29. November 2020

Willy, "Ernüchterte Märchen" (1894)



(Willy. Zeichnung von Felix Valloton)

"Je me promenais dans un bois, affamé, quand je vis venir le Petit Chaperon Rouge qui me dit:" A cinq cent mètres d'ici demeure mère-grand, une méchante vieille qui me fait mille misères; petit Loup, tu serais gentil comme un petit loup chéri d'aller lui tordre le cou. Elle est très grasse." Comme un imbécile, j''étranglai la mégère; pendant ce temps, le Petit Chaperon Rouge prévenait les gendarmes de m'arrêter comme anarchiste. J'ai fait vingt ans de Nouvelle , et le drôlesse a hérité les économies de sa grand-mère, qu'elle convoitait pour épouser un garçon coiffeur. N'essayez pas de venger les rancunes d'autrui." (Histoire du loup)

Eines Nachmittags wartete ein Wolf in einem dunklen Wald darauf, daß ein kleines Mädchen vorbeikäme, das seiner Großmutter einen Korb mit Speisen bringen würde. Schließlich kam ein kleines Mädchen des Wegs und sie hatte einen Korb mit Speisen bei sich. "Bringst du den Korb deiner Großmutter?" fragte der Wolf. Das kleine Mädchen sagte, ja, das tue es. Also fragte der Wolf sie, wo ihre Großmutter wohnte, und sie erzählte es ihm, und er verschwand im Wald.

Als das kleine Mädchen die Tür des Hauses ihrer Großmutter öffnete, sah sie, daß jemand mit einer Nachtmütze und im Nachthemd in ihrem Bett lag. Sie war noch zehn Schritt entfernt, als sie erkannte, daß es nicht ihre Großmutter war, sondern der Wolf, denn selbst mit einer Nachtmütze hat ein Wolf so wenig Ähnlichkeit mit eurer Großmutter wie der Löwe von Metro Goldwyn Mayer mit Calvin Coolidge. Also zog das kleine Mädchen eine Automatik aus seinem Korb und schoß den Wolf über den Haufen. Moral: Kleine Mädchen sind heute auch nicht mehr so leicht hereinzulegen wie früher.

- James Thurber, "The Little Girl and the Wolf" (1939)

* * *

Es waren einmal zwei entzückende Kinder, von denen das eine Daphnis und das andere Chloë hieß, und die nichts vom Leben wußten, denn sie hatten eine sehr fromme Erzeihung genossen.

Am Vorabend ihres Hochzeitstages geschah es, daß sie sich in einem Wald verliefen und nicht mehr weiterwußten, denn sie fürchteten, sich noch weiter im Dunkeln zu verirren. Die Nacht war undurchdringlich, und Daphnis und Chloë zitterten wie Unschuldige, wenn sie vor dem Untersuchungsrichter stehen.

Schließlich ging der Mond auf, und sie sahen, daß sie eine verlassene Lichtung erreicht hatten. Aber alsbald näherten sich im Gänsemarsch ein räudiger Wolf, ein verschlagen dreinschauender kleiner Schurke, ein rothaariges Mädchen mit einem Schnurrbart, eine prachtvoll gewandete Gestalt, die verschlafen aussah, ein Riese, ein Schmutzfink, ein altes Weib, das in eine Eselhaut gehüllt war, und noch viele andere.

27. November 2020

嫦娥, 把我传送上去! China auf dem Weg zum Mond



嫦娥, 把我传送上去! "Beam me up, Chang'e!"

I

Die letzten Nachrichten zuerst: Heute nacht, am Mittwochabend um 10 Uhr und 6 Minuten Pekinger Zeit (beziehungsweise 04:06 Mitteleuropäischer Zeit) hat nach Angaben der Nationalen Chinesischen Raumfahrtbehörde CNSA die Mondsonde Chang'e 5 ihre zweite Bahnkorrektur ausgeführt, in einer Entfernung von 270.000 Kilometern von der Erde, indem die beiden 3000 Newton liefernden Bordtriebwerke für sechs Sekunden gezündet wurden, nach einer Flugdauer von 41 Stunden. Das Manöver folgte einer ersten Bahnanpassung genau zwölf Stunden zuvor, als die Triebwerke in einer Entfernung von 160.000 Kilometern für zwei Sekunden lang die Bahnparameter anpaßen, damit die Sonde am Samstag, den 28. November in eine Umlaufbahn in 80 Kilometern Höhe über der Mondoberfläche einschwenken kann. Die Landung der an Bord befindlichen Landekapsel im Oceanus Procellarum ist für den 30. November geplant, der Start der Probenkapsel für den zweiten Dezember. Diese Kapsel selbst wird den Rückflug zur Erde nicht antreten; die bis zu zwei Kilogramm Mondgestein, die der Greifarm des Landers aus einer Tiefe bis zu 1.80 gewinnen soll, werden in das vierte Modul der Sonde, die Rückflugkapsel umgeladen. Am 16. oder 17. Dezember soll dann die Landung in der Inneren Mongolei erfolgen. Als Zielgebiet ist der Mons Rümker festgelegt wurden, der seinen Namen seit 1935 nach dem deutschen Astronomen Karl Ludwig Christian Rümker (1788-1862) trägt, der viele Jahrzehnte zweiter Direktor der Hamburger Sternwarte war, nachdem das erste provisorische Observatorium am Stintberg aufgegeben worden war und der Hamburger Senat 1830 den Neubau am Millerntor genehmigt hatte (die Pfeffersäcke machten das nicht allein zur Förderung der abstrakten Wissenschaft, sondern wünschten sich eine Stätte, an der die zu Schiffsoffizieren ausgebildeten Söhne der Stadt den praktisch-faktischen Umgang mit nautischen Positionsbestimmungen erlernen konnten). Rümker war zuvor Direktor der bis dahin einzigen Sternwarte in Australien, in Parramatta, gewesen, hatte sich aber mit seinem englischen Kollegen und der örtlichen Verwaltung schwer überworfen. Der flache Schildvulkan (chinesisch 吕姆克山 / Lǚmǔkè shān; die klangliche Nachbildung ist deutlich) auf der Position 41°30' nördlicher Breite und 59°30' westlicher Länge ist mit dem Feldstecher leicht aufzufinden: der "Ozean der Stürme" bildet die dunkle Lavafläche am linken oberen Rand der sichtbaren Mondscheibe, wenn man sie sich als ein Zifferblatt denkt, ist er die verbreitete Spitze eines Zeigers, der auf die 11-Uhr-Position weist. Das Massiv mit seiner Basis von gut 70 Kilometern und seiner gut von 1500 Metern ist aus zwei Gründen als Landeort ausgesucht worden: zum einen handelt es sich um vulkanisches Ergußgestein, anders als bei den Bodenproben, die die Apollo-Missionen vor einem halben Jahrhundert, und zuletzt die beiden russischen Zond-Sonden 1976 zur Erde zurückgebracht haben: dies war der dunkle Basalt der "Mondmeere," die ihre Entstehung dem "schweren Bombardement," dem "heavy bombardement" durch Asteroiden von 4-3 Milliarden Jahren verdanken. Anhand der Kraterdichte läßt sich ermitteln, daß der Mons Rümker nicht älter als gut 1,3 Milliarden Jahre sein kann und damit unter den Mondformationen zu den jüngsten zählt.

26. November 2020

Bischen nachschärfen....

Liest man dieser Tage (gerade gestern) mal wieder Zeitung und kommt das Stichwort auf das allgegenwärtige Virus, respektive die staatlichen Maßnahmen, steht in gefühlt jedem zweiten Artikel der Wunsch der Frau Bundeskanzler die akuten Maßnahmen oder die vorgeschlagenen nachzuschärfen. Da wo orange das neue schwarz ist, scheint die Nachschärfung die neue Alternativlosigkeit zu sein. Ich will es gleich vorweg nehmen, schon die permanent und dauerhaft bemühte Vokabel der Schärfung löst inzwischen bei mir ähnliches, körperliches Unbehagen aus wie ein Bild von Karl Lauterbach.

24. November 2020

Arecibo. Das Ende einer Ikone



I

Zu den Besonderheiten, die die Astronomie unter ihren Schwesterdisziplinen im Bereich der "exakten" Naturwissenschaften - den messenden, quantifizierenden, mathematisch bis auf diverse Nachkommastellen präzisen wie der Physik, der Chemie und der Biologie (soweit sie sich auf das Individuum und dessen körperliche Vorgänge kapriziert) - auszeichnet, ist das, was man ihre "Ikonizität" nennen könnte: der Wiedererkennungswert ihrer Instrumente, namentlich der großen Teleskope, die auch von flüchtigen Zaungästen sofort wiedererkannt werden. Die Labore und Forschungsstätten der anderen Abteilungen der exakten Auslotung dessen "was die Welt / im Innersten zusammenhält" sind zumeist gesichtslos und austauschbar. Bilder des Caltech oder des Fermilab führen selbst bei Betrachtern, die mit der Geschichte der Naturwissenschaften gut vertraut sind, nicht zu einem "Aha!"-Effekt; eine Einrichtung von Weltrang zur Meeresforschung wie Woods Hole in Massachusetts würde ohne Bildlegende nicht von einem von hundert Nicht-Fachleuten nicht erkannt (die Ausnahme stellt auf diesem Gebiet sicher Jacques Cousteaus "Calypso" dar, das für Generationen von Fernsehzuschauern neben der roten Pudelmütze zum Markenzeichen dieses Tauchpioniers wurde). Der Speicherring des LHC, des Large Hadron Collider des CERN dürfte für die Teilchenphysik auch eine solche Ausnahme darstellen (daß der gut neun Kilometer durchmessende Tunnelring den Alterssitz des Aufklärers Voltaire, Ferney, umschließt, dürfte diesen im Elysium, an das er nicht glaubte, nicht wenig erfreuen). Und vielleicht noch die Kaverne des Neutrinodetektors Super Kamiokande in der japanischen Präfektur Gifo: die vierzig Meter messende kugelförmige Höhle, in einem ehemaligen Bergwerk in einem Kilometer Tiefe vor aller Strahlung abgeschirmt, ist mit 13.000 Photodetektoren ausgekleidet, deren Wartung und Austausch durchs Bootsmannschaften bei entsprechend reguliertem Wasserstand erfolgt, was den Bildern davon genau diesen "Wiedererkennungswert" verleiht, weil es wirkt, es sei hier in einem unterirdischen Venusberg eine Inzsenierung der "Zauberflöte" mit dem Bühnenbild Karl Friedrich Schinkels wahr geworden.

22. November 2020

Max Haushofer, "Der Thanatograph" (1888)



Im ärztlichen Vereine zu A. erregte unlängst ein Vortrag über den Thanatographen bedeutendes Aufsehen. Der Vortragende berichtete hierüber folgendes:

Der Apparat, dessen Beschaffenheit ich später angeben werde, wurde dem Sterbenden zu Häupten gestelle. Der Griff des Apparates ward in die erkaltende Hand des Sterbenden gelegt und dieselbe mit einem seidenen Tuche sanft zusammengebunden, so daß sie den Griff nicht fallen lassen konnte. Ein Assistent beobachtete den Puls des Sterbenden, und in dem Augenblicke, als er das gänzliche Stillstehen des Pulses durch ein Kopfnicken konstatierte, flüsterte der dirigierende Arzt in das Ohr des Verstorbenen: "Schreibe!"

Der Thanatograph begann zu arbeiten. Erst sehr langsam; dann mit zunehmender Geläufigkeit. Etwa drei Stunden nach dem Tode erreichte diie Thätigkeit des Apparates ihre höchste Geschwindigkeit, sodann nahm sie fortwährend ab. Als die Totengräber am folgenden Tage den Gestorbenen abholten, war der Apparat seit einer halben Stunde völlig regungslos gewesen. In der ersten hatte er siebzehn Worte geschrieben, in der zweiten hundertneununddreißig, in der dritten schon über siebenhundert. Dann hatte er allmählich nachgelassen.

Was bis jetzt über den Thanatographen bekannt ist, läßt sich dahin zusammenfassen, daß derselbe ein Appparat ist, welcher den Elektromagnetismus dazu benutzt, um das Nervensystem eben verstorbener Menschen zu schriftlichen Mitteilungen zu veranlassen. Es sind nur die nächsten Stunden nach dem Tode, welche der Thanatopgraph benutzen kann; jene Stunden, ehe der völlige Zerfall des Menschen beginnt. Vielleicht wird eine spätere Zeit noch bessere Apparate ersinnen, die geeignet sind, uns Kunde von dem zu geben, was nach des Menschen Tode in ihm vorgeht.

18. November 2020

Jean Lorrain, "Das verschlossene Zimmer" (1891)



Das Abweisende, Feindselige mancher Häuser und Zimmer auf dem Land, ihre abgestandene Luft, die an eine Totenkammer gemahnt, hatte ich noch sie so stark empfunden wie an jenem verregneten, tristen Oktobermorgen, als der Hausknecht meinen Koffer auf dem Boden jener Kammer im Obergeschoß abgestellt hatte und die Tür hinter mir von selbst ins Schloß fiel.

Welches herbstliche Mißgeschick hatte mich, den unfähigsten Jäger der Welt, mit einem beinahe körperlichen Abscheu vor Schußwaffen, in dieses einsame Haus mitten im Wald verschlagen? Welcher kranke Spleen hatte mich dazu getrieben, den Treibern des Marquis de Hauthère zu folgen, die Boulevards von Paris und die Arbeit für meine Zeitung zu verlassen und mich hier in diesem finsteren Forst zu vergraben, am Vorabend vor der Premiere von Cléopâtre und Réjanes langerwartetem Comeback in dem Stück von Meilhac?

Auch wenn es verrückt klingt: ich bin der festen Überzeugung, daß es mich gegen meinen Willen in diesen vom Herbst verwüsteten, einsamen Forst gezogen hatte, daß ich, ohne daß ich mir dessen bewußt gewesen wäre, dazu ausgesucht war, eine Rolle in einem Drama aus dem Jenseits zu spielen.

Wer hatte früher einmal in diesem alten Waldhaus aus der Zeit Louis des Dreizehnten gelebt,das da mit seinem von winzigen Fenstern durchbrochenen steilen Schieferdach neben dem von toten Blättern bedeckten Teich an der einsamsten Stelle des großen Waldes stand?

Es befand sich seit Jahrhunderten in Besitz der Familie de Hauthère, und der Vater des jetzigen Marquis hatte es zu einem Gästehaus umbauen lassen, in dem während der Jagdsaison die Gäste untergebracht wurden, die im Schloß keinen Platz mehr fanden.

15. November 2020

Jean Lorrain, "Die Löcher in der Maske" (1895)



(Jean Lorrain; Portrait von Antonio de la Gandara, 1861-1917)

« Vous voulez en voir, m’avait dit mon ami de Jakels, soit, procurez-vous un domino et un loup, un domino assez élégant de satin noir, chaussez des escarpins et, pour cette fois, des bas de soie noire et attendez-moi chez vous mardi. Vers dix heures et demie, j’irai vous prendre. »

* * *

I

"Wenn Sie sich das ansehen möchten," hatte mir mein Freund de Jakels gesagt, "dann besorgen Sie sich einen Domino und einen anständigen Umhang aus schwarzer Seide, ziehen Sie Tanzschuhe und aus diesem Anlaß auch schwarze Seidenstrümpfe an und erwarten Sie mich nächsten Dienstag. Ich hole Sie dann um halb elf ab."

Am darauffolgernden Dienstag wartete ich also auf meinen Freund de Jakels in meiner Junggesellenwohnung in der Rue Taitbout, eingehüllt in die Falten eines langen Kapuzenmantels und mit einer Samtmaske mit einem künstlichen Bart, deren Seidenbänder ich hinter den Ohren zusammengebunden hatte und wärmte mir die Füße am Kamin. Das ungewohnte Gefühl von Seide auf der Haut irritierte mich; von draußen drang das undeutliche Lärmen und Musizieren eines Karnevalsabends herein.

Die ganze Situation hatte etwas Merkwürdiges und, bei Licht betrachtet, durchaus Beunruhigendes an sich: diese maskierte Gestalt, die da ausgestreckt im Sessel Nachtwache hielt, im Dämmerlicht der Erdgeschoßwohnung mit den vielen Nippsachen und den schweren Behängen und den Spiegeln an den Wänden, im Licht einer weit hochgedrehten Petroleumlampe und zweier hoher schmaler, weißer Kerzenflammen wie bei einer Totenwache - und de Jakels kam nicht. Das Gelärm des Maskierten verklang in der Ferne und die Stille wurde bedrückender, und die beiden Kerzenflammen brannten so regungslos, daß mich diese drei Lichter so nervös machten, daß ich schließlich aufstand, um eins davon zu löschen.

13. November 2020

Stella Benson, "Der Mann, der den Bus versäumte" (1928)



Als Mr. Robinson in St. Pierre anlangte, war seine Stimmung längst auf den Nullpunkt gesunken. Die beiden Plagen, die seinem Nervenkostüm am zuverlässigsten zusetzten, waren Lärm und grelles Licht, das seine Augen blendete. Und wie er Monsieur Dupont, dem Wirt des "Tres Moines" in St. Pierre, mit Nachdruck darlegte: "Wenn es etwas wirklich wirklich Lästiges gibt, Monsieur, etwas Störendes, etwas zutiefst Störendes - was sage ich: eine Gefahr - was ich sagen will: Geräusche stehen nicht für etwas, sondern der Lärm an sich..." "Numéro trente," sagte Monsieur Dupont zum Hoteljungen. Mr. Robinson hatte stets Mühe, sich klar genug auszudrücken, um anderen Leuten klarzumachen, worum es ihm ging, und daß er es ernst meinte, und zumeist blieben sie jedes Zeichen schuldig, daß er verstanden worden war. Aber er war ein bescheidener Mann, und er tröstete sich damit, sich das Schweigen und die Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen, auf die er fortwährend stieß, damit zu erklären, daß seine Worte leider nie ausreichten, um ihnen das tiefe, intensive Interesse zu vermitteln, die alle Aspekte des Lebens in ihm auslösten. Sein Geist floß über von all dem, was seine Sinne ihm darboten. Mit jedem neuen Augenblick bot sich ihm neues dar, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Andere Menschen ließen diese Augenblicke achtlos verstreichen, das sah er wohl, aber er fühlte, daß er seine Mitmenschen aus ihrer Lethargie und der Blindheit ihres alltäglichen Dahinlebens hätte aufwecken können - wenn er nur den Mut dazu und die richtigen Worte dafür gefunden hätte. Freilich klang das, was er ausführte, sogar in in seinen eigenen Ohren so banal und dumm wie ein aufwühlender Traum, von dem man am Frühstückstisch erzählt. Was er mit seiner Bemerkung über den Lärm ausdrücken wollte, war, daß er schon als solcher bedrohlich und grauenvoll war - nicht bloß als Warnung vor Gefahr, sondern als körperlichen Angriff. Die meisten Menschen empfinden Lärm nur als ein Signal, das etwas anderes anzeigt, hatte er sagen wollen, aber in Wirklichkeit stand der Lärm für sich selbst, so wie Zwang und Gewalt unmittelbar sind und nicht für etwas anderes stehen. Es gab keinen harmlosen häßlichen Lärm. Das Dröhnen eines Schnellzugs, der durch einen stillen Bahnhof donnert - das Prasseln einer Regenfront im Wald, die näherkommt - das schrille Gelächter als Reaktion auf einen Witz, den man nicht gehört hat - all diese Geräusche, die harmlos genug waren, wenn man sie isoliert sah, stellten nichtsdestoweniger Katastrophen dar. Das wars, was Mr. Robinson Monsieur Dupont hatte erklären wollen, solange, bis Monsieur Dupont es verstanden hatte - aber wie üblich wurden die Worte schal und banal, sobald er sie ausgesprochen hatte.

9. November 2020

Die Blume des Paradieses. Eine Blütenspur

"Esas consideraciones (implícitas, desde luego, en el panteísmo) permitirían un inacabable debate; yo, ahora, las invoco para ejecutar un modesto propósito: la historia de la evolución de una idea, a través de los textos heterogéneos de tres autores." (Jorge Luis Borges, "La flor de Coleridge", La Nación, 23. September 1945)

Ziel dieser kleinen Miszelle ist, gemäß dem Verfahren von Borges, "ein vergleichsweise bescheidenes Vorhaben: die Entwicklungsgeschichte einer Idee, eines literatischen Motivs, in den unterschiedlich gearteten Texten verschiedener Autoren" anzuzeigen und als Coda zu Borges' kleinem Essay über "Die Blume Coleridges" zwei weitere Beispiele anzufügen und auf die ursprüngliche Quelle zu verweisen, die bislang keinem Literaturhistoriker aufgefallen zu sein scheint. Das Motiv ist das des aus einem Traum in die Tagwirklichkeit hinübergeretteten Gegenstands; im Fall der von Borges angeführten Beispiele eine Blume, die das Traumgeschehen auf ihre paradoxe Weise bestätigt - und gleichzeitig ein ontologisches Paradox aufwirft: wenn dem "Traumgeschehen" der gleiche Wirklichkeitsstatus zukommt wie der Alltagsrealität, worin liegt dann der Unterschied? Und könnte es nicht sein, daß das, was wir für "real" halten, ebenso nur eine Illusion, ein Traum ist: "La vida es sueño," wie es der Titel des Versdramas von Calderón de la Barca von 1635 nennt. Diese erkenntnistheoretische Mise en abyme, die wenige Jahre zuvor, am Martinstag des Jahres 1619 (also fast auf den Tag genau vor vierhundertundeinem Jahr) im oberbayerischen Neuburg an der Donau René Descartes zu seiner radikalen Bottom-Up-Existenzphilosophie anregte, bleibt in den im folgenden angeführten Texten außen vor. Der Sicherheit des Bestehens, der Wirklichkeit, wird nicht radikal der Stöpsel gezogen - der Vorhang wird nur durchlässiger, und dahinter zeichnet sich eine vage angedeutete umfassendere Realität ab, von der das irdische Geschehen nur einen Ausschnitt darstellt, ohne ihm Konturen und Regeln zu verleihen. (Dies ist ein zentrales Problem in der Literatur des Schreckens und des Erstaunens, das die Evokation des "Sense of wonder," das "Mysterium Tremendum" in den Kernpunkt eines Textes rückt: wird der Schleier ganz gehoben, ist der Autor verpflichtet, das sichtbar Werdende konkret vorzustellen, ihm Gestalt und Regeln beizulegen, und es letztlich als Teil der Lebenswirklichkeit einzureihen, dem man bei Bedarf durch den wirkmächtigeren Bannfluch beikommen kann. Ein Paradies - wir werden diesem Ort im Folgenden noch begegnen - von dem eine Karte gezeichnet werden kann, ist kein Elysium mehr, sondern nur noch ein Locus amoenus.) Natürlich muß es sich bei dem handfesten Beweis aus der Traumwirklichkeit nicht um eine Blume handeln; die beiden ersten Beispiele zeigen dies; tatsächlich läßt sich anhand dieser Corpora delicti recht gut zeigen, welche von welchem Motiv der jeweilige Text inspriert wurde.

8. November 2020

Wahlfälschung leicht gemacht

In einer Diskussion in Zettels Raum wurde ich von unserem geschätzten Zimmermann Florian just geziehen eine Verschwörungstheorie zu verfolgen, weil ich das Wahlverhalten in Michigan auffällig finde. Das wäre nichts besonders erwähnenswertes, aber etwas dahinter ist mir schon öfter aufgefallen: Man fällt schnell in Ungnade wenn man die Integrität von Wahlen in Frage stellt. Viele Leute können sich nicht vorstellen, dass Wahlen in großem Umfang gefälscht werden, zumindest nicht im "freien Westen". Es mag der Instinkt sein, dass nicht sein soll was nicht sein darf und das ein solches Infragestellen alleine schon die Grundfesten unserer Gesellschaft beschädigt.
Was in dem Sinne auch sicher nicht falsch ist, denn wenn kein Vertrauen in die Wahlen existiert, dann verliert unsere Gesellschaft einen Teil ihrer Legitimation, nach Meinung einiger die zentrale Legitimation.

5. November 2020

Pfeif auf deine Freiheit. Ein Gedankensplitter zum Lockdown.

Der Gedanke war mir schon früher gekommen (und dann wieder gegangen), aber erst unser geschätzter Zimmermann Gorgasal brachte mich auf eine genauere Version, als er bemerkte, dass unter den Kunden des von ihm frequentierten Fitness-Studios sich wohl auch vermehrt viele Lockdown-Gegner befinden würden. Dies kann ich, ausgehend von dem von mir frequentierten Studio, genauso wie auch von meinem Sportverein, genau so bestätigen. Die "Freunde des Lockdowns", die es ja laut Medien und einschlägigen Umfragen zu großen Teilen geben soll, sind dort eher nicht zu finden. Allerdings muss ich auch zugeben, ich kenne generell sehr wenige echte Lockdown-Freunde. Dies mag zu einem guten Teil daran liegen, dass mein Umfeld vielleicht doch zu den aktiveren zählen mag.

Dennoch: Die Beobachtung habe ich auch beim ersten Lockdown schon machen können. 

4. November 2020

Jetzt haben sie den Salat

Manchmal würde ich lieber nicht Recht haben, diesmal war das leider der Fall. Hier habe ich vorhergesagt was gestern und in den nächsten Tagen passieren würde. Und genau so kam es dann auch: Als ich heute morgen um fünf dann doch zur Ruhe gegangen bin, hatte Donald Trump die Wahl auf dem Papier praktisch gewonnen. Er hatte die wesentlichen Swing-States North-Carolina,. Michigan und Pennsylvania gewonnen, damit war der -unerwartete- Verlust von Arizona zu verschmerzen. Doch dann passierte genau das, was ich ebenso vorhergesagt habe: Plötzlich tauchten (zu hunderttausenden) Stimmen auf. Und diese Stimmen kippten in den darauffolgenden das Ergebnis ins Gegenteil.