Denn zum Thema einer Zusammenarbeit mit der Partei "Die Linke" sagt Steinmeier, der als Chef der deutschen Diplomatie seine Worte zu wägen weiß, in dem Interview diesen einen Satz: "Ich habe klar gesagt, was ich nicht will, nämlich eine Koalition mit der Linken".

Was er nicht will. Man tut vieles, was man nicht gewollt hat. Daß er für eine solche Koalition definitiv nicht als Kanzler zur Verfügung steht, hat Steinmeier nicht gesagt. Daß seine Partei sie eingehen könnte, hat er erst recht nicht ausgeschlossen.



Warum also Zitat nicht nur des Tages, sondern gleich des Jahres?

Weil es eine Rarität ist, daß ein Spitzenmann einer Partei es so deutlich macht - wenn auch unfreiwillig -, welche Distanz zwischen dem liegt, was seine Partei öffentlich verkündet, und den Entscheidungen, die zu treffen sie in Wahrheit willens ist.

Weil Steinmeiers Lapsus blitzartig den Zustand einer SPD beleuchtet, die sich noch antikommunistisch geriert, und die doch innerlich längst bei der Zusammenarbeit mit den Kommunisten angekommen ist.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

20. September 2009

Wahlen '09 (19): Ich rate, EfDePe zu wählen

Der Titel dieses Artikels ist ein Plagiat. "Ich rate, EsPeDe zu wählen" dichtete Günter Grass einst als Wahlkämpfer für Willy Brandt.

Wahlkampf habe ich in diesem Blog nicht gemacht, auch nicht für die FDP. Ich habe deren Wahlkampf allerdings mit kritischer Solidarität begleitet; vor allem, was die Möglichkeit - aus meiner Sicht: die Gefahr - einer Ampel- Koalition angeht. Am 18. Februar habe ich hier geschrieben:
Viel wird davon abhängen, ob die FDP sich entschließen kann, eine eindeutige Wahlaussage zu machen: Daß sie nur unter Führung der CDU in eine Regierung eintreten wird. Bevorzugt natürlich als deren einziger Partner. Falls das Ergebnis das nicht erlauben sollte, dann unter Einbeziehung der Grünen. Wenn die FDP sich so festlegt, dann hat sie am 27. September meine Stimme. Wenn sie in diesem Punkt wackelt, dann werde ich sie nicht wählen.
Die FDP hat für mein Verständnis viel zu lange mit ihrer Festlegung gewartet, nicht in ein Kabinett Steinmeier einzutreten. Heute endlich hat sie diese Entscheidung getroffen. Eindeutig.

Gewiß spielten bei der monatelangen Zögerlichkeit taktische Überlegungen eine ausschlaggebende Rolle: Man wollte es unter allen Umständen vermeiden, als "Anhängsel" der Union zu erscheinen.

Die FDP hat dafür auf einen entscheidenden Vorteil im Wahlkampf verzichtet; nämlich denjenigen, die SPD immer wieder zu fragen, mit wem ein Kanzler Steinmeier denn eigentlich regieren will, wenn nicht in einer Koalition mit den Grünen und den Kommunisten.

Eine auf Schwarzgelb festgelegte FDP hätte diesen Punkt glaubwürdig vertreten können; eine wackelnde konnte es nicht. Daß die SPD und die Grünen jetzt mit einem Anschein von Recht argumentieren können, eine so späte Festlegung sei nicht glaubhaft, ist die logische Folge der FDP- Taktik.



Die Wahrheit aber ist: Seit heute kann jeder, der die FDP wählt, sicher sein, damit seine Stimme nicht für einen Kanzler Steinmeier und für die Minister Trittin und Künast abzugeben. Einen Bruch des heutigen Versprechens kann sich die FDP nicht leisten.

Also wählen Sie, lieber Leser, am Sonntag mit Ihrer Zweitstimme die FDP?

Vielleicht sind Sie ja noch unentschlossen. Dann möchte ich, geradeheraus gesagt, mit diesem Artikel Ihre Überlegungen zugunsten der FDP zu beeinflussen versuchen.

Dazu stelle ich mir vor, welche Erwägungen Sie veranlassen könnten, sich gegen eine Stimmabgabe für die FDP zu entscheiden.

Daß jemand zwischen der FDP und einer extremistische Partei schwankt, halte ich für abwegig; jedenfalls für zu vernachlässigen. Von der NPD, der Partei "Die Linke", der DVU usw. wird also im Folgenden nicht die Rede sein.

Vorstellen kann ich mir aber, daß jemand zwischen der FDP und der SPD oder den Grünen schwankt; sehr gut vorstellen kann ich mir, daß er unschlüssig ist, ob er die FDP oder nicht lieber die Piraten oder die Union wählen soll. Und ebenfalls vorstellen kann ich mir die Erwägung, statt einer Stimmabgabe für die FDP lieber zu Hause zu bleiben oder ungültig zu wählen.



Sie erwägen das Nichtwählen oder eine ungültige Stimmabgabe? Es gibt nicht wenige politisch Interessierte, die sich für eine dieser beiden Optionen entscheiden, weil sie mit keiner der zur Wahl stehenden Parteien einverstanden sind; weil sie vielleicht überhaupt Zweifel an der Gedeihlichkeit des Zustands unserer Demokratie haben.

Ihnen möchte ich zu bedenken geben, daß ein solcher demonstrativer Akt schlicht nicht funktioniert.

Ungültige Stimmen werden als solche gezählt und dann kaum noch erwähnt. Niemand weiß ja, warum eine Stimme ungültig ist. Vielleicht hat ein Wähler aus Unwissenheit sein Kreuz bei zwei Parteien gemacht; vielleicht hat er "Heil Hitler" auf den Wahlzettel geschrieben.

Ungültigen Stimmen sieht man es nicht an, ob sie möglicherweise ernsthaften und respektablen Überlegungen entstammen. Sie fallen einfach unter den Tisch; oder vielmehr: Sie landen beim Zählen alle auf demselben Häufchen. Niemand interessiert sich für das, was auf ihnen steht.

Ebenso wirkungslos ist das demonstrative Nichtwählen. Denn auch da weiß man ja nicht, ob jemand wegen des schönen oder schlechten Wetters nicht zur Wahl ging; ob ihm die Politik schnuppe ist oder ob er mit der Wahlenthaltung irgend etwas ausdrücken wollte.

Immerhin erspart sich der Nichtwähler den nutzlosen Gang zur Wahlurne, den der demonstrativ ungültig Wählende auf sich nimmt; für nichts und wieder nichts.

Mein Rat ist also: Wenn Sie sich schon nicht zur Stimmabgabe für die FDP durchringen können, dann bleiben Sie zu Hause, statt sich der sinnlosen Mühe des Ungültig- Wählens zu unterziehen.

Sie sollten sich aber durchringen; denn die Taube in der Hand ist immer noch besser als der Fasan auf dem Dach.


Sie erwägen, die SPD oder die Grünen zu wählen? Sie wählen damit nicht die Ampel, sondern Sie wählen die Volksfront.

Die FDP hat heute eindeutig und per bindendem Parteitagsbeschluß die Ampel ausgeschlossen. Sprecher der Grünen und der SPD bezweifeln, daß das wirklich gilt. Besser können SPD und Grüne nicht dokumentieren, was von ihren eigenen Aussagen zu halten ist, sie würden nicht mit der Partei "Die Linke" zusammenarbeiten.

Sie trauen der FDP das zu, was zu tun sie selbst in ihrer großen Mehrheit längst bereit sind. Wenn Schwarzgelb scheitert, dann wird es die Volksfront geben. Vielleicht nicht sofort; aber es wird sie geben. Es wird sie geben, weil sie in einer zwingenden politischen Logik liegt, die der kluge Linke Erhard Eppler bereits vor zweieinhalb Jahren formuliert hat; siehe Marginalie: Erhard Eppler und die Volksfront; ZR vom 19. Januar 2007.


Sie erwägen, die Union zu wählen? Wenn Sie zwischen der FDP und der Union schwanken, dann stehen Sie vermutlich nicht den Linken und den Ökologen in dieser Partei nahe, sondern den Liberalkonservativen. Diese können Sie aber nicht besser stärken, als durch eine Stimmabgabe für die FDP.

In der Großen Koalition ist die Union nach links gerückt, so wie in der seinerzeitigen sozialliberalen Koalition die FDP nach links gerückt war. Koalitionen stärken in der Regel denjenigen Flügel einer Partei, der dem Koalitionspartner nahesteht. Wenn Ihre Partei die Union von Ludwig Erhard ist und nicht diejenige des Ministerpräsidenten Rüttgers, dann sollten Sie diesmal die FDP wählen.


Sie erwägen, die Piraten zu wählen? Tun Sie's nicht! Tun Sie's bittebitte nicht! Bei dieser Wahl steht zu viel auf dem Spiel, als daß ein rationaler, liberaler Wähler es sich leisten könnte, seine Stimme zu verschenken. Tun Sie's, wenn es denn sein muß, bei der nächsten Wahl, bei der wenig auf dem Spiel steht. Tun Sie's als Brandenburger von mir aus bei der Landtagswahl; Platzeck wird eh weiterregieren.

Aber jetzt wo die Entscheidung zwischen einer liberalkonservativen Regierung und der Volksfront fallen wird, muß ein Liberaler schon mit dem Klammerbeutel gepudert sein, wenn er der FDP seine Stimme verweigert.



Jeder Liberale sollte sich allerdings sehr genau überlegen, was er mit seiner Erststimme macht.

Hier kann die Entscheidung logischerweise nur unter Berücksichtigung der Verhältnisse in den einzelnen Wahlkreisen getroffen werden. Überall dort, wo ein Direktmandat für den Kandidaten der Union möglich, aber nicht sicher ist, sollten rational handelnde Liberale ihm ihre Erststimme geben.

Denn Überhangmandate der Union könnten am Ende darüber entscheiden, ob Guido Westerwelle Außenminister wird oder Jürgen Trittin. Und - wer weiß - Gregor Gysi Justizminister.

© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

Zettels Meckerecke: Gregor Gysi, eine Flucht aus der DDR, die Freiheit der Presse

Als ich den Artikel von Peter Wensierski in "Spiegel- Online" gelesen hatte, schien er mir zunächst keinen Kommentar hier in ZR wert zu sein.

Wieder einmal war Material zutage gefördert worden, das zeigte, wie der DDR-Rechtsanwalt Gregor Gysi vertrauensvoll mit den höchsten Stellen seines Staats und seiner Partei zusammenarbeitete. Diesmal ging es - man schrieb das Jahr 1988, in dem Gysi auch Vorsitzender der Ostberliner Rechtsanwaltskammer wurde - um einen DDR-Wissen­schaft­ler, der sich in den Westen abgesetzt hatte.

Verständlicherweise hätte die SED ihn gern zur Rückkehr bewegt. Also fuhr Gysi zu einem Gespräch mit ihm nach Westberlin, das aber nicht den erhofften Erfolg zeitigte.

Glaubt man Wensierski, dann handelte es sich um eine "Rückführungsaktion", an welcher "der für Sicherheit zuständige ZK-Funktionär Wolfgang Herger, der Stellvertreter Erich Mielkes, Rudi Mittig, sowie Egon Krenz" beteiligt waren; Mittig habe dem "Einsatz Gysis" zugestimmt.

Glaubt man Gysi, dann hat er lediglich einem Abteilungsleiter beim ZK der DDR einen persönlichen Gefallen tun wollen, der die Ausreise des Wissenschaftlers "ermöglicht" hatte und der durch dessen Flucht nun in die Bredouille geraten war.

Mir scheint es ohne Belang zu sein, ob die eine oder die andere Version stimmt.

Gysi hatte jedenfalls - und das hat er auch nie bestritten - beste Kontakte zum ZK der SED. Er war nicht irgendein Rechtsanwalt, der sich der undankbaren Aufgabe hingab, Dissidenten zu verteidigen. Sondern er gehörte schon in jungen Jahren zur Crème der DDR-Nomen­klatura mit unmittelbarem Zugang zu den höchsten Stellen; siehe Zitat des Tages: Grüße des Genossen Honecker an den Rechtsanwalt Gysi; ZR vom 20. Mai 2008.

Ob man ihn nun beauftragt hatte, den abtrünnigen Wissenschaftler zu einem Gespräch aufzusuchen, oder ob er das das aus freien Stücken tat, um einem der Mächtigen der DDR einen Gefallen zu tun - jedenfalls handelte er als der Mann des Machtapparats der DDR. Gysis eigene Version weist ja im übrigen noch mehr als die Wensierskis auf den Rang hin, den Gysi damals in der Nomenklatura einnahm.



Soweit also nichts Neues. Versuche, Gysi eine Stasi- Verstrickung nachzuweisen, kommen mir immer etwas neben der Sache liegend vor. Natürlich war ein Mann von seiner Bedeutung innerhalb der Machthierarchie der DDR kein popeliger Spitzel; daß ihn dieser Vorwurf empört, kann ich nachvollziehen. Nicht ob und wie er mit dem MfS zusammengearbeitet hat, ist für die Beurteilung Gysis von Belang, sondern es ist seine Rolle innerhalb des Herrschaftsapparats der Kommunisten.

Diese nun scheint ihn bis heute zu prägen. Und zwar nicht nur, was seine im wesentlichen unveränderten politischen Ansichten angeht; sondern auch in seinem Umgang mit der Freiheit des Wortes.

Das geht - wieder einmal; man kennt es ja von Gysi - aus einem zweiten Artikel hervor, der gestern Abend erschienen ist, und zwar in "Welt- Online". Darin begibt sich der Autor Thomas Vitzthum gewissermaßen auf die Metaebene und beschreibt die Umstände des Artikels von Wensierski; also die Geschichte hinter der Geschichte.

Danach hatte Wensierski an Gysi, wie das bei solchen Recherchen üblich ist, ein Fax mit einer Reihe von Fragen geschickt. Gysis Reaktion laut Thomas Vitzthum:
"Was ist dabei Ihr Problem", fragt Gysi in seinem Schreiben den Autor Wensierski im Hinblick auf sein Verhalten im Mai 1989 [laut Wensierski 1988; Anmerkung von Zettel]. (...) Darüber hinaus bezichtigt er das Nachrichtenmagazin, mit dem Artikel Wahlkampf zu machen.

Schließlich droht er mit juristischen – "Gegendarstellungen, Unterlassungen und Widerrufe" – und finanziellen Konsequenzen; wohl gemerkt noch bevor der Text überhaupt veröffentlicht war. Beigelegt ist dem Konvolut auch das Anschreiben an die Chefredakteure des Magazins; darin bedauert es Gysi, dass man zwar kürzlich noch zusammen Kaffee getrunken habe, die betreffenden Fragen aber nicht gestellt wurden. "Mal sehen, ob das Ganze im Prozess endet oder vielleicht noch anders gehandhabt werden kann", schreibt Gysi.
So kennen wir ihn, den Gregor Gysi. Er weiß sich in Machtgefügen zu bewegen; hier jetzt in demjenigen zwischen einer Chefredaktion und einem ihrer Redakteure. Und er weiß zu drohen und zu locken.

Der Hinweis auf diese besonderen Fähigkeiten des Gregor Gysi schien es mir nun doch wert zu sein, diesem Thema eine "Meckerecke" zu widmen. Schon um das zu zitieren, was der in Sachen SED kenntnisreiche Hubertus Knabe laut Thomas Vitzthum dazu anmerkt:
"Gysi versucht gegen die Pressefreiheit vorzugehen", sagte Knabe. Seit Jahren wolle der Politiker all diejenigen mundtot machen, die seine Kontakte zur Staatssicherheit der DDR anprangern. "Das passt zu den sonstigen programmatischen Vorstellungen der Partei", sagte Knabe weiter, "die privaten Medien unter staatliche Aufsicht zu stellen."
Das ist, so scheint mir, der Kern der Sache. Der letzte Vorsitzende der SED hat es geschafft, seine Partei nicht nur in die Bundesrepublik hinüberzuretten, sondern ihr in dieser auch wieder zu Macht und Einfluß zu verhelfen. Jetzt arbeitet er am nächsten Versuch des Übergangs zum Sozialismus; mit derselben Intelligenz und demselben Geschick, die damals seinen Aufstieg in die Machtelite der SED ermöglicht hatten.



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19. September 2009

Marginalie: Der Osten ist rot. Auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung

Die Daten aus Umfragen werden heute nur noch selten nach Ost und West getrennt aufgeführt. Leider; denn ohne diese Aufschlüsselung versteht man die politische Situation in Deutschland nicht.

"Welt- Online" zeigt die aktuellen Daten von Infratest dimap getrennt nach östlichen und westlichen Bundesländern.

In der einstigen Deutschen Demokratischen Republik hat nicht nur die Volksfront eine satte Mehrheit. Sondern die Kommunisten könnten sogar mit der SPD allein regieren; und zwar als die Mehrheitspartei dieser Koalition (27 Prozent Kommunisten, 25 Prozent SPD; 7 Prozent Grüne). CDU (27 Prozent) und FDP (10 Prozent) liegen im Osten hoffnungslos zurück.

Spiegelbildlich ist die Situation in der alten Bundesrepublik. Würde nur dort gewählt, dann brauchten sich die CDU (37 Prozent) und die FDP (15 Prozent) keine Sorgen um den Wahlausgang zu machen.

Gewiß, auch innerhalb des Ostens und innerhalb des Westens gibt es regionale Unterschiede. In Sachsen sind die politischen Verhältnisse tendenziell eher wie im Westen, in Bremen sind sie eher wie im Osten als wie in Baden- Württemberg.

Aber auch in Sachsen lagen die Kommunisten bei den Landtagswahlen vor vier Wochen über zwanzig Prozent; und im Bund wollten gar 28 Prozent der Sachsen die Kommunisten wählen. (Die letzte dazu verfügbare Umfrage liegt allerdings zwei Jahre zurück). Andererseits gibt die neueste Umfrage zu den Bundestagswahlen in Baden- Württemberg (Infratest dimap, 16.9.2009) der FDP nicht weniger als 18 Prozent - ein Wert, der in einem östlichen Land unvorstellbar wäre.



Zwei Jahrzehnte haben also nichts daran geändert:

Die alte Bundesrepublik hat auch jetzt wieder ihre liberalkonservative Mehrheit wie zur Zeit Konrad Adenauers und Helmut Kohls.

In der alten DDR genießen die Kommunisten zwar heute so wenig die Zustimmung der Mehrheit "ihrer" Menschen wie in den Jahrzehnten, als sie die Macht an sich gerissen hatten. Sie stützten sich damals auf eine Minderheit von vielleicht einem Viertel bis einem Drittel der Bevölkerung. Und an dieser starken Minderheit der Kommunisten haben zwei Jahrzehnte der Freiheit, des wachsenden Wohlstands, haben alle Kontakte mit dem Westen und Transferleistungen aus dem Westen offenbar kaum etwas geändert.



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Zitat des Tages: Das deutsche Volk fällt "sein eigenes Urteil". Madrid, März 2004 - Deutschland, September 2009. Eine beklemmende Parallele

Entscheidet das Volk sich (...) für eine Fortsetzung des Krieges, hat es sein eigenes Urteil gefällt. Die Bundestagswahl ist die einzige Möglichkeit des Volkes, die Politik des Landes zu gestalten.

Der Islamist Bekkay Harrach, Kampfname Abu Talha, in einem Video der Kaida, in dem Deutschland nach der Bundestagswahl ein "böses Erwachen" angedroht wird.


Kommentar: Das Wort Terror leitet sich vom lateinischen terrere ab, "in Angst versetzen". Terrorismus ist eine Form des Kampfs, die sich der Angst bedient, um politische Ziele zu erreichen.

Die Angst, die der Terror erzeugt, ist also kein Selbstzweck. Terroristen überlegen, wann sie bei wem Angst erzeugen müssen, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen.

Vor den spanischen Parlamentswahlen im März 2004 hatten die damals oppositionellen Sozialisten angekündigt, im Fall ihres Wahlsiegs die spanischen Truppen sofort aus dem Irak abzuziehen. Unmittelbar vor den Wahlen verübte die Kaida die Anschläge von Madrid. Die amtierende konservative Regierung, die bis dahin bei den Umfragen in Führung gelegen hatte, reagierte hilflos und unglaubwürdig. Die Sozialisten gewannen die Wahl. Die spanischen Truppen wurden aus dem Irak abgezogen.

Gut fünf Jahre später gibt es jetzt in Deutschland eine beklemmend ähnliche Situation. Die amtierende Regierung will die deutschen Truppen in Afghanistan belassen. Die Möglichkeit eines alsbaldigen Abzugs besteht allein dann, wenn es zu einer Regierung unter Beteiligung der Kommunisten kommt.

Das Video, aus dem das Zitat stammt, wurde der ARD zugesandt. Es ist nicht veröffentlicht worden; in der Tat wäre es unverantwortlich, der Kaida durch seine vollständige Veröffentlichung eine Plattform zu geben.

Das publizierte Zitat läßt aber kaum einen Zweifel an der Intention des Videos: Es ist als Wahlhilfe für die Partei "Die Linke" gedacht. Die Deutschen sollen die "Politik des Landes" so "gestalten", daß ihnen das angedrohte "böse Erwachen" erspart bleibt. Will sagen: Sie sollen diejenigen wählen, die für den Abzug aus Afghanistan eintreten.



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17. September 2009

Wahlen '09 (18): Die Volksfront schon jetzt? Oder besser bis 2013 warten? Die Interessenlage der drei Partner

Angenommen, Schwarzgelb verfehlt die Mehrheit: Soll die Linke dann schon jetzt die Volksfront riskieren, oder wartet man besser bis 2013? Die strategische Lage in den drei Parteien ist verschieden.

Die Grünen haben kein Problem mit der Volksfront. Sie haben sich mit der Wahl von Trittin und Künast zu ihren beiden Spitzenkandidaten unzweideutig für diese Option entschieden. Nur die Volksfront kann die Grünen zurück an die Macht bringen; denn ein Bündnis mit der Union und den Liberalen würde diese Partei zerreißen.

Schwieriger ist die Situation für die SPD. Sie windet sich bei dieser Frage; ihre Position ist so unglaubhaft, wie es die einer Partei überhaupt nur sein kann.

In den Ländern - aktuell in Thüringen und im Saarland - möchte man die Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Nicht nur die betreffenden Landespolitiker wollen sie, sondern ausdrücklich auch der Vorsitzende Müntefering will sie. Für den Bund schließt die SPD die Volksfront ebenfalls nicht aus, allerdings erst für 2013.

Man hat also keine grundsätzliche Scheu, als Demokraten den Kommunisten in die Regierung zu verhelfen. Wenn es in den Ländern ist. Wenn es 2013 ist.

Warum dann aber nicht 2009 im Bund? Natürlich deshalb, weil die Transformation der SPD von einer sozialdemokratischen Volkspartei zu der im Hamburger Programm beschlossenen Partei des Demokratischen Sozialismus noch nicht weit genug fortgeschritten ist.

Damit die Volksfront steht, müssen Leute wie der aufrechte Peer Steinbrück erst noch kaltgestellt werden. Kanzler der Volksfront können Wowereit, Nahles oder - wer weiß - Sigmar Gabriel erst dann werden, wenn die Entclementisierung der SPD zum Abschluß gekommen ist.

Das kann man den Wählern selbstredend nicht sagen. Man sagt, die Partei "Die Linke" sei nicht zuverlässig; es gebe unüberbrückbare Gegensätze, vor allem in der Außenpolitik. Vor allem, was Afghanistan angehe.

Damit begibt man sich freilich in die Hand der Kommunisten. Denn was, wenn diese einfach in Sachen Afghanistan ihre bisherige Position räumen?



Kommunisten nämlich interessiert nicht im Geringsten, ob sie ihr Programm durchsetzen können. Sie interessiert allein die Änderung des, wie sie es nennen, "Kräfteverhältnisses".

Nie haben Kommunisten eine Regierungsbeteiligung ausgeschlagen, die ihnen angeboten wurde. Nie haben sie eine Regierung verlassen, weil deren Kurs nicht mit ihrem Programm in Einklang zu bringen gewesen wäre.

1981 begannen die französischen Kommunisten zusammen mit den Sozialisten das bisher letzte sozialistische Experiment in Westeuropa. 1983 scheiterte es; Mitterand entschied, daß es beim Kapitalismus bleiben werde. Die Kommunisten verharrten in der Regierung - in einer Regierung, die mit ihrer Politik der austérité, also des schlanken Staats, das Gegenteil von dem machte, was die Kommunisten gewollt hatten. Erst als Mitterand sie wieder und wieder demütigte und als sie keine Hoffnung auf Einfluß mehr haben konnten, zogen sie später ihre Minister zurück.

Also wird auch jetzt in Deutschland Afghanistan kein Hindernis für die Volksfront sein. Jedenfalls nicht, was die Kommunisten angeht. In "Spiegel- Online" haben Veit Medick und Sebastian Winter diese neueste Wende der Kommunisten dokumentiert.



Die Grünen wollen es. Die Kommunisten wollen es um den Preis der Selbstverleugnung. Die Sozialdemokraten wollen es eigentlich auch. Nur noch nicht jetzt. Nur noch nicht im Bund.

Wie entwickelt sich eine solche Situation? Man gibt den Zögerlichen etwas Zeit. Man baut ihnen die eine oder andere Goldene Brücke. Und über die marschieren sie dann. Vielleicht nicht gleich; aber doch bald.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

Zitat des Tages: Barack Obama, der Tribun des Volkes

Obama fancies himself tribune of the people, spokesman for the grass roots, harbinger of a new kind of politics from below that would upset the established lobbyist special-interest order of Washington. Yet faced with protests from a real grass-roots movement, his party and his supporters called it a mob -- misinformed, misled, irrational, angry, unhinged, bordering on racist. All this while the administration was cutting backroom deals with every manner of special interest -- from drug companies to auto unions to doctors -- in which favors worth billions were quietly and opaquely exchanged.

(Obama gibt sich als der Tribun des Volkes, als das Sprachrohr der Basis, als der Vorbote einer neuen Art Politik von unten, welche die etablierte Ordnung des Lobbyismus und der Partikularinteressen in Washington umstürzen soll. Als man sich aber Protesten einer wirklichen Basisbewegung gegenübersah, da nannten seine Partei und seine Unterstützer sie einen Mob - falsch informiert, irregeführt, irrational, wütend, einseitig, fast schon rassistisch. Und das alles, während seine Regierung in Hinterzimmern Kuhhandel mit jeder Art von Partikularinteressen trieb - von Unternehmen der Pharmaindustrie über Automobil- Gewerkschaften bis hin zu den Ärzten -, bei denen im Stillen und im Dunklen Wohltaten im Wert von Milliarden von Dollars verteilt wurden.)

Charles Krauthammer in der Washington Post über Präsident Obama.


Kommentar: Demagogen haben häufig ein bemerkenswert ambivalentes Verhältnis zum Demos; zu dem Volk, als dessen Führer sie auftreten.

Einerseits umwerben sie dieses Volk. Sie schmeicheln ihm. Nicht er selbst könne die Welt ändern, hat Obama im Wahlkampf immer wieder gesagt; nur das ganze amerikanische Volk könne das: Yes, we can!

Sie tun alles mit dem Volk und für das Volk, diese Volkstribunen. Vorgeblich. Denn in Wahrheit verachten sie das Volk.

Sie brauchen es als Adressaten ihrer Versprechungen und Verführungskünste. Sie brauchen es, das vertrauensvolle Volk, damit es sie an die Macht trägt.

Aber wehe, wenn es sich erdreistet, dieses Volk, anderer Meinung zu sein als sein Tribun: Dann wird es zum "Mob". Dann sind seine Äußerungen nur noch "Stammtischgerede".



Kaum jemals wird der Volkstribun, ist er einmal an die Macht gelangt, zum großen Staatsmann. Denn es sind ja gerade nicht die Eigenschaften eines Staatsmannes - Augenmaß, Verantwortungsbewußtsein, Charakterstärke in schwierigen Situationen -, die den Demagogen an die Spitze bringen. Sondern es ist die Kunst der Verführung; es ist das "Charisma".

Barack Obama war ein brillanter Wahlkämpfer; vielleicht der genialste Wahlkämpfer in der Geschichte der modernen USA. Er erweist sich immer mehr als einer der unfähigsten Präsidenten, die dieses Land jemals hatte. So, wie bei uns Gerhard Schröder als Wahlkämpfer unschlagbar war - und als Kanzler ein Desaster.



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16. September 2009

Wahlen '09 (17): Zwei Verlierer, drei Gewinner. Erosionen und Aufschüttungen in der deutschen Parteienlandschaft

Ob es am übernächsten Sonntag zu einer Mehrheit für Schwarzgelb reichen wird, kann niemand seriös vorhersagen. Es wird von der Tagesform abhängen; davon, ob noch das eine oder andere neue Thema auftaucht; vielleicht auch von einem Fehler, den sich einer der Spitzenleute auf den letzten Metern leistet.

Insofern bleibt die Wahl spannend. Verlierer und Gewinner andererseits zeichnen sich inzwischen einigermaßen deutlich ab. Verlieren werden die beiden Parteien, die den Namen "Volksparteien" immer weniger verdienen. Gewinnen werden die "Kleinen", die so klein nicht mehr sind.

Die SPD wird sehr wahrscheinlich ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik einfahren. Auch die letzte veröffentliche Umfrage (FG Wahlen, 11. September) sieht sie bei unter 25 Prozent; wie alle Umfragen seit Wochen. Sollte Steinmeier am Ende, sagen wir, 28 Prozent schaffen, dann wäre das schon ein großer Erfolg. Die SPD läge damit aber immer noch unter ihrem Allzeit- Tief seit 1949 (28,8 Prozent bei den Wahlen zum 2. Deutschen Bundestag am 6. September 1953).

Der Union dürfte es nur marginal besser gehen. In zwölf der sechzehn bisherigen Bundestagswahlen lag sie über 40 Prozent; ein Ergebnis, von dem Angela Merkel derzeit nur träumen kann. Wenn es gut für sie läuft, dann wird die Union ihre drei schlechtesten Ergebnisse (31,0 Prozent 1949; 35,1 Prozent 1998 und 35,2 Prozent 2005) vielleicht ein wenig übertreffen. In Anbetracht der Umfragen der letzten Wochen wäre es schon bemerkenswert, wenn sie über ihr viertschlechtestes (38,2 Prozent bei den Wahlen 2002) hinauskäme.

Das "Duell" am vergangenen Sonntag war also nicht nur - wie oft genug kritisiert wurde - ein Dialog der Vertreter von zwei Regierungsparteien; sondern es war auch die Präsentation der beiden großen absehbaren Verlierer des Jahres 2009. Und spiegelbildlich dazu sah man am Montag, als die Spitzenleute der drei Oppositionsparteien miteinander diskutieren durften, zugleich die drei vermutlichen Gewinner.

Nur ein einziges Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat die FDP mehr als zwölf Prozent geschafft; das war bei den Wahlen 1961, als sie für die Ablösung Konrad Adenauers durch Ludwig Erhard eingetreten war. Wenn nicht noch etwas ganz Unerwartetes geschieht, dann dürfte Guido Westerwelle den damaligen Gewinner Erich Mende deutlich distanzieren. Dreizehn Prozent sind der FDP schon fast sicher; fünfzehn Prozent sind keine unrealistische Erwartung.

Auf einen ähnlichen Erfolg dürfen sich die Kommunisten freuen. Als KPD hatten sie 1949 knapp sechs Prozent geschafft. Als ADF und DKP waren sie zwischen 1969 und 1983 weit unter einem Prozent geblieben. Als PDS lagen sie zwischen 1990 und 2002 nur ein einziges Mal (1998) mit 5,1 Prozent ganz knapp über der Fünf- Prozent- Hürde. Als Die Linke PDS schafften sie vor vier Jahren 8,7 Prozent. Diesmal dürften sie unter ihrem momentanen Namen Die Linke noch deutlich besser abschneiden. Ein zweistelliges Ergebnis liegt für sie im Bereich des Möglichen.

Auch den Grünen geben die derzeitigen Umfrage- Ergebnisse eine exzellente Chance, zweistellig zu werden. Jedenfalls dürften sie ihre beiden bisher besten Ergebnisse (8,3 Prozent 1987 und 8,6 Prozent 2002) übertreffen.



Die Großen werden kleiner; die Kleinen wachsen. Dieser sozusagen egalitäre Trend könnte die Quintessenz der Wahlen 2009 sein. Vielleicht gehen die Erosion auf der einen und die Aufschüttung auf der anderen Seite so weit, daß es künftig überhaupt nicht mehr sinnvoll sein wird, zwischen großen und kleinen Parteien eine Trennlinie zu ziehen. Die SPD dürfte am 27. September näher bei der FDP liegen als bei der Union; schon Äquidistanz wäre für sie ein Erfolg.

Wir Deutschen waren es seit den Wahlen von 1949 gewohnt gewesen, gewissermaßen zwei Hochgebirgs- Gipfel und eine Hügellandschaft vor uns zu haben. Am 27. September dürfte die Parteien- Landschaft eher einem einzigen Mittelgebirge gleichen; manche Berge höher als andere, aber doch nicht um Größenordnungen von diesen verschieden.

Woher kommt diese Veränderung? Wie meist in solchen Fällen kann man die Erklärung eher in einem langfristigen Trend oder eher in der aktuellen Situation suchen.

Aktuell werden die drei Oppositionsparteien dadurch gestärkt, daß sie eben Oppositionsparteien sind. In jeder funktionierenden Demokratie gibt es annähernd gleich viele Menschen, die mit der jeweiligen Regierung zufrieden und die mit ihr unzufrieden sind. Wenn eine Regierung einmal sechzig Prozent Zustimmung und nur vierzig Prozent Ablehnung erhält, dann ist das schon sehr viel. Meist liegen Regierung und Opposition näher beieinander.

In der zitierten Umfrage der FG Wahlen vom 11. September liegt die Regierung bei 59 Prozent und die Opposition bei 36 Prozent. Bei anderen Instituten ist die Differenz noch geringer; Forsa (Umfrage vom 9.9.) gibt der Regierung zum Beispiel 56 Prozent und der Opposition 38 Prozent.

So gesehen wären die Schwäche der Großen und die Stärke der Kleinen also nur Ausdruck der Tendenz der Wähler, eine Regierung nicht zu stark und die Opposition nicht zu schwach werden zu lassen. Aber ist das die ganze Erklärung?

Dagegen spricht, daß der einstige "Trend zum Zweiparteien- System" sich schon seit längerer Zeit umgekehrt hat. Bei den ersten Bundestagswahlen 1949 hatten Union und SPD zusammen 60,2 Prozent. Dieser Wert stieg danach kontinuierlich und erreichte 1976 mit 91,2 Prozent sein Maximum. Seither fällt er ebenso monoton ab: Bei den Wahlen 1980 lag er noch bei 87,4 Prozent, 1990 nur noch bei 77,3 Prozent und 2005 bei gerade noch 69,4 Prozent. Ganz ohne Große Koalition.

Welche Trends spiegeln sich in diesem umgekehrt U-förmigen Verlauf? Man kann darüber viel spekulieren.

Von einem "Zerfall der klassischen Milieus" sprechen Soziologen gern - des katholischen auf der einen Seite, desjenigen der Arbeiterschaft auf der anderen. Viel erklärt ist damit nicht; denn zu Volksparteien waren sowohl die Union als auch die SPD ja gerade dadurch geworden, daß sie über ihre klassischen Milieus hinaus Anhänger gefunden hatten.

Mir scheint die Erosion der Volksparteien eher so etwas wie eine Normalisierung zu sein.

Unter einem Verhältniswahlrecht ist eine Vielfalt von Parteien die Regel. Man kann das an der Weimarer Republik sehen, der italienischen Nachkriegsrepublik, der französischen Dritten Republik und der dortigen Vierten Republik. Erklärungsbedürftig ist nicht, daß wir jetzt auf ein Fünfparteiensystem zusteuern (oder sechs, wenn man CDU und CSU getrennt rechnet). Erklärt werden muß vielmehr der frühere Trend zum Zweiparteiensystem, obwohl wir kein Mehrheitswahlrecht haben.

Er mag am schieren Erfolg der Bonner Republik gelegen haben; am Erfolg vor allem ihrer Sozialen Marktwirtschaft. Über sie gab es einen breiten Konsens; wobei die Union mehr für den Markt und die SPD mehr für das Soziale stand.

Dieser Konsens endete mit dem Auftreten der Grünen, die Politik nicht als den Ausgleich von Interessen verstehen, sondern als ein Instrument zur Änderung der Gesellschaft und zur Erziehung der Bürger. Erst recht gilt das natürlich für die Kommunisten.

Die Grünen und die Kommunisten haben die deutsche Politik ideologisiert; mit Ausstrahlungen bis weit in die einstigen Volksparteien hinein. Nur die FDP steht noch gegen diese Ideologisierung. Das dürfte ein wesentlicher Grund für ihren gegenwärtigen Aufstieg sein.

Wohin er die FDP noch führen kann, ist im Augenblick ganz offen.

Die drei bisher "Kleinen" sind Parteien mit einem klaren Profil: Die Grünen und die Kommunisten stehen für zwei Varianten eines ideologisch gefärbten Etatismus. Die FDP steht ebenso eindeutig für eine offene, freiheitliche Gesellschaft.

Die beiden ehemaligen "Volksparteien" lassen ein solches Profil vermissen. Das war einmal ihre Stärke, weil sie dadurch integrativ sein konnten. Es könnte sich zunehmend als ihre Schwäche erweisen. Es könnte ihnen gehen wie den großen Warenhäusern, die vom Hosenknopf bis zum DVD-Rekorder alles im Sortiment haben: Der Kunde kehrt ihnen zunehmend den Rücken und kauft dort ein, wo das Angebot weniger gemischt ist.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

14. September 2009

Zitat des Tages: Yes, yes. Gähn, gähn

Yes, we gähn.

Aufmacher-Schlagzeile von "Bild" am 14. September 2009 zum "Duell" Merkel- Steinmeier.

Kommentar: Schön, daß jetzt auch den Kollegen von "Bild" der Kalauer eingefallen ist, der hier am 14. August zu lesen gewesen war.



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13. September 2009

Zettels Meckerecke: Wozu in aller Welt braucht eine Debatte zwischen Merkel und Steinmeier eigentlich vier eitle Journalisten?

In den USA gab es im vergangenen Jahr spannende Debatten zwischen den Kandidaten für die Präsidentschaft. In Frankreich haben sich die Kandidaten Nicolas Sarkozy und Ségolène Royal in einer denkwürdigen Debatte miteinander auseinandergesetzt.

Moderiert haben Journalisten.

Moderiert. Das heißt, sie haben ihr Augenmerk darauf gerichtet, daß die Debattierenden nicht allzu lang bei einem Thema verharrten. Sie haben auf die Einhaltung der Zeitkonten geachtet. Sie haben bei Unklarheiten gelegentlich einmal nachgefragt.

Mehr nicht. Denn die Akteure einer solchen Veranstaltung sind die Kandidaten. Je mehr sie miteinander streiten, je mehr sie im Gespräch ihre Positionen abgrenzen, umso mehr erfährt der Zuschauer.



Während ich dies schreibe, debattieren Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier miteinander.

Schön wär's. Tatsächlich sind es vier Journalisten, die sich in den Vordergrund drängen, die das Gespräch zu dominieren versuchen. Die sich benehmen, als sei das ihre Show. Deren oft einseitigen und suggestiven Fragen der Veranstaltung manchmal nachgerade den Charakter eines Verhörs geben.

Am weitesten treiben diese Unverfrorenheit, diese narzißtische Selbstdarstellung die beiden Öffentlich- Rechtlichen, Illner und Plasberg. Sie treten auf, als seien sie die Gesprächspartner von Merkel und Steinmeier.

Dabei sind sie nichts als Journalisten. Moderatoren sollten sie sein, nicht Agitatoren.

Nur, wer traut sich, sie in ihre Schranken zu weisen? Sie, die Politiker hochschreiben oder fertigmachen können?

Also erträgt man ihre Eitelkeit, ihre Arroganz. Also findet man sich mit jener Rolle des Volkstribunen ab, für die diese Leute zwar nicht angeheuert wurden und nicht bezahlt werden, die sie sich aber zunehmend anmaßen.




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12. September 2009

Zitat des Tages: Was ist an dieser Meldung interessant? Über Betrug in der Wissenschaft

Ein Mediziner der Universität Bonn ist mit gefälschten Studien aufgeflogen. Wie der SPIEGEL in seiner neuesten Ausgabe berichtet, geht es dabei um eine Veröffentlichung in dem angesehenen Fachmagazin "Nature Genetics" aus dem Jahr 2003, die seit Erscheinen über 180-mal zitiert wurde und im aktuellen Heft zurückgezogen werden musste. (...) Myles Axton, der Chefredakteur von "Nature Genetics", lobt die vorbildliche Korrektur der falschen Ergebnisse: "Es ist nur beschämend, dass es so lange gedauert hat."

Aus einer Vorabmeldung zum "Spiegel" der kommenden Woche, in der es um den Vorwurf gegen einen Mediziner der Bonner Universität geht, Daten über einen angeblichen Zusammenhang zwischen einer bestimmten Genmutation und Epilepsie gefälscht zu haben.


Kommentar: Was ist an dieser Meldung interessant?

Nicht, daß ein Wissenschaftler Daten gefälscht haben soll. Natürlich gibt es Wissenschaftler, die betrügen. So, wie es Sportler gibt, die dopen, und Politiker, die in die eigene Tasche wirtschaften.

Das Interessante an der Meldung ist nicht der vermutliche Fall von Betrug, sondern der Umstand, daß es rund sechs Jahre dauerte, bis er aufgedeckt wurde.

Denn in kaum einem Lebensbereich ist es so unwahrscheinlich, daß ein Betrug unentdeckt bleibt, wie in der Wissenschaft. Das liegt an der Skepsis, die zum Wesen der Forschung gehört.

Wissenschaftler zweifeln ständig. Jedes publizierte Resultat wird, sofern man ihm Bedeutung beimißt, alsbald kritisch nachgeprüft. Nicht, weil man die Kollegen des Betrugs verdächtigen würde, sondern weil man weiß, wie leicht jeder Wissenschaftler irren kann.

Daten können immer auf anderen Faktoren beruhen als denjenigen, auf die man sie zurückführt. Erst recht können Interpretationen und Theorien sich immer als irrig erweisen. Nur die Wiederholung ("Replikation") von Experimenten und Erhebungen, nur die ständige Diskussion alternativer Erklärungen bringt die Wissenschaft voran. Und im Netz dieses institutionalisierten Zweifels, dieser ständigen Selbstkorrektur zappelt sehr bald auch jeder Betrüger.

Wer in der Wissenschaft zu betrügen versucht, der disqualifiziert sich damit selbst. Nicht so sehr wegen eines Mangels an Anstand und Charakter. Sondern wegen Dummheit.



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