31. März 2023

Verdi und die Suche nach dem Reallohn

Leser dieses Blogs haben es schon im vergangenen Jahr gelesen: Die Reallohnverluste im Jahr 2022 sind nicht nur gewaltig in sich, sie sind auch historisch auf einem Stand, wie man ihn seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat. Die Kombination aus einer zweistelligen Inflation, kombiniert mit nur gering steigenden Löhnen, bewirkt Reallohnverluste im höheren einstelligen Bereich, in einigen Branchen mit wenig Spielraum für Lohnerhöhungen im zweistelligen.

24. März 2023

Vom großen Wind - Bruno Schulz, "Der Sturm" (1933)



Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

(Hans Magnus Enzensberger, "Der fliegende Robert")




(Bruno Schulz im Jahr 1922)

Im Lauf dieses langen, leeren Winters fuhr die Dunkelheit in unserer Stadt eine gewaltige, eine hundertfache Ernte ein. Viel zu lange war auf den Dachböden und Abstellkammern nicht aufgeräumt worden. Töpfe und Flaschen waren dort abgestellt und gestapelt worden, bis ihre Zahl ins Unermeßliche gestiegen war.

Dort, auf den Dachböden, in diesen verkohlten Urwäldern voller Dachbalken, geriet die Dunkelheit in heftige Gärung und veränderte sich. Dort begannen die schwarzen Verschwörungen der Töpfe, ihre nichtssagenden Ratsversammlungen, das Geschwätz der Flaschen, das Blubbern der Buddeln und Bottiche. Bis zu der Nacht, in der es unter den Schindeln zu gären begann, sich die Schlachtreihen formierten und als Heerstrom in Richtung Stadt flossen.

Die Speicher, die aus den Speichern ausgelagert waren, schoben sich auseinander, schossen als schwarze Spaliere in die Höhe, und die Echos liefen durch die Kavalkaden der Pfosten und Balken, durch die Lancaden der Böcke, die auf ihre Knie aus Tannenholz fielen und dann, als sie in die Weite der Nacht hinausgestürmt waren, das Dunkel mit dem Galoppieren der Dachsparren und dem Lärm der Querbalken erfüllten.

Dann ergossen sich diese schwarzen Ströme, der Fluß der Fässer und Kannen, durch die Nacht. Ihre schwarze, glänzende Menge belagerte die Stadt. Nachts klirrte und wogte dieses dunkle Getümmel wie ein Heer plappernder Fische, ein unablässiger Ansturm knurrender Kübel und rumpelnder Bottiche.

20. März 2023

Vom großen Wind - Kurt Kusenberg, "Der große Wind" (1948)



Die Insel mitten im Fluß, samt dem stattlichen Haus, das man in der Gegend „das Schloß“ nannte, und den reichen Gärten war mein Erbe. Ich hatte lediglich eine Familie hinzugebracht, die Frau und drei Kinder. Mehrten oder verzehrten wir den Besitz? Ich glaube, wir erhielten ihn – falls er sich nicht selbst erhielt, denn er war gleichermaßen schön und nützlich angelegt, ein rechtes Mustergut, das sich nur mit Gewalt herunterwirtschaften ließ.

An den steilen Hängen des Flußtales wuchsen Reben. Was dort je besonders wohlgeraten war hatten meine Vorväter in die Weinkeller eingelagert, die sich unter der ganzen Insel hinzogen. Selbst wenn ich gesoffen hätte wie ein Bürstenbinder, wäre ich des ungeheuren Bestandes zeitlebens niemals Herr geworden. Das gab mir Rückhalt, denn ich trinke gern, der Reichste konnte sich nicht sicherer dünken als ich.

Um die Zeit, die alles so äh veränderte, sprach und schrieb man viel über einen neuen, furchtbaren Wind. Von anderen Winden weiß man, wie sie entstehen, wessen sie fähig sind und wohin ungefähr sie sich wenden; von diesem wußte man es nicht. Viele nannten ihn den Weltwind, um auszudrücken, wie unheimlich er ihnen sei. In Asien hieß er Kadharta, in Amerika Sizzon, in Afrika Turdusi. Wir Europäer gaben ihm so viele Namen, wie wir Sprachen haben. Es verlautete, er sei eisig und von tödlicher Gewalt, nichts widerstehe ihm, alles zerstöre er oder reiße es mit sich fort, nur Trümmer lasse er zurück. Das Arge war, daß man ihn immer und überall fürchten mußte. Er kam auf, er sprang um, wie es ihm beliebte. Hatte er gestern in Korea gewütet, so fegte er heute durch Spanien; er reiste geschwinder als jeder andere Wind. Manche meldeten, er verdunkle das Firmament und dröhne tief wie eine Orgel; andere behaupteten, ihn begleite ein hoher, pfeifender Ton. Nun, ich sollte ihn gründlich kennenlernen.

An einem freundlichen Maitag war ich in die Kellereien hinabgestiegen, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich eben ergründen wollte, welchem von zwei trefflichen Weinen der Vorzug gebühre, vernahm ich ein Sirren, das schrill anschwoll und in den Ohren schmerzte; zugleich fiel die Kellertür zu. Obwohl die Gewölbe tief unter der Erde lagen, zitterten sie, als schreite ein Her von Riesen darüber hin. Wo immer ein Schacht oder Spalt aus dem Keller nach oben führte, ward Luft hineingepreßt, in kurzen, bösen Stößen. Da wußte ich, daß der Große Wind in unser Flußtal gekommen war.

19. März 2023

Vom großen Wind - Gustav Meyrink, "Das grüne Gesicht" (1916)



Ein großer Atem weht
durch diese kurze Zeilen.
Er weht von rechts, <===
er weht von links, ===>
um euch dies mitzuteilen:
„Ich blas‘ hier alles krumm und schief,
weil mich ein Gott dazu berief.
Ist Gott von Max und Moses.
gez. Atem, großes.“

(Robert Gernhardt)



Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht (Auszug)

Vierzehntes Kapitel

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Trotz der frühen Stunde war die Luft heiß und trocken wie vor einem Gewitter.

Eine atembeklemmende Windstille verlieh der ganzen Gegend etwas unheimlich Leichenhaftes; die Sonne hing wie eine Scheibe aus blindem, gelbem Metall hinter dichten Dunstschleiern, und weit im Westen über der Zuidersee brannten Wolkenmauern, als sei es Abend statt Morgen.

In ungewisser Angst, zu spät zu kommen, kürzte er den Weg ab, wenn es nur irgend ging, schritt bald querfeldein, bald auf den menschenleeren Straßen dahin, aber es schien, als wolle die Stadt nicht näherrücken.

Allmählich mit dem wachsenden Tag veränderte sich das Bild des Himmels; hakenförmige, weißliche Wolken krümmten sich wie gigantische Wurmleiber auf dem fahlen Hintergrund, von unsichtbaren Wirbeln gepeitscht, hin und her, – immer an derselben Stelle bleibend: – kämpfende Luftungeheuer, die der Weltenraum herabgesandt.

16. März 2023

"Weird Tales" - Ray Bradbury, "Der Wind" (1943)





(Ill. von Joe Mugnaini für "The October Country," Ballantine Books, 1955)

John Colt war wach und lauschte…

Das Mondlicht, das durch das große, dreifach unterteilte Dachfenster im Obergeschoß des Hauses in sein Zimmer drang, fiel über sein scharfgeschnittenen Gesichtszüge.

Weit draußen in der Nacht blies der Wind, und Colt bewegte die Lippen, während er ihm zuhörte; hörte ihm zu, wie er sich verstohlen aus Richtung des Meers unbeirrt auf das Haus zubewegte.

Er zitterte, die Haare sträubten sich ihm, und er bekam eine Gänsehaut. Er wußte, warum ihm derart zumute war. Nach zehn Jahren konnte er sich nichts anderes vorstellen.

Er wußte, daß der Wind zu ihm kam – er schlüpfte aus dem Bett, streifte mit zitternden Händen einen Morgenmantel über, fand seine Filzpantoffeln und ging nach unten, um die Ankunft abzuwarten.

Er ging zum Telefon und dachte: „Darauf habe ich gewartet. Zu Anfang in aller Ruhe. Neugierig und gespannt. Ich war mir über das meiste gewiß. Aber ich weiß nicht, wie viel ich noch aushalten kann. Ich verliere den Mut, dann gewinne ich ihn wieder, und dann verliere ich ihn erneut.“

Seine Hand zitterte, als er die Nummer wählte. „Hallo – Herb? Hier spricht Colt.“

“John? Wie gehts dir?“

„Nicht so gut. Und ich habe dummerweise heute dem Dienstpersonal freigegeben. Ich bin allein…“

Während er sprach, lauschte er. Die Entfernung dämpfte die unheimliche Musik des Winds. Sie wurde lauter.

13. März 2023

"Weird Tales" - Frank Owen, "Der Wind, der die Welt durchstreift" (1925)





Die kleine Stadt der großen Winde liegt oben auf dem Dach der Welt, zwischen den öden, sturmumtosten Gipfeln des Himalaya, als wenn sie von der Hand eines zornigen Riesen dorthin geschleudert worden wäre. Man kann sich kaum einen trostloseren Ort vorstellen, oder einen Flecken, der noch mehr dem Wüten der Elemente ausgeliefert ist.

Nach seiner Ankunft in der Stadt hatte John Steppling zunächst keinen Schlaf finden können. Es war, als wenn er sich in einer anderen Welt befände, in einem Land aus Wolken und ziehenden Schatten, in dem jeder Atemzug Mühe machte und jede körperliche Anstrengung fast unmöglich war. Er fühlte sich leer, wie ein Behältnis unter immensem Druck von außen, das jeden Moment kollabieren konnte. Nachts, wenn er zu den Sternen aufblickte, schien es ihm, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um sie vom Himmel zu pflücken wie Blumen aus einem duftenden Garten. Der Himmel war von solcher Klarheit, daß ihm der Atem stockte, obwohl vielleicht die dünne Luft in jedem Fall den Atem abgeschnürt hätte.

Er war durch Zufall während einer Forschungsreise in Nordindien in die Stadt gekommen. Er hatte nicht vorgehabt, dort länger als einen Tag zu bleiben, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, sie zu verlassen. Etwas, das er nicht genau benennen konnte, hielt ihn dort fest.

Die meisten der Einwohner waren so arm wie Kirchenmäuse – sogar noch ärmer, denn zum Wohnen dienten ihnen nur die primitivsten strohbedeckten Lehmhütten. Sie fristeten ihr Leben als Hirten und hüteten kleine Herden von mageren, kränklichen Schafen und Ziegen, die der karge, halb gefrorene Boden kaum ernähren konnte. Sie waren schmutzig, unwissend und stur. Wasser war knapp, und sie verschwendeten es nicht; statt zu baden, rieben sie sich mit Fett ein, was zudem den Vorteil hatte, daß es sie wärmte. Es verlieh ihnen auch einen schlechten Geruch, aber für Menschen, die nichts von den angenehmen Düften kennen, nach, die ihre Nachbarn im Süden so hoch schätzen, spielte das keine Rolle.

11. März 2023

J. D. Beresford, "Die Mächte der Luft" (1917)



Ich ahnte die Gefahr, die ihm drohte. Er wußte so wenig, und der lange Aufenthalt in der Stadthatte ihn die Fähigkeit, etwa zu sehen, gekostet. Ein blindes Vertrauen ist der Anfang aller Weisheit, aber den Stadtmenschen ist ihr Bücherwissen zu Kopf gestiegen, und das Lesen hat die ihnen klare Sicht des Geistes genommen.

Ich begann ihn zu Anfang Oktober zu warnen, wenn sich die Sturmwinde hoch oben am Himmel austoben. Dann sind sie noch harmlos: sie zerren an den Dachpfannen und Schindeln und verschwenden ihre Kraft damit, die Bäume zu zerzausen, aber wir sind sicher, bis das Dunkel kommt.

Ich nahm ihn mit hinaus auf die Stoppelfelder und drehte ihn so, daß er mit dem Rücken zum dünnen schwarzen Band der See in der Ferne stand. Ich wies auf die Krähen, die wie aufgewirbelte Blätter am Himmel flatterten.

„Es ist jetzt soweit,“ sagte ich. „Die schwarze Zeit kommt.“

Er stand da und sah den wild flatternden Krähen zu. „Soll das ein Spiel sein?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Sie gehören dem Dunkel an, “sagte ich zu ihm.

Er schenkte mir einem nachsichtigen Blick. „Noch so ein Aberglauben von euch.“

10. März 2023

"Der Mann, der Fliegen haßte" - Zum 150 Geburtstag von J. D. Beresford



Seine Frau macht sich über seine einzige Schwäche lustig. Alle seine geduldigen, streng wissenschaftlichen Erklärungen über den Schaden, den Fliegen anrichten und die Krankheiten, die sie verbreiten, konnte sie nicht davon überzeugen, daß es sich hier um mehr als nur seiner Exzentrizitäten handelte. Sie gehörte zu denen Frauen, die nichts von der Wissenschaft halten, obwohl ihr Gatte von Beruf Wissenschaftler war und es in einigen Jahren mit Sicherheit zu einer Berühmtheit bringen würde, denn er konnte ganz und gar in seiner Arbeit aufgehen. Sein ansehnliches Vermögen erlaubte es ihm, sich ganz dieser Arbeit zu widmen, was er auch zwölf Stunden am Tag tat.

„Du bist viel zu sehr darauf aus, die Welt zu verbessern,“ sagte Madame Aumonier oft zu ihrem Mann. „Mir gefällt sie so, wie sie ist. Und was die Fliegen betrifft, die dich so stören, kannst du sicher sein, daß die Versehung bestimmt aus einem guten Grund geschaffen hat. Kümmere dich einfach nicht mehr darum.“

„Das kann ich nicht,“ sagte Professor Aumonier in solchen Fällen. „Ich kann sie nicht ertragen.“

In seinem Labor war er vor ihnen sicher; er sorgte mit geradezu wissenschaftliche Akribie dafür, daß sie keinen Zugang fanden. Aber sieben oder acht Monate im Jahr vergällten sie ihm den Rest seiner Tage, und er beklagte sich, daß es seiner Gesundheit abträglich war und seine Arbeit darunter litt.

Wenn er zum Mittagessen kam, immer noch ganz auf seine Arbeit konzentriert, wurde ihm die Anwesenheit seiner Peiniger bewußt. Oft war die Mütze, die er die meiste Zeit im Haus trug, verlegt (er hatte seit zehn Jahren eine Glatze, obwohl er erst siebenunddreißig war), und sein weißer runder Schädel schien die Fliegen unwiderstehlich anzuziehen. Selbst wenn er ihn bedeckte, fand er keine Ruhe. Die Viecher setzten sich auf Gesicht und Hände, oder begannen dicht vor seinen Ohren unter lautem Brummen mit wilden Luftkämpfen. Ihre Dummheit konnte einen zur Verzweiflung treiben, sie ließen sich vom wilden Gefuchtel mit dem Taschentuch in keiner Weise beeindrucken, sie mißachteten seine Würde, sie waren frech und schienen seine Wut nicht einmal wahrzunehmen.

5. März 2023

"Der Orchideengarten" / "Weird Tales" - Zwei Strandgeschichten





Esaias, der vorsage, sprichet da unde sagt:
"Sirene unde tiuvale screchen in ir husen."
von der bilde Phisiologus zelt unde sprichet, daz si totfuorgiu tier sint.

Si sint von dem houbet unz den nabele also wip gescaffene,
danne unze an die fuozze nidene getan sam die vogele.
si singet ein sanch, heizzet Musica, da mit beswichent si die scefman.

So die vergen si gehorent, ir sinne si dar cherent.
von ir suozzem sange entslaffent si danne
iso varent si dei tier an, unde e si erwachen, so zerbrechent si si gar.

- Der Millstätter Physiologus (um 1200), „Von den tieren, die da heizzent Sirenen unde onocenthauren“)