10. Oktober 2023

Kenji Miyazawa, "Der Erdgott und der Fuchs" (1934)





   (一)

 一本木の野原の、北のはずれに、少し小高く盛りあがった所がありました。いのころぐさがいっぱいに生え、そのまん中には一本の奇麗な女の樺の木がありました。
 それはそんなに大きくはありませんでしたが幹はてかてか黒く光り、枝は美しく伸びて、五月には白い花を雲のようにつけ、秋は黄金や紅やいろいろの葉を降らせました。
 ですから渡り鳥のかっこうや百舌も、又小さなみそさざいや目白もみんなこの木に停まりました。ただもしも若い鷹などが来ているときは小さな鳥は遠くからそれを見付けて決して近くへ寄りませんでした。
 この木に二人の友達がありました。一人は丁度、五百歩ばかり離れたぐちゃぐちゃの谷地の中に住んでいる土神で一人はいつも野原の南の方からやって来る茶いろの狐だったのです。
 樺の木はどちらかと云えば狐の方がすきでした。なぜなら土神の方は神という名こそついてはいましたがごく乱暴で髪もぼろぼろの木綿糸の束のよう眼も赤くきものだってまるでわかめに似、いつもはだしで爪も黒く長いのでした。ところが狐の方は大へんに上品な風で滅多に人を怒らせたり気にさわるようなことをしなかったのです。
 ただもしよくよくこの二人をくらべて見たら土神の方は正直で狐は少し不正直だったかも知れません。 ­

Am nördlichen Rand eines Feldes, auf dem ein einziger Baum stand, erhob sich ein kleiner Hügel. Er war mit hohem Gras überwuchert, und mitten darauf stand eine wunderschöne Birke.

Sie war nicht sehr groß, aber ihr Stamm war von glänzendem Schwarz und ihre Äste breiteten sich anmutig aus. Im Mai entfalteten sich ihre Blüten wie kleine weiße Wölkchen, und im Herbst fielen ihre Blätter als goldener und roter Regen zu Boden.

Deshalb machten alle Zugvögel, der Kuckuck, der Neuntöter, der Zaunkönig und das Weißauge (*), bei ihren Flügen auf ihren Ästen. Nur wenn sich ein junger Falke oder ein anderer Raubvogel sehen ließ, erkannten ihn die kleinen Vögel schon aus der Ferne und hielten sich fern.

Diese Birke hatte zwei Freunde. Der eine war ein Erdgott (**), der ein gutes halbes Tausend Schritte entfernt in einer feuchten, sumpfigen Grube wohnte, und der andere war ein Fuchs mit einem Fell von der Farbe von dunklem Tee, der stets von Süden her über das Feld kam, wenn er sie besuchte.

Von den beiden schätzte die Birke den Fuchs mehr. Der Erdgott war zwar seinem Namen nach ein Gott, aber er war jähzornig und unbeherrscht, sein Haar hing ungekämmt wie zerfranste Bindfäden herab, seine Augen waren blutunterlaufen, sein zerrissener Umhang sah aus, als ob er aus Seegras gewoben wäre, er lief stets barfuß umher und seine Fingernägel waren lang und schwarz. Der Fuchs dagegen war stets von ausgesuchter Höflichkeit und vermied alles, was andere stören oder kränken könnte.

Freilich hätte ein Betrachter auch zu dem Schluß kommen können, daß der Erdgott sich stets offen und ehrlich verhielt, während es der Fuchs mit der Wahrheit nicht so genau nahm. (***)

2.(二)

Es war an einem Abend im Frühsommer. Die Birke war von neuen, zarten Blättern bedeckt, die einen herrlichen Duft ausströmten, die Milchstraße stand bereits glänzend am Himmel, und die Sterne funkelten, blitzen, verschwanden und erschienen von Neuem.

Der Fuchs kam vorbei und setzte sich an ihren Stamm. Er trug einen dunkelblauen Maßanzug, hatte einen band mit Gedichten unter den Arm geklemmt und seine roten Lederschuhe knarzten vernehmlich.

„Was für ein friedlicher Abend!“

„Ja,“ gab die Birke leise zur Antwort.

„Schau einmal - da kriecht schon der Skorpion am Himmel hinauf. Der große rote Stern wurde in China früher der Feuerstern genannt.“ (****)

„Aber das ist doch nicht der Mars?“

„Das ist nicht der Mars. Der Mars ist nur ein Planet – und das dort ist ein richtiger, prächtiger Stern.“

„Was ist denn der Unterschied zwischen Planeten und Sternen?“

„Ein Planet strahlt selber kein Licht aus. Anders gesagt: sie leuchten nur, wenn sie von anderswoher Licht empfangen. Die Sterne dagegen leuchten von selbst. Und auch unsere Sonne ist ein Stern. Sie erscheint uns zwar gewaltig und blendend, aber wenn du sie aus weiter Entfernung sehen würdest, würde sie dir wie ein kleiner Stern erscheinen.“

„Die Sonne ist also ein Stern? Und ich sehe am Himmel unzählige Sterne. Und das sind alles Sonnen? Wie merkwürdig.“

Der Fuchs lächelte nachsichtig. „Das stimmt.“

„Und warum sind manche Sterne rot oder gelb oder grün?“

Der Fuchs lachte wieder und verschränkte die Arme vor der Brust. Die Seiten in seinem Gedichtband flatterten heftig, aber das Büchlein rutschte ihm nicht aus der Pfote.

„Warum die Sterne verschiedene Farben haben – zitronengelb, blau und so weiter, dafür gibt es einen Grund. Ganz am Anfang waren alle Sterne nur wie dünne Nebelwolken. Die kann man auch heute noch am Himmel sehen. Etwa im Sternbild der Andromeda, im Orion, in den Jagdhunden. Im Sternbild Jagdhunde gibt es auch einen Spiralnebel, der wie ein Strudel aussieht. Es gibt dort auch einen ringförmigen Nebel. Weil er so aussieht wie das geöffnete Maul eines Fisches, wird er auch der ‚Fischmaul-Nebel‘ genannt. Von solchen Dingen findet man viel am Sternenhimmel.“ (*****)

„Das würde ich gerne einmal sehen. Wie wunderbar – ein Stern, der wie ein Fischmaul aussieht!“

„Es ist eindrucksvoll. Ich habe auf der Sternwarte in Mizusawa gesehen.“ (******)

„Das würde ich gerne auch einmal.“

„Oh – das kann ich dir zeigen. Ich habe nämlich gerade ein Teleskop bestellt – von der Firma Zeiss in Deutschland. Im nächsten Frühling soll es hier eintreffen. Ich werde es dir zeigen, sobald es da ist.“ Der Fuchs hatte einfach so dahergeredet. Und sofort kam es ihm in den Sinn: da habe ich der einzigen Freundin, die ich habe, wieder einmal eine Lüge erzählt. Ich bin doch ein Taugenichts. Aber ich habe es nicht mit böser Absicht getan – nur, damit sie sich freut. Ich werde ihr irgendwann die Wahrheit sagen. Aber die Birke, die nicht wußte, daß er geschwindelt hatte, sagte zu ihn: „Du bist immer so gut zu mir!“ (*******)

Ein wenig verstimmt sagte der Fuchs: „Ja, gewiß. Ich würde auch alles für dich tun, was ich kann. Übrigens, das Buch hier – es stammt von einem Dichter namens Heine. Es ist natürlich eine Übersetzung, aber sie ist sehr gelungen.“

„Darf ich mir sie ausleihen?“

„Gerne – solange du möchtest. Ich mache mich dann einmal wieder auf den Weg. Warte einmal: gab es da nicht noch etwas?“ (********)

„Es ging um die Farben der Sterne.“

„Richtig! Darüber sprechen wir das nächste Mal. Ich stehle dir nur deine Zeit.“

„Das macht doch nichts.“

„Ich komme wieder, aber jetzt muß ich mich verabschieden. Ich lasse dir das Buch hier. Leb wohl.“ Der Fuchs entfernte sich eilig. Und die Birke raschelte mit ihren Blättern im Südwind, der aufgekommen war, nahm die Gedichtsammlung, die der Fuchs liegengelassen hatte und blätterte beim schwachen Licht der Milchstraße und der funkelnden Sterne am Himmel darin. Das Buch enthielt die „Loreley“ und andere schöne Gedichte Heines. Die Birke las fast die ganze Nacht hindurch, und erst um drei Uhr, als schon der Stier im Osten aufging, nickte sie ein.

Die Nacht ging zuende. Die Sonne ging auf.

Auf dem Gras glänzten die Tautropfen und die Blumen blühten strahlend.

Vom Nordosten her näherte sich langsam, mit gemächlichem Schritt, der Erdgott. Die Morgensonne badete ihn in ihrem Licht, als ob sein Körper mit geschmolzenem Kupfer übergossen würde. Bedächtig kam er näher, die Arme vor der Brust verschränkt.

Die Birke war leicht beunruhigt, aber sie drehte sich ihm zu und ließ ihre grünen Blätter glänzen, so ihre Schatten über das Gras spielten. Der Erdgott kam langsam näher und blieb vor der Birke stehen.

“Guten Morgen, Birke.”

“Danke!“

„Weißt du, es gibt vieles auf der Welt, was ich nicht verstehe. Und selbst wenn ich lange darüber nachdenke, verstehe ich sie immer noch nicht.“

„Was denn zum Beispiel?“

„Nun, das Gras wächst aus der schwarzen Erde – und die Blumen. Aber warum blühen sie blau und sogar gelb und weiß. Ich verstehe das nicht.“

„Vielleicht ist es ja so, daß die Grassamen das Grün und das Weiß schon in sich tragen?“

„Vielleicht ist das so, aber die Pilze, die im Herbst aus dem Boden sprießen, entstehen ohne Samen. Und auch sie sind rot und gelb. Ich verstehe es nicht.“

„Warum fragst du nicht den Fuchs und hörst dir an, was er zu sagen hat?“

Die Birke war immer noch gebannt von dem, was er ihr in der vergangenen Nacht über die Sterne erzählt hatte, und redete deshalb so unbedacht.

Als der Erdgott diese Worte hörte, lief sein Gesicht zornrot an, und er ballte die Fäuste.

“Der Fuchs? Was hat dir der Fuchs erzählt?“

Der Birke versagte fast die Stimme.

“Nichts Bestimmtes. Aber du kennst ihn nun doch seit einiger Zeit.“

„Und was zur Hölle soll ein Fuchs einen Gott wohl lehren können?“ (*********)

Die Birke was jetzt so verschreckt, daß sie nur noch zitterte und bebte. Der Erdgott stampfte hin und her, knirschte mit den Zähnen und hielt die Arme angespannt vor der Brust verschränkt. Sein pechschwarzer Schatten fiel auf das Gras, und auch das Gras bebte vor Angst.

“Dieser Fuchs ist das wahre Übel auf der Welt. Er ist feige, er hat keine Ehre, und er wird von Mißgunst zerfressen. Solche Gestalten stiften nur Unfrieden.“

Die Birke hatte wieder etwas Fassung gewonnen.

“Bis zum Festtag an deinem Schrein ist es doch nicht mehr lange?“

Ein wenig von der Zornröte wich aus dem Gesicht des Erdgottes. „Heute ist der dritte Mai; in sechs Tagen ist es soweit.“

Er sann ein wenig nach, und dann wurde seine Stimme wieder ungehalten. „Aber die Menschen sind undankbar. Sie bringen mir keine Opfergaben mehr, nicht einmal zu meinem Ehrentag. Und den ersten, der einen Fuß auf mein Land setzt, werde ich im Schlamm ertränken.“ Der Erdgott begann erneut mit den Zähnen zu knirschen.

Die Birke versuchte, ihn zu besänftigen, aber wieder blieb sie damit erfolglos. Sie gab es auf und ließ ihre Blätter im Wind wehen. Der Erdgott mit schweren Schritten auf und ab, knirschte mit den Zähnen und hielt die Arme vor der Brust verschränkt. Im Sonnenlicht schien sein Körper in hellen Flammen zu stehen. Je länger er damit fortfuhr, desto wütender wurde er. Schließlich ertrug er es nicht mehr: unter wildem Gebrüll stürmte er zu seinem Sumpf zurück.

3.(三)

Die Stelle, an der der Erdgott wohnte, hatte ungefähr die Größe einer Pferderennbahn. Es handelte sich um einen feuchten, kalten Sumpf, auf dem Moose, Gras und schütteres Schilf wucherten, aber auch Disteln und eine verkümmerte Weide, deren Zweige tief herabhingen.

Das Wasser war trüb, und an einigen Stellen quoll es rostrot an die Oberfläche, so daß der ganze Ort gefährlich und unheimlich wirkte.

In seiner Mitte, wo man eine kleine Insel vermuten konnte, erhob sich der Schrein des Erdgottes, eingeschossig und aus unbehauenen Baumstämmen errichtet.

Nachdem der Erdgott auf seine Insel zurückgekehrt war, streckte er sich neben dem Schrein aus. Dann begann er, sich an seinen langen schwarzen Beinen zu kratzen. Genau über sich sah er einen Vogel dahinfliegen. Er setzte sich mit einem Ruck auf und schrie: „Schschschsch!“ Der Vogel stürzte vor Überraschung fast vom Himmel. Tiefer und tiefer fiel er, als wenn ihn der Schreck lähmen würde, und flog schließlich davon.

Der Erdgott lachte leise und stand auf. Dabei fiel sein Blick auf den Hügel, auf dem die Birke stand; sein Gesicht wurde unversehens rot vor Zorn und er richtete sich stocksteif auf. Dann raufte er sich mit beiden Händen die struppigen Haare.

Unterdessen näherte sich ein einsamer Holzfäller, der zum Berg Mitsumori unterwegs war, um seinen Lebensunterhalt zu fristen, von Süden her dem Sumpf. Er folgte dem schmalen Pfad, der am Rand der Senke entlangführte. Fast war es, als könnte er die Gegenwart des Erdgottes erspüren, und er blickte zum Schrein hinüber, als ob er ihn wiedererkennen würde. Aber natürlich war dort für ihn niemand zu sehen.

Als ihn der Erdgott zu Gesicht bekam, wurde er vor Freude rot im Gesicht. Er streckte seine rechte Hand aus, faßte mit der Linken sein rechtes Handgelenk fest und zog ihn zu sich hin. Und seltsam: obwohl der Holzfäller meinte, daß er sich noch dem Weg folgen würde, stellte er fest, daß ihn seine Schritte immer näher zum Sumpf hin führten. Sein Atem ging schneller, er wurde bleich, er öffnete den Mund und begann, nach Luft zu schnappen. Der Erdgott schloß seine rechte Hand zur Faust und beschrieb mit ihr einen Kreis. Jetzt begann auch der Holzfäller, im Kreis zu laufen, wieder und wieder lief er den gleichen Weg. Er versuchte mit aller Macht, zu entkommen, und dennoch blieb er auf demselben Fleck. Tränen schossen ihm in die Augen. Er hob die Hände und begann zu laufen. Der Erdgott lachte amüsiert und legte sich wieder hin. Es dauerte nicht lang, und der Holzfäller verlor das Gleichgewicht und stürzte in das Wasser des Sumpfs. Langsam stand er wieder auf. Der Erdgott ging zu ihm hinüber, hob den am Boden liegenden Holzfäller auf und warf ihn auf ein Rasenstück. Dort blieb er liegen und regte sich nur schwach, aber der Erdgott achtete nicht darauf.

Das Erdgott brach in lautes Gelächter aus. Wie eine Welle stieg es zum Himmel empor.

Bald hallte der Lärm vom Himmel zurück und erreichte die Birke. Ihre Blätter wurden bleich und zitterten im Sonnenlicht.

Das Erdgott sann nach und raufte sich die Haare mit beiden Händen. „Daß ich so wütend bin, liegt nur am Fuchs,“ sagte er zu sich selbst. „Nein, es liegt an der Birke. Am Fuchs und an der Birke. Aber ich will mich nicht mit der Birke streiten. Wenn sie mir gleichgültig wäre, wäre mir der Fuchs auch gleichgültig. Und ich bin immer noch ein Gott. Es ist armselig, daß ich mich über jemanden wie einen Fuchs ärgere. Aber mir bleibt keine Wahl. Ich sollte die Birke vergessen, aber das kann ich nicht. Wie schön sie heute morgen war, als sie bleich wurde und zitterte! Ich hätte diesen armen Menschen nicht quälen sollen. Aber das läßt sich nicht mehr ändern. Niemand weiß im Voraus, was er tut, wenn er die Beherrschung verliert.“

Vor Verzweiflung schlug er wild um sich. Hoch am Himmel flog ein Falke über ihn hinweg, aber der Erdgott sah ihm nur nach und sagte nichts.

In der Ferne war ein prasselndes Geräusch zu hören, als ob Salz in ein Feuer geworfen würde. Vielleicht hielt dort das Militär Schießübungen ab. Blaues Licht strömte vom Himmel herab auf das Feld. Es fiel auf den Holzfäller, der auf dem Gras lag. Er kam wieder zu Bewußtsein, setzte sich auf und sah sich um.

Er stand auf und eilte davon, so schnell er konnte, ohne sich noch einmal umzudrehen, in Richtung des Berges Mitsumori.

Der Erdgott sah ihm zu und lachte erneut. Wieder brandete sein Lachen zum Himmel empor und hallte von dort zurück, so daß die Birke es hören konnte.

Wieder verloren ihre Blätter die Farbe und zitterten so leicht, daß es kaum zu sehen war.

Lange noch ging der Erdgott zahllose Male um seinen Schrein herum, bis er sich endlich beruhigt zu haben schien und im Inneren verschwand, als ob er sich aufgelöst hätte.

4. (四)

Es war ein nebliger Abend im August. Der Erdgeist fühlte sich einsam und niedergeschlagen. Er hielt es in seinem Schrein nicht mehr aus und machte sich auf den Weg. Ohne daß er darauf achtete, trugen ihn seine Füße bis vor die Birke. Er wußte nicht warum, aber wenn er an sie dachte, wurde ihm in der letzten Zeit das Herz schwer. Es bemühte sich, jeden Gedanken an sie oder den Fuchs zu verdrängen, aber sie kamen ihm beharrlich in den Sinn. „Ich bin doch ein Gott!“ sagte er sich, und jeden Tag schärfte er sich ein, daß ihm eine Birke nichts bedeuten sollte. Aber es half ihm nichts. Besonders schmerzte ihn jeder Gedanke an den Fuchs. Dann war es ihm, als ob er am ganzen Leib in Flammen stehen würde.

Seine Gedanken schweiften ab, während der sich dem Baum näherte. Dann wurde ihm bewußt, daß er gleich bei ihr sein würde, und sein Herz machte einen Freudensprung. Er hatte sie so lange nicht besucht – vielleicht hatte sie auf ihn gewartet. Bestimmt war es so, und es tat ihm leid. Er trat das Gras nieder und spürte, wie ihm das Herz im Leib hüpfte. Dann aber wurden seine starken Knie weich, und er blieb stehen, als ob über ihm eine mächtige blaue Welle der Verzweiflung zusammengeschlagen wäre. Der Fuchs näherte sich. Es war bereits dunkel geworden, aber er konnte die Stimme des Fuchses durch den Nebel hindurch vernehmen, den das Mondlicht nur schwach erhellte.

„Es ist natürlich nicht so, daß etwas nicht nur deshalb schön ist, weil es den Gesetzen der Symmetrie gehorcht. Solch eine Schönheit ist nur tot und fruchtlos.“

“So ist es,” sagte die Stimme der Birke.

“Die wahre Schönheit hält sich nicht an eine starre Vorgabe. Die Gesetze der Symmetrie sollten dem Geist der Symmetrie folgen.“

“Das denke ich auch,” antwortete die sanfte Stimme des Baums. Dem Erdgott war es, als würde er am ganzen Leib über einem Torffeuer geröstet. Er rang nach Atem und fühlte sich hilflos. „Wieso regt dich das so auf?“ sagte er sich vorwurfsvoll. „Das ist doch nur ein belangloses Gespräch zwischen einer Birke und einem Fuchs, mitten auf freiem Feld. Und du nennst dich einen Gott, wenn du über so etwas die Fassung verlierst?“ Der Fuchs sprach weiter:

“Jedes Buch über Kunst befaßt sich damit.“

„Besitzt du viele Bücher über Kunst?“ fragte die Birke.

„Aber ja. Die meisten davon sind auf Japanisch, Englisch und Deutsch. Ich habe auch ein neu erschienenes auf Italienisch bestellt, aber es ist noch nicht geliefert worden.“

„Du mußt eine wunderbare Bibliothek besitzen!“

„Ach nein – da herrscht nur Unordnung, weil ich sie auch als Labor benutze, mit einem Mikroskop in einer Ecke, mit der Times aus London, und mit Marmorscheren, die nur Platz wegnehmen.“

„Das hört sich großartig an.“

Der Fuchs ließ ein leises Schnaufen vernehmen, das entweder Besitzerstolz oder Bescheidenheit andeuten sollte. Dann war es eine Weile still.

Der Erdgott ertrug es nicht länger. Aus den Worten des Fuchses entnahm er, daß dieser um so viel klüger und gebildeter war als er selbst. „Ich habe mich immer damit getröstet, daß ich ein Gott bin. Aber das ist vorbei. Bei allen Göttern – ich bin drauf und dran, ihn zu packen und in Stücke zu reißen. Aber daran darf ich nicht denken. Wäre das nicht ein Eingeständnis, daß ich dem Fuchs unterlegen bin? Was soll ich nur machen?“ Er schlug sich vor Verzweiflung auf die Brust.

„Ist das Fernrohr schon angekommen?“ fragte die Birke.

„Ach, das Teleskop. Nein, es ist noch nicht geliefert worden. Lieferungen aus Europa sind so umständlich. Ich bringe es dir vorbei, wenn es da ist. Die Ringe des Saturns sind herrlich.“

Der Erdgott hielt sich seine Ohren mit beiden Händen zu und begann, in Richtung Norden davonzulaufen. Er hatte Angst davor, zu was er sich hinreißen lassen könnte, wenn er hier noch länger blieb.

Blindlings stürmte er davon. Als er den Fuß des Bergs Mitsumori erreicht hatte, stockte ihm der Atem, und er brach zusammen

Der Erdgott wälzte sich im Gras und raufte sich die Haare. Dann begann er lauthals zu weinen. Wie ein Donner fuhr seine Stimme auf zum Himmel und war über die ganze Ebene hinweg zu hören. Der Erdgott weinte und schrie bis zur Erschöpfung, dann schleppte er sich benommen in seinen Schein zurück.

5.(五)

Endlich kam der Herbst. Die Birke war immer noch grün, aber die Hirse, die sie auf ihren Hügel umgab, trug bereits goldene Ähren, die im Wind leuchteten, und hier und dort waren schon die roten Beeren der Maiglöckchen zu sehen. (**********)

An einem schönen goldenen Herbsttag befand sich der Erdgott in einer außergewöhnlich heiteren Stimmung. All der Zorn und die Wut, die ihn den Sommer über geplagt hatten, hatten sich wie ein feiner Nebel aufgelöst, der jetzt weit über ihm schwebte. Auch sein Jähzorn hatte nachgelassen. „Wenn sich die Birke mit dem Fuchs unterhalten will – warum nicht?“ sagte er sich. „Wenn es sie beide glücklich macht, dann ist es doch gut so, und heute werde ich ihr das mitteilen.“ Und er machte sich leichtfüßig auf den Weg zur Birke.

Die Birke sah ihn von ferne kommen.

Voller Unruhe begann sie zu zittern.

Der Erdgott kam heran und begrüßte sie gutgelaunt.

„Guten Morgen, Frau Bike. Wir haben herrliches Wetter.“

„Guten Morgen. Ja, das Wetter ist schön.“

„Es ist ein Segen, wie uns die Sonne leuchtet. Im Frühling rot, im Sommer weiß und im Herbst gelb. Und wenn sie gelb wird, färben sich die Trauben rot. Es ist wirklich ein Segen.“

„Genau so ist es.“

„Heute bin ich wirklich gut gelaunt. Den ganzen Sommer über war ich bedrückt, aber seit heute morgen fühle ich mich endlich besser.“

Die Birke wollte eine Antwort geben, aber sie fand keine Worte, und so schwieg sie.

„Heute würde ich mein Leben für das eines anderen hergeben. Wenn ein Wurm sterben müßte, bevor seine Zeit gekommen ist, würde ich mich an seiner Stelle opfern,“ sagte der Erdgott und blickte hoch in den Himmel hinauf. In seinen schwarzen Augen lag ein glänzender Schimmer.

Wieder setzte die Birke zu einer Antwort an, aber etwas hielt sie zurück, und sie seufzte nur.

In diesem Augenblick kam der Fuchs seines Wegs.

Als der Fuchs den Erdgott erblickte, wurde er bleich. Aber er konnte nicht gut einfach wieder fortgehen, also ging er weiter zur Birke, während ihn ein leichtes Frösteln überkam.

„Guten Morgen, Frau Birke. Wie ich sehe, ist der Erdgott auch hier,“ sagte der Fuchs. Er trug immer noch rote Lederschuhe, einen braunen Regenmantel und seinen Sommerhut.

„Ja, ich bin der Erdgott. Schönes Wetter haben wir heute,“ sagte der Erdgott, der in wirklich guter Laune war. Der Fuchs lief vor Eifersucht blau an. Er wandte sich an die Birke:

„Bitte entschuldige, daß ich dich gestört habe, während du einen Gast empfängst. Hier ist das Buch, das ich dir letztens versprochen habe. Und heute abend lasse ich dich durch das Teleskop schauen. Leb wohl bis dahin.“

„Danke sehr,“ sagte die Birke, und der Fuchs machte sich eilig auf den Heimweg, ohne vom Erdgott Abschied zu nehmen. Wieder wurde die Birke bleich und begann von neuem zu zittern.

Der Erdgeist sah eine Weile lang zu, wie sich der Fuchs entfernte, ohne eine Miene zu verziehen. Dann aber stachen ihm die roten Lederschuhe ins Auge, die im Gras leuchteten. Und ausgerechnet jetzt, als er geglaubt hatte, seinen Jähzorn überwunden zu haben, ergriff ihn ein Schwindelgefühl. Der Fuchs ging rasch, die Schultern gestrafft. Der Zorn übermannte den Erdgott. Sein Gesicht lief tiefschwarz an. „Teleskope! Kunstbände! Ich werde ihm zeigen, was ihm blüht!“ Und er stürmte hinter dem Fuchs her. Die Birke verlor ihre Fassung, ihre Zweige erbebten und rauschten, und als sich der Fuchs umwandte, um zu sehen, was den Aufruhr verursachte, sah er den Erdgott auf sich zustürzen, schwarz und unheilvoll wie ein Wirbelsturm. Der Fuchs fauchte, bleckte die Zähne und lief so schnell er konnte.

Dem Erdgott war es, als ob sich das Gras ringsumher in loderndes weißes Feuer verwandelt hätte. Sogar der Himmel mit seinem strahlenden blauen Licht schien sich in ein pechschwarzes Loch verwandelt zu haben, aus dessen Tiefe prasselnd rote Flammen schlugen.

Schnaubend und brüllend wie ein Eilzug rannten sie beide dahin.

„Das ist das Ende,“ schoss dem Fuchs ein Gedanke wieder und wieder durch den Kopf, während er lief wie einem Albtraum, aus dem es kein Erwachen gab. „Es ist vorbei. Das Fernrohr! Das Fernrohr! Das Fernrohr!“

Vor ihm erhob sich ein kleiner roter Erdhügel. Der Fuchs eilte hastig um ihn herum, um das runde Eingangsloch zu seinem Bau zu erreichen. Er wollte gerade hineinspringen, als der Erdgott sich auf ihn stürzte und seine Hinterbeine packte. Ehe er noch einen Gedanken fassen konnte, hatte der Erdgott schon seinen Körper zermalmt, und sein Kopf hing schlaff von dessen Hand herab, die Lippen leicht verzogen, als würde er lächeln.

Unversehens warf der Erdgott den Fuchs zu Boden und trampelte auf ihm herum.

Dann sprang er in das Fuchsloch hinab. Das Innere des Baus war dunkel und leer, aber der rote Lehm des Bodens war sorgfältig festgeklopft worden. Dem Erdgott wurde seltsam zumute. Mit offen hängendem Mund kam er wieder ans Tageslicht.

Er steckte die Hand in die Innentasche des Regenmantels, den der Fuchs trug, der reglos dalag. Darin fand er zwei getrocknete braune Rispen von Feldgras. Sein Mund hing immer noch offen, und er begann in einer unmenschlichen Stimme zu weinen. (***********)

Wie Regentropfen fielen seine Tränen auf den Fuchs hinab, der sein Leben aushauchte, mit gebrochenem Hals und einem Lächeln auf den Lippen.





(Leider findet sich der Name des Zeichners in dieser Manga-Umsetzung nicht angegeben.)



(Titelbild einer Bilderbuchausgabe von 2015. Zeichnung: Toshiba Kobayashi)

Anmerkungen.

(*) „Der Neuntöter“: Im Japanischen bezeichnet 百舌/Mozu, alle Arten der Gattung Laniidae, der Würger; in der Regel ist damit aber Büffelkopfwürger oder Japanische Würger gemeint, dessen Verbreitung sich auf Japan und Ostsibirien beschränkt. Die Brutgebiete der auf dem Festland vorkommenden Populationen liegen auf der Breite der japanischen Hauptinseln, als Zugvögel überwintern sie in Südchina. Deshalb spricht der Text hier ausdrücklich von Zugvögeln (渡り鳥/wataridori) anstatt nur von Vögeln (鳥/tori) oder Singvögeln (鳴き鳥/nakadori). Beim „Weißauge“ handelt es sich um eine wortwörtliche Übersetzung des japanischen „mejiro“ (目白), mit dem die zoologisch korrekt benannte Art des Japanbrillenvogels (Zosterops japonicus) bezeichnet wird.



(Büffelkopfwürger)



(Das Weißauge: der Japanbrillenvogel)

(**) „Der Erdgott“: 土神/doshin. Im Shintoglauben gibt es buchstäblich tausende von Göttern (神/kami), die zumeist als Lokalgottheiten an einen bestimmten Ort gebunden sind und in der Regel mit einem der fünf Elemente in Verbindung gebracht werden. Eine Abgrenzung von Elementargeistern oder Personifikationen von Naturgewalten ist kaum möglich, zumal 神 alle Arten übernatürlicher Mächte umfaßt.

(***) Traduttore, traditore: wo es im Original „ただもしよくよくこの二人をくら“ heißt, wörtlich übersetzt: „Wenn man die beiden genau miteinander verglicht, könnte man meinen…“, habe ich daraus „…hätte ein Betrachter auch zu dem Schluß kommen können…“ gemacht.

(****) „Der Feuerstern“: In der chinesischen Tradition (und denen Koreas und Japans, die dies übernommen haben) sind die Planeten jeweils einem der fünf Elemente zugeordnet. So ist der Merkur der „Wasserstern“, 水星 (Japanisch suisei), die Venus der „Goldstern“, 金星 , dem edelsten der Metalle zugeordnet (durch den Bedeutungswandel das das Japanische kinboshi zum „Geldstern“ schlechthin geworden), der Mars der „Feuerstern“, 火星 (Mandarin: huǒxīng, Japanisch: kasei), der Jupiter der „Holzstern“, 木星 (Mandarin: mùxīng; Japanisch: mokusei), weil das Holz auf dauerhafte Weise als Verkörperung der Lebenskraft, des chi, gesehen wird, und der Saturn, 土星, der „Erdstern“ (tǔxīng bzw. dosei). Antares, der hellste Stern des Sternbild Skorpion, trägt aufgrund seiner augenfälligen roten Färbung seine Stellung als „Gegenmars“ schon in seinem griechischen Namen. Im Chinesischen trägt Antares üblicherweise den Namen 心宿二 (Xīnxiù'èr), der „zweite Stern des Herzens,“ weil er Teil des Sternbilds ist, der das Herz (心宿) des blauen Himmelsdrachens bildet. Mitunter taucht in den Annalen aber auch für Antares die Bezeichnung 火星 auf.

(*****) „Im Sternbild der Jagdhunde“: Mit der Strudelgalaxie (im Englischen auch als Whirlpool Galaxy geläufig) ist M51 im Sternbild Canes Venatici gemeint, dessen spiralförmige Struktur zuerst 1845 von Lord Rosse im irischen Parsonstown entdeckt worden ist. Der berühmte Ringnebel, M57, befindet sich allerdings im Sternbild Leier. Als „Fischmaulnebel“ („Fish’s Mouth“) wird gelegentlich die Dunkelwolke bezeichnet, die einen Teil des nördlichen Bereichs des Orionnebels (M42) verdeckt. Der offizielle Name lautet Sinus magnus.





(Die Strudelgalaxie M51 und der Sinus magnus im Orionnebel.)

(******) „Die Sternwarte von Mizusawa“: Das Observatorium wurde 1899 als Außenstelle der seit 1888 bestehenden Sternwarte in Tokio ; es handelte sich um eines von sechs Observatorien, mit denen die Schwankungen in der Dauer der Erdrotation genau ermittelt werden sollten. (*) Sämtliche Beobachtungsposten befanden sich auf einem Breitengrad von exakt 39 Grad und 8 Bogenminuten. Die übrigen Dependancen dieses internationalen Projekts (das die länderübergreifende Kooperation bei der Beobachtung der Venusdurchgänge von 1761 und 1769 wieder aufnahm), befanden sich in Gaithersburg, Mary; Cincinnati, Ukiah in Kalifornien, im usbekischen Kitab und im italienischen Carloforte. Die japanischen Beobachtungen fanden bis 1927 unter der Leitung von Hisashi Kimura (1870-1943) statt. Die Siedlung Misuzawa wurde 1889 in der Präfektur Iwate im Rahmen der ersten Kataster-Aufnahme Japans nach westlichem Muster gegründet und erhielt 1954 durch die Eingemeindung von einem halben Dutzend umliegender Dörfer das Stadtrecht. 2006 wurde Misuzawa mit den Nachbarstädten Esashi, Isawa und Maesawa zur jetzigen Stadt Oshu zusammengelegt, deren 110.000 Bewohner (ein Drittel der Einwohnerzahl von Münster) über fast 1000 Quadratkilometer verstreut wohnen. Zum Vergleich: Münster, das seine Größe auch erst den zahlreichen Eingemeindungen im Zug der Gebietsreform von 1972 verdankt, hat ein Stadtgebiet von 303 km². (*Genauer gesagt: es handelte sich um die genaue Bestimmung des sogenannten „Chandler Wobble“, einer Abweichung der Rotation der Erdoberfläche vom gesamten Planeten mit einer Dauer von 435 Tagen, bei denen sich die Position als „freie Polbewegung“ ganz leicht taumelnd um die Erdachse dreht. Dieses „ganz leicht“ ist wörtlich zu nahmen: die Abweichung beträgt maximal 5 Metern oder 0,17 Bogensekunden.) Heute wird dort eines der vier 20-m-Radioteleskope des Projekts VERA betrieben (des VLBI Exploration of Radio Astronomy, wobei VLBI wie bei allen über große Entfernungen zusammengeschalteten Radioteleskop für „Very Large Baseline Interferometry“ steht), die über ganz Japan verteilt sind und mit ihrem größten Abstand von 2280 km zueinander der dreidimensionalen Kartierung der Milchstraße dienen.



(Die Sternwarte von Mizusawa, ehemaliges Hauptgebäude, heue als Musuem genutzt)



(Der Hauptrefraktor der Sternwarte, auf einer Briefmarke aus dem Jahr 1949)



(Die vier japanischen Radioteleskope des VERA-Netzwerkes)



(Rechts das 20-m-Radioteleskop des VERA-Projekts; links das zweite Radioteleskop mit 10 m Antennendurchmesser)

(*******) „Von der Firma Zeiss in Deutschland“: 独乙のツァイス . Im Japanischen ist wie im Chinesischen der bezugnehmende Ausdruck (独乙の/Dokuotsu) vor das Subjekt (ァイス /Zeiss) gestellt. In Katakana für die Transliterierung von Fremdwörtern finden sich Heine als ハイund die Loreley ロウレライals im Text: そのハイネの詩集にはロウレライやさまざま美しい歌がいっぱいにあったのです。

(********) „Warte einmal“: はてな/hatena, wörtlich „eine Frage“, als Interjektion im Sinne von „Moment einmal“ oder „Entschuldige...“ gebräuchlich.

(*********) „Was zur Hölle…“: Im Original heißt es tatsächlich いったい何だ / ittai nanda.

(**********) „Hirse. . . goldene Ähren“: Bei der エノコログサ/innokurusa handelt es sich um die grüne Borstenhirse, Setaria viridis. / „..die roten Beeren der Maiglöckchen“: Ich bitte botanisch beschlagene Leser um Nachsicht, weil Maiglöckchen ihre Beeren zwischen Juli und August ausbilden, zu einer Zeit, in der man nicht gutem Gewissens davon reden kann, daß der Herbst schon gekommen ist, auch nicht in Japan, aber im Text heißt es eindeutig スズラン/suzuran.

(************) „Rispen von Feldgras“: im Text wird es genauer benannt. Es handelt sich um カモガヤ/kamogaya, das Wiesen-Knäulgras (Dactylis glomerata).



(Wiesenknäulgras)

* * *

Die kleine Erzählung 土神と狐 (Shishigami no kitsune) erschien zuerst ein Jahr nach dem frühen Tuberkulose-Tod ihres Autors im Rahmen der ersten Werksausgabe seiner Gedichte und Erzählungen im dritten und abschließenden Band der 宮沢賢治全集 (Gesammelte Werke von Miyazawa Kenji), deren Druck von seinen Freunden finanziert wurde, ediert von Miyazawas Freund Kotaru Takamura (1883-1956) und der im Oktober 1934 im Verlag Bunpodo Shoten herauskam. Dort findet sich der Text auf den Seiten 352 bis 367 als neunte von insgesamt 20 zumeist längeren Erzählungen, von denen die meisten an dieser Stelle zum ersten Mal gedruckt vorliegen. Das gilt auch für die längste Erzählung des Bandes, Miyazawas berühmtestes Werk, 銀河鐵道の夜, Ginga tetsudo no yoru – „Die Nacht auf der Milchstraßeneisenbahn,“ deren neun Kapitel die ersten 75 Seiten des Bandes ausmachen und das bis heute zu den meistgelesenen Klassikern der japanischen Jugendliteratur zählt.

* * *

I.



(Kenji Miyazawa, aus dem Jahr 1924)

Nicht immer suche ich mir die Themen für die Beiträge, die ich in diesem Netztagebuch einstelle, freiwillig aus. Von Tagesaktualitäten einmal abgesehen kommt es mitunter vor, daß die Themenwahl eines früheren Artikels einen Zusatz, eine Anlehnung oder Erweiterung des dort Behandelten gerade zwingend erfordert. Und nachdem ich mein letztes Posting zum Thema „Sternenkunde“ („Der grüne Komet,“ Zettels Raum vom 14. September 2023) nicht nur auf das Thema „Amateurastronomie in Japan,“ sondern auch noch auf einen japanischen Blick durch ein Teleskop (und dazu noch deutscher Konstruktionsweise!) aus eben dem Jahr 1934 sowie die Farben der Himmelkörper fokussiert hatte, blieb mir gar keine andere Wahl, als die Geschichte vom Erdgott und dem Fuchs für dieses Blog zu übersetzen.

Nicht nur die „Milchstraßeneisenbahn,“ sondern alle erzählenden Texte des relativ schmalen Oeuvres von Miyazawa gehören bis heute zu den Klassikern der japanischen Kinderliteratur – sie richten vorzugsweise als junge Leser im Alter zwischen 8 und 12 Jahren – auch wenn ihre Themenwahl, verglichen mit den bei uns im Westen und im 21. Jahrhundert üblichen Maßstäben (vor allem im Sternzeichen der „politischen Korrektheit,“ wo selbst völlige unverfänglicher „Negerkönige“ und „Indianer“ der Zensur zum Opfer fallen), in aller Regel um einiges drastischer und dunkler ausfällt -etwa in der Geschichte ハトヴ童話 注文の多い料理店/Chumon no oi ryoriten, „Das Gasthaus mit den vielen Bestellungen,“ die seiner ersten Sammlung mit solchen Texten (und der einzigen, die zu seinen Lebzeiten erschienen ist) aus dem Jahr 1924 den Titel gab, und in dem die drei Wanderer, die sich im Wald verirrt haben, hocherfreut mitten in der Wildnis auf einen Gasthof stoßen, dessen Menu „europäische Küche“ verspricht. Erst als sie nach dem Betreten des Speisesaals feststellen, daß sie das Etablissement nicht mehr verlassen können (wie heißt es noch bei den Eagles in „Hotel California“? – „You can check out any time you like / but you can never leave“) und ein Blick in die Küche offenbart, daß dort statt menschlicher Köche Dämonen ihr Werk verrichten, geht ihnen ein Licht auf, von welcher Art die angebotenen Gerichte sind. (Wer sich an Stanley Ellins Erzählung „Speciality of the House,“ zuerst 1948 in Ellery Queen’s Mystery Magazine erschienen und 1961 von Arno Schmidt ins Deutsche übersetzt, erinnert fühlt, liegt damit genau richtig.)



("Koganemaru," Erstausgabe aus dem Jahr 1891)

Literatur für Kinder und jugendliche Leser, wie wir sie heute kennen, ist ein in Japan noch ein vergleichsweise junges Phänomen; auch bei uns im Westen entstand diese Art von Lektüre ja erst im Zug der Romantik und bildete sich, so wie wir es kennen, erst zu Beginn des „bürgerlichen Realismus“ kurz vor und während des Vormärz, bzw. in Fall Englands der Herrschaft Königin Viktorias heraus. Die ersten japanischen Publikationen dieser Art waren schlichte illustrierte Bilderbücher, die zum Vorlesen und als erste Lesehilfen gedacht waren und die ab Mitte der 1880er Jahre erschienen. Dazu kamen ab etwa 1890 Übersetzungen der europäischen „Dauerseller,“ von „Pinocchio“ bis hin zu den „Voyages Extraordinaires“ von Jules Verne. Als erstes „wirkliches modernes Kinderbuch Japans“ gilt Sazanami Iwayas (巌谷 小波, 1870-1933) „Koganemaru“ (so der Name des Hundes, dessen Abenteuer erzählt werden), das 1891 als erster Band in der Reihe 巌谷漣/Shonen bungaku, „Kinderliteratur“) im Verlag Hakabunkan erschienen ist. Das erste speziell für junge Leser veröffentlichte Magazin war „Shonen Sekai“/ 少年世界, das hilfreicherweise auf dem Titel die englische Fassung des eigenen Namens als „The Youth’s World“ im Untertitel führte – ein Brauch, den auch viele der zur gleichen Zeit in Shanghai verlegten chinesischen Illustrierten pflegten. Das Magazin erschien von 1895 bis 1900 zweimal pro Monat, und danach bis zu seiner Einstellung 1914 monatlich. Erst kurz vor Ausbruch des ersten Weltkriegs kam es zu der Gründung weiterer Journale dieser Art, der nach dem Ende des „Großen Kriegs“ dann zahlreiche andere folgen sollten, etwa 赤い鳥/Akai tori (Der rote Vogel, 1918-1929), おとぎの世界/Otogi no sekai (Die Welt der Märchen, 1919-1922), 金の船/Kin no fune (Das goldene Boot, gegründet 1919, das nach dem Muster der „Classics Illustrated“ Klassiker der Weltliteratur in gekürzter und „kindgerecht aufbereiteter Form“ darbot) oder 童話/Dowa (Kindergeschichten, 1920-26).

II.

In diese Blütezeit der japanischen Jugendliteratur fällt auch Kenji Miyazawas Autorschaft. Miyazawa, im August 1896 als Sohn eines wohlhabenden Pfandleihers in Hanamaki in der mitteljapanischen Präfektur Iwate geboren, war von klein auf an so etwas wie ein kleiner Rebell gegen die soziale Umwelt, in die er hineingeboren wurde. Den verbissenen Handelsgeist der armen Reisbauerngesellschaft empfand er als ebenso eng die der Buddhismus des Reinen Landes, dem seine Eltern angehörten. Noch in der Oberstufe konvertierte er zum Nichiren-Buddhismus, wurde Vegetarier, begeisterte sich für das Esperanto, das in diesen Jahren in Japan so etwa wie eine „Lebensreform-Mode“ darstellte und zog das Studium der Agrarwissenschaft einem einträglichen Brotberuf vor. 1922 starb seine jüngere Schwester Toshi, die ihm alles bedeutete, im Alter von 24 Jahren an der Tuberkulose, jener Geißel es frühindustriellen Japans, an der sie seit 4 Jahren litt. Von 1922 bis 1926 war Miyazawa als Lehrer der Landwirtschaftschule in seinem Geburtort Hanamaki (花巻農学校), bis er sich im April 1926 als Landwirt selbständig machte, um neue Methoden des Reisanbaus zu propagieren (mit dem gleichen Mißerfolg, den solche einzelkämpfenden Agrarreformer in aller Regel weltweit mit ihren Bemühungen erzielen).

In der Zeitschrift 愛国婦人 (Die patriotische Frau) erschien in den Ausgaben von Dezember 1921 und dem Folgemonat seine erste Kindergeschichte, 雪渡り/Yuki watari, „Die Schneewanderung,“ in der ein junges Geschwisterpaar ein tief verschneites Feld überquert, um im Wald jenseits des Feldes von Füchsen in deren Geheimnisse eingeweiht zu werden. Das Journal war das offizielle Magazin des „Patriotischen Frauenverbandes“ (Aikoku fujinkai), der 1901 unter dem Eindruck des chinesischen Boxeraufstands gegründet worden war und in dem Kenjis Mutter Ishi (1877-1963) Mitglied war. Die 12 Yen, die er dafür erhielt, sollen nach Auskunft seiner Biographen übrigens das einzige Autorenhonorar gewesen sein, das er in seinem Leben je erhalten hat.



(Kenji Miyazawa, 1928 auf einem Reisfeld der Landwirtschaftsschule in Hanamaki.)

Den Druck seiner ersten Gedichtsammlung, 春と修羅/Hato no asura („Der Frühling und der Dämon“ *) im April 1924 mit einer Auflage von 1000 Exemplaren und der oben erwähnten Sammlung von Erzählungen acht Monate darauf finanzierte er aus eigener Kasse. Keines dieser Bücher war ein nennenswerter Erfolg: von der Kritik wurden sie nicht wahrgenommen. Im Sommer 1928 brach bei ihm, wie bei seiner Schwester ein Jahrzehnt zuvor, die Tuberkulose aus; die folgenden drei Jahre verbrachte er hauptsächlich geschwächt und krank auf dem Krankenlager. 1931 schien sich seine Gesundheit so weit gebessert zu haben, daß er wieder eine Tätigkeit in der Verwaltung des örtlichen Tohoku-Schotterwerks aufnehmen konnte; aber nach einem halben Jahr zog er sich im September bei einer Geschäftsreise nach Tokio erneut eine Lungenentzündung zu. Im September 1933 fühlte er sich soweit wiederhergestellt, daß er es riskierte, an der ganztägigen Shinto-Prozession als Dank für die jährliche Reisernte, dem Niiname-sai (新嘗祭) teilzunehmen, bei deren Gelegenheit ihn einige örtliche Reisbauern in ein stundelanges Streitgespräch über seine suspekten Anbaumethoden verwickelten. Miyazawas Biographen schreiben es dieser Überanstrengung zu, daß er am Tag darauf, vier Wochen nach seinem 37. Geburtstag, gestorben ist. (* Der „Asura“ des Titels ist im Buddhismus etwas mehr als ein reiner Dämon: er ist die Personifikation aller negativen Einflüsse, der Mißgunst und des Streits.)



(Kenji Miyazawa mit seiner Schwester Toshi, 1902)

Der Druck der insgesamt fünf schmalen Bände, die zu Miyazawas Lebzeiten erschienen, ist von ihm selbst und durch die finanzielle Unterstützung von Freunden erfolgt. 1926 und 1928 folgten zwei weitere Gedichtsammlungen von Tanks, ebenfalls unter dem Titel des ersten Bandes (der fertiggestellte vierte Teil erschien erst postum im ersten Band der „Gesammelten Werke“/ 全集, zenshu).

Ich habe oben erwähnt, daß das Werk von Miyazawa recht schmal ist: insgesamt umfaßt es vier „längere Erzählungen“ (oft als „kurze Romane“ bezeichnet), wie die „Milchstraßeneisenbahn“ und 38 kürzere Geschichten; dazu kommen gute 50 Gedichte, die bis 1921 zumeist in der traditionellen Tanka-Form gehalten sind und danach im vers libre, in freien Versen, verfaßt worden sind, der auch in Japan vor einem Jahrhundert der dernier cri war; hinzu kommen einige Aquarelle. Allerdings wenden sich seine Gedichte ausdrücklich an erwachsene Leser.

III.



(Band III der Werksausgabe von 1934, in der sowohl "Der Erdgott und der Fuchs" wie auch "Die Nacht auf der Milchstraßeneisenbahn" zum erstenmal erschienen sind)

Zwei Passionen lassen sich durchweg in den Texten Miyazawas ausmachen: die Leidenschaft für die Naturkunde (die Beeren der Maiglöckchen einmal beiseite gelassen), die sich in schwärmerischen Bildern und Metaphern äußerst – und eine Begeisterung für die Sternkunde; für die neuen Perspektiven, die die Erkenntnisse der „neuen Astronomie“ seit der Konstruktion der ersten großen Linsenfernrohre im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der menschliche Phantasie eröffnet hatte. In der vorliegenden Erzählung handelt es sich freilich um reine Aufschneiderei, weil der gute Herr Fuchs hier ein Wissen vorgibt, das sich, wie bei der Kunst, nur auf aufgeschnappte, unverstandene Stichworte beschränkt. (Der kleine Zyniker ist fast geneigt, im Fuchs mutatis mutandis einen Vorschein einen Prediger der deutschen „Energiewende“ zu sehen und im Erdgott das Verhalten eines „Wutbürgers,“ sobald er dessen hohlen Phrasen einmal durchschaut.) Auch in einer Reihe anderer Dowa treten Sterne als handelnde Persönlichkeiten in Erscheinung, wie in „Der Nachtfalkenstern“ (よだかの星/Yodaki no hoshi), „Die Zwillingssterne“ (愛国婦人会/Futago no hoshi) oder die Antikriegs-Parabel „Der Große Bär der Krähen“ (愛国婦人会/Karasu uno hokuto shichisei).



In der oben schon mehrfach erwähnten „Nacht auf der Milchstraßeneisenbahn“ dagegen sind die Erkenntnisse der modernen Astronomie (auf dem Stand von vor einem vollen Jahrhundert) dagegen der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Nicht umsonst beginnt der Text in seinen filmischen Adaptationen, wie der Anime-Fassung, die Gisaburo Sugii 1985 nach der Manga-Adaptation des Stoffes durch Hiroshi Masumura gedreht hat, in der die menschlichen Helden der Erzählung durch sprechende Katzen ersetzt worden sind, und die computergenerierte Version, die Kagaya Yakuta 2006 als Planetariumsprogramm für das Studio Kagata angefertigt hat – mit dem formatfüllenden Blick auf eine Sternenkarte, die die Milchstraße zeigt und einer Erläuterung des Astronomielehrers einer Mittelschule, daß es sich nicht um einen nebligen Himmelsfluß handelt, sondern um eine gewaltige Ansammlung von Millionen von Sonnen. (Wie sich zeigen wird, schließen sich in Miyazawas poetischer Sicht auf das Universum die beiden Version einander keineswegs aus.) Miyazawa hat für seine beiden zwölfjährigen Protagonisten die durchaus unjapanischen Namen Giovanni (ジョバンニ /Joban‘ni) und Campanella (カムパネルラ/Kamupanerura) gewählt; auch der Baustil der Häuser in Sugiis Zeichentrickfilm erinnert frappant an italienische Stadtbilder. der Anklang an den Namen des Verfassers der „Sonnenstadt“ (1602) ist durchaus gewollt: die Namen sollen den jungen japanischen Lesern fremd und exotisch klingen & sie auf darauf vorbereiten, daß es sich hier um einen Erzählkosmos handelt, in dem alsbald das Phantastisch-Allegorische das Kommando übernehmen wird. (Aus dem gleichen Grund haben Joseph Sigrist und D. M. Stroud, deren englische Übersetzung 1996 in den USA bei der Stone Bridge Press erschienen ist, die Namen der Protagonisten durch die japanischen Namen Kenji und Minoru ersetzt, um westliche Leser nicht durch europäische Namen aus dem Konzept zu bringen.)

Die erste Fassung des Textes ist 1924 entstanden, danach hat der Autor den Text bis 1931 mehrfach überarbeitet; durch unterschiedliche Einfügungen im Manuskript und Manuskriptfunde sind im Laufe der Jahre hier vier verschiedene Druckfassungen zusammengekommen. Während seit der ersten Übersetzung ins Englische 1984 mindestens ein halbes Dutzend weiterer Übertragungen gefolgt sind, ist die Geschichte auf Deutsch erst zwei vor Jahren als Buch in der Übersetzung von Jürgen Stalph als „Eine Nacht in der Milchstraßenbahn“ erschienen (Bad Berka: Cass Verlag, 2021, geb., 104 S., 22.-€, mit Bildern von Louise Heymans).



Die Geschichte ist in der dritten Person aus der Sicht von Giovanni erzählt; einem schüchternen Jungen aus einem armen Elternhaus, dessen Vater sich seit langem geschäftlich auf einer Auslandsreise befindet Giovanni hegt den Verdacht, daß er seine Familie einfach verlassen hat), und der durch Gelegenheitsarbeiten seine kranke Mutter unterstützt. Von seinen Mitschülern wird Giovanni gehänselt; sein einziger Freund Campanella hat ihn mit seinem Interesse für die Erkenntnisse der Wissenschaft und besonders der Sternkunde infiziert. Als Giovanni zu Beginn der Schulstunde vom Lehrer nach der Natur der Milchstraße gefragt wird, ist er zu schüchtern, die korrekte Antwort zu geben, obwohl er sie dank seines Freunds kennt. Auch Campanella bleibt die Antwort schuldig, um den Freund nicht in Verlegenheit zu bringen. Vor dem gnadenlosen Spott seiner Mitschüler über das Versagen des vermeintlichen „Klugscheißers“ flieht Giovanni auf einen Hügel über der Stadt, auf dem sich ein Wetterrad dreht. Vom Anblick des Sternenhimmels und das Kreisen des Wetterrads fast hypnotisiert, scheint es Giovanni, als ob sich das Rad in ein Signal auf einem Bahnhof verwandelt hat, auf dem gerade ein Zug einfährt.

Als er wieder erwacht, findet er sich an Bord dieses Zuges – eben der Milchstraßeneisenbahn, die die irdischen Gefilde längst hinter sich gelassen hat und durch die Weiten des Alls dampft. Die Landschaft wird phantasmagorisch: die Milchstraße fließt als leuchtender Fluß dahin, an dessen Ufer entlang fährt; hohe dreieckige Türme, die an die alten Vermessungstürme erinnern, mit denen zur Jahrhundertwende Japan vermessen worden ist, tragen leuchtende Spitzen, die die hellen Sterne darstellen, die der Blick in den Nachthimmel ausmachen kann. In einem der Waggons trifft Giovanni auf Campanella, der mit völlig durchnäßter Kleidung dasitzt und darüber klagt, daß er seinen Schulranzen und seinen Zeichenblock verloren hat.

Die Reise geht vom „Kreuz des Nordens“ (das dem Sternbild des Adlers entspricht) vorbei am Sternbild des Skorpions mit seinem rotglühenden Herz bis zum Kreuz des Südens. Sehr schnell wird klar, daß es sich bei diesem Zug um eine Variante des aus vielen westlichen Kulturen bekannten Seelenfahrzeugs handelt, das die Seelen der Verstorbenen aus den irdischen Gefilden in das himmlische (oder höllische) Jenseits transportiert: für viele der christlichen Seelen an Bord bildet das Kreuz des Südens die Endstation. Unterwegs treffen Giovanni und Campanella auf seltsame Personen, deren allegorischer Sinn dunkel bleibt, aber nahelegt, daß hier mehr vorliegt als nur eine simple Allegorie der Fahrt ins Jenseits - so wie auch die „Sterne des Leidlands“ in Rilkes zehnter „Duineser Elegie“ sich der schlichten Übersetzung in fromme Gleichnisse, wie sie etwa aus christlichen Allegorien wie John Bunyans „Pilgrim’s Progress“ geläufig sind, verwehren:

Und höher, die Sterne. Neue. Die Sterne des Leidlands.
Langsam nennt sie die Klage: - Hier,
siehe: den Reiter, den Stab, und das vollere Sternbild
nennen sie: Fruchtkranz. Dann, weiter, dem Pol zu:
Wiege; Weg; Das Brennende Buch; Puppe; Fenster.
Aber im südlichen Himmel, rein wie im Innern
einer gesegneten Hand, das klar erglänzende >M<,
das die Mütter bedeutet...... -

Dasselbe gilt für die Fossilienjäger, die an der „Pliozän-Küste“ versteinerte Walnüsse („1,2 Millionen Jahre alt!“) aus dem Ufergestein meißeln, auch für den Vogelfänger, der vom Zug aus Reiher einfängt und sie in Konfekt verwandelt. Andere Bilder dagegen bedürfen keiner Auflösung: etwa der Funker des Zuges, dessen Funkgerät Campanella und Giovanni reparieren und der den Kirchenchoral „Nearer My God to Thee“ empfängt. Dazu passen auch der englische Lehrer mit seinen beiden Schülern, die den beiden Gesellschaft leisten und deren Schiff im Atlantik nach einer Kollision mit einem Eisberg gesunken ist. (An diese Stelle sollte vielleicht betont werden, daß den Bildern , die sich den christlichen Jenseitsvorstellungen verdanken, in „Ginga tetsudo no yoru“ fast gänzlich jene peinliche verkitschte Süßlichkeit abgeht, die die Lektüre so vieler Pamphlete zum Thema, etwa der Zeugen Jehovas, aber auch vieler frühen Hollywoodfilme, zu einer unerträglichen ästhetischen Zumutung machen.)

Daß Giovanni hier die Rolle eines Psychopomps spielt, eines Begleiters, der einer Seele das Geleit ins Jenseits gibt, wird dem Leser (oder Zuschauer) schnell klar; ihm selber aber erst am Schluß des Buches: nachdem Campanella im dunklen Nichts des Kohlensacks verschwunden ist, wo er vermeint, auf einer Wiese seine tote Mutter „im wahren Paradies“ zu erblicken, erwacht Giovanni auf dem Hügel über der Stadt, unter dem Wetterrad, das nur noch ein Wetterrad ist. Aber das es mehr war als nur ein Traum, der durch das Thema der Schulstunde und den Anblick des Sternenhimmels ausgelöst worden ist, zeigt sich, als er in die Stadt zurückkommt: kurz bevor er seine Wacht über der Stadt begonnen hat, ist unten auf dem Fluß ein Ruderboot mit zweien seiner Mitschüler gekentert, und Campanella ist beim Versuch, ihnen das Leben zu retten, ertrunken.



(Umschlag einer großformatigen - 30 x 40 cm - Bilderbuchausgabe des Verlags Kaseisha aus dem Jahr 200. Zeichnung von Tazuko Tahara.)

IV

Die folgenden Standbilder stammen aus der oben erwähnten computeranimierten Umsetzung von „Ginga tetsudo no yoru,“ die 2006 entstanden ist. Bei dieser Version handelt es sich nicht um einen vollwertigen Spielfilm, auch nicht in Zeichentrickform, wie ihn die Animeversion von 2006 bietet. Vielmehr dient sie seit ihrer Erstaufführung im Konica Minolta- Planetarium in Sunshine City am 17. Juni 2006 als Grundlage für eine gut 43 Minuten lang andauernde Planetariumsshow, bei dem etwa ein Zehntel des erläuternden Textes von der Schauspielerin Shigeru Muroi aus dem Off vorgelesen wird und die Stimme von Giovanni von Mitsuki Tanimura und die von Campenella von Otora Ichikawa die Dialoge zwischen den beiden, ebenfalls aus dem Off gesprochen, bestreiten. Ein Projektion tatsächlicher CGI-generierter Figuren an die konvexe Kuppel eines Planetariums würde die Wirkung dieser Bilder zunichtemachen - deswegen beschränkt sich die Umsetzung zumeist auf die Fahrten des Zuges, die Sternfelder, Nebel und die Licht- und Schatteneffekte im Inneren des Zuges. (Manche YouTube-Kommentatoren haben sich über diese der Präsentationsform geschuldeten Eigenarten ziemlich geärgert, auch über die beim Ansehen auf einem flachen Bildschirm mitunter etwas ungelenk anmutenden perspektivischen Verzerrungen, etwa bei Kurvenfahrten des Zuges, bei denen es „in die Tiefe des Raumes“ verschwindet. Seit der Premiere ist der Film in mehr als 100 Planetarien weltweit gelaufen.) (Ungeachtet der oben erwähnten Übersetzung von Jürgen Stalph handelt es sich hier um meine eigenen Übertragungen.)









(Die Verwandlung des Schwans in sein Sternbild)



(Das Sternbild des Schwans, auf der Karte von John Flamsteed, 1729)

ジョバンニは、白鳥と書いてある停車場のしるしの、すぐ北を指しました。 「そうだ。おや、あの河原は月夜だろうか。」

 そっちを見ますと、青白く光る銀河の岸に、銀いろの空のすすきが、もうまるでいちめん、風にさらさらさらさら、ゆられてうごいて、波を立てているのでした。

「月夜でないよ。銀河だから光るんだよ。」ジョバンニは云いながら、まるではね上りたいくらい愉快になって、足をこつこつ鳴らし、窓から顔を出して、高く高く星めぐりの口笛を吹きながら一生けん命延びあがって、その天の川の水を、見きわめようとし ましたが、はじめはどうしてもそれが、はっきりしませんでした。けれどもだんだん気をつけて見ると、そのきれいな水は、ガラスよりも水素よりもすきとおって。

ときどき眼の加減か、ちらちら紫いろのこまかな波をたてたり、虹のようにぎらっと光ったりしながら、声もなくどんどん流れて行き、野原にはあっちにもこっちにも、燐光の三角標が、うつくしく立っていたのです。遠いものは小さく、近いものは大きく、遠いものは橙や黄いろではっきりし、近いものは青白く少しかすんで、或いは三角形、或いは四辺形、あるいは電や鎖の形、さまざまにならんで、野原いっぱい光っているのでした。ジョバンニは、まるでどきどきして、頭をやけに振りました。するとほんとうに、そのきれいな野原中の青や橙や、いろいろかがやく三角標も、てんでに息をつくように、ちらちらゆれたり顫えたりしました。

「ぼくはもう、すっかり天の野原に来た。」ジョバンニは云いました。





Giovanni wies nach Norden, an dem Bahnhofschild mit der Aufschrift „Der Schwan“ vorbei. „Das stimmt. Scheint hier das Mondlicht auf das Flußufer?“

„Das ist kein Mondlicht,“ sagte Giovanni. „Es ist die Milchstraße, also leuchtet sie aus eigener Kraft.“ Als er genauer hinsah, erkannte er, daß sich am Ufer des Milchstraßenflusses vor dem bleichen Himmel das Gras wie Wellen im Wind wiegte.

Vor Aufregung hüpfte er auf und nieder, wippte mit den Füßen, streckte den Kopf aus dem Fenster und pfiff, so laut er nur konnte, das „Lied der kreisenden Sterne.“ Er versuchte, Einzelheiten auszumachen, aber zunächst konnte er im Wasser der Milchstraße nichts sehen. Erst allmählich erkannte er, daß das Waser heller und durchsichtiger war als Glas oder gar als Schwaden von Wasserstoff.

Vielleicht täuschten ihn seine Augen, aber mitunter schien das Waser violette Strudel zu bilden oder schimmerte wie ein Regenbogen. Dann wieder floß es ruhig und ungestört. Auf den Feldern ringsum erhoben sich dreieckige leuchtende Türme wie für eine Landvermessung – die weiter entfernten klein, in Orange und Gelb, und mit scharfen Umrissen, während die größeren in der Nähe weiß und leicht verschwommen wirkten. Sie waren wie elektrische Lichterketten aufgereiht und bildeten Drei- und Vierecke, und ihr Licht erhellte die Felder ringsum. Benommen schüttelte Giovanni den Kopf, und die Lichter der dreieckigen Türme begannen zu flackern und zu zittern, als ob sie atmen würden.

„Da bin ich ja jetzt auf den himmlischen Gefilden angelangt,“ sagte Giovanni.


俄かに、車のなかが、ぱっと白く明るくなりました。見ると、もうじつに、金剛石や草の露やあらゆる立派さをあつめたような、きらびやかな銀河の河床の上を水は声もなくかたちもなく流れ、その流れのまん中に、ぼうっと青白く後光の射した一つの島が見えるのでした。その島の平らないただきに、立派な眼もさめるような、白い十字架がたって、それはもう凍った北極の雲で鋳たといったらいいか、すきっとした金いろの円光をいただいて、しずかに永久に立っているのでした。





(Das "Kreuz des Noderns": das Sternbild Schwan)

Plötzlich wurde das Innere des Abteils in ein helles, gleißendes Licht getaucht. Als sie hinsahen, erkannten sie, daß das Wasser lautlos über den Grund der Milchstraße dahinströmte, der mit Diamanten, Tautropfen und glänzenden Edelsteinen bedeckt zu sein schien. In der Mitte des Flusses lag eine Insel, die von einem blauen Lichtschein eingehüllt war. Auf einem kleinen Hügel in der Mitte der Insel erhob sich ein strahlend weißes Kreuz, das wirkte, als ob es aus den Eiswolken des Nordpols geschmiedet worden wäre und von einem goldenen Halo umgeben war, schweigend und zeitlos.






川の向う岸が俄かに赤くなりました。楊の木や何かもまっ黒にすかし出され見えない天の川の波もときどきちらちら針のように赤く光りました。まったく向う岸の野原に大きなまっ赤な火が燃されその黒いけむりは高く桔梗いろのつめたそうな天をも焦がしそうでした。ルビーよりも赤くすきとおりリチウムよりもうつくしく酔ったようになってその火は燃えているのでした。

「そうだ。見たまえ。そこらの三角標はちょうどさそりの形にならんでいるよ。」

ジョバンニはまったくその大きな火の向うに三つの三角標がちょうどさそりの腕のようにこっちに五つの三角標がさそりの尾やかぎのようにならんでいるのを見ました。そしてほんとうにそのまっ赤なうつくしいさそりの火は音なくあかるくあかるく燃えたのです。

Am anderen Ufer des Flusses leuchtete plötzlich ein roter Schein auf. Die Bäume am Ufer der Milchstraße wurden zu schwarzen Umrissen und auf den Wellenkronen der Milchstraße, die bislang unsichtbar gewesen waren, blitzte es rot auf. Auf dem Ufer gegenüber loderte ein leuchtendes, gewaltiges Feuer, dessen schwarzer Rauch den hohen und eisigen Himmel darüber in Flammen zu setzen schien. Sein Rot war dunkler als das Leuchten von Rubinen und trüber als brennendes Lithium.

„Sieh mal! Die Türme da drüben sind in der Form eines Skorpions angeordnet!“

Hinter dem großen Feuer konnte Giovanni drei der dreieckigen Markierungstürme ausmachen, die so angeordnet waren, daß sie die Schweren eines Skorpions nachbildeten, und fünf weitere, die seinen Hinterleib und den Stachel darstellten. Hell und still flammte das glühende rote Feuer des Skorpions.





Was hier die hellen Sterne der Milchstraße markiert – und was im Planetariums-Programm von 2006 explizit als Vorbild für die himmlischen Leuchtfeuer dient, sind die hölzernen Meßtürme, die ab 1899 zur ersten Kartierung Japans nach dem Vorbild westlicher Katasteraufnahmen entstanden sind und von denen in den folgenden 20 Jahren mehrere tausend errichtet worden sind. Ihre Höhe schwankte zwischen 10 und 20 Metern, und die Entfernung der Türme, die jeweils die Eckpunkte eines Dreiecks bildeten, betrug zwischen 14 und 40 Kilometern. Bezeichnet wurden sie, je nach Größe, als 三角点/Sankaku-ten (Dreiecks- oder Triangulationspunkt) oder 三角標/Sankaku-hyo (Dreieckspunkt) und an ihrer Spitze trugen sie elektrische Signalllampen, die mittels Theodoliten von den benachbarten Türmen aus anvisiert werden konnten. Es ist leicht zu verstehen, wieso solche „auf die Erde gefallenen Sterne“ den Autor zu diesem Bild inspiriert haben. Oder, um eine ähnliche Vision zu zitieren, die George-Emmanuel Clancier (geboren im Mai 1914 und gestorben im Juli 2018 – ja, er ist wirklich 104 Jahre alt geworden) in seinem Langgedicht „Une voix“ (Paris: Gallimard, 1956) evoziert:

Une nuit, dix villages, une montagne
Un léviathan noir cloutè d'or.
(„Eine Nacht, zehn Dörfer, ein Berg: / ein goldbesetzter Leviathan“)



(Triangulationspunkt für die Präsentation von 2006)



(Der erste in Japan erichtete Triangulationspunkt bei Honmaru aus dem Jahr 1890; nach einer alten Darstellung)





(Rekonstruktion in Hokkaido. Höhe 21,60 m.)





V.

Zwei Adnoten: das Thema des “Seelenfahrzeugs,” das nachts die Seelen der Verstorbenen in die Ewigen Jagdgründe chauffiert, bildet durchaus ein kleines, aber bestimmtes Subgenre im Kanon der phantastischen Literatur. Zuerst findet es sich wohl in der Erzählung „The Phantom Coach“ der englischen Autorin Amelia B. Edwards aus dem Jahr 1864, in der Charons Nachen durch eine nächtliche Postkutsche ersetzt worden ist; das wachsende Entsetzen des Passagiers, der bei Nacht und Nebel zugestiegen ist, zählt zu den Standard-Topoi dieser naturgemäß nur leicht zu variierenden Erzählung. Vorweggenommen wird solche eine sinistre Reisegesellschaft freilich schon in Achim von Arnims Roman „Isabella von Ägypten“ aus dem Jahr 1812, wobei hier freilich noch keine Toten auf große Fahrt gehen. Die zumindest im englischsprachigen Bereich bekannteste Kurzgeschichte zum Thema, Robert Blochs „That Hell-Bound Train“ von 1958, stellt schon eine parodistische Inversion vor: ein Taugenichts, ein Hobo, schließt mit dem Leibhaftigen noch einmal jenen Pakt ab, den Faust einst mit Mephisto geschlossen hat; für den Verkauf seiner Seele erhält er eine Taschenuhr, deren Aufziehen dem Moment das „Verweile doch…“ sagt. Ein halbes Jahrhundert lang widersteht er der Versuchung, und erst, als der Teufel die Geduld verliert und er im Dunkeln einen Zug besteigt, dessen Endstation kein empfehlenswertes Reiseziel darstellt, steckt er den Uhrschlüssel in das Schlüsselloch und beginnt ihn zu drehen … Greg Bears „Sleepside Story,“ 1988 als kleine Broschüre beim Kleinverlag Cheap Street erschienen und im Jahr darauf von Lou Aronica in seine Anthologie „Full Spectrum 2“ aufgenommen, führt an Bord einer U-Bahnlinie in New York, die zur grauen Geisterstunde die Seelen der während der letzten 24 Stunden Verblichenen in Manhattan und Umgebung einsammelt. Verwandt mit diesem Thema ist eine Variation jener Geschichten, die nach dem Tod des Erzählers spielen und deren Kern darin besteht, daß sie die Tatsachen entdecken, nicht mehr unter den Lebenden zu weilen. Stella Bensons „Ein Traum“, den ich von einiger Zeit an dieser Stelle übersetzt habe, gehört dazu (Zettels Raum vom 30. August 2020). Speziell sind aber hier jene Geschichten gemeint, in denen sich die Protagonisten an Bord eines Schiffes wiederfinden, ohne zunächst gewahr zu werden, daß es sich bei ihnen allen um Phantome handelt – etwa in Katherine Anne Porters „Ship of Fools“ von 1962 oder Cees Nootebooms „Het folgende verhaal“ (1991).

Zum zweiten: Kennern der älteren englischprachigen Science Fiction wird womöglich die frappante Ähnlichkeit auffallen, die Giovannis Aufbruch in die Weiten des Alls mit einem anderen Buch jener Jahre zeigt, das nicht wenigen Lesern als die eindrucksvollste und beste Leistung dieser Literaturgattung gilt, nämlich Olaf Stapledons „Star Maker“ aus dem Jahr 1937. Stapledon (1886-1950), im Zivilstand Philosoph, wenn auch ohne universitäre Bestallung - zu seinen Werken auf diesem Gebiet zählen etwa „A Modern Theory of Ethics,“ 1929 und „Philosophy and Living: New Hope for Britain“ (1939) – hatte sich mit seinem Roman „Last and First Men“ 1930 der spekulativen Literatur zugewandt. In ziemlich trockener, referierender Form wir hier im Stil einer Universalgeschichte die zukünftige Entwicklung der Menschheit während der nächsten zwei Milliarden Jahre geschildert, bis die „19. Menschheit“ in ferner Zukunft dem Erlöschen der Sonne entgegensieht. In „Star Maker“ dreht der Autor die spekulative Perspektive dieser Art noch einmal gewaltig auf: es handelt sich um die gesamte zukünftige Geschichte unseres Universums, über hunderte von Milliarden von Jahren, in dem die eben skizzierte Menschheitsgeschichte nur eine kleine Episode von nicht einmal drei Seiten einnimmt. Als Berichterstatter, als Augenzeugen dieses Sturzes durch unfaßbare Äonen benutzt Stapledon einen namenlosen Ich-Erzähler, hinter dem man wohl ein Alter Ego des Verfassers vermuten darf. Und dieser Bericht, diese Vision, die bis ans Ende von Raum und Zeit reicht, beginnt fast genau so wie Giovannis Aufbruch von der Erde: Ende der dreißiger Jahre sitzt der Erzähler auf einem Hügel hoch über seiner englischen Heimatstadt, deprimiert und ohne jede Hoffnung angesichts der finsteren Zeitläufe, in denen die Politik nur noch auf einen Machtkampf zwischen den beiden Tyranneien des Faschismus und des Kommunismus hinauszulaufen droht, ein neuer Weltkrieg bereits unvermeidlich scheint, und das Licht der Zivilisation wie fragil und bedroht scheint wie das Licht, das aus den fernen kleinen Fenstern tief unter ihm herüberscheint. Beim Betrachten des Sternenhimmels hat er das Gefühl, daß sich seine Seele – oder: da Stapledon ein unbeirrbarer Glaubensloser und Gottesleugner war – seine geistige Essenz, sein Verstand, sein νοῦς, sich von seinem Körper löst, emporsteigt ins All und fortan als frei schwebendes Auge Zeuge des Aufstieg und Fall ganzer galakitscher Zivilisationen wird. Oder, wie es Ralph Waldo Emerson in seinem Essay „Nature“ von 1836 ausgedrückt hat: „I become a transparent eye-ball; I am nothing; I see all.“



Stapledon bedient sich für seine Tour d’horizon eine logarithmischen Struktur: vom gemächlich-langsamen Auftakt, der Vision des Sonnenaufgangs, wie er sich beim Anblick der Erde aus dem Weltall darbietet, über die Visiten der Planeten des Sonnensystems bis zur Erkundung der Planeten, die andere Sonne umkreisen, den Beschreibungen der Lebensformen, die dort selten, aber aufgrund der fast unendlichen Zahl der Sterne sich in großer Menge entwickelt haben, nimmt der Erzählfluß eine schwindelerregende Schußfahrt an, bei der nach 150 Seiten die Jahrmilliarden im Minutentakt vorüberrauschen. Auch Stapledons Reiseziel ist, ungeachtet seines Atheismus, die Transzendenz, die Frage nach dem Jenseits, das hinter allem Irdischen, allem, was Raum und Zeit umfassen liegt. Aber anders als Miyazawa sind es bei ihm nicht die Verheißungen, die die Offenbarungsreligionen anbieten (auch wenn die Formen, die die Erlösung annimmt, im Fall der Milchstraßenbahn, rein zufällig ist und austauschbar erscheint). Die Vision in „Star Maker“ nimmt die Postulate Teilhard de Chardins zum „Punkt Omega“ vorweg: das finale Schicksal von intelligenten Arten besteht darin, die Fesseln des Irdischen, der Biologie, abzusteifen und zu einer rein geistigen Essenz zu verschmelzen – nicht nur bei einzelnen intelligenten Rassen, sondern ganze Galaxien und schließlich alles Lebens im Weltall umfassend. Und angesichts dieser auf die höchste Potenz getriebene geistige Entwicklung erlaubt sich der Autor eine Schulwendung, die vielleicht die grausamste Pointe darstellt, zu der es jemals ein Roman mit philosophischem Anspruch gebracht hat. Der geballten geistigen Macht aller Intelligenzen des Universums gelingt es, die letzte Frage, die sich ihr stellt, zu lösen: die Grenzen des Raum-Zeit-Gefüge zu sprengen, zu überschreiten und Kontakt mit der unvorstellbaren Wesenheit aufzunehmen, die vor Milliarden von Jahren dieses Universum aus dem Nichts erschaffen hat: dem Sternenschöpfer, der dem Buch seinen Namen gegeben hat – und sie nach dem Zweck, dem Sinn, dem Ziel unseres Daseins zu fragen. Und es stellt sich heraus, daß diese Frage schlicht und einfach sinnlos ist: unser Universum ist nur eines von fast unendlich vielen, die dieses Wesen, diese Macht im Lauf der unendlichen Zeitläufe erschaffen hat, ein frühes Gesellenstück, dessen weiteres Schicksal ohne jegliche Bedeutung für einen Künstler ist, dem es einzig um die Verbesserung seiner zukünftig zu schaffenden Werke zu tun ist. Der Schock dieser Epiphanie, dieser Absage an jede transzendente Hoffnung, läßt die kollektive Intelligenz, die da fürwitzig eine Tür geöffnet hat, die besser verschlossen geblieben wäre, zerfallen, kollabieren – und das erzählende Ich, nicht länger ein durchsichtiger Augapfel, sondern wieder in Fleisch und Blut gekerkert, erwacht auf seinem nächtlichen Hügel, ausgesetzt auf den kalten Bergen des Herzens. (Oder, um John Keats‘ Zeilen aus „Le belle dame sans merci“ zu zitieren: „And I awoke and found me here / on the cold hill’s side.”)



("Star Maker," Erstausgabe, Methuen 1937)

Bei den beiden Büchern handelt es sich um einen Fall von literarischer „Steam Engine Time“ (der englische Ausdruck bezeichnet die Tendenz, daß erstaunlich viele Erfindungen fast zeitgleich von mehreren Ingenieuren und Bastlern verwirklicht werden, am bekanntesten sind die Erfindung der Glühbirne und des Telefons), weil ein Thema, eine Entwicklung „in der Luft lag.“ Eine gegenseitige Beeinflussung kann ausgeschlossen werden. Miyazawa konnte schlecht von einem Buch angeregt werden, das erst vier Jahre nach seinem Tod erschien, und Stapledon hat mit Sicherheit nichts von einem obskuren japanischen Kinderbuch gehört, das im Westen frühestens ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen bekannt geworden ist und das auch in Japan erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu einem geläufigen Klassiker seiner Art geworden ist. Festzuhalten bleibt, daß beide Texte zum gleichen Schluß kommen: die Hoffnung auf Erlösung im Jenseits ist eitel, tätig werden kann man nur im Hier und Jetzt, wie sinnlos und vergeblich die Mühe der Ebene auf den ersten (und zweiten, und dritten) Blick auch wirken mag. Campanellas Vater rät Giovanni nachdringlich, irgendeine Hoffnung auf ein Wiedersehen im Jenseits zu setzen, und sich darauf zu auf sein eigenes Fortkommen zu konzentrieren und seiner Mutter zu helfen; und Stapledons namenloses Ich erkennt zweierlei: sub specie aeternitate sind all die Bedrohungen, die unser irdisches Leben aussichtslos erscheinen lassen, belanglos, vergänglich, weniger als en Wimpernschlag der Ewigkeit. Und nur in unserer winzigen Gegenwart, diesem zeitlichen Nichts, ist es uns überhaupt möglich, unser weniges an Energie überhaupt einzusetzen – egal für welches Ziel, gleich, wie irrig, vergeblich oder sogar schädlich es auch scheinen mag. (Wenn man möchte, kann an darin eine Umformulierung von Luthers bekanntem Satz sehen: „Wenn ich wüßte, daß morgen die Welt untergeht, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Daß dieser Satz in den Werken und Briefen von D. Martinus nirgendwo zu finden ist, es sich also wohl um ein Kuckuckszitat handelt, und der erste Nachweis aus einem Rundbrief der „Bekennenden Kirche“ vom Oktober 1944 (!) stammt, tut dem Satz keinen Abbruch, sondern verleiht ihm erst Nachdruck.)

Coda.

Wenn auch die Geschichte vom „Himmelszug ins Jenseits“ MIyazawas am meisten gelesene, visuell umgesetzte und allgemein in Japan geläufige Geschichte darstellt, so ist doch das am häufigsten zitierte Werk eines seiner Gedichte, das im Tanka-Versmaß abgefaßte „Unbeugsam im Regen“ (/雨にも負けず/ Ame ni mo makezu), das er am 3. November 1931 auf dem Krankenbett in Hanamaki in eines der kleinen schwarzen Notizbücher schrieb, die er immer in Griffweite aufbewahrte. Veröffentlicht wurde es zuerst 1934 in der ersten Gesamtausgabe, die weiter oben schon mehrfach erwähnt wurde. Die Handschrift ist in Katakana-Schriftzeichen gehalten, was einem heutigen japanischen Leser merkwürdig vorkommen kann, weil die formell schlichter gehaltene Form der Katakana in der Regel nur zur Transliteration von Fremdwörtern verwendet wird – im Gegensatz zu den Hiragana, die die normale Schriftform darstellen. Allerdings waren zu Anfang des vorigen Jahrhunderts die Katakana die offiziell für den Schriftgebrauch bevorzugte Schrift; viele Kritiker haben auch vermutet, daß Miyazawa für sein Gedicht, bei dem es sich um Ermahnungen „in eigener Sache,“ um eine Aufzählung von Idealen handelt, seinen Versen damit den Anschein eines offiziellen Schriftstücks verleihen wollte. (Um den Unterschied zu verdeutlichen: die erste Zeile, nach der das Gedicht seinen Titel trägt, lautet im Original: 雨ニモマケズ und mit Hiragana geschrieben: 雨にもまけず). Ich gebe das Gedicht im Original hier in Katakana wieder.

雨ニモマケズ
風ニモマケズ
雪ニモ夏ノ暑サニモマケヌ
丈夫ナカラダヲモチ
慾ハナク
決シテ瞋ラズ
イツモシヅカニワラッテヰル
一日ニ玄米四合ト
味噌ト少シノ野菜ヲタベ
アラユルコトヲ
ジブンヲカンジョウニ入レズニ
ヨクミキキシワカリ
ソシテワスレズ
野原ノ松ノ林ノ蔭ノ
小サナ萓ブキノ小屋ニヰテ
東ニ病氣ノコドモアレバ
行ッテ看病シテヤリ
西ニツカレタ母アレバ
行ッテソノ稻ノ朿ヲ負ヒ
南ニ死ニサウナ人アレバ
行ッテコハガラナクテモイヽトイヒ
北ニケンクヮヤソショウガアレバ
ツマラナイカラヤメロトイヒ
ヒデリノトキハナミダヲナガシ
サムサノナツハオロオロアルキ
ミンナニデクノボートヨバレ
ホメラレモセズ
クニモサレズ
サウイフモノニ
ワタシハナリタイ




Ungebeugt im Regen
ungebeugt im Wind
ungebeugt im Schnee und in der Sommerhitze
mit einem gesunden Körper
ohne Begierden
und ohne Zorn
nur ein leises Lächeln auf den Lippen.
Vier Schalen braunen Reis am Tag
ißt er, mit Miso und ein wenig Gemüse
sieht stets genau hin
hört gut zu und versteht
und achtet nicht auf sich selbst
Nichts vergißt er
Er lebt in einer kleinen Hütte mit Schilfdach
am Rand einer Wiese hinter dem Kiefernwald.
Wenn im Osten ein Kind krank niederliegt
geht er hin, um es zu pflegen
Wenn im Westen eine Mutter unter ihrer Bürde zusammenbricht
geht er hin, um ihr das Reisbündel abzunehmen
Wenn im Süden jemand im Sterben liegt
geht er hin, um ihm die Furcht zu nehmen
Gibt es im Norden Streit und Mißgunst
Dann geht er hin, um den Hader zu schlichten
Wenn Dürre herrscht, vergießt er Tränen
Er irrt hilflos herum, wenn der Sommer kalt ist
Jeder nennt ihn einen Narren
Kein Mensch nimmt ihn ernst
und niemandem fällt er zur Last
So ein Mensch
möchte ich sein!




U.E.

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