24. September 2023

OSIRIS-REx





(Künstlerische Darstellung der Probenentnahme von OSIRIS-Rex am. 20. Oktober 2020)

Während der ersten Jahrzehnte des Raumfahrtzeitalters, die mit dem Höhepunkt der Popularität der Psychoanalyse nach Sigmund Freud in den Vereinigten Staaten zusammenfielen, gab es nicht nur dort, sondern im gesamten Westen unter „kritischen Köpfen,“ denen der „Aufbruch ins All“ als eine weitere, fatale Manifestation von „männlichem Dominanz- und Eroberungsstreben“ galt, neben der Mahnung, man möchte sich doch lieber der irdischen Probleme annehmen, auch stets die durchaus nicht satirisch gemeinte Sicht auf die Raketen, die auf einer Feuersäule in den Himmel stiegen, ganz im Sinn der freud’schen Symbolik aufzufassen. Poul Anderson (1926-2001), einer der langgedienten Veteranen unter den amerikanischen Science-Fiction-Autoren, beklagte sich in Brian Ashs „Visual Encyclopedia of Science Fiction“ (1977), dem ersten Kompendium, das die Darstellungen und Illustrationen der Themen des Genres zusammenfaßte, in seiner Übersicht zu „Starships and Space Drives“ über „die Mode unter den Intellektuellen, jedes Raumschiff als Phallussymbol zu verhöhnen“: die Raketenstufen als künstliche Erektionen und die Nutzlast an Satelliten oder bemannten Raumkapseln als der (männliche) Samen, der die toten Weiten des Als befruchten soll. Am grellsten ist diese bewußt vulgäre Travestie in der letzten Kurzgeschichte von Kurt Vonnegut, „The Big Space F**k,“ gehalten, die er für Harlan Ellisons ebenso bewußt provokanter Anthologie „Again, Dangerous Visions“ (1972) verfaßt hat, und in Thomas Pynchons auf 800 Seiten aufgeblasenem Pennälerulk „Gravity’s Rainbow“ ( vor einem halben Jahrhundert, im Februar 1973, bei The Viking Press erschienen), dessen Antiheld Slothrop im London des „Blitz“ im Herbst 1944 genau an jenen Orten zum Orgasmus gelangt, an denen wenige Stunden später eine deutsche V2 einschlagen und explodieren wird. (In Vonneguts Titel steht ein „four-letter word,“ dessen Verwendung sich seinerzeit noch auf hektographierte Untergrundpostillen beschränkte.)

14. September 2023

Der grüne Komet





Komet Nishimura am 8. September 2023



"Ich bin heute morgen aufgewacht, bevor es hell wurde," sagte Bob Starr. "Ich weiß nicht, was mich geweckt hat. Aber ich konnte nicht wieder einschlafen. Als ich aus dem Fenster sah, bemerkte ich etwas Neues am Himmel - bloß einen kleinen grünen Fleck. Er befand sich im Sternbild Jungfrau, nahe dem Stern Vindemiatrix. Er war nicht sehr groß. Aber er war mir ein Rätsel. Und während ich dort lag, überfiel mich eine schreckliche Vorahnung. Es war, als ob mich ein furchtbares Auge aus dem Weltraum anstarren würde. (...) Aber es ist kein Stern. Er ist zu unscharf, um eine Nova zu sein. Und außerdem zeigt kein Stern solch eine merkwürdige hellgrüne Farbe. Vielleicht ist es ein Komet - aber jeder Komet hätte längst von den großen Observatorien draußen im Weltraum in der Schwerelosigkeit entdeckt werden müssen."


So beginnt der zweite Teil von Jack Williamsons Trilogie um die „Weltraumlegion,“ die „Legion of Space,“ mit dem Titel „The Cometeers,“ dessen Vorabdruck im Mai 1936 im Magazin „Astounding Stories“ (damals noch unter der Herausgeberschaft von F. Orlin Tremaine) anlief. Williamson legt sich nicht fest, in welchem Jahrhundert seine archetypische Space Opera spielt – nur daß die Menschheit vor kurzem einen überlichtschnellen Antrieb erfunden und als erstes Barnards Stern erreicht hat. Aber auch für uns, die wir uns kalendarisch eher in der Nähe der Star-Trek-Universums befinden, wo der erste Einsatz des Warpantriebs durch Zephram Cochrane am Donnerstag, dem 5. April 2063 stattfinden wird (so die Festlegung im achten Spielfilm de Serie, „First Contact“ von 1996 [*]) ist die en passant erfolgte Erwähnung der „big gravity-free observatories out in space“ keine Science Fiction mehr, sondern nüchterner Science Fact (als 1960 Tremaines Nachfolger John W. Campbell Jr. den Titel des Magazins von „Astounding Stories“ zu „Analog“ änderte, fügte er „Science Fact and Fiction“ als Untertitel hinzu). Zwar sind es nicht die Weltraumobservatorien wie das James Webb Space Telescope und Hubble, die mit anderen Beobachtungsprogrammen rund um die Uhr ausgelastet sind – aber von den bislang 37 Kometen, die im laufenden Kalenderjahr 2023 entdeckt worden sind, geht dies bei 15 davon auf eines der beiden Teleskope des Pan-STARRS-Programms zurück, die seit 2018 automatisch von Haleakala-Observatorium auf Maui, der zweitgrößten Insel von Hawaii, den Himmel nach Objekten durchmustern, die im Lauf einiger Stunden ihre Position leicht verändern – Asteroiden und Kometen eben. Seitdem das erste 1,8-m-Spiegelteleskop des (…holt tief Luft…) „Panoramic Survey Telescope and Rapid Response System“ im Dezember 2008 seinen Betrieb aufgenommen hat, hat das Programm fast 6000 Asteroiden neu entdeckt (davon im Februar 2011 19 in einer einzigen Nacht) – darunter am 28. März 2023 einen „zweiten Mond der Erde“ – ein Objekt mit gut 20 Metern Durchmesser mit der offiziellen Bezeichnung 2023 FW13 – allerdings ist die in den Medienmeldungen verwendete Bezeichnung des „zweiten Monds“ irreführend [**]. Der kleine Himmelskörper kreist nicht um Mutter Erde, sondern umläuft die Sonne in fast der gleichen Umlaufbahn und sich ihr dabei bis auf 14 Millionen Kilometer nähern. Nach den Berechnungen der Bahn tut er dies etwa seit dem Jahr 100 v. Chr., um das Jahr 3700 werden die Störeinflüsse der Sonne zu einem Ende dieses kosmischen Synchronschwimmens führen. Astronomen sprechen in einem solchen Fall von einem „Quasisatelliten.“ 2023 FW13 ist der fünfte solche Beinahe-Trabant der Erde, der bislang aufgefunden worden ist; der Asteroid 2003 YN107, der von 1996 bis 2006 eine solche Umlaufbahn beschrieben hat und sie ab dem Jahr 2066 wieder einnehmen wird, wird möglicherweise bei der größten Annäherung an die Erde im Jahr 2120 so von ihrer Schwerkraft abgelenkt, daß er tatsächlich, praktisch-faktisch, zu einem zweiten Erdmond wird.

3. September 2023

Die Affäre Söder

Söder hat sich jetzt "großzügigerweise" dazu entschlossen seinen Koalitionspartner Hubert Aiwanger nicht zu entlassen. Die Entlassung sei "nicht verhältnismäßig". Was übesetzt nichts anderes bedeutet, dass die Wetterfahne Söder inzwischen gemerkt hat, dass ihm das Ding selber um die Ohren fliegt und er zusehen muss, dass er so schnell wie möglich Land gewinnt, bevor er den freien Wählern noch mehr Stimmen zuschiebt. Bei der deutschen Presse kann er sich darauf verlassen, dass die selbst einem CSU Chef nie so unangenehme Fragen stellen wird, wieso er nach einer Woche zu dieser Entscheidung kommt, wo sich die Faktenlage ja nun nicht geändert hat. Merkel musste auch immer erst abwarten, was in der Presse stand, bevor sie die Dinge "vom Ende her" dachte.

22. August 2023

Wettlauf zum Mond





(TIME Magazine vom 19. Januar 1959. Das Titelbild stammt von Boris Artzybasheff. Den Wettbwerb um die ersten Bilder von der bis dahin nie gesehenen Rückseite des Mondes gewann die Sowjetunion, deren Sonde Luna-3 am 7. Oktober insgesamt 17 Photos der Mondrückseite.)

Coda. Das Ende der Geschichte zuerst.

Wie es am Sonntag sämtliche Nachrichtenkanäle rund um die Welt gemeldet haben und wie es die russische Raumfahrtbehörde Roskosmos vorgestern morgen um 10 Uhr 47 Mitteleuropäischer Sommerzeit offiziell bestätigt hat, ist das bizarre (und ungeplante) „Wettrennen zum Mond“ zwischen der indischen Mondsonde Chandrayaan-3 und ihrem russischen Pendant Luna-25 am Samstagmittag vorzeitig zu Ende gegangen. In meinem letzten Beitrag zum Thema an dieser Stelle habe ich damit geendet, „[ein] Auge darauf werfen, ob nicht auch diese Ausflüge nur mit zwei weiteren Trümmerfeldern am Südpol des Mondes enden“ (Zettels Raum vom 10. August). Diese flapsige Bemerkung hat sich leider als Prophetie erwiesen. Eingeleitet wurde dieses Ende durch das Kommando zur Zündung des Hauptriebwerks, durch das der Lander von seiner kreisförmigen Umlaufbahn in 100 km Höhe über der Mondoberfläche auf einen Orbit abgebremst werden sollte, der ihn bis auf 18 Kilometer während der größten Nähe absenken sollte. Von dort sollte heute, am 21. August, die Landung nicht weit vom Mondsüdpol entfernt erfolgen. Nachdem der Funkbefehl um 14:10 Moskauer Zeit (13:10 MESZ) von der Bodenkontrolle Центр управления полётами (oder kurz „TsUP“) an der Pionerskaja Ulitza in Koroljow, gute 20 Kilometer südlich der Moskauer Stadtgrenze an den Lander gefunkt wurde, soll es nach Angaben von Insidern, die gestern in russischen sozialen Medien zitiert wurden, zu einer Schubleistung des Treibwerks gekommen sein, die um 50 Prozent über dem vorgesehenen Wert lag. Durch diese viel zu hohe Abbremsung wurde die Sonde auf eine Bahn gebracht, deren Periselenum (oder größte Annäherung an den Mittelpunkt des Mondes) unterhalb der Oberfläche lag. Eine Dreiviertelstunde und einen halben Mondumlauf später zerschellte der 1,7 Tonnen schwere Lander um 14:57 MESZ, 7 Tage, 12 Stunden und 47 Minuten nachdem die Trägerrakete des Typs Sojus 2.1b von der Startrampe 1S im Raumhafen Wostochni im Fernen Osten Sibiriens abgehoben hatte. In einem jener gespenstischen Zahlen-Zufälle, in denen ich hier gerne (scherzhalber) die Signatur der Programmierer der Matrix vermute (die wir für „die Wirklichkeit“ halten) erfolgte diese Havarie auf den Tag genau 47 Jahre nach dem Datum, als unmittelbare Vorgängermission, Luna-24, mit 170 Gramm Mondgestein an Bord am 19. August 1976 um 8:25 Moskauer Zeit vom Mare Crisium aus zurück zur Erde startete. (Noch gespenstischer wird dieses kalendarische „Sich-Reimen,“ wenn man sich daran erinnert, daß es auch an einem weiteren 19. August, dem des Jahres 1960, war, als es der amerikanischen Air Force zum ersten Mal gelang, die Filmkapsel eines Satelliten aus dem Programm des CORONA-Aufklärungsprogramms, dem Kunstmond Discoverer XIV, mit Hilfe eines Flugzeugs – einer Fairchild C119J-FA, „Flying Boxcar“ genannt – in der Luft gute 600 Kilometer südwestlich von Hawaii zu bergen. Sieben der 17 Erdumläufe von Discoverer XIV hatten über „verbotenes Gebiet“ im Ostblock geführt – und zu den Aufgaben des Programms gehörte die Erkundung der sowjetischen Kosmodrome – damals drei an der Zahl: Baikonur, Plesetsk und Kapustin Jar. Auf das CORONA-Programm werde ich noch weiter unten zurückkommen.)



(Mitteilung von Roskosmos auf Instagram am 20. August über den Verlust von Luna-25)

12. August 2023

Zur amerikanischen Wahl(I)

Wer die deutsche Presse liest (oder gar den staatlichen Propagandafunk), der ist vermutlich ziemlich schockiert bis verwirrt wie "unlogisch" und "dumm" sich die Amerikaner verhalten, dass sie die Lichtgestalt Biden nicht toll finden und diesem "Unmenschen" Trump permanent zujubeln. Wo doch jeder weiß, dass der ein großer Verbrecher ist, der nur aufgrund der amerikanischen Micky-Mouse Justiz noch frei rum laufen darf. Das hat vor allem damit zu tun, dass deutsche Journalisten es für Journalismus halten, wenn sie die New York Times abonnieren und die Washington Post daneben legen und dann irgendetwas daraus abschreiben. Und CNN erzählt das ja auch. Es ist ungefähr genauso als wollte jemand ein reales Bild von Deutschland gewinnen, indem er die Tagespropaganda schaut.

10. August 2023

Chandrayaan-3. Indien auf dem Weg zum Mond







Und das bereits zum dritten Mal.

I.

… und wenn man die Wendung „sich auf den Weg machen“ wortwörtlich nehmen will, so kann für die Reise der indischen Mondsonde Chandrayaan-3 die Schlagzahl sogar noch erhöht werden, wenn man jede Zündung des Triebwerks des Antriebsmoduls als „einen Schritt auf dem Weg zum Erdtrabanten“ zählt. Als das Triebwerk vorgestern, am 5. August, 22 Tage nach dem Start der Sonde vom indischen Weltraumbahnhof Satish Dhawan Space Centre auf der Insel Sriharikota vor der südindischen Ostküste, um 15 Uhr 45 mitteleuropäischer Sommerzeit für 31 Minuten gezündet wurde, um sie in einer Entfernung von 369.000 Kilometern in eine langgestreckte Umlaufbahn um den Mond einschwenken zu lassen, war dies die insgesamt siebte Zündung. In fünf Etappen war zwischen dem 15 und dem 25. Juli der fernste Punkt der Erdumlaufbahn, das Apogäum, von zunächst 41.000 auf 127.000 Kilometer angehoben worden (also auf gut ein Drittel der durchschnittlichen Entfernung des Mondes mit 384.000 km) – und am 1. August war hatte ein 20 Minuten dauernder Schub den bisherigen Erdtrabanten vom erdnächsten Punkt seines Umlaufs in 288 km Entfernung auf Kurs zu seinem Ziel gebracht. Eine gewisse (freilich unbeabsichtigte) kalendarische Ironie besteht darin, daß man im Kontrollzentrum der Mission nach Indian Standard Time zu diesem Zeitpunkt seit einer Viertelstunde bereits den 1. August schrieb, während die „alte Welt“ im Geltungsbereich der Mitteleuropäischen Sommerzeit noch den letzten Juliabend verbrachte und die Uhren dort auf viertel vor zehn wiesen. Da auch die „korrigierte Weltzeit“ UTC, die das Eichmaß für Ereignisse außerhalb unseres Heimatplaneten darstellt, noch auf den Monat Juli wies, wird der „Abschied von der Erde“ in der offiziellen Chronik der Mission also unter „Juli“ registriert. (Der Unterschied zwischen 00:15 – IST – und 21:45 bzw. 23:45 rührt daher, daß die indische Zeitzone, anders als der Großteil, gegenüber der Greenwich-Zeit um eine halbe Stunde versetzt ist – die größte Zone dieser Art; solche Halbstundenzonen gelten ansonsten nur noch in Nepal, Afghanistan, in Burma, auf Neufundland und in der Mitte Australiens.) Diese etwas umständlich anmutende Anreise, die zur Folge hat, daß die Sonde vom Abheben bis zur vorgesehenen Landung in der Nähe des Mondsüdpols 40 Tage und 8 Stunden lang unterwegs sein wird, verdankt sich dem Umstand, daß die verantwortlichen Ingenieure sich für den Kurs entschieden haben, der den geringsten Treibstoffeinsatz ermöglicht. Bei den 5 Zündungen im Erdorbit ist der „spezifische Impuls“ – die Gesamt-Bewegungsimpuls – des Satelliten so gut wie gleichgeblieben, nur die Längsachse der Ellipse, auf der er sich bewegt, ist extrem gedehnt worden. Nach dem zweiten Keplerschen Gesetz (dem „Flächensatz,“ der besagt, „daß der ‚Fahrstrahl‘ eines umlaufenden Körpers“ - gleich, ob es sich hier um einen Planeten, einen Mond oder einen Satelliten handelt – „zur gleichen Zeit dieselbe Fläche bestreicht“) hat eine solche Dehnung zur Folge, daß der künstliche Erdbegleiter auf dem erdnächsten Punkt seiner Bahn eine so hohe Geschwindigkeit erreicht, wie sie auf durch direkte Beschleunigung durch eine Raketenstufe nur unter großem Treibstoffeinsatz zu erreichen gewesen wäre. Soweit ist bei einem solchen Manöver in Erdnähe, das zudem als ein sogenanntes „Swingby“-Manöver wirkt, der Aufwand für eine Änderung des Bewegungsvektors entsprechend geringer, um das Antriebmodul mitsamt dem über ihm montierten Lander mit einer Gesamtmasse von zusammen 3,9 Tonnen auf Kurs zu bringen.

23. Juli 2023

Streiflicht: You reap what you sow

Die Welt berichtet über eine Anfrage der SED zum Thema Rente: Nach 45 Beitragsjahren erhält der durchschnittliche Rentner in Deutschland 1543 Euro. Mit einem gewissen Verteilungsbias zugunsten von Männern gegenüber Frauen und von Westdeutschen gegenüber Ostdeutschen.

14. Juli 2023

Wo ist eigentlich jetzt der Gummiknüppel?

"Die Taktik von Querdenker:innen ist es, sich Stück für Stück die Straße zu erkämpfen. Polizei muss handeln und im Zweifelsfall Pfefferspray und Schlagstöcke einsetzen. Wir dürfen ihnen kein Millimeter überlassen!"

                    - Saskia Weishaupt, Twitter, 22.12.201 (Schreibfehler nicht korrigiert)

Das waren noch Zeiten als "Schlagstock-Saskia" dem Bürger mal so richtig Bescheid stoßen wollte wo der Hammer hängt. Immerhin ging es ja um friedliche Demonstrationen gegen Grundrechtseinschränkungen, was könnte da passender sein als den Schlagstock zu benutzen, um dem Bürger mal so richtig zu zeigen, was man von seinen Grundrechten hält? Zumindest wenn es die falschen Bürger sind. 

11. Juli 2023

Kleine Zeichen der Hoffnung

Durch die letzten Jahre sind viele Artikel in Zettels Raum, wie auch ein guter Teil der Posts in Zettels kleinem Zimmer, von einer nicht zu übersehenden Depression gekennzeichnet. Die linke Politik der letzten 20 Jahre hat so vieles zerstört, dass viele schon die Hoffnung auf eine bessere Zukunft begraben haben und sich mehr oder minder damit abgefunden haben, dass das Zerstörungswerk immer weiter voran schreitet. Und es ist richtig, dass die Geschwindigkeit mit der sich der Zug auf den Abgrund zubewegt, wenigstens gefühlt durch die letzten drei Jahre noch einmal richtig Geschwindigkeit aufgenommen hat, was auch kaum verwundert, wenn man sieht, dass den "Lokführenden" auf jede neue von ihnen angerichtete Krise nur die Parole "Mehr Dampf" einfällt.

29. Juni 2023

Es muss rückgängig gemacht werden

Am Sonntag war es noch ein Witz: Nach der Wahl des ersten Landrates der AfD in dem beschaulichen Kreis Sonneberg in Thüringen, veralberten die Satiriker noch die die letzte große Wahl in Thüringen, die dann per Kanzleretten-Dekret rückgängig gemacht wurde. Ein bis dato wohl ziemlich einmaliger Vorgang, der vermutlich, auch wenn es dem politischen Mainstream nicht so ganz passt, wenigstens ein Sprach-Meme in der deutschen Sprache hinterlassen hat, welches das Unwohlsein vieler davon ausdrückt, dass das Merkel per Federstrich ganze Regierungen beenden konnte und das keinerlei negativen Folgen für sie hatte. 

Doch seit Deutschland sich dazu entschlossen hat politisches Kabarett zur Realität zu erklären (also so gut seit 20 Jahren) sollte man sich mit Witzen wohl doch eher zurück halten, denn wieder wurde ein zuvor recht müder Witz zur bitteren Realität. Die SPD bläst zum Halali auf den Kandidaten der AfD, den sie ernsthaft einem "Demokratie-Check" unterziehen möchte und tatsächlich einen Gummiparagraphen dafür im Kommunalwahlgesetz Thüringens gefunden hat, der ihr das scheinbar erlaubt. Dort wird verlangt, dass ein Landrat nicht gewählt werden kann, wenn er nicht die Gewähr dafür bietet, jederzeit für die FDGO im Sinne des Grundgesetzes und der Landesverfassung einzutreten. Eine interessante Hürde, an der vermutlich dreiviertel der Bundesregierung wiederholt scheitern würde und die uns allen zumindest die letzten acht Jahre mit der Heimsuchung aus der Uckermark erspart hätte.

18. Juni 2023

Wenn der Ofen ausgeht: Anmerkungen zu Stahl aus Wasserstoff



Foto: Dieter Schütz / pixelio.de

Wer sich ein bischen in der (deutschen) Stahlindustrie auskennt, der weiß das Stahlerzeugung aus Wasserstoff derzeit der "heisse Scheiss" schlechthin ist. Die Presse will es, die Regierung will, selbst die Anlagenbauer wollen es und so müssen es am Ende auch die Betreiber "wollen". Aber das hat so seine Tücken und es zeigt exemplarisch (mal wieder) was die Energiewende in der Praxis bedeutet und was die Kugel Eis am Ende kostet.

16. Juni 2023

Kein UFO





(Bruce Pennington, Titelbild für Kingsley Amis, "New Maps of Hell," New English Library, 1969)

Oh, it came out of the sky, landed just a little south of Moline.
Jody fell out of his tractor, couldn't believe what he’d seen.
Laid on the ground and shook, fearing for his life,
Then he ran all the way to town, screaming: "It came out of the sky!"

Well, a crowd gathered around and a scientist said it was marsh gas.
Spiro came and made a speech about raising the Mars tax.
The Vatican said, "Woe, the Lord has come!"
Hollywood rushed out an epic film.
Ronnie the Populist said it was a communist plot.

The newspaper came and made Jody a national hero.
Walter and Eric said they'd put him on a network TV show.
The White House said, "Put the thing in the Blue Room!"
The Vatican said, "No, it belongs to Rome!"
And Jody said, "It's mine, but you can have it for seventeen million."

(„It Came Out of the Sky“ - Creedence Clearwater Revival, 1969)



I.

Im zweiten Teil meiner kleinen Serie zum „aktuellen Sommerlochaufreger“ – nämlich der Behauptung, die der vorgebliche ehemaligen amerikanische Geheimdienstmitarbeiter David Grusch in der vorigen Woche auf der Internetseite „The Debrief“ und in zwei anschließenden Interviews mit dem amerikanischen Kabelfernsehkanal NewsNation und der französischen Tageszeitung Le Parisien aufgestellt hat – nämlich daß „die USA im Besitz von zwölf bis 15 großen Objekten einer nicht von Menschen stammenden Technologie“ sein sollen – will ich einmal von den Spezifika dieser sagen wir Münchhausiade absehen. Zum einen, weil Grusch seine ursprüngliche Erzählung mittlerweile etwa variiert hat. In der 40-minütigen Fassung seines Gespräch mit dem australischen Journalisten Ross Coulthart, das NewsNation am Sonntag, dem 11. Juni, ausgestrahlt hat, erklärte Grusch zum einen, daß er sich „nicht sicher sei, ob die ‚außerirdische Erklärung‘ zutreffend sei.“ Möglicherweise würde es sich auch im „Wesen aus höheren Dimensionen“ (im O-Ton „multidimensional beings“) handeln. Daraufhin hat die englische Boulevardpostille „The Week“ hat uns gestern stilgerecht darüber aufgeklärt, daß der Vulkan Popocatepetl in Mexiko von solchen Flugobjekten als „Wurmloch“ zur Abkürzung galaktischer Distanzen genutzt wird.

11. Juni 2023

C. M. Kornbluth, "Die Sauregurkenzeit" (1950)





Es war ein heißer Sommernachmittag in unserer Abteilung der World Wireless-Nachrichtenagentur in Omaha, und die Zentrale in New York drängte auf neue Meldungen. Es gab aber nichts zu vermelden, weil des ein heißer Sommernachmittag war. Ein Bericht über die abgelaufenen Baseballsaison war vor einer Stunde rausgegangen, und damit hatte es sich. Außer Baseball fällt im Sommer nichts an. In den Hundstagen fahren die Politiker in die Wälder in Maine, um zu angeln und sich volllaufen zu lassen, Einbrecher sind zu erschöpft, um einzubrechen und Ehefrauen überlegen es sich noch einmal und schlagen ihren Männern erst später im Jahr den Schädel ein.

Ich blätterte einige Pressemitteilungen durch. Ein schludrig auf Matrize getipptes Blatt verkündete: „Wußten Sie, daß der sommergemäße Weg zu Erfrischung und Gesundheit durch Zitronen-Limonade von führenden Physiotherapeuten von Maine bis Kalifornien empfohlen wird? Der Bundesverband der Zitrusfruchtanbauer teilte heute mit, daß einer Umfrage unter 2500 Physiotherapeuten in 57 Städten mit mehr als 25.000 Einwohnern ergeben hat, daß 87 Prozent von ihnen zwischen Juni und September mindestens ein Glas Zitronenlimonade an Tag trinkt, und daß 72 Prozent von ihnen nicht das kühlende und köstliche Getränk nicht nur selbst genießen, sondern es auch verschreiben…“

7. Juni 2023

Aldous Huxley, "Proust und die Bestseller" (1920)





(Aldous Huxley. Portrait von Roger Fry, 1931)

„Marginalien“ (1920)

„Die Verdienste der Literatur“ – der Ausdruck hat etwas Gesetztes, nachgerade Feierliches an sich. Mit einem solchen Ehrentitel versehen, nehmen die dürftigen Groschen, die sie einbringt, einen Anschein von Bedeutung an. Aber leider nur zum Schein – denn wenn es darangeht, sie in Essen und Kleidung umzusetzen, erhält man für diese Groschen keinen Deut mehr als vor dieser Aufwertung. So wie es ist – arm, aber ehrenhaft (oder besser: klug und deshalb arm) – verschlimmert es die Sache noch, wenn man die kargen Früchte unseres Schweißes als „Lohn“ bezeichnet. Aber die großen „Verdienste der Literatur,“ die tausende und zehntausende von Pfund, von denen uns erzählt wird: bleiben die uns für immer verwehrt?

Schließlich, so sagen wir uns, sind wir alles andere als dumm; wir verfügen über Humor. Warum sollte es uns nicht möglich sein, die Verfasser von Bestsellern bei ihrem eigenen Spiel zu schlagen? Es sollte doch nicht so schwer sein, ein paar „ergreifende Liebesgeschichten“ zu verfassen oder einen Band von Preziosen à la Wilcox.

5. Juni 2023

Der Hammer und die Selbstjustiz




Der deutsche Blätterwald ist sich (bis auf den Kinderstürmer aus Kreuzberg) vergleichsweise einig: Selbstjustiz muss strafbar sein und so gehe es schon irgendwie in Ordnung, wenn auch mal Linksextremisten wie "Lina E." angeklagt und verurteilt werden. Die linke Szene ist nicht ganz so begeistert, schließlich handelt es sich bei den Opfern von Lina E. ja um "Rechtsradikale", "Nazis" oder einfach nur "Rechte", deren Menschenrechte ja mit ihrer politischen Positionierung nicht mehr gelten. Die selbe Linke übrigens, die ansonsten permanent von Menschenrechten palavert, so lange diese nur ins eigene Forderungssystem hinein passen.

Selbstjustiz? Wogegen eigentlich? Wenn Rechtsradikalismus eine Straftat wäre, dann stünde sie vermutlich im Strafgesetzbuch. Doch da ist sie nicht zu finden. Nicht einmal "Nazi sein" steht dort unter Strafe. Und am allerwenigsten steht darin, dass es verboten sein soll, bestimmte Kleidung zu tragen, die von Linksextremisten als "irgendwie Nazi" assoziiert wird. Die Unterstellung von Selbstjustiz ist nicht nur sachlich abwegig, sie ist zudem ehrabschneidend und verhöhnt die Opfer von schweren Straftaten. Denn sie unterstellt, dass diese etwas verbotenes getan haben, was aber nicht Gewalttäter wie Lina E. entscheiden sondern immer noch Gerichte. Der ganze Mumpitz um "Selbstjustiz" dient selbst der "normalen" Presse vor allem dazu die Taten von Lina E. zu verharmlosen.

31. Mai 2023

Aldous Huxley, "Candide, wiedergelesen" (1923)





(David Low, "Aldous Huxley," Kariketur für den New Statesman and Nation. Die Zeichnung ist auf den 25. Novemmber 1933 datiert.)

Die Möbelwagen hatten ihre Fracht in unserem neuen Heim ausgeladen. Wir waren jetzt eingezogen – oder mußten uns zumindest so gut wie möglich in den Chaos, dem Schmutz und der Unordnung behelfen, so gut es ging. Einer der präraffaelitischen Maler (dessen Name mir gerade nicht einfällt), hat einmal ein Bild mit dem Titel „Der letzte Tag im alten Heim“ gemalt. Es bedürfte eines gröberen, härter geführten Pinsels, um die Schrecken des „Ersten Tags im neuen Heim“ zu schildern. Als ich mich voller Verzweiflung zwischen dem zusammengewürfelten Mobiliar hingesetzt hatte, fiel mir in einer offenstehenden Bücherkiste ein kleines ledergebundenes Büchlein ins Auge, der unter einer Menge größerer Bände hervorstach. Es war der „Candide“ – meine heißgeliebte Erstausgabe von 1759 mit seiner dezent albernen Titelseite: „Candide ou L‘Optimisme, Traduit de L‘Allemand de Mr le Docteur Ralph.“

Ein wenig Optimismus hatte ich dringend nötig – und da der gute Doktor Ralph bekanntlich einer der besten Lehrer in dieser Disziplin ist, nahm ich das Buch her und fing an zu lesen: „Il y avait en Westphalie, dans le Château de Mr la Baron de Thunder-ten-tronkh….“ Und legte den Band nicht aus der Hand, bis ich zum Schlußsatz „Il faut cultiver notre jardin“ gekommen war. Ich fühlte mich durch den Zuspruch von Dr. Ralph angeregt und aufgeheiert.

30. Mai 2023

Aldous Huxley, "Jahrhundertfeiern" (1923)





(Zigarettensammelbild der Firma Will's auf dem Jahr 1937, aus der Serie "40 Famous British Authors." Das Formet der Bilder betrug 7,9 x 6,2 cm.)



Vom Bocca di Magra bis zur Bocca d‘Arno, der Mündung des Arno, erstreckt sich der Sandstrand ohne Unterbrechung. Weiter im Land, von einem Gürtel aus Kiefern geschützt, liegt ein ebener Streifen Küstenland, flach wie die Niederlande und von träge fließenden Bächen durchzogen. Hier wachsen Getreide und Wein, getrennt durch Pappelreihen und Feuchtwiesen. Da und dort münden die Bäche in flache Teiche, deren Ufer geflutete Reisfelder bilden. Und hinter diesem Streifen Küste, vier oder fünf Meilen vom Meer entfernt, steigen die Berge auf, unerwartet und steil: die Apuanischen Alpen. Ihre Gipfel bestehen auf nacktem Kalkstein, der stellenweise von dem weißen Marmor durchzogen ist, der den Kleinstädten an ihrem Fuß Wohlstand gebracht hat: Massa und Carrara, Serravazza, Pietrasanta. Die Hälfte der Grabsteine der ganzen Welt sind aus diesem edlen Gestein gehauen worden. Ihre unteren Hänge zeigen das Grau der Olivenbäume und das Grün der Kastanienwälder. Auf ihren Gipfeln ruhen die wie gemeißelt wirkenden Wolkenmassen:

Von Kap zu Kap schlage die Brück‘ ich und rage
gewölbt über strömendem Meer.
Bin fest vor den Pfeilen der Sonn' und zu Säulen
Nehm ich die Gebirge umher.

Die Landschaft zitiert geradezu Shelley. Dieses Meer, mit seiner schimmernden Windstille und plötzlichen Sturmböen, diese blassen blauen Inseln am Horizont, diese Berge mit ihren phantastischen Wolkengebilden, die Flüsse und Wälder – das ist die Essenz seiner Dichtung. Sobald man einige Zeit an dieser Küste verbracht hat, wird man beständig an diese wunderbare und merkwürdig kindliche Poesie, an diesen wunderbaren und kindlich-unschuldigen Mann erinnert. Vielleicht geht sein Geist an diesen Ufern um. Auf diesem Meer hat er mit seiner Nußschale von einem Boot gesegelt, in einer Hand das Ruder und in der anderen den kleinen Aischylos-Band. So stellen wir ihn uns bei schönem Wetter vor. Und wenn der Sturm unverhofft losbricht, fällt er uns ebenfalls ein. Die Blitze fahren über den Himmel, die Donnerschläge sind wie schreckliche Explosionen, die Böen toben. Und was ist mit dem kleinen Boot? Niemand weiß es – nur daß ein paar Tage später die Leiche eines jungen Mannes an den Strand getrieben wird, entstellt, nicht mehr wiederzuerkennen; nur der kleine Band Aischylos in der Westentasche verrät uns, daß dies einmal Shelley war.

Ich habe den letzten Sommer an dieser verwunschenen Küste verbracht. Das möchte ich als Entschuldigung anführen, daß ich in dieser Zeit, die so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, hier einen Dichter erwähne, der seit hundert Jahren tot ist. Aber keine Bange: ich habe nicht vor, hier etwas über den machtlosen Engel, der in der Leere vergeblich mit seinen was-auch-auch-immer-Flügel schlägt. Ich werde mich hier nicht mit Gekrächze dem süßen Chor der übrigen Lobredner zu diesem Zentenar anschließen. Nein, der Geist von Shelley, der in Versilia und der Luniga wandelt, am Golf von La Spezia und bei Pisa an der Mündung des Arno, dieser Geist, dem ich die Hand geschüttelt und mit dem ich mich unterhalten habe, spornt mich nicht zu einer überheblichen und dummdreisten Laudatio an, sondern zu einem Protest gegen die Ergüsse dieser honigsüßen Lobhudler.

27. Mai 2023

Der große Sprung ins Nirgendwo


Eine der vermutlich vulgärsten philosophischen Weisheiten wird gerne verkürzt auf: "Wer aus der Geschichte nichts lernt ist gezwungen sie zu wiederholen." Gefühlt bekommt man den Satz in deutschen Feuilletons durchschnittlich dreimal die Woche um die Ohren gehauen, so sehr, dass man ihn tendenziell überliest und mit Sicherheit auch nicht mehr reflektiert. Nun, genau genommen ist das Zitat auch etwas entstellt, denn im Original lautet der Satz: "Those who cannot remember the past are condemned to repeat it" und er stammt von George Santayana, einem spanischen Philosophen des letzten und vorletzten Jahrhunderts. Und die Nuance ist ein bischen anders in der vulgären Version, denn es geht bei Santayana eher darum sich der Vergangenheit zu erinnern als darum daraus etwas zu lernen.

19. Mai 2023

Das Erbe Lauterbachs mit einem Gruß von Hans Filbinger

Anlass für diesen Beitrag ist eine kleine Anekdote, die diesem Autor vor einigen Wochen widerfahren ist. 

Ich musste vor besagten Wochen mal wieder einen Arzt besuchen (auch schlechte Menschen werden krank) und da musste man ja bekannterweise immer noch so ein Gesichtstuch tragen, was ich dummerweise vergessen hatte. Kein Problem: Inzwischen werden ja die meisten Ärztehäuser von irgendeinem Apotheker belagert und so ging ich in eben jene Apotheke vor Ort und verlangte wohl etwas zu salopp einen "Lauterbach-Lappen" (okay, ich mag noch ein deutsche Wort mit Sch... davor gesetzt haben, weil ich ziemlich spät dran war und mich gelegentlich ärgere die wirklich unverhältnismäßig teuren wie sinnlosen Tücher bezahlen zu müssen). Ich war dabei keinesfalls unhöflich sondern haben eben nur ausgedrückt, was ich von dem Tuch halte, ich habe selbstverständlich um die Ware höflich gebeten. Der gute Mann stutzte, änderte seinen Tonfall und betonte wie wenig Verständnis er dafür habe. Ich habe sicher keine politische Diskussion gesucht (erst recht nicht, wenn ich es eilig habe) und nur noch gesagt: "FFP2 bitte". Aber etwas war geschehen: Mein Gegenüber sah mich nur mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Empörung an und verwies mich seines Geschäftes. Ich war erst einmal etwas verdattert, habe noch einmal nachgefragt, worauf er das bestätigte, dass er mir nichts mehr verkaufen wolle. Auch die ebenso höfliche Frage, ob er mich an seinen Wettbewerb verweisen könne, wurde verneint, er war wirklich sichtlich empört. Und er wurde seinerseits unhöflich. Was erlaube Kunde? Soweit, so schlecht. 

Joris-Karl Huysmans. "Auf Reede." Ein Mondspaziergang aus dem Jahr 1887





Meine Damen und Herren, die Gesundheit ist doch das Kostbarste, das wir besitzen. Und da können wir nicht dankbar genug sein, daß uns vor kurzem noch ein neues, fast unberührtes Erholungsgebiet erschlossen wurde - da haben wir für Sie eine Wanderroute ausgearbeitet, die für Alt und Jung die ideale Möglichkeit freizeitlicher Entspannung bietet. Nach zügiger Anfahrt von knapp 385.000 Kilometern parken wir unser Fahrzeug hier am südlichen Ausläufer des Mare Nectaris. Von dort wählen wir den gut gekennzeichneten Fußweg in Richtung nordwestlicher Richtung. Wir erreichen ein entzückendes Hochplateau, wo wir schon einen hübschen Blick auf die romantischen Ringgebirge Hortensius, Reinhold und Eddington genießen. Wir nutzen den Aufenthalt zu einer kleinen Rast, da die Temperaturen bei steigender Sonne 125 Grad übersteigen dürften. Vorsicht mit verderblichem Proviant! Frisch gestärkt nähern wir uns nun dem Gipfelgrat des Kraters Kopernikus, wobei ältere Herrschaften die leichtere Route am südlichen Rand des Mare Galilei wählen, oder einem leichten Bogen nach Osten gleich über eine gut geräumte Schotterhalde den Weg zurück zum Fahrzeug nehmen. Wanderfreudige Teilnehmer dagegen und die Jugend erreichen bei rüstigem Ausschreiten in gut drei Monaten die Zwillingsgipfel Castor und Pollux, von wo wir durch einen wundervollen und unvergesslichen Blick über das Mare Imbrium bis hin zum majestätischen Krater Plato belohnt werden. Vorsicht bei empfindlicher Haut, und bitte: Abfälle gehören in die Papierkörbe! Wenn Sie noch einen Urlaubstag zugeben können und den Umweg von 4000 Kilometern nicht scheuen, lohnt sich der Abstecher über die Mare Serenitatis und Tranquillitatis mit ihren reichlichen Vorkommen an kosmischem Staub. Es werden tiefe Eindrücke zurückbleiben!

- Loriot, "Die Mondwanderung" (gesendet in der Folge 8 der Reihe „Cartoon“ des Süddeutschen Rundfunks am 8. März 1969)


* * *

14. Mai 2023

Scriven Bolton und "Yuggoth". Zweimal Pluto im Jahr 1929





Star-Winds

It is a certain hour of twilight glooms,
Mostly in autumn, when the star-wind pours
Down hilltop streets, deserted out-of-doors,
But showing early lamplight from snug rooms.
The dead leaves rush in strange, fantastic twists,
And chimney smoke whirls round with alien grace,
Heeding geometries of outer space,
While Fomalhaut peers in through southward mists.

This is the hour when moonstruck poets know
What fungi sprout in Yuggoth, and what scents
And tints of flowers fill Nithon's continents,
Such as in no poor earthly garden blow.
Yet for each dream these winds to me convey,
A dozen more of ours they sweep away.

H. P. Lovecraft

Sternenwinde

Es gibt die Stunde, wenn die Dämmerung sinkt,
Zumeist im Herbst, wenn Sternenwinde wehen
Den Hügelweg herab und durchs verlassene Feld
Und früher Lampenschein die Zimmer sacht erhellt.
Wenn tote Blätter sich in wilden Kreisen drehen
Und Rauchfahnen in sachten Schwaden treiben
Und Bahnen, nicht von dieser Welt, beschreiben
Und Fomalhaut im Süden durch den Nebel blinkt.

Das ist die Zeit, wenn irre Dichter träumen
Von Pilzen auf dem Yuggoth, wenn sie die Farben sehn,
den Duft der Blumen riechen, die Nithons Gestade säumen,
Wie sie in keinem Garten hier auf Erden stehn.
Und doch: mit jedem Traum, den mir die Winde bringen
Lassen sie ein Dutzend von den unseren verklingen.



(Lovecraft, "Star-Winds," Manukript. Digitalisat der Lovecraft Colldection der Brown Univsersity.)

Die wahren Täter.

Ob es wirklich Edmund Burke war, der das erste mal den Satz formte "Für den Triumph des Bösen reicht es, wenn die Guten nichts tun." ist bis heute recht umstritten. Aber eigentlich ist es auch nicht wichtig, denn die Griffigkeit der Formel hat ja wenig mit dem Autor zu tun, der sie sich ausgedacht hat. Und so ist es dieser Satz, der mir dieser Tage durch den Kopf geht, wenn ich sehe welches Verbrechen an diesem Lande (ja, Verbrechen!) durch die Regierung begangen wird.

Okay, nach den (ebenso) Verbrechen der Regierung Merkel ist es schwer eine Steigerung zu erspähen, zu massiv sind die Schäden, die durch die ehemalige(?) FDJ-Sekretärin für Propaganda angerichtet wurden, vom Verlust der inneren Sicherheit über die irrwitzige Vernichtung von Vermögen zur Zerstörung der Energieversorgung bis zur deutlichen und schmerzhaften Beschädigung des Rechtsstaates auf wenigstens Jahre, eher Jahrzehnte hinaus. Und dennoch sind die aktuellen Entwicklungen für sich betrachtenswert, ein heutiger Mörder verliert ja auch nicht seinen Status, weil es früher auch schon Mörder gegeben hat.

6. Mai 2023

Danuri





Южный полюс Луны задремал, он уснул между гор величавых,
Поражающих правильной формой своей.
Это — мысль, заключенная в стройных октавах,
Эти горы живут без воды, в полосе неподвижных лучей,—

Ослепительно ярких, как ум, и ложащихся отблеском странным
На долины, что спят у подножия гор,
Между кратеров мертвых, всегда светлотканных,
Вечно тихих, нетронутых тьмой, и ничей не ласкающих взор.

Эти страшные горы горят неподвижностью вечного света,
Над холодным пространством безжизненных снов,
Это ужас мечты, это дума веков,
Запредельная жизнь Красоты, беспощадная ясность Поэта.

Константин Бальмонт - Южный полюс Луны (1899)

Der Südpol des Mondes: zwischen majestätische Berge gespannt
Schläft er, von ihren starren kristallinen Formen besiegt
Ein Gedanke, in schlanke Oktaven gebannt -
In einem steinernen Ring, der im ewigen Licht liegt.

Gleißend wie der Verstand, so senden sie
Einen Lichtstrahl, ins ewige Dunkel geführt
In die Täler und toten Krater, wo nie
Ein sterbliches Auge das ewige Schweigen berührt.

Dieses furchtbare Lodern im Schweigen des ewigen Lichts
Unter den toten Träumen im eisigen All
Zeitlose tote Schönheit, im unendlichen Nichts
Diese gnadenlose Klarheit, Dichter, sei dein Ideal.

Konstantin Balmont, „Der Südpol des Mondes“ (1899)

3. Mai 2023

Hakuto-R. Coda



So wie kalte Tränen ist der Regen
So wie außer Atem ist der Wind
So wie nasse Augen sind die Sterne
Wenn das überhaupt noch Sterne sind

Und so als ab dein Herz ein alter Seemann wär
Der das Fernrohr falsch rum hält und alles ist so sehr
Weit weg, dass es die müden Augen schont
So blass und kalt hängt über dir der Mond

- Element of Crime, „Über dir der Mond“ (2008)

I.

Daß die erste „Mondlandung“ eines Privatunternehmens, die Mission Hakuto-R M1, am vorigen Dienstag, den 25. April 2023, um 20:40 Mitteleuropäischer Sommerzeit mit einem Fehlschlag geendet ist, weil dem Lander gut zwei Minuten vor dem Aufsetzen im Meer der Kälte der Treibstoff ausging, hat keinen Nachrichtenwert mehr. Daß die japanische Firma ispace bereits an der Umsetzung für eine zweite Mission arbeitet, der „Serie 2,“ die im nächsten Jahr gestartet werden soll und mit 4,2 Metern Höhe doppelt so hoch ist wie der havarierte Lander, kann als Fußnote vermerkt werden, aber hier gilt der neudeutsche Satz „we’ll cross that bridge when we come to it“ – zumal noch unklar ist, welche Konstruktionsänderungen sich aus der Auswertung der gescheiterten Mission ergeben werden.

Natürlich ist es bitter, wenn man als Raumfahrtbegeisterter sehen muß, wie ein solches Unternehmen nach einer Dauer von 4 Monaten und einer zurückgelegten Flugstrecke von fast 2,5 Millionen Kilometern buchstäblich auf den letzten Metern scheitert – zumal keine Woche vorher in Florida der langerwartete erste Start des Starships von SpaceX in einem Feuerball geendet war. Aber unerwartet ist es nicht – vor allem dann nicht, wenn man diesen Flug in den Kontext der bisherigen unbemannten Sondenmissionen setzt, die seit mittlerweile 65 Jahren in Richtung des Erdtrabanten gestartet worden sind.

Im Allgemeinen gilt für die Satelliten, die zur Naherkundung des Sonnensystems eingesetzt werden werden, daß die Systeme ausreichend getestet und redundant genug ausgelegt sind, um zu einem vollen Erfolg zu führen. Das gilt für alle Flüge, die bislang zum Merkur, zur Venus, zu den Asteroiden und den vier äußeren Gasplaneten stattgefunden haben – einschließlich der Sonde New Horizons, die 2015 am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, den zum „Zwergplaneten“ degradierten Pluto in einer Entfernung von 13.000 Kilometern passiert hat. Die beiden Ausnahmen auf dieser Liste sind der Mars und eben der Mond – wobei im Fall des Mars die Erfolge recht ungleich verteilt sind. Während die 20 Missionen der NASA, seit der ersten durch Mariner 1 im November 1964 alle bis auf eine erfolgreich waren (der Mars Climate Orbiter stürzte im September 1999 ab, weil bei der Bremszündung für das Einschwenken in die Umlaufbahn das von Rolls-Royce gebaute Hauptriebwerk auf die britische Maßeinheit Fuß pro Pfund und Sekunde ausgelegt worden war, während die Planer der NASA für die Zündung in den Einheiten Newtonsekunden berechnet hatten – ein Unterschied um fast das Fünffache) – endeten die insgesamt 19 Missionen, die die Sowjetunion (und ihr Nachfolger, die Russische Föderation) bislang gestartet hat, ausnahmslos als Fehlschläge – einschließlich der ersten weichen Landung von Mars 3 im Dezember 1971, als 110 Sekunden nach dem erfolgreichen Aufsetzen im Krater Ptolemäus und 20 Sekunden nach dem Beginn der Übertragung des ersten Fernsehbildes der Funkkontakt abbrach. Da an der Landstelle zu dieser zeit auch noch ein Staubsturm herrschte war, auf den 70 B gesendeten Bildzeilen auch nichts als ein konturloser Nebel zu erkennen.

25. April 2023

Levania. Der Blick vom Mond







...Forse
a Levania approdai nella sepolta
esistenza anteriore, ed era il cono
dell’eclissi che l’algida schiudeva
nera via degli spiriti.

Sergio Solmi, “Levania” (1954)

. .…vielleicht
bin ich auf Levania gelandet, in einem vergessenen
früheren Leben, und es war der Kegel
der Sonnenfinsternis, der mir den eisigen
schwarzen Geisterweg öffnete.

I.

Dies ist mein dritter Beitrag in Folge zum Thema Raumfahrt, oder präziser „Zur Raumfahrt am Donnerstag, dem 20. April 2023.“ Aber anders als in meinen beiden vorigen Postings geht es diesmal nicht um den ersten „Integral Flight Test“ des Starships von SpaceX, der um 16 Uhr 33 (MESZ) von der Starbase abhob und ein Trümmerfeld hinterließ, das gestern an dieser Stelle zu besichtigen war.

Dieser Beitrag reiht sich ein in eine andere Serie, in der ich seit einiger Zeit, gerade mit Bezug auf dem Mond, erstaunliche Zufälle scherzhaft als „Anzeichen“ dafür genommen habe, daß es sich bei der sogenannten „Wirklichkeit“ in Wirklichkeit um eine Simulation handelt, deren Betreiber dies aufmerksamen Beobachtern innerhalb des Programms durch solche versteckten Fingerzeige (bei Computerspielen Ostereier oder Easter Eggs genannt) zu erkennen geben: etwa, daß die Wahrscheinlichkeit 1 zu 2 steht, daß bei den ersten beiden anstehenden bemannten Mondlandungen der NASA ein Raumfahrer (eine RaumfahrerIN in diesem Fall) namens McLane an Bord eines Raumschiffs namens „Orion“ beteiligt sein wird – wie bei den Einsätzen der „Raumpatrouille“ vor einem halben Jahrhundert; daß die Einschläge der Trümmer des Kometen Shoemaker-Levy 9 auf dem Jupiter im Juli 1994 zum Teil minutengenau 25 Jahre nach den entscheidenden Phasen der ersten Mondlandung von Apollo 11 erfolgt sind. Und daß 1961 in der „größten Weltraumserie der Welt,“ Perry Rhodan, der entscheidende fiktionale Zeitpunkt zum „Aufbruch der Menschheit in den Kosmos“ auf denselben Tag gelegt worden ist, den 8. Juni 1971, an dem in Südafrika der Mann geboren wurde, der diese Rolle tatsächlich ausfüllt wie kein Mensch vor ihm: Elon Musk. Heute ist ein weiteres solches Puzzleteil hinzugekommen.

Heute nachmittag, um 14:25 Mitteleuropäischer Sommerzeit (oder heute an späten Abend, um 23:25 nach JST, japanischer Standardzeit) hat nämlich das private Raumfahrtunternehmen ispace ein Foto veröffentlicht, das die Mondlandesonde HAKUTO-R gute zehn Stunden vor dem Abheben des Starship in Texas aufgenommen hat.

23. April 2023

Starship. Coda. Oder: "Das Abenteuer des havarierten Raumschiffs"







Heute, zwei Tage nachdem der erste Startversuch der größten und leistungsstärksten Rakete, die je in der Geschichte der Raumfahrt gebaut worden ist, 30 Kilometer über dem Golf von Mexiko in einem Feuerball geendet ist, läßt sich, nach der ersten genaueren Auswertung der Daten und der Inaugenscheinnahme der Schäden an der Startrampe ein genaueres Bild über den Hergang und die wahrscheinliche Ursachen, die zu diesem Ende geführt haben, zeichnen.

Der Verlauf

Anders als ich es in meinem letzten Posting geschrieben habe, die die ersten drei der Raptor-Raketenmotoren der Startstufe, der 70 Meter hohen Boosters, nicht gleich beim Start ausgefallen. Die Eindruck entstand, weil die Statusanzeige, die das Funktionieren der Treibwerke anzeigte, der nach fünf Sekunden nach der Zündung, nachdem die Meßdaten von der Rakete eintrafen, während der Live-Übertragung angezeigt wurden und sie als inaktiv zeigten. Tatsächlich sind sie erst zwei Sekunden nach der Zündung ausgefallen. Alle 33 Triebwerke, sowohl die 20 des äußeren Ring, die 10 der inneren sowie die drei zentral montierten, haben also wie vorgesehen mit 85 Prozent ihrer Leistung gezündet. Erst nachdem die Rakete den Startturm hinter sich gelassen hatte, wurde die Leistung auf 100 Prozent gesteigert. Nach zwei Sekunden Flugzeit kam es zeitgleich zum Ausfall der Motoren 1 in der Mitte und der Treibwerke 20 und 32 des äußeren Rings. Des weiteren versagten während der nächsten etwas mehr als zwei Minuten folgen Treibwerke in dieser Reihenfolge:

21. April 2023

Starship





I.

Ich muß zugeben, daß ich – als Chronist in Sachen Raumfahrt und besonders der Entwicklung von SpaceX, dem erfolgreichsten privaten Unternehmen in dieser Branche - ein tiefes Gefühl des Enttäuschung, des Bedauerns nicht unterdrücken konnte, als heute am frühen Nachmittag – oder am frühen Morgen, nach der Ortszeit in Texas – der Erststart des Starship fast genau vier Minuten nach dem Abheben in der Starbase in Boca Chica, genau an der Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko – 30 Kilometer über en Golf von Mexiko ein Ende fand, als die in ein unkontrolliertes Trudeln geratene Rakete von der Flugleitung gesprengt wurde. Dabei gibt es, bei Licht betrachtet, keinen Grund, hier enttäuscht zu sein.

Und dennoch: zu hoch war die Spannung, mit der der erste Testflug der größten Rakete, die jemals gebaut worden ist, erwartet wurde – besonders, nachdem der erste Countdown vor drei Tagen, am Montag, den 17. April 2023, acht Minuten vor der Zündung abgebrochen worden war. Und zu lang war die Pause seit dem letzten Start, als vor fast genau zwei Jahren, am 5. Mai 2021, ein Prototyp der Zweitstufe des Starship, ebenfalls als „Starship“ bezeichnet“ endlich, im sechsten Anlauf, den ersten Probeflug bis in 10 Kilometern Höhe erfolgreich absolvierte und SN 15 nicht nach der Landung in einem Feuerball explodierte wie seine Vorgänger, an denen das Prinzip, eine 50 Meter hohe Rakete mit einem Gewicht von 100 Tonnen - ohne Treibstoff - senkrecht zu landen. (Zum Vergleich: der Booster, die Startstufe der Falcon von Space X wiegt bei einer Höhe von 70 Metern unbetankt nur 25 Tonnen.) SpaceX-Chef Elon Musk hatte im Vorfeld vor allzu hohen Erwartungen gewarnt. Es könne noch allzuviel beim Start und dem Flug des noch nie erprobten Gesamtsystems fehlschlagen. Am Sonntag, vor dem ersten Countdown, hatte er erklärt: „Alles, was dazu führt, daß die Startrampe nicht zerstört wird werten wir als Erfolg – wenn wir es weit genug schaffen, um sie nicht in die Luft zu jagen.“ Überstanden hätten die beiden Stufen, das Starship wie die 70 m hohe Erststufe, ebenfalls „Booster“ genannt, den ersten Einsatz auf keinen Fall. Der Booster wäre im Meer versunken wie alle Startstufen der amerikanischen Raketen seit dem Beginn des Raumfahrtzeitalters, bevor SpaceX im September 2013 beim sechsten Flug einer Falcon 9 die erste erfolgreiche Landung gelang. Das Spaceship selbst – die zweite Stufe – wäre nach der Zurücklegung fast eines ganzen Erdorbits eineinhalb Stunden später beim Wiedereintritt in die Atmosphäre über dem Pazifik östlich von Hawaii verglüht.



20. April 2023

Frau Pastor, ich würde gern wetten!

"Unsere" liebe Bundestagsvizepräsidentin(!) Katrin Göring-Eckardt verkündet im MDR folgende Aussage(n): 

 „Der Strompreis wird natürlich günstiger werden, je mehr Erneuerbare wir haben. Wind und Sonne, die kriegen wir immer zum Nulltarif. Da brauchen wir die Anlagen und die Netze, und deswegen ist das das Entscheidende.“ 

Ihre weiteren Aussagen zur Atomkraft sollen an dieser Stelle nicht das Thema sein (und auch Witze über Kobolde und Netzsspeicher seien an der Stelle ausnahmsweise mal beiseite gelassen). Nein, es soll einfach nur um diese Aussage gehen. Frau Göring-Eckart führt aus, dass der Strompreis natürlich(!) günstiger werden wird. Wie wir die letzten 20 Jahre ja gesehen haben. Und natürlich weil man, wenn man das Angebot verknappt, man auch niedrige Preise erwarten darf. Zumindest in der Welt von Frau Göring-Eckart. Aber wie dem auch sei, es gibt da dieses wunderbare Konzept, dass die Amis gerne mal vorbringen: Put your money where your mouth is!

18. April 2023

Unternehmen Ganymed







I.

Im Gegensatz zum englischsprachigen Markt jenseits des Atlantiks (und zu einem gewissen Maß auch in England) war „die Zukunft“ in Gestalt der Science Fiction in ihrer audiovisuellen Darreichungsform, also auf der Kinoleinwand oder dem Fernsehbildschirm, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fast ausschließlich als Importware präsent. Und die wenigen Produktionen, die der Medienapparat des westlichen deutschen Teilstaats bis zur Wiedervereinigung nach dem Mauerfall produziert hat, sind bis auf eine Ausnahme ausschließlich für das Fernsehen produziert worden. Diese Ausnahme sind die ersten vier Filme, die Roland Emmerich zu Beginn seiner Laufbahn als Regisseur in München gedreht hat. Aber schon sein Erstling „Das Arche-Noah-Prinzip,“ in den Jahren 1982 bis 1984 als Abschlußarbeit für die Hochschule für Fernsehen und Funk in München entstanden, war mit seinem Budget von knapp 1,2 Million D-Mark gegenüber der Konkurrenz aus Hollywood nur ein „Kammerspiel mit Spezialeffekten.“ Der Film kam zu einer Zeit in die Lichtspielhäuser, als das Publikum seit dem Boom des Genres mit „Star Wars,“ Spielbergs „Unheimlicher Begegnung der dritten Art“ und Ridley Scotts „Alien“ längst andere Maßstäbe gewohnt war. Ende 1983 war „E.T. – der Außerirdische“ der Film mit dem höchsten weltweiten Einspielergebnis der gesmaten Kinogeschichte geworden; ebenfalls 1983 war mit „Die Rückkehr der Jedi-Ritter“ der dritte und erfolgreichste Teil der Star-Wars-Reihe gelaufen; vier Wochen nach dem Kinostart von Emmerichs Film reiste ein Terminator der Baureihe T-3000 aus dem Jahr 2029 zurück ins Jahr 1984, um zu verhindern, daß der Anführer der Widerstandsbewegung gegen die die Künstliche Intelligenz von Skynet, die 1997 Selbstbewußtsein erlangt hat, geboren wird. Und selbst der relativ billige, aber zum Kultfilm gewordene „Repoman,“ der eine Woche nach dem „Arche-Noha-Prinzip“ in der Bundesrepublik Premiere hatte, wies ein höheres Produktionsbudget auf. Emmerich hat seine nachfolgenden Filme gleich auf Englisch mit Blick auf den internationalen Markt produziert. Und natürlich können die bescheidenen Erfolge von „Joey,“ „Hollywood Monster“ und „Moon 44“ in keiner Weise mit dem Erfolg seiner späteren, in Hollywood entstandenen „Blockbuster“ „Stargate“ (1994), „Independence Day“ (1996) oder „The Day After Tomorrow“ (2004) mithalten.

Aber „deutsche SF“ mit Bewegtbildern und Ton in der alten Bonner Republik meinte stets: Fernsehproduktionen. (Erstaunlicherweise hat es die DEFA, einziges Studio im Real Existenten Sozialismus, auf immerhin vier „waschechte Science Fiction“-Filme gebracht – von denen allerdings drei Ko-Produktionen mit anderen Bruderstaaten darstellten: „Der schweigende Stern“ von 1960 ist in Zusammenarbeit mit Film Polski entstanden, bei „Signale – ein Weltraumabenteuer“ (1970) griff man für die Spezialeffekte auf die Technik des Warschauers Studio Przedsiebiorstwo Realizacji Filmów zurück, bei „Eolomea“ sah sich die DEFA 1976 außerstande, die auf 70 mm gedrehten Szenen selbst zu entwickeln und mußte das Material jedesmal erst an die technische Abteilung von Mosfilm in Moskau einsenden, um sehen zu können, ob ein „Take“ gelungen war. Erst mit „Im Staub der Sterne“ brachte die DEFA eine Eigenproduktion in die Kinos.) Zu diesen Produktionen gehörten etwa die sieben Folgen der „Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion“ (1966), Tom Toelles „Das Millionenspiel“ (1970) nach der Erzählung „The Prize of Peril“ von Robert Scheckley aus dem Jahr 1958 (daß der Verlag Goldmann, von dem der WDR die Filmrechte erworben hatte, diese selbst nicht besaß, war übrigens der Grund, warum der Film erst 2002 wieder im deutschen Fernsehen gesendet worden ist – nicht, weil das Thema einer tödlichen Menschenjagd als Reality-TV „zu kontrovers“ war), und Rainer Werner Faßbinders Zweiteilers „Welt am Draht“ von 1973.

13. April 2023

Streiflicht: Fünf Milliarden Dollar

Fünf Milliarden Dollar. Das ist die Summe, die die Marktkapitalisierung der Brauerei Anheuser-Busch in den letzten zwei Wochen gefallen ist und das entspricht so ungefähr fünf Prozent des Unternehmens. Ist das so erwähnenswert? Ja. Insbesondere weil es durchaus nicht bei den fünf Prozent bleiben muss. Doch, wie immer, der Reihe nach:

Eines der erfolgreichsten Produkte der Brauerei ist das Bier "Bud-Light", eine Light Version des ursprünglich zentralen Produktes Budweiser, das sich, nicht zuletzt aufgrund seines eher geringen Preises, einer ausgesprochen großen Beliebtheit in den USA erfreut. Qualitativ handelt es sich um ein äußerst mittelmäßiges Bier, eher auf dem Niveau eines typisches "Supermarkt-Bieres", vielleicht in Deutschland am ehesten vergleichbar mit Öttinger Pils, einem ebenso günstigen, wenn auch recht süffigen Alltagsbiers. 

12. April 2023

Uranus





(Uranus. Aufnahme der NIRCAM des JWST vom 6. Februar 2023)

Ich bin mir durchaus bewußt, daß ich in meinen Beiträgen an der Stelle dazu neige, einen Detailfetischismus, eine Zahlenbesessenheit und (doch, ja) eine Besserwisserei an den Tag zu legen, die von manchem Leser als durchaus störend empfunden werden könnten. Andererseits nehme ich dies bei einem Netztagebuch, daß zumindest mit seinem Namen dem Andenken und dem Geist Arno Schmidts gewidmet ist, eher als „Feature“ denn als „Bug,“ ja nachgerade als eine Verpflichtung. Denn bei Schmidt handelte es sich nachweislich um den wohl notorischsten Pedanten, Zahlenfetischisten und Besserwisser, der die deutsche Literatur der letzten hundert Jahre unsicher gemacht hat. Bei Schmidt kam freilich zu der maßlosen Selbstzentrierung auf das eigene Ich und seine Befindlichkeit, wie sie für so viele hochbegabte Asperger-Autisten (und um einen solchen handelte es sich bei Schmidt zweifelsohne) ebenfalls notorisch ist, die Tatsache hinzu, daß er als reiner Autodidakt nie eine Gültigkeit seiner Ideen, Einfälle, Vermutungen kritisch hinterfragt und abgewägt hat, sondern sie stets als unumstößliche Wahrheiten vertreten hat – was ihm im Fall seiner „freudschen“ Auslegung des Werks von Karl May in „Sitara und der Weg dorthin“ (1962) auf besonders bizarre Weise zum Fallstrick geworden ist.

Wie dem auch sei: auch für den Kleine Pedanten™, der hier stets mitschreibt, gilt der Satz von Oscar Wilde „I can resist anything but temptation“ (der K.P. merkt an, daß Lord Darlington ihn zu Lady Windemere im ersten Akt von Wildes erstem großen Bühnenerfolg, „Lady Windermeres Fächer“ aus dem Jahr 1892 sagt). Und wenn der der amerikanischen Raumfahrtbehörde NASA ein in der Sache trivialer, aber überraschender Schnitzer unterläuft, dann stellt das eine Versuchung dar, der er nicht widerstehen kann.

6. April 2023

C. M. Kornbluth, "Die Rakete von 1955" (1939/1941)





Das Vorhaben selbst hatte Fein ausgeheckt, aber die Details, die zur Umsetzung nötig waren, und die gesamte Ausführung gingen auf mein Konto. Ich weiß nicht, wie lange er schon daran getüftelt hatte, aber im Frühjahr 1954 teilte er mir seinen Plan in groben Umrissen mit. Ich machte ihn auf ein paar Fehler aufmerksam, besserte nach, machte die Chose rund und erklärte ihm, daß ich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben wollte. Dann änderte ich meine Meinung, als er damit drohte, gewisse Unregelmäßigkeiten, die ich mir vor Jahren erlaubt hatte, weiterzuerzählen.

Dafür war es notwendig, daß ich für einige Monate nach Europa reiste, um Nachforschungen anzustellen, die sich auf unser Projekt bezogen. Ich kam mit einer Menge schriftlicher Notizen, alten Zeitungsberichten und Kopien von wichtigen Dokumenten zurück, sowie mit einem kurzen Interview mit diesem alten Wiener Professor, der von den Zeitungslesern wie ein Gott verehrt wird. Meine Unterlagen hatten ihn davon überzeugt, daß es in seinem Interesse war, unsere Sache zu unterstützen.

Sie wissen alle, was als nächstes passierte: die Rede des Professors, die ihm Radio gesendet wurde. Fein hatte den ersten Entwurf dafür gemacht, ich hatte sie umgeschrieben und dem Professor erklärt, er möchte bitte beim Vorlesen mit betont deutschem Akzent sprechen. Ein paar Wendungen waren herrlich: „…die Vorherrschaft Amerikas über die Planetenwelt! – der Schleier der Geheimnisse endlich gelüftet – der Sieg über die Schwerkraft – die Eroberung des Alls – das ruhmreiche Banner in Rot, Weiß und Blau auf dem Mars aufgepflanzt …“

Die erbetenen Spenden strömten herein; Zeitungen und Illustrierte stellten Schecks über tausende von Dollars in Quadratmetergröße aus; die Regierung legte netterweise eine halbe Million drauf, eine „Raketenförderwoche,“ die an den Schulen abgehalten wurde, brachte mächtig Zaster ein, aber der Löwenanteil entfiel auf Einzelspenden. Wir sackten sieben Millionen ein, und machten uns ans Werk, das Raumschiff zu bauen.

Berlin hat die Chance verpasst. Mehr Glück beim nächsten mal.

Schon vor sechs Wochen habe ich hier deutlich beschrieben, dass ich es für eine ausgesprochen gute Idee halte, wenn Berlin mehr Berlin wagen würde. Die progressiven Ideen, die gerne aus Berlin stammen, sollten auch unbedingt und möglichst gnadenlos in Berlin umgesetzt werden.

Mit der Scheitern der Volksabstimmung "Berlin 2030 klimaneutral" ist eine große Chance verpasst worden, diesem Ansinnen entscheidend näher zu kommen. Die Initiatoren hatten Großes vor: Bis 2025 (also in zwei(!) Jahren) sollten die Emissionen auf einen Wert von 30% der Emissionen von 1990, bis 2030 dann auf 5% gesenkt werden. Bevor das übrigens zu kritisch aussieht: Berlin ist derzeit bei etwa 50%, ob das mit dem Zusammenbruch der lokalen Industrie zusammenhängt (und nicht zuletzt dem Schliessen von Tegel) sei dahin gestellt.
Wie dem auch sei:  Wäre die Initiative durchgekommen, hätte Berlin in zwei Jahren ungefähr 40% der heutigen Emissionen, innerhalb von sieben Jahren 90% einsparen müssen. 

3. April 2023

Ein Witz am Rande: Community Guidelines und die seltsame Mischung aus Puritanismus und Progressivität

Der heutige Beitrag beginnt mit einem Witz. Einem unfreiwilligen Witz. Nach mehr als 10 Jahren Autorenschaft in Zettels Raum, in dem ich hunderte von Beiträgen geschrieben habe, ist endlich mal einer zensiert worden. Oder zumindest halb zensiert worden. Und das geschah nicht an einem vielleicht wirklich kritischen Beitrag, wo ich mich mit der Corona-"Impfung" beschäftigt habe oder dem zusammen brechenden Rechtsstaat in Deutschland. Es geschah an einem Beitrag, bei dem ich in 100 Jahren nicht gedacht hätte, dass er irgendwie kritisch sein könnte. Der Beitrag ist noch da, allerdings jetzt mit einer Inhaltswarnung versehen und nur noch für Erwachsene einsehbar. Es handelt sich um den inzwischen mehr als neun Jahre(!) alten Beitrag "Warum ich nichts von DE-Mail halte", in dem ich mich damit beschäftige, dass rechtssichere Unterschriften ein gewaltiges Risiko sind, angesichts der Unsicherheit aktueller Rechnergenerationen.  Als kleine Bauchpinselei sei mir am Rande gestattet zu bemerken, dass ich inhaltlich als auch prophetisch vollkommen richtig lag und DE-Mail inzwischen den Tod gestorben ist, den es verdient hat.

Dennoch schrieb uns (dem Autorenteam) Google vor zwei Wochen, dass jemand meinen Artikel gemeldet habe und Google diesen überprüft hätte, wobei sich heraus gestellt hätte, dass er gegen die Community Guidelines verstoße und entsprechend jetzt eine Warnung vorgeschaltet werden müsse. 

31. März 2023

Verdi und die Suche nach dem Reallohn

Leser dieses Blogs haben es schon im vergangenen Jahr gelesen: Die Reallohnverluste im Jahr 2022 sind nicht nur gewaltig in sich, sie sind auch historisch auf einem Stand, wie man ihn seit dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hat. Die Kombination aus einer zweistelligen Inflation, kombiniert mit nur gering steigenden Löhnen, bewirkt Reallohnverluste im höheren einstelligen Bereich, in einigen Branchen mit wenig Spielraum für Lohnerhöhungen im zweistelligen.

24. März 2023

Vom großen Wind - Bruno Schulz, "Der Sturm" (1933)



Eskapismus, ruft ihr mir zu,
vorwurfsvoll.
Was denn sonst, antworte ich,
bei diesem Sauwetter! –,
spanne den Regenschirm auf
und erhebe mich in die Lüfte.
Von euch aus gesehen,
werde ich immer kleiner und kleiner,
bis ich verschwunden bin.
Ich hinterlasse nichts weiter
als eine Legende,
mit der ihr Neidhammel,
wenn es draußen stürmt,
euern Kindern in den Ohren liegt,
damit sie euch nicht davonfliegen.

(Hans Magnus Enzensberger, "Der fliegende Robert")




(Bruno Schulz im Jahr 1922)

Im Lauf dieses langen, leeren Winters fuhr die Dunkelheit in unserer Stadt eine gewaltige, eine hundertfache Ernte ein. Viel zu lange war auf den Dachböden und Abstellkammern nicht aufgeräumt worden. Töpfe und Flaschen waren dort abgestellt und gestapelt worden, bis ihre Zahl ins Unermeßliche gestiegen war.

Dort, auf den Dachböden, in diesen verkohlten Urwäldern voller Dachbalken, geriet die Dunkelheit in heftige Gärung und veränderte sich. Dort begannen die schwarzen Verschwörungen der Töpfe, ihre nichtssagenden Ratsversammlungen, das Geschwätz der Flaschen, das Blubbern der Buddeln und Bottiche. Bis zu der Nacht, in der es unter den Schindeln zu gären begann, sich die Schlachtreihen formierten und als Heerstrom in Richtung Stadt flossen.

Die Speicher, die aus den Speichern ausgelagert waren, schoben sich auseinander, schossen als schwarze Spaliere in die Höhe, und die Echos liefen durch die Kavalkaden der Pfosten und Balken, durch die Lancaden der Böcke, die auf ihre Knie aus Tannenholz fielen und dann, als sie in die Weite der Nacht hinausgestürmt waren, das Dunkel mit dem Galoppieren der Dachsparren und dem Lärm der Querbalken erfüllten.

Dann ergossen sich diese schwarzen Ströme, der Fluß der Fässer und Kannen, durch die Nacht. Ihre schwarze, glänzende Menge belagerte die Stadt. Nachts klirrte und wogte dieses dunkle Getümmel wie ein Heer plappernder Fische, ein unablässiger Ansturm knurrender Kübel und rumpelnder Bottiche.

20. März 2023

Vom großen Wind - Kurt Kusenberg, "Der große Wind" (1948)



Die Insel mitten im Fluß, samt dem stattlichen Haus, das man in der Gegend „das Schloß“ nannte, und den reichen Gärten war mein Erbe. Ich hatte lediglich eine Familie hinzugebracht, die Frau und drei Kinder. Mehrten oder verzehrten wir den Besitz? Ich glaube, wir erhielten ihn – falls er sich nicht selbst erhielt, denn er war gleichermaßen schön und nützlich angelegt, ein rechtes Mustergut, das sich nur mit Gewalt herunterwirtschaften ließ.

An den steilen Hängen des Flußtales wuchsen Reben. Was dort je besonders wohlgeraten war hatten meine Vorväter in die Weinkeller eingelagert, die sich unter der ganzen Insel hinzogen. Selbst wenn ich gesoffen hätte wie ein Bürstenbinder, wäre ich des ungeheuren Bestandes zeitlebens niemals Herr geworden. Das gab mir Rückhalt, denn ich trinke gern, der Reichste konnte sich nicht sicherer dünken als ich.

Um die Zeit, die alles so äh veränderte, sprach und schrieb man viel über einen neuen, furchtbaren Wind. Von anderen Winden weiß man, wie sie entstehen, wessen sie fähig sind und wohin ungefähr sie sich wenden; von diesem wußte man es nicht. Viele nannten ihn den Weltwind, um auszudrücken, wie unheimlich er ihnen sei. In Asien hieß er Kadharta, in Amerika Sizzon, in Afrika Turdusi. Wir Europäer gaben ihm so viele Namen, wie wir Sprachen haben. Es verlautete, er sei eisig und von tödlicher Gewalt, nichts widerstehe ihm, alles zerstöre er oder reiße es mit sich fort, nur Trümmer lasse er zurück. Das Arge war, daß man ihn immer und überall fürchten mußte. Er kam auf, er sprang um, wie es ihm beliebte. Hatte er gestern in Korea gewütet, so fegte er heute durch Spanien; er reiste geschwinder als jeder andere Wind. Manche meldeten, er verdunkle das Firmament und dröhne tief wie eine Orgel; andere behaupteten, ihn begleite ein hoher, pfeifender Ton. Nun, ich sollte ihn gründlich kennenlernen.

An einem freundlichen Maitag war ich in die Kellereien hinabgestiegen, um nach dem Rechten zu sehen. Als ich eben ergründen wollte, welchem von zwei trefflichen Weinen der Vorzug gebühre, vernahm ich ein Sirren, das schrill anschwoll und in den Ohren schmerzte; zugleich fiel die Kellertür zu. Obwohl die Gewölbe tief unter der Erde lagen, zitterten sie, als schreite ein Her von Riesen darüber hin. Wo immer ein Schacht oder Spalt aus dem Keller nach oben führte, ward Luft hineingepreßt, in kurzen, bösen Stößen. Da wußte ich, daß der Große Wind in unser Flußtal gekommen war.

19. März 2023

Vom großen Wind - Gustav Meyrink, "Das grüne Gesicht" (1916)



Ein großer Atem weht
durch diese kurze Zeilen.
Er weht von rechts, <===
er weht von links, ===>
um euch dies mitzuteilen:
„Ich blas‘ hier alles krumm und schief,
weil mich ein Gott dazu berief.
Ist Gott von Max und Moses.
gez. Atem, großes.“

(Robert Gernhardt)



Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht (Auszug)

Vierzehntes Kapitel

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Trotz der frühen Stunde war die Luft heiß und trocken wie vor einem Gewitter.

Eine atembeklemmende Windstille verlieh der ganzen Gegend etwas unheimlich Leichenhaftes; die Sonne hing wie eine Scheibe aus blindem, gelbem Metall hinter dichten Dunstschleiern, und weit im Westen über der Zuidersee brannten Wolkenmauern, als sei es Abend statt Morgen.

In ungewisser Angst, zu spät zu kommen, kürzte er den Weg ab, wenn es nur irgend ging, schritt bald querfeldein, bald auf den menschenleeren Straßen dahin, aber es schien, als wolle die Stadt nicht näherrücken.

Allmählich mit dem wachsenden Tag veränderte sich das Bild des Himmels; hakenförmige, weißliche Wolken krümmten sich wie gigantische Wurmleiber auf dem fahlen Hintergrund, von unsichtbaren Wirbeln gepeitscht, hin und her, – immer an derselben Stelle bleibend: – kämpfende Luftungeheuer, die der Weltenraum herabgesandt.

16. März 2023

"Weird Tales" - Ray Bradbury, "Der Wind" (1943)





(Ill. von Joe Mugnaini für "The October Country," Ballantine Books, 1955)

John Colt war wach und lauschte…

Das Mondlicht, das durch das große, dreifach unterteilte Dachfenster im Obergeschoß des Hauses in sein Zimmer drang, fiel über sein scharfgeschnittenen Gesichtszüge.

Weit draußen in der Nacht blies der Wind, und Colt bewegte die Lippen, während er ihm zuhörte; hörte ihm zu, wie er sich verstohlen aus Richtung des Meers unbeirrt auf das Haus zubewegte.

Er zitterte, die Haare sträubten sich ihm, und er bekam eine Gänsehaut. Er wußte, warum ihm derart zumute war. Nach zehn Jahren konnte er sich nichts anderes vorstellen.

Er wußte, daß der Wind zu ihm kam – er schlüpfte aus dem Bett, streifte mit zitternden Händen einen Morgenmantel über, fand seine Filzpantoffeln und ging nach unten, um die Ankunft abzuwarten.

Er ging zum Telefon und dachte: „Darauf habe ich gewartet. Zu Anfang in aller Ruhe. Neugierig und gespannt. Ich war mir über das meiste gewiß. Aber ich weiß nicht, wie viel ich noch aushalten kann. Ich verliere den Mut, dann gewinne ich ihn wieder, und dann verliere ich ihn erneut.“

Seine Hand zitterte, als er die Nummer wählte. „Hallo – Herb? Hier spricht Colt.“

“John? Wie gehts dir?“

„Nicht so gut. Und ich habe dummerweise heute dem Dienstpersonal freigegeben. Ich bin allein…“

Während er sprach, lauschte er. Die Entfernung dämpfte die unheimliche Musik des Winds. Sie wurde lauter.

13. März 2023

"Weird Tales" - Frank Owen, "Der Wind, der die Welt durchstreift" (1925)





Die kleine Stadt der großen Winde liegt oben auf dem Dach der Welt, zwischen den öden, sturmumtosten Gipfeln des Himalaya, als wenn sie von der Hand eines zornigen Riesen dorthin geschleudert worden wäre. Man kann sich kaum einen trostloseren Ort vorstellen, oder einen Flecken, der noch mehr dem Wüten der Elemente ausgeliefert ist.

Nach seiner Ankunft in der Stadt hatte John Steppling zunächst keinen Schlaf finden können. Es war, als wenn er sich in einer anderen Welt befände, in einem Land aus Wolken und ziehenden Schatten, in dem jeder Atemzug Mühe machte und jede körperliche Anstrengung fast unmöglich war. Er fühlte sich leer, wie ein Behältnis unter immensem Druck von außen, das jeden Moment kollabieren konnte. Nachts, wenn er zu den Sternen aufblickte, schien es ihm, als brauchte er nur die Hand auszustrecken, um sie vom Himmel zu pflücken wie Blumen aus einem duftenden Garten. Der Himmel war von solcher Klarheit, daß ihm der Atem stockte, obwohl vielleicht die dünne Luft in jedem Fall den Atem abgeschnürt hätte.

Er war durch Zufall während einer Forschungsreise in Nordindien in die Stadt gekommen. Er hatte nicht vorgehabt, dort länger als einen Tag zu bleiben, aber er konnte sich nicht dazu durchringen, sie zu verlassen. Etwas, das er nicht genau benennen konnte, hielt ihn dort fest.

Die meisten der Einwohner waren so arm wie Kirchenmäuse – sogar noch ärmer, denn zum Wohnen dienten ihnen nur die primitivsten strohbedeckten Lehmhütten. Sie fristeten ihr Leben als Hirten und hüteten kleine Herden von mageren, kränklichen Schafen und Ziegen, die der karge, halb gefrorene Boden kaum ernähren konnte. Sie waren schmutzig, unwissend und stur. Wasser war knapp, und sie verschwendeten es nicht; statt zu baden, rieben sie sich mit Fett ein, was zudem den Vorteil hatte, daß es sie wärmte. Es verlieh ihnen auch einen schlechten Geruch, aber für Menschen, die nichts von den angenehmen Düften kennen, nach, die ihre Nachbarn im Süden so hoch schätzen, spielte das keine Rolle.

11. März 2023

J. D. Beresford, "Die Mächte der Luft" (1917)



Ich ahnte die Gefahr, die ihm drohte. Er wußte so wenig, und der lange Aufenthalt in der Stadthatte ihn die Fähigkeit, etwa zu sehen, gekostet. Ein blindes Vertrauen ist der Anfang aller Weisheit, aber den Stadtmenschen ist ihr Bücherwissen zu Kopf gestiegen, und das Lesen hat die ihnen klare Sicht des Geistes genommen.

Ich begann ihn zu Anfang Oktober zu warnen, wenn sich die Sturmwinde hoch oben am Himmel austoben. Dann sind sie noch harmlos: sie zerren an den Dachpfannen und Schindeln und verschwenden ihre Kraft damit, die Bäume zu zerzausen, aber wir sind sicher, bis das Dunkel kommt.

Ich nahm ihn mit hinaus auf die Stoppelfelder und drehte ihn so, daß er mit dem Rücken zum dünnen schwarzen Band der See in der Ferne stand. Ich wies auf die Krähen, die wie aufgewirbelte Blätter am Himmel flatterten.

„Es ist jetzt soweit,“ sagte ich. „Die schwarze Zeit kommt.“

Er stand da und sah den wild flatternden Krähen zu. „Soll das ein Spiel sein?“ fragte er.

Ich schüttelte den Kopf. „Sie gehören dem Dunkel an, “sagte ich zu ihm.

Er schenkte mir einem nachsichtigen Blick. „Noch so ein Aberglauben von euch.“