20. März 2023

Vom großen Wind - Kurt Kusenberg, "Der große Wind" (1948)



Die Insel mitten im Fluß, samt dem stattlichen Haus, das man in der Gegend „das Schloß“ nannte, und den reichen Gärten war mein Erbe. Ich hatte lediglich eine Familie hinzugebracht, die Frau und drei Kinder. Mehrten oder verzehrten wir den Besitz? Ich glaube, wir erhielten ihn – falls er sich nicht selbst erhielt, denn er war gleichermaßen schön und nützlich angelegt, ein rechtes Mustergut, das sich nur mit Gewalt herunterwirtschaften ließ.

An den steilen Hängen des Flußtales wuchsen Reben. Was dort je besonders wohlgeraten war hatten meine Vorväter in die Weinkeller eingelagert, die sich unter der ganzen Insel hinzogen. Selbst wenn ich gesoffen hätte wie ein Bürstenbinder, wäre ich des ungeheuren Bestandes zeitlebens niemals Herr geworden. Das gab mir Rückhalt, denn ich trinke gern, der Reichste konnte sich nicht sicherer dünken als ich.

Um die Zeit, die alles so äh veränderte, sprach und schrieb man viel über einen neuen, furchtbaren Wind. Von anderen Winden weiß man, wie sie entstehen, wessen sie fähig sind und wohin ungefähr sie sich wenden; von diesem wußte man es nicht. Viele nannten ihn den Weltwind, um auszudrücken, wie unheimlich er ihnen sei. In Asien hieß er Kadharta, in Amerika Sizzon, in Afrika Turdusi. Wir Europäer gaben ihm so viele Namen, wie wir Sprachen haben. Es verlautete, er sei eisig und von tödlicher Gewalt, nichts widerstehe ihm, alles zerstöre er oder reiße es mit sich fort, nur Trümmer lasse er zurück. Das Arge war, daß man ihn immer und überall fürchten mußte. Er kam auf, er sprang um, wie es ihm beliebte. Hatte er gestern in Korea gewütet, so fegte er heute durch Spanien; er reiste geschwinder als jeder andere Wind. Manche meldeten, er verdunkle das Firmament und dröhne tief wie eine Orgel; andere behaupteten, ihn begleite ein hoher, pfeifender Ton. Nun, ich sollte ihn gründlich kennenlernen.

An einem freundlichen Maitag war ich in die Kellereien hinabgestiegen, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich eben ergründen wollte, welchem von zwei trefflichen Weinen der Vorzug gebühre, vernahm ich ein Sirren, das schrill anschwoll und in den Ohren schmerzte; zugleich fiel die Kellertür zu. Obwohl die Gewölbe tief unter der Erde lagen, zitterten sie, als schreite ein Her von Riesen darüber hin. Wo immer ein Schacht oder Spalt aus dem Keller nach oben führte, ward Luft hineingepreßt, in kurzen, bösen Stößen. Da wußte ich, daß der Große Wind in unser Flußtal gekommen war.

19. März 2023

Vom großen Wind - Gustav Meyrink, "Das grüne Gesicht" (1916)



Ein großer Atem weht
durch diese kurze Zeilen.
Er weht von rechts, <===
er weht von links, ===>
um euch dies mitzuteilen:
„Ich blas‘ hier alles krumm und schief,
weil mich ein Gott dazu berief.
Ist Gott von Max und Moses.
gez. Atem, großes.“

(Robert Gernhardt)



Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht (Auszug)

Vierzehntes Kapitel

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Trotz der frühen Stunde war die Luft heiß und trocken wie vor einem Gewitter.

Eine atembeklemmende Windstille verlieh der ganzen Gegend etwas unheimlich Leichenhaftes; die Sonne hing wie eine Scheibe aus blindem, gelbem Metall hinter dichten Dunstschleiern, und weit im Westen über der Zuidersee brannten Wolkenmauern, als sei es Abend statt Morgen.

In ungewisser Angst, zu spät zu kommen, kürzte er den Weg ab, wenn es nur irgend ging, schritt bald querfeldein, bald auf den menschenleeren Straßen dahin, aber es schien, als wolle die Stadt nicht näherrücken.

Allmählich mit dem wachsenden Tag veränderte sich das Bild des Himmels; hakenförmige, weißliche Wolken krümmten sich wie gigantische Wurmleiber auf dem fahlen Hintergrund, von unsichtbaren Wirbeln gepeitscht, hin und her, – immer an derselben Stelle bleibend: – kämpfende Luftungeheuer, die der Weltenraum herabgesandt.

16. März 2023

"Weird Tales" - Ray Bradbury, "Der Wind" (1943)





(Ill. von Joe Mugnaini für "The October Country," Ballantine Books, 1955)

John Colt war wach und lauschte…

Das Mondlicht, das durch das große, dreifach unterteilte Dachfenster im Obergeschoß des Hauses in sein Zimmer drang, fiel über sein scharfgeschnittenen Gesichtszüge.

Weit draußen in der Nacht blies der Wind, und Colt bewegte die Lippen, während er ihm zuhörte; hörte ihm zu, wie er sich verstohlen aus Richtung des Meers unbeirrt auf das Haus zubewegte.

Er zitterte, die Haare sträubten sich ihm, und er bekam eine Gänsehaut. Er wußte, warum ihm derart zumute war. Nach zehn Jahren konnte er sich nichts anderes vorstellen.

Er wußte, daß der Wind zu ihm kam – er schlüpfte aus dem Bett, streifte mit zitternden Händen einen Morgenmantel über, fand seine Filzpantoffeln und ging nach unten, um die Ankunft abzuwarten.

Er ging zum Telefon und dachte: „Darauf habe ich gewartet. Zu Anfang in aller Ruhe. Neugierig und gespannt. Ich war mir über das meiste gewiß. Aber ich weiß nicht, wie viel ich noch aushalten kann. Ich verliere den Mut, dann gewinne ich ihn wieder, und dann verliere ich ihn erneut.“

Seine Hand zitterte, als er die Nummer wählte. „Hallo – Herb? Hier spricht Colt.“

“John? Wie gehts dir?“

„Nicht so gut. Und ich habe dummerweise heute dem Dienstpersonal freigegeben. Ich bin allein…“

Während er sprach, lauschte er. Die Entfernung dämpfte die unheimliche Musik des Winds. Sie wurde lauter.

13. März 2023

"Weird Tales" - Frank Owen, "Der Wind, der die Welt durchstreift" (1925)





Die kleine Stadt der großen Winde liegt oben auf dem Dach der Welt, zwischen den öden, sturmumtosten Gipfeln des Himalaya, als wenn sie von der Hand eines zornigen Riesen dorthin geschleudert worden wäre. Man kann sich kaum einen trostloseren Ort vorstellen, oder einen Flecken, der noch mehr dem Wüten der Elemente ausgeliefert ist.

Nach seiner Ankunft in der Stadt hatte John Steppling zunächst keinen Schlaf finden können. Es war, als wenn er sich in einer anderen Welt befände, in einem Land aus Wolken und ziehenden Schatten, in dem jeder Atemzug Mühe machte und jede körperliche Anstrengung fast unmöglich war. Er fühlte sich leer, wie ein Behältnis unter immensem Druck von außen, das jeden Moment kollabieren konnte. Nachts, wenn er zu den Sternen aufblickte, schien es ihm, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um sie vom Himmel zu pflücken wie Blumen aus einem duftenden Garten. Der Himmel war von solcher Klarheit, daß ihm der Atem stockte, obwohl vielleicht die dünne Luft in jedem Fall den Atem abgeschnürt hätte.

Er war durch Zufall während einer Forschungsreise in Nordindien in die Stadt gekommen. Er hatte nicht vorgehabt, dort länger als einen Tag zu bleiben, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, sie zu verlassen. Etwas, das er nicht genau benennen konnte, hielt ihn dort fest.

Die meisten der Einwohner waren so arm wie Kirchenmäuse – sogar noch ärmer, denn zum Wohnen dienten ihnen nur die primitivsten strohbedeckten Lehmhütten. Sie fristeten ihr Leben als Hirten und hüteten kleine Herden von mageren, kränklichen Schafen und Ziegen, die der karge, halb gefrorene Boden kaum ernähren konnte. Sie waren schmutzig, unwissend und stur. Wasser war knapp, und sie verschwendeten es nicht; statt zu baden, rieben sie sich mit Fett ein, was zudem den Vorteil hatte, daß es sie wärmte. Es verlieh ihnen auch einen schlechten Geruch, aber für Menschen, die nichts von den angenehmen Düften kennen, nach, die ihre Nachbarn im Süden so hoch schätzen, spielte das keine Rolle.

11. März 2023

J. D. Beresford, "Die Mächte der Luft" (1917)



Ich ahnte die Gefahr, die ihm drohte. Er wußte so wenig, und der lange Aufenthalt in der Stadthatte ihn die Fähigkeit, etwa zu sehen, gekostet. Ein blindes Vertrauen ist der Anfang aller Weisheit, aber den Stadtmenschen ist ihr Bücherwissen zu Kopf gestiegen, und das Lesen hat die ihnen klare Sicht des Geistes genommen.

Ich begann ihn zu Anfang Oktober zu warnen, wenn sich die Sturmwinde hoch oben am Himmel austoben. Dann sind sie noch harmlos: sie zerren an den Dachpfannen und Schindeln und verschwenden ihre Kraft damit, die Bäume zu zerzausen, aber wir sind sicher, bis das Dunkel kommt.

Ich nahm ihn mit hinaus auf die Stoppelfelder und drehte ihn so, daß er mit dem Rücken zum dünnen schwarzen Band der See in der Ferne stand. Ich wies auf die Krähen, die wie aufgewirbelte Blätter am Himmel flatterten.

„Es ist jetzt soweit,“ sagte ich. „Die schwarze Zeit kommt.“

Er stand da und sah den wild flatternden Krähen zu. „Soll das ein Spiel sein?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Sie gehören dem Dunkel an, “sagte ich zu ihm.

Er schenkte mir einem nachsichtigen Blick. „Noch so ein Aberglauben von euch.“

10. März 2023

"Der Mann, der Fliegen haßte" - Zum 150 Geburtstag von J. D. Beresford



Seine Frau macht sich über seine einzige Schwäche lustig. Alle seine geduldigen, streng wissenschaftlichen Erklärungen über den Schaden, den Fliegen anrichten und die Krankheiten, die sie verbreiten, konnte sie nicht davon überzeugen, daß es sich hier um mehr als nur seiner Exzentrizitäten handelte. Sie gehörte zu denen Frauen, die nichts von der Wissenschaft halten, obwohl ihr Gatte von Beruf Wissenschaftler war und es in einigen Jahren mit Sicherheit zu einer Berühmtheit bringen würde, denn er konnte ganz und gar in seiner Arbeit aufgehen. Sein ansehnliches Vermögen erlaubte es ihm, sich ganz dieser Arbeit zu widmen, was er auch zwölf Stunden am Tag tat.

„Du bist viel zu sehr darauf aus, die Welt zu verbessern,“ sagte Madame Aumonier oft zu ihrem Mann. „Mir gefällt sie so, wie sie ist. Und was die Fliegen betrifft, die dich so stören, kannst du sicher sein, daß die Versehung bestimmt aus einem guten Grund geschaffen hat. Kümmere dich einfach nicht mehr darum.“

„Das kann ich nicht,“ sagte Professor Aumonier in solchen Fällen. „Ich kann sie nicht ertragen.“

In seinem Labor war er vor ihnen sicher; er sorgte mit geradezu wissenschaftliche Akribie dafür, daß sie keinen Zugang fanden. Aber sieben oder acht Monate im Jahr vergällten sie ihm den Rest seiner Tage, und er beklagte sich, daß es seiner Gesundheit abträglich war und seine Arbeit darunter litt.

Wenn er zum Mittagessen kam, immer noch ganz auf seine Arbeit konzentriert, wurde ihm die Anwesenheit seiner Peiniger bewußt. Oft war die Mütze, die er die meiste Zeit im Haus trug, verlegt (er hatte seit zehn Jahren eine Glatze, obwohl er erst siebenunddreißig war), und sein weißer runder Schädel schien die Fliegen unwiderstehlich anzuziehen. Selbst wenn er ihn bedeckte, fand er keine Ruhe. Die Viecher setzten sich auf Gesicht und Hände, oder begannen dicht vor seinen Ohren unter lautem Brummen mit wilden Luftkämpfen. Ihre Dummheit konnte einen zur Verzweiflung treiben, sie ließen sich vom wilden Gefuchtel mit dem Taschentuch in keiner Weise beeindrucken, sie mißachteten seine Würde, sie waren frech und schienen seine Wut nicht einmal wahrzunehmen.

5. März 2023

"Der Orchideengarten" / "Weird Tales" - Zwei Strandgeschichten





Esaias, der vorsage, sprichet da unde sagt:
"Sirene unde tiuvale screchen in ir husen."
von der bilde Phisiologus zelt unde sprichet, daz si totfuorgiu tier sint.

Si sint von dem houbet unz den nabele also wip gescaffene,
danne unze an die fuozze nidene getan sam die vogele.
si singet ein sanch, heizzet Musica, da mit beswichent si die scefman.

So die vergen si gehorent, ir sinne si dar cherent.
von ir suozzem sange entslaffent si danne
iso varent si dei tier an, unde e si erwachen, so zerbrechent si si gar.

- Der Millstätter Physiologus (um 1200), „Von den tieren, die da heizzent Sirenen unde onocenthauren“)



28. Februar 2023

Ein Himmelsschauspiel





(Nordlicht am 27. Februar 2023 über dem Mont St. Michael; Aufnahme von Michel Corisier)

Eins muß ich neidlos zugeben: wer immer höheren Ortes für die Regie der tatsächlich hoch über unseren Köpfen stattfindenden Son-et-Lumière-Inszenierungen am nächtlichen Himmel verantwortlich zeichnet, er (oder sie oder es – I’m not assuming their gender, wie man neuerdings auf Deutsch sagt), gibt sich seit Anbruch des Jahrs 2023 alle Mühe, den Erdlingen wirklich beeindruckende Lightshows zu präsentieren. Nachdem ich vor 12 Tagen, m 16. Februar, an dieser Stelle über die Feuerkugel geschrieben habe, die – mit mehreren Stunden Ansage – 3 Tage vorher die Nacht über dem Ärmelkanal kurzfristig zum Tag gemacht hat, um einen Tag später auf die nahe Begegnung zwischen den beiden hellsten Planeten Venus und Jupiter verwiesen habe, die in diesen Tagen unübersehbar gleich nach Sonnenuntergang des Himmel im Westen beherrscht, ist es in der vergangenen Nacht über ganz Norddeutschland – auch hier im Münsterland zu einem weiteren Himmelsschauspiel gekommen, das in unseren Breiten, fast 40 Grad südlich des Nordpols, wirklich Seltenheitswert besitzt: zum Auftreten eines Nordlichts, das nicht anders als „spektakulär“ zu bezeichnen ist.



(Aurora Australis, 27. Februar 2023 übr Neuseeland; Aufnahme Ian Griffin)

24. Februar 2023

Wenn sich die Geschichte reimt





„Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ Mark Twain


„Wie immer, so habe ich auch hier versucht, auf dem Wege friedlicher Revisionsvorschläge eine Änderung des unerträglichen Zustandes herbeizuführen.“ (Adolf Hitler, Erklärung der Reichsregierung vor dem Deutschen Reichstag, 1. September 1939)

„Хорошо известно, что на протяжении 30 лет мы настойчиво и терпеливо пытались договориться с ведущими странами НАТО о принципах равной и неделимой безопасности в Европе.“ (Влади́мир Пу́тин, 24 февраля 2022 года)

„Es ist eine Tatsache, daß wir in den letzten 30 Jahren geduldig versucht haben, mit den führenden NATO-Staaten zu einer Einigung über die Grundlagen einer gleichen und unteilbaren Sicherheit in Europa zu gelangen.“ (Wladimir Putin, Fernsehansprache vom 24. Februar 2022)

Zeitmarke: Vor 100 Jahren erschien mit "Weird Tales" das erste Genre-Magazin





(Oktober 1933; Titelbild von Margaret Brundage für die erste Folge von "The Vampire Master")

„Ein solches ist das ‚Unheimliche.‘ Kein Zweifel, daß es zum Schreckhaften, Angst- und Grauenerregenden gehört, und ebenso sicher ist es, daß dies Wort nicht immer in einem scharf zu bestimmenden Sinne gebraucht wird, so daß es eben meist mit dem Angsterregenden überhaupt zusammenfällt.“ (Sigmund Freud, „Das Unheimliche,“ Imago, H. 5/6, 1919)


Auf den Tag genau läßt es sich nicht mehr ausmachen, aber wenn man die angekündigten Erscheinungsdaten in den nachfolgenden Nummern ansieht, dann muß es in den Tagen kurz vor oder nach dem Sonntagabend des 18. Februar 1923 gewesen sein, als an die Zeitungs- und Magazinkioske der Vereinigten Staaten die erste Ausgabe eines neuartigen Magazins ausgeliefert wurde, das es in dieser Form bislang nicht gegeben hatte und dessen Zuschnitt bis heute auf dem Gebiet des spekulativ-phantastischen Erzählens prägend nachwirkt: „Weird Tales,“ das sich im Untertitel als „das einzigartige Magazin“ (The Unique Magazine) vorstellte, mit der Datumsangabe „März 1923.“ Für den verhältnismäßig hohen Preis von 25 Cent – was auf heutige Kaufkraft umgerechnet ungefähr 4,5 US-Dollar entspricht, wurden dem Leser, der sich von dem recht ungelenk und wenig ansprechendem Titelblatt von R. R. Epperly nicht abschrecken ließ, dem wurden auf den folgenden 190 doppelspaltig bedruckten Seiten im für ein „Pulp-Magazin“ echt kleinen Format von 15 mal 23 Zentimetern nicht weniger als 26 Geschichten aus dem Bereich geboten, den Herausgeber Edwin Baird in seiner knappen Anmoderation so umriß:

Horrorerzählungen, oder „Gänsehaut-Geschichten“ werden von den meisten Herausgebern für gewöhnlich abgelehnt – egal wie interessiert sie auch seine mögen. Sie sind der Ansicht, daß sie der Leserschaft nicht gefallen. Wir sind anderer Ansicht. Wir glauben daran, daß es Tausende – vielleicht Hunderttausende – von aufgeweckten Lesern gibt, die eine Gänsehaut zu schätzen wissen. Von daher: „Weird Tales“

Jede Geschichte in dieser Ausgabe von WEIRD TALES stellt einen bemerkenswerten Höhepunkt menschlicher Phantasie dar: einige befassen sich mit Schrecken, andere handeln meisterhaft „verbotene“ Themen wie Wahnsinn, einige mit dem Übernatürlichen und andere mit dem Schrecken der wirklichen Welt. Ein Ausbruch aus den gewohnten Pfaden – das ist der Grund für WEIRD TALES.


Und dieses – zugegeben recht schemen- und geisterhafte – Programm versuchten Baird und seine beiden Nachfolger als Herausgeber einzulösen, die das „Magazin, das niemals stirbt“ schließlich nach 279 Ausgaben im September 1954 sein Ende fand – in einem Jahr, als bereits mehr als die Hälfte der 46 Millionen US-amerikanischen Haushalte über einen Fernseher verfügten und dieser neue „magische Kanal“ (Marshall McLuhan) für die hunderte von bunten und anspruchslosen Groschenheftreihen aller Gattungen das Aus als Trägermedium bunter und seichter Unterhaltung bedeutet hatte. (Die „Pulps“ waren nicht das einzige Opfer dieser Entwicklung: in den 1960er folgten ihnen die sogenannten „Slicks,“ die auf Hochglanzpapier gedruckten Journale von „Collier’s Magazine“ oder die „Saturday Evening Post“.)

18. Februar 2023

UFO über dem Yukon





I.

Ein Nachtrag zu den „geheimnisvollen Flugobjekten“ im Luftraum der Vereinigten Staaten, in deren Rahmen am 4. Februar vor der Küste des Bundesstaats North Carolina ein als zweifelsfrei identifizierter chinesischer Höhenballon abgeschossen wurde – und auf den an folgen Wochenende zwischen dem 10. Und 12. Februar im Zeitraum von 48 Stunden drei weitere Abschüsse folgten – ohne daß bislang Trümmer geborgen worden sind oder definitiv von offizieller Seite bestätigt wurde, um was es sich dabei gehandelt haben mag, weil sie die Trümmersuche in den tief verschneiten Gebirgsgegenden als schwierig erwiesen hat. Am vorigen Freitag wurde „ein Objekt in der Größe eines Kleinwagens“ an der Nordküste Alaskas mit einer Sidewinder-Luft-Luft-Rakete in der Nähe der Siedlung Deadhorse getroffen; am Samstag ein weiters, das als „kleiner silbiger Zylinder beschrieben wurde, im Yukongebiet nahe der kanadisch-amerikanischen Grenze, und am Sonntag eine drittes über Montana, über der Flüche des Huron-Sees. Alle „UFOs“ bewegten sich in einer Höhe von gut 40.000 Fuß, also 12 Kilometern, und zeigten nach den Pressemitteilungen keine eigenständige Manövrierfähigkeit. (Ich möchte an dieser Stelle betonen, daß ich dieses Kürzel strikt in seiner eigentlichen Bedeutung verwende, als Abkürzung für ein „Unidentified Flying Objekt,“ also ein Fluggerät, dessen Identität nicht geklärt ist. Daß es sich um Sendboten außerirdischer technisch hochentwickelte Zivilisation handeln könnte darf nach allem, was wir über unsere galaktische Nachbarschaft, die Gültigkeit der Naturgesetze besonders in Bereich der Physik und das jetzt seit 75 Jahren anhaltende Medienphänomen „Fliegende Untertassen“ wissen, mit hauchdünn an die absolute Gewißheit andockende Wahrscheinlichkeit ausschließen. Natürlich lassen sich negative Befunde nicht „endgültig beweisen,“ aber die Probabilität der „ET“-Hypothese dürfte sich auf annähernd 0,00000000001 Prozent belaufen.

Zumindest für das mittlere dieser Objekte, über dem klassischen Goldrausch-Bezirk des Yukon, dürfte die Identität seit gestern geklärt sein. Aller Wahrscheinlichkeit handelt(e) es sich dabei nämlich um einen sogenannten „Piko-Ballon,“ einen gut einen Meter im Durchmesser messenden Funkballon einer Amateurvereinigung von Luftfahrtbegeisterten, der Northern Illinois Bottlecap Balloon Brigade, also der „Kronkorken-Ballonbrigade aus Nord-Illinois“ (abgekürzt NIBBB), die gestern auf der Webseite ihrer Klubs bekannt gab, daß sie einen ihrer Ballons vermißt, weil der Ballon mit der Funkkennung K9YO-15 seit dem 10. Februar kein Peilzeichen mehr gesendet hat – zu einem Zeitpunkt, als seine Position und seine Höhe recht gut mit den Koordinaten des rätselhaften Objekts übereinstimmte.

16. Februar 2023

Beschuss aus dem All





Ich bleibe bei astronomischen Themen, und wie bei meinem letzten Beitrag ist der Anlaß ein aktuelles Ereignis – und wie gestern ist der Grund, warum ich diesen Text nicht „zeitnah“(also vor zwei Tagen) geschrieben habe – ein denkwürdiges Jubiläum. Der unmittelbare Anlaß ist der Meteorit, der in den frühen Morgenstunden am Montag, dem 13. Februar 2023, nicht weit noch Le Havre über den englischen Ärmelkanal als Feuerkugel explodiert ist. Und die Verschiebung um zwei Tage leitet sich aus der Tatsache her, daß heute genau vor zehn Jahren, am 15. Februar 2015, über der russischen Stadt Tscheljabinsk im Ural der größte Meteorit explodiert ist, der die Erde seit dem Einschlag in der Steinernen Tunguska im Juni 1908 getroffen hat. Der Meteorit von Tscheljabinsk war auch der einzige „Treffer aus dem All“ bislang, der tatsächlich zu größeren Schäden geführt hat. Aber der Reihe nach.

I.

Für Schüler und Journalisten gilt seit gut 10 Jahren die Dienstanweisung: nicht aus Wikipedia abschreiben (auch nicht als längeres Zitat). Ich erlaube mir an dieser Stelle einmal eine Ausnahme von diesem Prinzip, dessen Zweck natürlich darin liegt, daß der Schreiber den Inhalt dessen, was er dort kopiert, auch tatsächlich vorher einigermaßen verstanden hat. Aber der Eintrag zu „2023 CX1,“ wie die offizielle Bezeichnung dieses gut einen Meter großen Brockens seit Montag lautet, mutet derart nach dem Drehbuch eines Hollywoodfilms der pyrotechnischen Gebührenklasse an, daß er verdient, hierhergesetzt zu werden – auch wenn er, wie die Formel aus einem anderen Filmgenre lautet, „die Wahrheit, die schlichte Wahrheit und nichts als die Wahrheit“ darstellt.

14. Februar 2023

Eine Himmelsbegegnung





(Venus und Jupiter am westlichen Abendhimmel. Aufnahme von Stephen Harley in Punta Mala, Costa Rica, am 12. Februar 2023)

Der Satz, daß man mit Vorhersagen vorsichtig sein soll, besonders, wenn sie die Zukunft betreffen, wird zumeist Mark Twain zugeschrieben – oder wahlweise dem dänischen Physiker Niels Bohr oder Yogi Berra (es gibt auch, passenderweise, eine Zuschreibung an Nostradamus). Ungeachtet der ungeklärten Vaterschaftsfrage ist der Wahrheitsgehalt dieses Mems evident. Und für konkrete Wettervorhersagen gilt dies in noch weit höherem Maß. Auf Supercomputer können für einen Zeitraum, den mehr als fünf Tage in er Zukunft liegt, höchstens noch einen allgemeinen Trend ermitteln, und für den Blick um eine Woche dürfte Lesen im Kaffeesatz treffsicherer sein. (Der Fachausdruck dafür lautet übrigens Tasseographie, oder im Arabischen قراءة الفنجان / qirāʾat al-finjān, bei dem nach Mustern oder Ähnlichkeiten zu Buchstaben gesucht wird – Lettern, die in der linken Hälfte des Bodensatzes erkannt werden, gelten als negative, in der rechten Hälfte als positive Antworten.) Dennoch wage ich einem die Voraussage, daß das Wetter in 15 Tagen, am Nachmittag und frühen Abend des 1 März 2023, in dem Teil des nördlichen Münsterland, in dem ich dies hier schreibe, ein ausgesprochenes Sauwetter sein wird – wenn nicht ganztägig verregnet, so doch trübe und wolkenverhangen.

Der Grund für diese Zuversicht ist schlicht. Am Mittwoch in zwei Wochen kommt es nämlich am westlichen Abendhimmel zu einer höchst sehenswerten scheinbaren Begegnung zweier heller Planeten, die in diesen Wochen den Anblick des Abendhimmels kurz nach Sonnenuntergang beherrschen und die – bei klarem Himmel – nicht zu übersehen sind. Schon gleich nachdem die Sonne unter den Horizont gesunken ist – heute war dies um 17:39 der Fall , fallen dort zwei helle Sterne auf; man braucht dazu gar nicht erst das Ende der „bürgerlichen Dämmerung“ 25 Minuten später abzuwarten, bei der sich das Tagesgestirn 6 Grad unter dem Horizont befindet, schon gar nicht das Ende der „astronomischen Dämmerung“ gut zwei Stunden später, vor der Astronomen nicht an ihr Tagewerk gehen, wenn diese Winkel auf 18 Bogengrad angewachsen ist. (Zur Definition der bürgerlichen Dämmerung gehört es, daß man zu dieser Zeit im Freien noch eine Zeitung lesen kann. Für Leser, die die Lektüre per App auf dem Telefon bevorzugen, gilt dies natürlich nicht. Aber der technische Fortschritt hat ja neben der klassischen Zeitungslektüre auch den Bürger, den Bourgeois, entsorgt.)

Mehr Berlin wagen

Aufgrund des Fiaskos der Berlin Wahl und seiner Neugestaltung am vergangenen Wochenende (ohne das sich dort viel ändern wird), kommt mal der eine oder andere Gedanke zu Berlin in den Sinn. Beispielsweise die Initative "Berlin Autofrei", die zwar zunächst vom Senat ausgebremst wurde, aber die immerhin knapp 60.000 Unterstützer in Berlin gefunden hat. Oder das direkt dazu passende grüne Regierungsprogramm das bis 2030 die Hälfte aller Berliner Parkplätze "aufgelöst" haben will und bis 2035 ein Verbrennerverbot über Berlin legen will (bzw. praktisch schon hat). Oder Berliner Richter, die Klimaklebern "zu 90% zustimmen" und sie deshalb für Straftaten zu Geldstrafen verurteilen, die kaum einem Ordnungsgeld entsprechen. 

13. Februar 2023

John Munro, "Wie ich den Nordpol entdeckte" (1894)





"Was ist der Nordpol?" fragte Puh.
"Dunmer alter Bär!" sagte Christopher Robin. "Der Nordpol ist etwas, das entdeckt werden muß."
(A. A. Milne, Puh der Bär, 1926)

John Munro, "Wie ich den Nordpol entdeckte"

(Jules Verne gewidmet)

„Es ist möglich, und England sollte es tun!“

Das war der Titel eines Bildes eines bekannten Malers, das zu der Zeit, als wir unsere letzte Nordpolar-Expedition unter Kapitän Nares (jetzt Sir George) unternahmen, in der Öffentlichkeit für Aufsehen sorgte. Das Bild zeigte einen alten „Seebären,“ der von einer Karte der arktischen Regionen aufschaute und seinen Gefühlen mit diesen Worten Ausdruck verlieh, die aus dem tiefsten Herzen eines Volkes kamen, das mehr als jedes andere auf der Welt daran gesetzt hat, die großen Eiskappen unsere Welt zu erforschen. Sicher, es gab manche, die das Erreichen des Pols für ein kindisches und nutzloses Unterfangen hielten, oder es zumindest vorgaben, verglichen mit der wissenschaftlichen Erforschung der umliegenden Küstenregionen.

Beim Pol handelt sich mur um ein rein abstraktes Konzept, sagten sie, was macht es schon, wenn Kapitän Nares ihn nicht erreicht, wenn er zur Kenntnis der Geographie des Polarmeers beiträgt?

Vielleicht war es ihnen ja ernst damit – aber das Argument klang wie der Versuch, ein mögliches Scheitern kleinzureden. Wie dem auch sei, die allgemeine Öffentlichkeit, die nicht so gelehrt war, interessierte sich mehr für das Abenteuer als für die Wissenschaft. Sie hofften, daß unseren Seefahrern dieses Unternehmen gelingen würde und sie die englische Flagge auf dem obersten Punkt der Welt aufpflanzen würden. Und was würde dagegen sprechen?

11. Februar 2023

Kurt Karl Doberer, "Wunder im Mond" (1926)



Seit einigen Minuten hatte die Richtantenne auf dem breiten Rücken meines Thermopanzers das Peilzeichen nicht mehr bekommen - ich stellte am Chronometer den Minutendurchgang fest, um mich dann im Kreise zu drehen. Aber der Summer blieb stumm. Lager Acht schickte die regelmäßige Serie von Stromstößen nicht.

Beunruhigt drehte ich meinen Kopf in der Plastikkappe und preßte den Mund an die Sprechzelle. Daß dieser leichte Druck genügt hatte, meinen Sender einzuschalten, das zeigte das leise schnarrende Geräusch der Membranen. Hören mußten sie mich doch wenigstens.

„Hallo – Hallo.“ Ich sprach etwas rauh und aufgeregt. „Hallo – Hier Dalton – Hallo.“

Es schien jedoch alles in Ordnung zu sein.

Kaum wartete ich ein paar Sekunden, so meldete sich schon eine tiefe, ruhige Stimme:

„Hallo, hier Lager Rakete Acht.“

Ich konnte, wie immer, nicht unterscheiden, ob es Mellton selber, oder ob es Maier war. „He,“ fragte ich, „was ist mit dem Peil -?“

„Das Peilzeichen läuft eben wieder an,“ schnitt mir die Stimme den Satz ab. Dazwischenreden war gegen alle Regeln. Aber so war eben Maier. „Kontakt war hängen geblieben,“ fügte er erklärend hinzu. „Automatisch ist eben -“

10. Februar 2023

Eine Wahl unter Vorbehalt. Habt Ihr se noch alle?

Dieser Autor ist wirklich in einer begnadeten Zeit groß geworden: Poltiker hatten noch Angst um ihren Ruf, wenn es einer zu derb trieb, dann musste er tatsächlich zurück treten, die Presse begriff sich als Korrektiv und nicht als Handlanger der Politik und die Gerichte versuchten den Eindruck von Rechtsstaatlichkeit zu wahren. 

Letzteres wird von einigen Richtern immer noch versucht, aber es ist sicher schwer, wenn man unter dem Zerrbild leben muss, das das derzeitige Bundesverfassungsgericht darstellt. Der neueste Gag (und zur Abwechslung mal nicht aus der Feder des alternativlosesten Verfassungsrichters der aller Zeiten, Harbarth) ist die Idee eine Wahl unter Vorbehalt zu stellen. Und so wird die Wiederholung der Berliner Wahl am kommenden Samstag stattfinden. Unter Vorbhehalt. 

John Munro, “Sonnenaufgang auf dem Mond“ (1894)



I.

Ich bin allein und sitze auf einem Felsen, aber ich weiß nicht, wo. Es ist Nacht, und der Himmel über mir wirkt seltsam. Es fehlen der strahlende Mond und die schimmernden Wolken; kein Planet leuchtet dort wie eine goldene Laterne, kein Stern funkelt wie ein lebendiges Juwel in den blauen, klaren Tiefen des Äthers.

Ich sehe nur die gewaltige schwarze Kuppel des Himmels über mir, sie wirkt fast solide und mit schwachen blauen Lichtpunkten übersäht. Es ist ein toter Himmel, und er erinnert mich an die Tiefen eines Bergwerks, in der es von Totenlichtern glüht. Ringsherum umgibt mich eine Dunkelheit, die absolut wäre, wäre da nicht das matte Glitzern des Sternenlichts auf dem weißen, gefrorenen Boden. Nirgendwo ist etwas Lebendes zu sehen, eine furchtbare Stille herrscht hier, kein Luftzug streift meine Wangen, und die Kälte ist strenger als am Pol.

Plötzlich schießt ein prächtiger Meteor über den Himmel; sein Kopf flammt grün und blau auf, und seine Leuchtspur sprüht vor Flammen. Er schien ganz in der Nähe einzuschlagen, denn ich konnte den Aufprall und das Prasseln der aufspritzenden Steintrümmer hören. Einige Zeit später folgte ein zweiter, und ich fing an, mich um meine eigene Sicherheit zu sorgen, als ein seltsamer Lichtschein in der Ferne meine Aufmerksamkeit auf sich zog. Ein blauweißes Glühen begann sich in der Dunkelheit zu zeigen, fast wie ein Nordlicht. Zuerst war es nur schwach auszumachen, aber dann wurde es langsam heller, größer und deutlicher.



Zugleich bemerkte ich, daß es um mich herum heller wurde. Türme und Gipfel aus uraltem Granit begannen sich, vom gleichen blauen Leuchten berührt, in der Schwärze abzuzeichnen. Es war, als würde der Tag über einer Bergkette anbrechen, wäre das nicht dieser blaue Schimmer des Lichts gewesen und die anhaltende Schwärze des Himmels.

Das Leuchten in der Ferne begann die Form einer Sichel anzunehmen – aber nicht die der Mondsichel, denn sie erstreckte sich waagerecht, nicht senkrecht. Außerdem konnte ich jetzt nicht nur einen, sondern mehrere Flecken und Sicheln des blauen Glanzes ausmachen, die sich bald zu Ringen auswuchsen in der Dunkelheit zu schweben schienen wie Inseln und Riffe aus Purpur in einem uferlosen Meer aus flüssigem Pech.

8. Februar 2023

Anmerkungen zu einer Rede.

Ja, es ist "Humor". Ja, es ist eine "Büttenrede". Karneval darf alles. Und Humor sowieso. Und wer darüber nicht lachen kann, ist einfach humorlos. Oder muss zum Lachen in den Keller gehen. Es ist so ziemlich die Standardverteidgung schlechthin, wenn irgendetwas, was die linke Republik goutiert, mal wieder so unter die Gürtellinie gegangen ist, dass selbst dem einen oder anderen versprengten Mitglied der politischen Mitte die Augenbraue hochgeht.

7. Februar 2023

Das geheimnisvolle Luftschiff





Oder: „Schi Tschin Ping und sein Wolkenklipper im Land der Großen Ebenen“

Back at base, bugs in the software
Flash the message: “Something's out there!”
Floating in the summer sky
Ninety-nine red balloons go by

Panic bells: it's Red Alert!
There's something here from somewhere else!
The war machine, it springs to life
Opens up one eager eye
Focusing it on the sky
As ninety-nine red balloons go by

Neunundneunzig Düsenflieger
Jeder war ein großer Krieger
Hielten sich für Captain Kirk
Das gab ein großes Feuerwerk!
Dabei schoss man am Horizont
Auf neunundneunzig Luftballons

28. Januar 2023

Wenn woke nicht woke genug ist. Anmerkungen zu einer Witzfigur.

Es ist wie bei einem blutigen Verkehrsunfall: Man möchte eigentlich nicht hinsehen, man möchte die Bilder nicht im Kopf haben, man will eigentlich nur weiter gehen, und doch sieht man hin, man sieht die Bilder und man bekommt sie nicht mehr als dem Kopf. Genauso geht es mir, wenn ich die neuesten Eskapaden von "Prinz" Harry wahrnehme, der jetzt mit der Veröffentlichung seiner Autobigraphie einen erneuten Tiefpunkt seiner von Tiefpunkten gesäumten Entwicklung zugesetzt hat. 

26. Januar 2023

James Blish, "Z. K."



„Ich habe den Beweis, daß wir einen Aufschub gewährt bekommen haben,“ erklärte Lord Rogge, an niemanden Bestimmtes gerichtet. „Einen handfesten Beweis.“

Wir hatten in der Bar des Orchideenklubs die Abendnachrichten verfolgt – je nach Temperament entweder entweder angespannt oder resigniert. Jetzt, während die Welt am Abgrund stand, hätte man denken sollen, daß eine solche Ankündigung zumindest auf einiges Interesse treffen würde. Falls Rogge den gleichen Satz vor der Presse geäußert hätte, wäre er in keine halben Stunde apäter über die ganze Welt verbreitet worden.

Was nur wieder zeigt, daß die Welt den alten George nicht genügend kennt. Nach einiger Zeit im Orchideenklub war es uns nicht mehr möglich, ihn für einen der Weltweisen zu halten. Sicher, er ist einer der größten Mathematiker, die die Welt je gesehen hat, aber bei allen anderen Themen kann man darauf wetten, daß er sich restlos blamiert. Die meisten von uns konnten sich schon denken, was für eine Art „Aufschub“ er meinte, und wie sein „Beweis“ aussehen würde – nur eine Menge esoterischer Nonsens.

„Worum geht’s diesmal, George?“ fragte ich. Jemand muß ihn beii solchen Gelegenheiten beiseite nehmen, sonst hört er nicht auf, den Rest von uns zu stören. Diesmal war ich an der Reihe.

„Einen Beweis,“ sagte er, als er neben mir Platz nahm. „Ich habe eine großartige Frau in Soho aufgetrieben – sie kann kaum ein Wort schreiben oder lesen, sie hat keine Ahnung, mit was sie es zu tun hat – aber, Charles, sie hat eine direkte Verbindung zum Überirdischen, so klar und deutlich, wie ich das noch nie gesehen haben. Ich hab‘ den Beweis bei mir.“

22. Januar 2023

Eine Schande für Deutschland





Herr Bundeskanzler!

Ich verkneife mir ausdrücklich, bei dieser Anrede die übliche Form zu wahren. Nach Ihrem gestrigen Auftritt beim Treffen der Ukraine-Kontaktgruppe in Ramstein sträubt sich in mir alles, Ihnen einen höflichen Gruß wie „Sehr geehrter Herr Bundeskanzler…“ oder „Lieber Olaf Scholz…“ hierherzusetzen. Dazu müßte ich zumindest ein Minimum an Respekt, nicht vor Ihrem Amt, sondern vor Ihnen als Amtsträger aufbringen können.

Ich habe nicht ernsthaft erwartet, daß Sie der Lieferung von Leopard-2-Panzern an die Ukraine zustimmen würden – auch wenn etwa Julian Röpcke von der BILD-Zeitung auf Berufung auf sichere Quellen in hohen Kreisen der Bundesregierung im Vorfeld der Tagung eine Chance „von 90 Prozent“ dafür ausgemacht hatten. Zu offen, zu hartnäckig haben Sie Ihre kategorische Verweigerungshaltung in den letzten Monaten ein um das andere Mal zu erkennen gegeben. Wieder und wieder waren Sie sich nicht zu schade, neue Ausreden zu erfinden, die sich sofort als haltlos oder, schlimmer, als glatte Lügen erwiesen haben.

Aber mit ihrer gestrigen Haltung haben Sie auch weiterhin verhindert, daß andere Staaten, die in der Lage wären, der Ukraine Leopard-Kampfpanzer zur Verfügung zu stellen, dies auch tun können. Das war der Knack- und Angelpunkt des gestrigen Treffens. Ein Dutzend deutscher Leopard werden an der Front im Osten der Ukraine keine Wende des Kriegs herbeiführen; die gut 200 in Deutschland gefertigten Modelle, die andere Armeen zur Verfügung stellen könnten, sehr wohl.

Ich übersehe nicht, daß Deutschland mittlerweile bei der Bereitstellung von anderem Rüstungsmaterial durchaus in führender Position liegt. Aber bis Ihre Regierung Gepard, Marder, Iris-T oder PATRIOT geliefert hat, war es ein zähes, elendes, unwürdiges Zögern, Verzögern, Hinhalten, über Monate hinweg, ein Zögern, das nur der russischen Seite genutzt hat und den Krieg nur verlängert hat.

20. Januar 2023

Zeigt her euren Arm

Vor etlichen Jahren, als Amazon noch nicht 24/7 die Wohnzimmer mit Waren flutete, gab es den etwas platten Begriff des "Sonntagseinkäufers". Damit waren die Herren der Schöpfung gemeint, die ihren weiblichen Hälften die schönsten Dinge zu kaufen versprachen. Aber eben nur am Sonntag, wo die Geschäfte dummerweise halt zu sind.

Das Konzept selber ist natürlich sehr viel tragender: So gibt es (nicht nur in Deutschland) Millionen von Flüchtlings- und Asylbegeisterten. Zumindest so lange das nicht vor der eigenen Haustür oder mit dem eigenen Geld bezahlt werden muss. Als Ron De Santis im letzten Jahr ein paar Dutzend Flüchtlinge nach "Marthas Vineyard" (sozusagen das amerikanische "Blankenese") einfliegen liess, waren die innerhalb von weniger als 24 Stunden wieder weggeschafft worden. Und als vor sieben Jahren in Deutschland die großzügig abgeschlossenen "Flüchtlingspatenschaften" auf einmal nicht mehr dem Steuerzahler sondern den großzügigen Privatpersonen in Rechnung gestellt werden sollten, war das Geschrei auch plötzlich enorm groß. So war das ja nicht gemeint. 

Vom Leben in der Simulation. Nachtrag





„Con alivio, con humillación, con terror, comprendió que él también era una apariencia, que otro estaba soñándolo.“

- Borges, “Las ruinas circulares” (1940)

I.

So schnell kann es gehen.

Gestern nacht habe ich in meinem letzten Beitrag geschrieben, was dafür spricht, daß die „Wirklichkeit,“ die wir um uns herum wahrnehmen, die „Welt,“ nur eine Simulation ist, und woran man das erkennen kann. Und ich habe ausgeführt, warum mir das Datum des 28. Juni, und besonders des 28. Juni 1971, als der bislang schlagendste Hinweis für diese These erscheint.

Ich muß mich korrigieren.

Ich habe die letzten Passagen des Textes weit nach Mitternacht geschrieben und den Beitrag um 3 Uhr 29 ins Netz hochgeladen. Danach habe ich den Rechner ausgeschaltet und die einmal am Tag fällige Auszeit von der Wirklichkeit (oder „Wirklichkeit“) genommen. Und als ich heute Mittag den Rechner wieder hochfuhr, was der erste Eintrag, der mir auf meiner Twitter-Timeline eingespielt wurde, dieser, gepostet 41 Minuten nach meinem Beitrag:



Jim O'Shaughnessy@jposhaughnessy
Curiouser and Curiouser...
“Are We Living in a Computer Simulation, and Can We Hack It?”
4:10 AM · Jan 19, 2023

Offenbar reagiert die Matrix ziemlich zeitnah.

19. Januar 2023

28. Juni 1971. Vom Universum und seinen Erben



I.

Vor einem guten Monat habe ich an dieser Stelle im Zug meiner Begleitung des ersten Flugs des neuen Mondlandeprogramms der NASA die Tatsache erwähnt, daß es der Zufall will, daß bei den beiden anstehenden Artemis-II und Artemis-III Missionen, bei denen zum ersten Mal seit einem halben Jahrhundert wieder Menschen der Erdtrabanten umrunden und wieder auf ihm landen werden, die Chance, daß jemand mit dem Namen McLane an Bord eines Raumschiffs namens „Orion“ dabei ist – ganz wie auf den Patrouillenflügen am Rand der Unendlichkeit im Jahr 1966 - bei 1:2 liegt. Nun neigt man als in der Wolle gefärbter Skeptiker ja dazu, so etwas für einen netten, aber bedeutungslosen Zufall zu halten, der sich irgendwann einmal ergeben muß. Ein Beispiel solcher Launen des Zufalls rahmt etwa Ausbruch wie Ende des Ersten Weltkriegs ein. Der Doppel-Phaeton der Firma Gräf & Stift, in dem am 28. Juni 1914 (ich komme auf das Datum zurück) der österreichische Thronfolger und Franz Ferdinand und seine Gattin Sophie in Sarajewo den Schüssen des Attentäter Gavrilo Princip zum Opfer fielen, trug das Kennzeichen A111 118. Wenn man das „A“ fortläßt und nur die Zahlen liest, ergibt sich 11-11-18: das Datum, an dem im Wald von Compiegne die Kapitulation des deutschen Heeres unterzeichnet wurde.



Erst bei einer bedenklichen Häufung solcher „Reimereien“ beschleicht einen der leichte Verdacht, die Antwort auf die Frage, die der englische Philosoph Nick Bostrom vor jetzt 20 Jahren im Titel seines mittlerweile notorischen Aufsatzes gestellt hat -„Leben wir in einer Simulation?“ – womöglich doch „Ja“ lautet. („Are You Living in a Computer Simulation?“ Philosophical Quarterly, Bd. 53, Nr. 211, S. 243 bis 255). Der Verdacht – oder besser: die Hypothese – die von unseren Sinnen vermittelte „Wirklichkeit“ könnte nichts als eine Illusion sein, reicht in der Philosophiegeschichte natürlich weiter zurück – zum englischen Philosophen und Geistlichen George Berkeley (als Dr. Johnsons Adlatus James Boswell bei einem Spaziergang erklärte, der Gedankengang des Bischofs von Cloyne sei zwar nicht überzeugend, aber nicht zu widerlegen, versetzte Johnson einem Feldstein am Weg Rand einen derben Tritt und erklärte: „I refute it THUS!“), und bis zu John Locke, der im Jahr 1690 das wohl erste Gedankenexperiment im Sinne Albert Einsteins in die Welt entließ: ein Gehirn, das von Körper getrennt in einer Nährlösung am Leben gehalten würde und dem Sinneseindrücke durch Nervenreizung „eingespielt“ würden, wäre nicht in der Lage, diese von einer empirischen Wirklichkeit zu unterscheiden.

16. Januar 2023

Wann ist die Grenze erreicht? Ein Gedankensplitter.

Der Staat kann durchaus schnell durchgreifen, wenn er denn will. Beispielsweise wenn es gegen Corona-Demonstranten geht, deren Verbrechen darin besteht mit Polizisten aneinander geraten zu sein, wie beispielsweise hier. Da geht es dann auch sehr schnell und sehr deutlich, von der Festnahme zum Urteil in einem Tag. Wobei man zur Ehrenrettung der Justiz sagen muss, dass sie nicht nur Regimekritiker schnell bestrafen kann, sondern auch echte Chaoten ab und zu fix verurteilt, so lange diese kein politisches Motiv haben (den  Querverweis auf die Berliner Justiz sei an der Stelle dem Leser als Übung überlassen). Auch hart kann der deutsche Staat ab und zu mal hinlangen, wenn auch mit ähnlicher Schlagseite: Während in Berlin die Silvester-Täter schon nach Stunden auf freiem Fuß gesetzt wurden, so sitzt Michael Ballweg, seines Zeichens eben auch Regierungskritiker, seit mehr als einem halben Jahr in Untersuchungshaft, mit einer Anklagedrohung, von der selbst die Richter nicht so recht wissen, was er eigentlich verbrochen haben soll. Und wenn man halt nicht so richtig auf Kurs ist, dann reicht unter Umständen schon das tausendfache Ausstellen von Maskenattesten dazu aus, ohne Bewährung ein paar Jahre gesiebte Luft zu atmen (ganz im Unterschied zu Messerstechern, die in Düsseldorf auch dann noch Bewährung bekommen, wenn ihr Opfer "nur" fünf Liter Blut verloren hat). 

12. Januar 2023

#Panzerwende



Der polnische Präsident Andrzej Duda hat heute nachmittag um 14 Uhr bei einem treffen mit seinen Amtskollegen aus der Ukraine, Wolodmyr Selenskij und aus Litauen, Gitanas Nausėda, der Ukraine fest zugesagt, ihr zur Verteidigung gegen die russischen Invasoren „ein Bataillion Kampfpanzer des Typs Leopard 2“ zur Verfügung zu stellen. Eine Stunde später erfolgte aus London die Zusage, man habe sich auch zu diesem Schritt entschlossen und werde MBTs (im offiziellen NATO-Jargon für „Main Battle Tanks“ stehend) des Typs Challenger 2 bereitstellen, die seit 1994 das Rückgrat der englischen Landstreitkräfte darstellen. Von der Menge auf den Straßen von Lviv ist Duda heute „wie ein Rockstar“ gefeiert worden.



Im zweiten Fall wurden keine genauen Zahlen genannt, man kann aber davon ausgehen, daß es sich auch hier um 10 bis 14 Panzer handelt. Diese „nackten Zahlen“ mögen sich auf den ersten Blick nicht besonders eindrucksvoll ausmachen, etwa, wenn man im Hinterkopf behält, daß die russische Armee bis heute, dem 11. Januar, nach den Angaben des ukrainischen Verteidigungsministeriums 3094 verloren hat. Allerdings täuscht ein solcher Eindruck. Es handelt sich hier um die modernsten und schlagkräftigsten Modelle, die der Westen in seinen Armen einsetzen kann – und die entscheidende Funktion solcher Panzer auf dem Schlachtfeld ist der Einsatz im Rahmen einer Offensive an der Spitze nachrückender Infanterie und unter ausreichender Luftunterstützung. (Der völlig unzureichenden Luftunterstützung auf russischer Seite ist es zu verdanken, daß seit Monaten, seit April, keine ihrer Offensiven einen nennenswerten Erfolg zu verzeichnen hatte.) Die russische Armee kämpft seit dem Sommer an der Frontlinie im Donbass einen Stellungskrieg; die Linien weichen ohne nennenswerte Geländegewinne ein paar Kilometer vor oder zurück; große Abschnitte auf dem linken Ufer des Dnipro und im Nordteil der Krim sind seit dem Herbst zu einem Verteidigungsnetzwerk aus Schützengräben und Panzersperren ausgebaut und – geschanzt worden, eine Konsequenz daraus ist, daß die russische Armee nicht in der Lage sein dürfte, eine wirksame Offensive zu führen, während die Fernwaffen der ukrainischen Seite, wie etwa die HIMARS, bei Geländegewinnen durchaus in der Lage wären, die russische Logistik (etwa Kommandozentralen und Magazine) gezielt unter Beschuß zu nehmen, wie es seit September immer wieder der Fall ist, und die russischen Nachschublinien zu unterbrechen.

8. Januar 2023

"Die Zukunft glaubt an uns"



Liebe FDP,

Da habt ihr nun, nach zwei Jahren Pause durch COVID-19, am Freitag, dem Dreikönigstag, euer traditionelles Dreikönigstreffen im Stuttgarter Opernhaus hinter euch gebracht. Zum einen als der seit Jahrzehnte übliche Start, daß die Pause zwischen den Jahren vorbei ist: die traditionellen zwölf Rauhnächte vorüber und nun der übliche Drehbühnenzauber mit Akklamationen und Slots in den Prime-Time-Medien (wie man im Deutschen sagt) wieder von neuem beginnt – nicht zuletzt als nötige Erinnerung, daß es die Partei auch noch gibt – und nicht nur ihre Vertreter im Ministeramt oder die Bundestagsfraktion. Business as usual (wie man im Deutschen sagt). Mit den üblichen Reden voller irgendwie wohlklingender, aber inhaltsfreier Phrasen, die seit Jahrzehnten beliebig ausgetauscht werden können und schon vergessen sind, bevor sie vom Teleprompter abgelesen werden. Same old, same old (wie man im Deutschen sagt). Und nicht zuletzt als ein öffentlich zelebrierter Auftritt, daß wir jetzt auf Maskenball und Abstandsmessungen im Freien mit dem Zollstock verzichten können.

Liebe FDP, genau solche Rituale waren es, die dazu geführt haben, daß ich auch schon vor 20 Jahren, als ich noch einen Fernseher besaß, solche Zeremonien ebenso ignoriert habe wie die Stunksitzungen anderer Karnevalsvereine. Ganz läßt sich dergleichen im Zeichen der sozialen Medien, die Rundfunk und Fernsehen als Informationsquelle ersetzt haben, nicht außer Sichtweite halten. Und deshalb habe ich auch die Plakate gesehen, auf denen das Motto zu lesen war, unter das ihr dieses Treffen gestellt habt:

„Die Zukunft glaubt an uns.“

5. Januar 2023

Randnotizen der Hoffnung: Die Sache mit der Impfung



Wenn man zuviel in liberalen Kreisen unterwegs ist (und Zettels kleines Zimmer ist ein Paradebeispiel), dann beobachtet man oft in jüngeren Jahren eine zunehmende Tendenz zur Resignation, teilweise bis in die Depression. Der Siegeszug der verschiedenen linken Strömungen der letzten Jahre, manifestiert in der Regierung Merkel und nun fortgesetzt in der bald noch schlimmeren Regierung Scholz, hat so vieles zerstört, was wir für selbstverständlich und richtig gehalten haben, dass selbst Optimisten manchmal der Blick in die Zukunft schwer fällt. 

2. Januar 2023

2022, die Fahrt geht weiter und die Lockführer machen mehr Dampf. Ein Gedankensplitter. In zwei Teilen. Teil 2.

Wie bewertet man nun das Jahr 2022? Nun, vor einem Jahr sprach ich davon, dass 2021 vermutlich das schlimmste Jahr der BRD gewesen ist und diese Einschätzung ist mit aller Sicherheit auch ein Jahr später immer noch korrekt. War nun 2022 besser als das Vorjahr? 

1. Januar 2023

"Дорогі українці! " Die Neujahrsansprache des ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskij





(Der Präsident der Ukraine, Wolodymyr Selenskij, hat sich gestern Nacht, gute zwanzig Minuten vor dem Ende des alten Jahres, in einer Fernsehansprache an die Bürger der Ukraine gewendet. Man kann nicht genug daran erinnern, daß es immer noch das erklärte Kriegsziel der russischen Invasoren ist, die staatliche Existenz der Ukraine auszulöschen, daß dieses Volk und diieser Staat im Kampf um seinen eigenständige Existenz, um seine Freiheit steht. Und es steht wohl auch fest, daß Selenskijs Vorbild, seine Haltung und sein persönlicher Mut ihm für das 21. Jahrhundert den Rang einräumen, wie sie im Zweiten Weltkrieg Winston Churchill zugekommen ist. Der Krieg wird auch weiterhin das entscheidende und alles bestimmende Ereignis des jetzt begonnenen Jahres sein. Aus diesem Grund habe ich mich entschlossen, Selenskijs Ansprache an seine Landsleute, an die Bürger der Ukraine, als ersten Beitrag des Jahres 2023 für "Zettels Raum" in voller Länge zu dokumentieren - im ukrainischen Original und in deutscher Übersetzung. Слава Україні! - U.E.)

Liebe Ukrainer!

Dieses Jahr begann am 24. Februar. Ohne Vorwarnung und Auftakt. Plötzlich, früh am Morgen, um vier Uhr.

Es war dunkel; es war laut. Es war für viele schwer und furchtbar. Seitdem sind 311 Tage vergangen. Es kann für uns immer noch dunkel, laut und schwierig sein. Aber wir werden niemals wieder Angst haben. Und wir werden uns nicht dafür schämen.

Es war unser Jahr. Das Jahr der Ukraine; das Jahr der Ukrainer.

Als wir am 24. Februar geweckt wurden, wachten wir in einem anderen Leben auf. Wir waren ein anderes Volk, dieses Land war eine andere Ukraine. Die ersten Raketen haben die Verblendungen zerstört. Wir haben erkannt, wer auf welcher Seite steht; wozu unsere Freunde und wozu unsere Feinde fähig sind – und vor allem: wozu wir selbst fähig sind.

Am 24. Februar haben Millionen von uns eine Wahl getroffen. Wir haben uns nicht für die weißte Fahne entschieden, sondern für die blau-gelbe. Wir haben uns nicht zur Flucht entschlossen, sondern dazu, uns dem Feind entgegenzustellen, Widerstand zu leisten und zu kämpfen.

Die Explosionen vom 24. Februar haben uns wachgerüttelt. Seither haben wir nichts anderes mehr gehört. Und wir hören nicht auf das, was andere uns raten. Man hat uns gesagt: ihr habt keine Wahl, als euch zu ergeben. Wir sagen: wir haben keine Wahl außer zu gewinnen.