16. März 2023

"Weird Tales" - Ray Bradbury, "Der Wind" (1943)





(Ill. von Joe Mugnaini für "The October Country," Ballantine Books, 1955)

John Colt war wach und lauschte…

Das Mondlicht, das durch das große, dreifach unterteilte Dachfenster im Obergeschoß des Hauses in sein Zimmer drang, fiel über sein scharfgeschnittenen Gesichtszüge.

Weit draußen in der Nacht blies der Wind, und Colt bewegte die Lippen, während er ihm zuhörte; hörte ihm zu, wie er sich verstohlen aus Richtung des Meers unbeirrt auf das Haus zubewegte.

Er zitterte, die Haare sträubten sich ihm, und er bekam eine Gänsehaut. Er wußte, warum ihm derart zumute war. Nach zehn Jahren konnte er sich nichts anderes vorstellen.

Er wußte, daß der Wind zu ihm kam – er schlüpfte aus dem Bett, streifte mit zitternden Händen einen Morgenmantel über, fand seine Filzpantoffeln und ging nach unten, um die Ankunft abzuwarten.

Er ging zum Telefon und dachte: „Darauf habe ich gewartet. Zu Anfang in aller Ruhe. Neugierig und gespannt. Ich war mir über das meiste gewiß. Aber ich weiß nicht, wie viel ich noch aushalten kann. Ich verliere den Mut, dann gewinne ich ihn wieder, und dann verliere ich ihn erneut.“

Seine Hand zitterte, als er die Nummer wählte. „Hallo – Herb? Hier spricht Colt.“

“John? Wie gehts dir?“

„Nicht so gut. Und ich habe dummerweise heute dem Dienstpersonal freigegeben. Ich bin allein…“

Während er sprach, lauschte er. Die Entfernung dämpfte die unheimliche Musik des Winds. Sie wurde lauter.

­ „Ich habe diese Woche nichts schreiben können, Herb. Heute Abend habe ich versucht, mich auszuruhen. Aber ..“

Was war das? Colt zuckte zusammen, Eine Bö rüttelte an einem der Fensterläden, ein Vorbote des Winds, der auf seinem Weg war. Habe ich alles verriegelt, dachte Colt, ist alles gesichert?

„Tut mir leid, das zu hören,“ sagte Herb Thompson. Colt hörte zu. Und dann:

„Ich möchte, daß du heute nacht hier bist. Wäre das möglich?“

„Da muß ich erst meine bessere Hälfte fragen. Warte mal kurz.“

Eine Pause. Thompson besprach sich mit seiner Frau. Und in der Ferne nahm der Wind gleichmäßig und rasch zu. „Tut mir leid, Colt. Alice sagt, daß wir Besuch erwarten.“

„Oh.“ Colt schluckte. „Hör zu Herb – es ist wichtig. Ich habe bestimmte Theorien … über…“ Er hielt inne und suchte nach Worten.

„Hört sich an, als ob du mit den Nerven am Ende bist,“ sagte Thompson. „Warum kommst du nicht bei uns vorbei?“

„Das würde nichts nützen.“ Cold schüttelte den Kopf. „Ich habe keine Ahnung, was mir helfen würde. Ich ruf in einer halben Stunde noch mal an.“

Mit Bedacht öffnete er die Haustür. Ein schiefes Rechteck aus Mondlicht glitt über den gebohnerten Fußboden und glitt über seinen weinroten Morgenmantel und die Pantoffeln. Er stand da, wartete und ihn fröstelte.

* * *

Der große Wind konnte jetzt nur noch eine Meile entfernt sein; er rauschte durch die lange, hohe und finstere Allee aus Ulmen heran, der zu Colts einsamem Landhaus führte.

Colt zündete sich eine Zigarette an, aber seine dunklen Augen behielten die Baumreihen fest im Blick; Augen, die Rangun und Stockholm gesehen hatten, und die Welt von Nairobi bis zum Amazonas bereist hatten.

Es war ein dunkler Wind, voller böser Vorbestimmung. Andere hätten sich sicher über Colts Phantasien lustig gemacht. Thompson etwa wäre in schallendes Gelächter ausgebrochen.

Aber Colt war nicht zum Lachen zumute. Hier draußen allein, wo das Land um neun Uhr abends unter einer unheimlichen, dunklen Stille lagerte, wo das Haus hinter ihm die letzte Zuflucht war, hier, wo ihm die Entscheidung aufgezwungen wurde, konnte Cold nur abwarten.

Das letzte Gefecht. Kampfbereit. Colt nahm einen letzten Zug aus seiner Zigarette, schnippte sie fort und dachte: wenn ich schreie, wird mich niemand hören. Niemand. Ich bin viel zu weit von der Stadt weg.

In zwanzig Minuten würde er Herb wieder anrufen. Was sollte er ihm erzählen. So etwas? – „Herb, es hat vor zehn Jahren angefangen, als ich einigen seltsamen Phänomenen nachgegangen bin. Ich war in der Welt herumgekommen; ich hatte Hurrikane, Taifune, und Orkane miterlebt. Ich wußte, was Wind anrichten kann.

„In Tibet wurde ich fündig. Ich hörte Berichte über einen Berg, der der ‚Berg der Winde‘ genannt wurde – ein Ort, an dem sich die finsteren Winde der ganzen Welt mitunter versammeln. Ein riesiger, böser Berg, mit kahlen Steilwänden, die dem Kletterer keinen Halt bieten. Es gilt als Frevel, ihn zu berühren.

„Ich habe ihn berührt, Herb. Noch mehr: ich habe ihn bestiegen. Tausende von Fuß hoch, über schwindelerregenden Tiefen, wohin sich nur Wahnsinnige wagen, um das zu erkunden, was besser unbekannt bleiben sollte. Ich gelangte zerschlagen und mit letzter Kraft auf den Gipfel.

Von all den einsamen Orten, die ich gesehen habe, war dies der furchtbarste. Direkt unter dem Gipfel breitete sich ein Tal aus, durch das eine heulende Flut von Winden hinabstürzte – nicht einer, sondern Millionen davon, kleine und große, helle und solche, die dunkel wie Rauch dahinströmten.

Schnee, Regel und Hagel gingen auf die Felsen nieder. Der nackte Stein des Berges ertrug das, und ich habe es gesehen, aus dem Schutz einer Felsspalte.

„Oh – wie die Wolken dort vorbeizogen, wie weiche Fetzen, die aus einem riesigen, zerwühlten Fell herausgerissen werden.

„Was für ein Tosen! Was für ein Anblick! Diese Kraft, diese Gewalt!

„Ich weiß nicht, wie ich geschafft habe, heil den Weg hinunter zu finden, wie es mir gelungen ist, von dort zu fliehen. Nenn es Glück, oder Schicksal, oder eine gute Fügung Gottes. Aber ich klammerte mich an die Felsen wie Moos, hing über dem Abgrund, ließ mich tiefer gleiten, zog mich wieder hoch, kroch und lief, voller Angst vor dem, was ich gesehen hatte.,

„Ich gelangte nach Bombay. In der Folgezeit gab es gelegentlich Anzeichen für das, was mir bevorstand. Nichts, was mich selber direkt betraf, aber Unruhen und Störungen, die immer genau an den Orten auftraten, die ich bereiste. Dann hörte es auf. Ich dachte, die Sache wäre damit erledigt. Bis vor einer Woche, vor jetzt sechs Nächten.

„Ich konnte nicht schlafen und lauschte. Herb, in jener Nacht habe ich einen Wind gehört. Er weht eine Stunde lang ums Haus und kicherte und lachte. Nicht sehr lange und nicht besonders laut. Dann verzog er sich wieder.

„Aber ich werde die Geräusche, die er machte, nie vergessen.“

“In der zweiten Nacht passierte dasselbe. Nur diesmal, Herb,“ dachte Colt, „schlug der Wind die Fensterläden zu, blies Ruß den Schornstein hinunter und ließ das Feuer funkensprühend ausgehen.

“In den ersten beiden Nächten war es noch nicht schlimm. Ich hielt den Kopf schrägt, hörte hin, und fand es komisch, als es mir so vorkam, als würden leise Stimmen im Wind singen. Aber in der dritten und vierten Nacht wurde es anders. Es wurde schlimmer. In der fünften Nacht kehrte der Wind wieder und wehte und blies bis zum Morgengrauen. Ich weiß noch, was geschah, als ich es gewagt habe, für einen Augenblick die Tür zu öffnen …

„Sofort drang der Wind herein …“

Colt richtete sich entschlossen auf. Er war nicht alt – dreißig. Das Mondlicht floß um sein hageren,entschlossenen Züge, sein dichtes schwarzes Haar und seine dunklen Augen. In diesem Moment verspürte er keine Angst. Die Neugier war sein ständiger Begleiter, aber er war es gewohnt, sein Schicksal hinzunehmen.

Irgendwann wäre es soweit gewesen, gleich, was er unternommen hätte. Er war oft genug gewarnt worden, zu fliehen. Er zuckte die Achseln. Warum sich diese Mühe machen? Er würde sich hier zur Wehr setzen.

Der Wind schien fast greifbar, er fuhr von Baum zu Baum, schneller und immer schneller. Er steig auf, brüllte, hob sich wie eine große unsichtbare Faust, bereit, sich auf das Haus zu stürzen, bereit, es davonzuwehen. Aber das war nicht seine Absicht. Er wollte das Haus nicht.

Er wollte Colt.

* * *

Der Wind stieg auf. Er sprang empor und kämpfte sich wie ein unsichtbarer Vogel aus der Urzeit seinen Weg durch die Ulmen frei. Große Flutwellen aus Luft schlugen Stämme und störrische Äste zur Seite.

Brüllend fiel er auf die Erde zu, auf die offene Tür. Direkt auf die Tür zu, direkt auf Colt zu!

Augenblicklich riß Colt dem Arm hoch, faßte die Tür und schlug sie zu. Die Schlösser schnappten zu, die Riegel rasteten ein!

Eine Sekunde zu spät fuhr der Wind wie eine todbringende Lawine heran, gewaltig, markerschütternd. Das haus bebte und erzitterte, als die Luft dagegen anrannte.

Colt taumelte, das Lachen auf seinen Lippen war bitter und kurz. „Verdammt noch einmal – ich habe es dir gezeigt! Ich habe es dir wieder gezeigt!“

Er stemmte sich keuchend gegen die Tür. In ihm herrschte Aufruhr: was wäre passiert, wenn die Schlösser versagt hätten? Wenn er nicht augenblicklich reagiert hätte?

Mit aufgerissenen Augen lehnte er sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür, seinem Mund entfloh ein Lachen, das nicht sein eigenes zu sein schien.

„Du hast wirklich gedacht, ich würde dich reinlassen?“ stieß er hervor. „Hast gedacht, daß ich fertig bin. Aber ich war bereit. Bei allen Göttern, mich kriegst du nicht. Das schaffst du nicht!“

Das Wüten toste als lärmendes Echo ums Haus. Wie ein gewaltiger Staubsauger sog es an den Giebeln. Fensterläden sprangen auf und klapperten; Lamellen wurden abgerissen. Die Bäume krümmten sich wie jemand, dem in den Bauch getreten wird.

Colt wandte sich von der Tür ab und hastete zu einem der Fenster. Der Wind folgte ihm. Er blies um das ganze Haus, aber er suchte nach Colt und preßte sein Antlitz gegen die Fenster.

Die Scheiben stöhnten ein Kristalllied von Pein und Not.

„Das schaffst du nicht!“ höhnte Colt. „Das Glas ist unzerbrechlich. Ich hab es gestern noch überprüft.“

Das ungreifbare Etwa dort draußen folgte ihm von Fenster zu Fenster, dann von Zimmer zu Zimmer, drängte und klagte.

Colt blieb stehen. Ein sonderbarer Vergleich kam ihm in den Sinn. Er teilte ihn dem Sturm mit:

„Du bist ein großer Jagdhund, der blindwütig rast,“ schrie er. „Du bis das größte Raubtier aus Urzeiten. Ein Riesenhund, der schnüffelt, der mich finden will. Du drückst deine große kalte Nase ans Haus, um mich zu riechen, und wenn du mich im Wohnzimmer entdeckst, drückst du dort, und wenn ich in der Küche bin, tobst du da deine Wut aus. Ein großes wildes unsichtbares Tier mit Muskeln aus Wind!“

Als Antwort brüllte die Nacht wie im Todeskampf. Der Wind schien die Nacht selbst zu zerfetzen, sie zu zerreissen, ließ die Sterne erzittern und die Erde beben.

Sie zerrte mit flinken, harten Fingern am Dach, versuchte unter das Haus zu kriechen, um durch die Ritzen zwischen den Fußbodenbrettern greifen zu können. Ein eisiger Lufthauch peitschte um Colts Beine.

„Weg da, verdammt noch mal!“ Stolpernd wich er von einer Seitentür zurück.

* * *

Er hastete von Zimmer zu Zimmer, die Treppe hinauf und wieder hinab, schaltete das Licht ein, und der Wind sah ihm zu, folgte ihm. Das Haus erstrahlte in gleißender Helle im tosenden Chaos der Nacht.

Als Colt die Treppe hinab kam, blieb er lang genug stehen, um sich die Pfeife anzuzünden. Er ließ sich damit Zeit, damit das Zittern seiner Finger nachließ. Die Flamme flackerte. Ein kalter Luftzug blies sie aus.

Er versuchte es von neuem, mit Erfolg. Die Pfeife glühte. Er atmete den Rauch aus und der Luftzug blies ihn davon.

Wieder und wieder schlug der Wind auf das Haus ein. Es kam von oben, von der Seite, von unten. Er fegte durch die Fliegengittertür auf der Veranda, aber Colt machte keine Anstalten, ihn zu besänftigen, und so riß er den Rahmen ab und schlug ihn auf dem schwarzen Rasen kurz und klein.

Ein stabiles Haus, dachte Colt, und er war froh, daß er es an einigen Stellen verstärkt hatte: mit neuen Balken, neue Stahlträger, neue Schlösser.

Die gepeinigten Bäume wurden hin und her geworfen, als würde ein zorniger Gott mit einer Reitgerte knallen.

* * *

Zurück im Wohnzimmer, vor der Wärme des elektrischen Kamins, griff Colt nach einem Buch. Es war eins der Bücher, die er über Wirbelstürme, Taifune und andere Urgewalten der Natur verfaßt hatte. Er blätterte darin und blieb bei der Widmung haften:

„Der Autor dieses Buches hat all dies gesehen, aber er hat stets überlebt. Ich widme es all denen, die im Kampf mit den Elementen unterlegen sind…“

Immer entkommen? Nein, nicht immer. Heute Abend…

Die Schrift verschwamm, zerfloß, wurde unlesbar. Colts Pfeife erlosch. Als er sie wieder anzünden wollte, gelang es ihm nicht. Er legte sich das Buch auf den Schoß und begann zu lesen.

Und dann fuhr ein schwacher, fast unmerklicher Windhauch über die Seiten, berührte sie, blätterte sie langsam um, eine nach der anderen. Wieder und wieder und wieder. Erstarrt und gebannt sah Colt zu, wie er mit den Seiten spielte. Seine Finger zuckten. Er nahm das Buch und schleuderte es mit einem Fluch zu Boden.

Der Wind foppte ihn und strich ihm mit einem schmalen Finger über die Stirn.

Colt stürzte in den Flur, riß einen schweren Vorhang herunter, und drückte ihn fest gegen den Spalt unter der Tür, durch den der Luftzug zischte.

„Ich erdrossele dich – ich reiße dir deine Zunge heraus!“

Und dann, erschöpft: „Hau ab, verdammt noch mal!“ Schwach: „Geh und laß die Sterblichen in Frieden!“

Ein knirschendes Geräusch. Ein Krachen, wie von großen morschen Knochen. Eine Pause. Ein dumpfes, furchtbares Krachen. Die Lichter gingen aus – das Zimmer versank in heulender Finsternis. Die Stromleitung waren ein Opfer des Winds geworden. Das sanfte Glühen des elektrischen Kamins erstarb ebenfalls. Die Worte, die Colt vor sich hin lallte, waren sinnlos, wie die eines hysterischen Kindes.

* * *

Colt tastete herum und riß ein Streichholz an. Das Licht erhellte ein Gesicht, das um zwanzig Jahre geältert war. Im Schein der kleinen Flamme schimmerte etwas matt. Das Telefon! Die Leitung verlief über andere Masten. Falls die Verbindung noch intakt war…

„Vermittlung!“ Colt wartete. „Ja, Sir?“ kam die Antwort.

„Gott sei Dank – Gott sei Dank – Gott sei Dank. Vermittlung – gegen Sie mir bitte Trinity 9929.“

„Trinity 9929?“

„Ja, und machen Sie schnell, um Himmels ….“

Eine Pause. Das Telefon am anderen Ende klingelte. Es klingelte. Es läutete! Klick.

„Hier Herb Thompson.“

„Herb? Herb!“ Irrsinnige Erleichterung.

„Ja. Wer spricht da?“

„Herb, Herb – hier ist Colt -“

“John? Ich hab deine Stimme nicht erkannt.“

„Ich hab‘ keine Zeit, das zu erklären. Ich möchte, daß du etwas für mich tust.“

„Alles was du willst. Du hörst dich..“

Klick!

* * *

„Herb, da draußen ist ein Sturm. Nur hier. Ein großer Wind. Er will mich! Mich! Er will mich lebendig zu packen bekommen! Hörst du mir zu?“ Es folgten rasche Schläge auf die Gabel. „Herb.“ Wieder wurde die Gabel gedrückt. „Herb?“ Ein Schrei: „Herb!“

Stille.

Draußen bewegte sich der Wind. Er hatte wieder gewonnen. Wieder einmal gewonnen. Erst die Lichter – jetzt das Telefon.

„Vermittlung, ich bin unterbrochen worden! Vermittlung, Ver… Zwecklos. Verdammt, gottverflucht noch mal – ich bring dich - “ Er riß das Telefon aus der Wand und schleuderte es in Richtung Fenster. Er erkannte seinen Fehler zu spät. Das Telefon traf die Scheibe, zersplitterte das Glas zu einem kristallenen Spinnennetz und hinterließ ein kleines Loch.

Der Wind nutzte den kleinen Durchlass und züngelte herein. Colt stopfte das Loch mit einem Fetzen Vorhangstoff. Er stand zornentbrannt, schwach vor Angst und Verbitterung. Allein. Allein. Die Augen hatte er weit aufgerissen und jede Faser in seinem Leib war bis zum Zerreißen gespannt.

„Du willst mich lebend, stimmts? Lebend. Du wagst es nicht, das Haus mit einer Bö einstürzen zu lassen. Nein – das würde ich nicht überleben, und du willst mich lebend, damit du Stück für Stück, Glied für Glied zerreissen kannst. Oder willst du das, was in mir ist – meinen Verstand – mein Hirn – meinen Geist?“

* * *

Erschrocken hielt er inne. Er schlug die Hand vor den Kopf. „Mein Verstand .. natürlich. Den willst du.“

„Die äußere Hülle, die den Verstand umschließ, die interessiert dich nicht – aber du willst den Geist. Du willst meine Gedanken, meine Lebenskraft, mein Ich. Meine geistige Stärke, die Macht der Gedanken, mein ganzes Wesen – das willst du, denn so bist du beschaffen. Stimmt’s?“

Er holte tief und schmerzhaft Luft. Tränen liefen ihm aus den Augen und liefen seine Wangen hinunter. Und er verfluchte den Wind.

„Das bist du – eine große Wolke aus Dämpfen, aus Atomen, Winde aus jedem Winkel der Erde – der gleiche Wind, der vor zehn Jahren Celebes verwüstet hat, der Pampero, der in Argentinien Opfer gefordert hat, der Taifun, der Hawaii in ein Schlachtfeld verwandelt hat und der Orkan, der vor einem Jahr die Küsten von Afrika heimgesucht hat. Das alles ist du, du bist Teil davon, Teil von den Stürmen, denen ich entkommen bin.

„Aber irgendetwas ist passiert – irgendetwas hat in dir den Lebensfunken entfacht. Vielleicht waren die Winde immer schon so – mehr als warme und kalte Luftströmungen. Du willst Kraft, meine Kraft. Du willst Verstand. Und ich eigne mich mehr dafür als andere, denn ich weiß, ich weiß, wo du dich herumtreibst, wo du entstehst und vergehst. Du willst keinen Tod, wie andere Winde. Du willst Leben. Und du stellst mir nach, weil ich das weiß.

Ich kann der Welt von deiner Grausamkeit berichten, ich kann ihr sagen, wie sie sich wehren und dich besiegen kann. Ich habs in meinen Büchern geschrieben. Aber du erträgst meine Predigten nicht mehr. Du willst mich für deinen eigenen Zwecke benutzen. Du willst mich dir einverleiben, um dir Wissen zu spenden, dir ein Ziel zu geben! Du willst, daß ich auf deiner Seite bin!“

* * *

Colt lachte erneut, die Lungen schmerzend vom Anschreien gegen den Aufruhr. Das Haus bebte wie ein Pantoffel, über den sich ein junger Hund hermacht.

„Du wirst das Haus Stück für Stück abreißen müssen. Und ich werde mit aller Macht gegen dich kämpfen. Wie in Ceylon, als ich den Wald angezündet habe – weil ein Waldbrand das Einzige ist, was sich vom Wind nährt und ihn bekämpft. Ich hab damals gewonnen; ich werde auch jetzt gewinnen!“

Das Haus erbebte von neuem und begann zu zerbröseln.

Die Fassade wurde nach innen gedrückt. Glas splitterte, fiel aber nicht aus dem Rahmen. Cold drehte sich um und eilte in die Küche.

Während er die Tür hinter sich zuschlug, warf er einen Blick zurück. Die Wand des Wohnzimmers gab nach und spie Trümmer aus, als sei sie von einer Granate getroffen worden. Der Wind fegte hindurch unter Triumphgeheul hindurch.

Die Küchentür war kaum ins Schloß gefallen, als der Wind die Schulter dagegen rammte. Das schwache Schloß hielt ihn nicht auf. Vergebens stemmte sich Colt gegen sie. Er gab auf, riß die Kellertür auf, sprang die Stufen hinab und schob die Riegel vor,.

Die Splitter der Küchentür schlugen wie Schrapnell ein. Gasleitungen wurden getroffen; das ausströmende Gas entzündete sich.

Das Obergeschoß wurde zerfetzt wie ein Stoffballen.

Colt biß die Zähne zusammen und klammerte sich an der Tür fest. Aus seiner Nase rann Blut. Er wehrte sich gegen den Wahn, er versuchte, dem Wind mit seinem Geist Paroli zu bieten.

„Du kriegst mich nicht – das schaffts du nicht! Ich vergrabe mich im Boden – und wenn du jedes Brett einzeln herausreißt. Ich grabe mich ein, und dann fliehe ich – wie damals in Alexandria, wie in Nairobi!“

Der Wind beachtete ihn nicht. In ihm wurden Stimmen hörbar. Stimmen des Sturms, der Bora, des Bayamo. Der Schirokko und anderer Stürme. Sie redeten auf ihn ein, befahlen, drängten ihn, aufzugeben.

Es waren die Stimmen der Zehntausend, die bei einem Taifun gestorben waren, die siebentausend, die das Opfer eines Hurrikans geworden waren, dreitausend, die ein Wirbelsturm verschlungen hatte. Gekrümmt und geschunden und vom Wirbelsturm und vom Monsun von Kontinent zu Kontinent geschleudert, Wanderer ohne Ziel durch Regen und Wolkenbrüche, Schnee und Hagel, taub vom Donner, von Güssen gepeitscht, gefesselt, körperlos.

Geformt. Zu einer Stimme geformt aus Millionen körperloser Seelen. Und diese Stimme, die Stimme der Dunkelheit, der Macht, verlangte jetzt ein weiteres Opfer.

Der Wind ließ nach, schöpfte Atem. Er verebbte über der Trümmerhalde aus Spänen, Mauerputz und Scherben. Er streifte durch die Ruine und wartete. Er schlich vor dem Keller herum und sang ein tonloses Lied in vielen Tonarten.

Nur ein Schluchzen aus dem Keller unterbrach den Gesang. Nach dem Tosen des Mahlstroms herrschte eine große Stille, gestört nur durch das Weinen und das Rauschen des Windes.

Colt kam nicht heraus.

Der Keller hatte einen Boden aus gestampfter Erde. Cold lag dort auf dem Rücken, das Gesicht von Schmutz und Schweiß gezeichnet. „Komm doch und ho mich,“ flüsterte er.

Er scharrte den Erdboden auf, er versuchte sich eine Grube zu graben, um sich hineinzukauern. Die Nägel brachen, seine Finger begannen zu bluten. Sie schmerzten. Er sehnte sich nur noch nach Ruhe.

Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Ein Seil lag in einer Ecke. Er hob es auf, warf ein Ende über einer der Bohlen des Küchenbodens. Knarrend gab der Boden nach, Stück für Stück. In fünf Minuten…

Als sich das Seilende senkte, band er es rasch zu einer Schlinge zusammen, fest und sicher. Gerade hoch genug, um ….

Dann wuchtete und rollte er ein Faß mit Nägeln darunter. Er steig darauf. Hier war die Fluchtmöglichkeit. Er griff nach der Schlinge.

Der Wind riß ihm den Strick aus den Fingern. Irgendwie hatte es eine Windbö Zugang zum Keller verschafft, und ließ das Seil nur wild kreisen.

„Gib es her! Gib das Seil her!“ Colt bemühte sich , das wild umhertanzende Hanfseil zu erhaschen. Aber der Wind riß es außer Reichweite und ließ es im Zickzack hin und her baumeln. Es schnappte danach – es flog fort, kam zurück, schlug ihm ins Gesicht, und war wieder fort.

Verzweiflung. Cold haschte, fluchte, haschte erneut. Die Zeit wurde knapp. So wenig Zeit zur Flucht. Ein Griff. Daneben. Und …

Er bekam das Seil zu fassen. Der Wind ließ nach. Als hätte er nur ein Spiel gespielt. Er wartete. Colt fragte sich wozu. Aber er nutzte den Moment und zog sich die Schlinge über den Kopf.

“Du bekommst mich nicht lebend! Du bekommst meine Lebenskraft nicht!“ schrie er. „Ich entkomme dir – ich entkomme dir – Jetzt!“

Er sprang nach vorn, trat das Faß weg. Das Seil spannte sich summend und schnürte ihm die Kehle zusammen.

„Ich habe gewonnen!“ jubelte es in seinem verlöschenden Bewußtsein. „Ich habe gewonnen!“

Aber im gleichen Augenblick gab der Balken, über den das Seil lief, unter Colts Gewicht nach und gab dem Wind den Weg frei.

Der Balken brach, der Küchenboden stürzte ein. Colt stürzte zu Boden, stürzte der Länge nach hin und wurde vom Staub erstickt.

“Verdammt noch mal! Also gut!“ Er stemmte sich wutentbrannt hoch. „Du hast gewonnen. Hier hast du mich!“ Der Wind heulte …

* * *

“Die Leitung ist tot, Sir.“

„Vermittlung – sind Sie da sicher? Ich bin mitten im Gespräch unterbrochen worden.“ Herb Thompson legte den Hörer auf, lehnte sich an der Schreitisch und schüttelte den Kopf. „Ich verstehe es nicht. Kein Sturm. Vielleicht ein bißchen Wind, aber …“ Er nahm seinen Mantel von einem Sesel und warf ihn über. „Ich denke, ich fahre nach zu Colt und schaue nach dem Rechten. Er hat sich sonderbar angehört. Aber so ist er nun mal. Viellicht ist er ja gerade auf dem Weg hierher, mit einer seiner Spinnereien. Er kann jeden Moment auftauchen.“

Herb Thompson zögerte. Es stand da, unschlüssig, den Hut in der Hand. Es klopfte leise an die Haustür. „Was?“ Er schreckte auf und lauschte. Das Klopfen kam erneut. „Wer klopft denn um diese Zeit … ?“

Thompson eilte aus dem Arbeitszimmer in den Flur, blieb stehen und lauschte aufmerksam. „Hmm…“ Von draußen war ein leises Lachen zu hören. „Natürlich.“ Herb mußte grinsen. „Diese Lachen ist unverkennbar. Das ist Colt. Die Leitung ist unterbrochen, und er kann nicht bis morgen früh warten, um mir von seinen Spinnereien zu erzählen.“ Er kicherte, als er zur Haustür ging. „Gut, daß er jetzt da ist. Da schienen noch mehr zu lachen. Hört sich an, als ob er noch ein paar Bekannte mitgebracht hat.“

Thompson öffnete die Haustür.

“Komm rein, Colt!”

Die Veranda war leer.

Thompson war nicht überrascht; seine Miene verzog sich amüsiert. „Colt? Laß den Quatsch! Komm rein.“ Er schaltete die Verandabeleuchtung an und schaute sich um. „Wo steckst du, Colt?“

Keine Antwort.

Thompson wartete einen Moment. Ihm wurde eiskalt. Er trat auf die Veranda und sah sich aufmerksam um.

Eine plötzliche Windbö erfaßte ihn, riß an seinem Mantel, zerwühlte ihm die Haare. Wieder glaubte er Gelächter zu hören.

Der Wind verstummte, melancholisch, zog davon, wehte fort, weit hinaus aufs Meer, nach Celebes, nach Nairobi, nach Sumatra und Kap Hoorn. Leiser, immer leiser und leiser lachend.

Thompson zuckte die Achsel. Er ging ins Haus zurück und schloß die Tür. Ihm war kalt.

„Merkwürdig.…“ sagte er.



(Joe Mugnaini: Kolorierte Umschlagzeichnung für die Taschenbuchausgabe von "The October Country," Ballatine Books, 1961. Die gleiche Umchlagzeichnung für die gebundene Erstausgabe von 1955 war im Zweifarbendruck gehalten.)

* * *



(Ill. von. A. R. Tilburne)

Im Gegensatz zu „The Women“ gehört „The Wind“ tatsächlich zu den zwei Dutzend Erzählungen, die Ray Bradbury während seiner „literarischen Gesellenzeit“ im „Weird Tales“ veröffentlicht hat. Dort erschien der Text im März 1943 als sein zweiter Beitrag zum „einzigartigen Magazin“ nach „The Candle“ im November 1942. In Buchform wurde sie in seiner ersten Sammlung von Erzählungen, „Dark Carnival“ nachgedruckt, im Mai 1947 bei Arkham House erschienen, in der Auflagenhöhe von 3118 Exemplaren. Einerbreiteren, nicht auf das Horrorgenre spezialisierte Leserschaft, wurde sie durch die Sammlung „The October Country,“ 195 bei Ballantine Books erschienen, in die gut die Hälfte der 27 Erzählungen aus dem ersten Band – in veränderter Reihenfolge – auf genommen wurden. In Erinnerung ist „The October Country“ nicht zuletzt durch die Illustrationen von Joseph Mugnaini (1911-1991) geblieben, der seit „The Golden Apples oft he Sun“ (1953) so etwas wie der Stammillustrator Bradburys wurde und dies bis zu dem Jugendroman „The Halloween Tree“ (1972) blieb.



(Weird Tales, März 1943. Das Bild stammt von E. Franklin Wittmack (1894-1956)

„The Wind“ ist fast auf den Monat genau 18 Jahre nach Frank Owens Story vom „Wind, der die Welt durchstreift“ im selben Magazin erschienen. Natürlich speisen sich literarische Texte vor allem aus den Einfällen ihrer Autoren und den gängigen Varianten der Themen, die die behandeln. Und man sollte das Fährtenlesen nicht übertreiben. In der englischsprachigen Literaturkritik gibt es den Ausdruck „Fluellenismus“ den Richard Levin 1974 geprägt hat, nach dem Hauptmann Fluellen in Shakespeares Königsdrama „Henry V,“ dem es evident scheint, daß König Heinrich ein leiblicher Nachkomme Alexanders des Großen ist: der erste ist in der englischen Grafschaft Monmouth geboren, der andere in Mazedonien. In beiden gibt es Flüsse, und in beiden Fällen Lachse (4. Akt, Szene 7). Bingo! So wiederholt sich die Geschichte. Und selbst wenn man wie ich durch einer frühe Lektüre von John Livington Lowes‘ „The Road to Xanadu“ (1928) vorbestraft ist, in denen dieser anhand der Lektürelisten von Samuel Taylor Coleridge bis ins kleinste nachweisen kann, welche Details und mythischen Schauerfiguren in „The Rime of the Ancient Mariner“ sich der verwilderten Lektüre Coleridges in den Jahren 1796-1978 verdanken, ist es ratsam, nicht vorschnell von einer Übernehme auszugehen.

Aber wenn bei Bradbury vor einem Ort in Tibet die Rede, der bei Owen „zwischen den Berggipfeln des Himalaja“ liegt, an dem „von Zeit zu Zeit alle großen Winde der Welt versammeln,“ dann erlaube ich mir eine Vermutung, was Bradbury in diesem Fall als Anregung gedient haben dürfte. Ansonsten die die beiden Texte ja von ihrer Anlage her grundverschieden.

Ein kleines Beiseit: E. Franklin Wittmack, von dem das Titelbild der Ausgabe von WT stammt, in dem „The Wind“ erschienen ist, hat nur zwei Titelbilder für das Journal abgeliefert: dieses und für die Ausgabe vom Juli 1943. Ansonsten war er eher in der gehobenen Gebührenklasse für Magazine wie „Argosy“ und „Slicks“ wie die Saturday Evening Post tätig. Aber diesem Fundstück, als im April 1933 Titel von „Popular Mechanics Monthly“ erschienen, konnte ich nicht wiederstehen. Wie man auf gut Deutsch sagt: They don’t make ‚em like that anymore.



Wobei mir an dieser Stelle natürlich einfällt, daß vor 3 Tagen auf Java der Merapi, der „gefährlichste Vulkan der Welt“ ausgebrochen ist und daß es dort zu einem pyroklastischen Lavastrom gekommen ist. (Diesen Ruf verdankt dieser Feuerberg nicht nur seinem häufigen Ausbrüchen, bei denen es oft solchen Flüssen kommt, sondern auch der Tatsache, daß bei den seismischen Messungen unter dem Berg bei der Eruption von 2006 eine Magmakammer unter dem Berg nachgewiesen werden konnte, die gut dreimal so viel Lava enthält, wie bei Ausbruch des Tambora im Jahr 1815, dem größten nachgewiesenen Vulkanausbruch der letzten zehntausend Jahre, in die Atmosphäre geschleudert worden sind.) Aber das ist eine andere Geschichte. Und auch ein anderes Element.

Zum Abschluß noch einige Werke, mit den Mugnaini das Werk von Ray Bradbury in Szene gesetzt hat:



("The Martian Chronicles")



("Modern Gothic," 1952)



U.E.

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