23. September 2009

Was wollen wir eigentlich in Afghanistan? Sie werden staunen: Präsident Obama läßt jetzt darüber nachdenken

Zu den herausragenden Fähigkeiten des genialen Verkäufers Barack Obama gehört es, etwas unter einem falschen Etikett zu verkaufen.

Er hat sich selbst, der nach amerikanischen Maßstäben linksaußen im politischen Spektrum steht, erfolgreich als einen Mann der Mitte verkauft, den großen Einiger aller Amerikaner. Er hat es fertiggebracht, die buchstabengetreue Fortsetzung der Irak- Politik von Präsident Bush als "Abzug aus dem Irak" zu verkaufen; siehe Barack Obamas Mogelpackung. John McCain sagt, wie es ist; ZR vom 27. 2. 2009.

Und er hat seine Weigerung, seine Unfähigkeit oder seine Unwilligkeit, sich für eine Strategie für Afghanistan zu entscheiden, als eine "umfassende Strategie" für Afghanistan zu verkaufen gewußt.

Das geschah in einer Rede, die Obama am 27. März dieses Jahres vor ausgewählten Zuhörern im Weißen Haus gehalten hat; Sie können Sie hier nachlesen.

Ich habe diese Rede am 31. März kommentiert und - mit Bezug hauptsächlich auf eine Analyse von Fred Kaplan - darauf hingewiesen, daß Obama in ihr eben gerade keine konsistente Strategie entwarf.

Die beiden zentralen strategischen Alternativen habe ich damals so zusammengefaßt:
Worum geht es? Die USA stehen vor der Wahl zwischen zwei Strategien, die beide seit langem ihre Verfechter haben: Einer Strategie der Aufstandsbekämpfung (counterinsurgency, abgekürzt COIN) und einer Strategie der Terrorbekämpfung (counterterrorism, CT).

Vom Wort her hört sich das ähnlich an; aber es handelt sich um sehr verschiedene Strategien.

Anhänger von COIN (manchmal die COIN-dinistas genannt) vertreten die Meinung, daß man einen Aufstand nicht primär mit militärischen Mitteln bekämpfen kann. Zentral sei es, die Loyalität der Bevölkerung zu gewinnen, diese gegen die Aufständischen zu schützen, eine Infrastruktur zu schaffen, die der Bevölkerung hilft. Nur so ließe sich ein Aufstand "austrocknen".

Natürlich halten auch die COIN-dinistas die militärische Bekämpfung der Aufständischen für erforderlich, aber nur als eine der Maßnahmen innerhalb einer solchen umfassenderen Strategie. Belasse man es beim militärischen Kampf, dann - so diese Denkrichtung - hätte die Bevölkerung nur unter der Anwesenheit der fremden Truppen zu leiden und werde in die Arme der Aufständischen getrieben.

Die Anhänger von CT leugnen nicht, daß COIN schön wäre. Sie bezweifeln aber, daß es in Afghanistan machbar ist. Dazu fehle es an Geld, an Truppen und auch an Zeit. Sie sehen es als das einzige Ziel an, die Kaida militärisch zu besiegen. Damit sei der Sicherheit der USA Genüge getan.
Wenn man die damalige Rede Obamas genau analysierte, dann zeigte sich, daß sie die Entscheidung zwischen diesen beiden Strategien vermied. Es war, als hätten Anhänger beider Denkschulen an ihr mitgeschrieben.

Aber allgemein wurde diese Rede als Entscheidung für eine Strategie der counterinsurgency verstanden; und Obama mag sie in der Tat so gemeint haben. Jedenfalls hat der von ihm ernannte neue Oberkommandierende in Afghanistan, General Stanley McChrystal, offenbar den Auftrag, eine Strategie der counterinsurgency zu verfolgen; siehe Bombardierte Tanklastzüge, die Taliban, der deutsche Wahlkampf; ZR vom 7. 9. 2009.

Oder solle man sagen "er hatte offenbar den Auftrag"?

Denn es sieht ganz danach aus, daß Barack Obama jetzt schon wieder über eine Strategie für Afghanistan nachdenken läßt. Jetzt, noch nicht einmal ein halbes Jahr nach der großspurigen Verkündung seiner "umfassenden, neuen Strategie", die er damals als das "Endergebnis einer sorgfältigen Überprüfung der Politik" (the conclusion of a careful policy review) angepriesen hatte.



Jetzt häufen sich die Hinweise darauf, daß das Endergebnis doch kein Endergebnis gewesen war, sondern bestenfalls eine Zwischenrechnung. Besonders informativ ist dazu der Artikel von Julian E. Barnes in der gestrigen Los Angeles Times; Überschrift: "Obama is reevaluating Afghanistan war strategy"; Obama nehme eine Neubewertung der Strategie für den Krieg in Afganistan vor.

Seit Wochen fordere der Oberkommandierende McChrystal zusätzliche Truppen, schreibt Barnes, um seinem Auftrag gerecht werden zu können. Das Weiße Haus hätte ihn aber angewiesen, keinen förmlichen Antrag dieses Inhalts zu stellen.

Warum nicht? Barnes:
Obama signaled last week, in an appearance with the Canadian prime minister, that a deeper administration review was underway. "It's important that we also do an assessment on the civilian side, the diplomatic side, the development side, that we analyze the results of the election, and then make further decisions moving forward," he said.

One defense analyst who regularly advises the military and who spoke on condition of anonymity said the administration was suffering from "buyer's remorse for this war." "They never really thought about what was required, and now they have sticker shock," the analyst said.

Obama signalisierte vergangene Woche bei einem Auftritt zusammen mit dem kanadischen Premierminister, daß eine gründliche Überprüfung innerhalb der Regierung im Gange sei. "Es ist wichtig, daß wir auch eine Bewertung auf der zivilen Seite vornehmen, der diplomatischen Seite, der entwicklungspolitischen Seite; daß wir die Ergebnisse der Wahl analysieren und dann weitere, nach vorn gerichtete Entscheidungen treffen" sagte er.

Ein verteidigungspolitischer Analytiker, der das Militär regelmäßig berät und der sich unter der Bedingung äußerte, anonym zu bleiben, sagte, daß die Regierung in Bezug auf diesen Krieg unter der "nachträglichen Bereuung eines Kaufs" leide. "Sie haben niemals wirklich daran gedacht, welches die Anforderungen sind, und jetzt erschrecken sie, wo sie das Preisetikett sehen".
Es könnte also gut sein, daß es mit der counterinsurgency bald schon wieder vorbei sein wird:
The administration's alternative would be a narrow objective focusing primarily on disrupting Al Qaeda, as well as the leadership of the Taliban or other extremist groups, which would require fewer than the 68,000 troops currently approved for the war.

Die Alternative der Regierung wäre eine eng begrenztes Zielsetzung, die Ausrichtung hauptsächlich auf die Zerschlagung der Kaida und der Führung der Taliban sowie anderer extremistischer Gruppen. Dies würde weniger als die 68.000 Mann verlangen, die gegenwärtig für den Krieg genehmigt sind.
Rin in die Kartoffeln, raus aus die Kartoffeln, sagt dazu der Berliner.

Als Obama vor einem halben Jahr einen Schwenk hin zur counterinsurgency erkennen ließ, gab es viel Beifall vor allem aus Europa, wo man schon immer dem "zivilen Wiederaufbau" in Afghanistan den Vorrang eingeräumt hatte.

Nur muß man einen solchen zivilen Wiederaufbau auch militärisch schützen können; und Präsident Bush hat im Irak leidvoll erfahren müssen, welche Opfer das verlangt.

Es scheint, daß sein Nachfolger diese Opfer in Afghanistan nicht bringen will. Er hat jetzt das Preisschild gesehen und ist erschrocken.



Falls die Entscheidungen im Weißen Haus so fallen, wie es Barnes aufgrund seiner Recherchen erwartet, dann wird das weitreichende Folgen für den Einsatz der Bundeswehr haben.

Keines der in Afghanistan militärisch engagierten Länder hat so sehr auf den zivilen Wiederaufbau gesetzt wie Deutschland. Keines war aber andererseits so wenig bereit, aggressiv Krieg zu führen, um diesen Aufbau zu schützen.

Dafür war man auf die Amerikaner angewiesen. Eine Kehrtwende Obamas in Richtung counterterrorism würde unsere Soldaten im Wortsinn auf einsamem Posten lassen.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Taliban im Süden Afghanistans, aufgenommen im Dezember 2006. Als Werk der US-Regierung (Voice of America) in der Public Domain (Ausschnitt).