Als Mr. Robinson in St. Pierre anlangte, war seine Stimmung längst auf den Nullpunkt gesunken. Die beiden Plagen, die seinem Nervenkostüm am zuverlässigsten zusetzten, waren Lärm und grelles Licht, das seine Augen blendete. Und wie er Monsieur Dupont, dem Wirt des "Tres Moines" in St. Pierre, mit Nachdruck darlegte: "Wenn es etwas wirklich wirklich Lästiges gibt, Monsieur, etwas Störendes, etwas zutiefst Störendes - was sage ich: eine Gefahr - was ich sagen will: Geräusche stehen nicht für etwas, sondern der Lärm an sich..." "Numéro trente," sagte Monsieur Dupont zum Hoteljungen. Mr. Robinson hatte stets Mühe, sich klar genug auszudrücken, um anderen Leuten klarzumachen, worum es ihm ging, und daß er es ernst meinte, und zumeist blieben sie jedes Zeichen schuldig, daß er verstanden worden war. Aber er war ein bescheidener Mann, und er tröstete sich damit, sich das Schweigen und die Gleichgültigkeit seiner Mitmenschen, auf die er fortwährend stieß, damit zu erklären, daß seine Worte leider nie ausreichten, um ihnen das tiefe, intensive Interesse zu vermitteln, die alle Aspekte des Lebens in ihm auslösten. Sein Geist floß über von all dem, was seine Sinne ihm darboten. Mit jedem neuen Augenblick bot sich ihm neues dar, das seine Aufmerksamkeit beanspruchte. Andere Menschen ließen diese Augenblicke achtlos verstreichen, das sah er wohl, aber er fühlte, daß er seine Mitmenschen aus ihrer Lethargie und der Blindheit ihres alltäglichen Dahinlebens hätte aufwecken können - wenn er nur den Mut dazu und die richtigen Worte dafür gefunden hätte. Freilich klang das, was er ausführte, sogar in in seinen eigenen Ohren so banal und dumm wie ein aufwühlender Traum, von dem man am Frühstückstisch erzählt. Was er mit seiner Bemerkung über den Lärm ausdrücken wollte, war, daß er schon als solcher bedrohlich und grauenvoll war - nicht bloß als Warnung vor Gefahr, sondern als körperlichen Angriff. Die meisten Menschen empfinden Lärm nur als ein Signal, das etwas anderes anzeigt, hatte er sagen wollen, aber in Wirklichkeit stand der Lärm für sich selbst, so wie Zwang und Gewalt unmittelbar sind und nicht für etwas anderes stehen. Es gab keinen harmlosen häßlichen Lärm. Das Dröhnen eines Schnellzugs, der durch einen stillen Bahnhof donnert - das Prasseln einer Regenfront im Wald, die näherkommt - das schrille Gelächter als Reaktion auf einen Witz, den man nicht gehört hat - all diese Geräusche, die harmlos genug waren, wenn man sie isoliert sah, stellten nichtsdestoweniger Katastrophen dar. Das wars, was Mr. Robinson Monsieur Dupont hatte erklären wollen, solange, bis Monsieur Dupont es verstanden hatte - aber wie üblich wurden die Worte schal und banal, sobald er sie ausgesprochen hatte.
Monsieur Dupont stand in der Eingangstür des Les Trois Moineaux, mit dem Rücken zum Licht. Mr. Robinson konnte den Umriß seines Kopfs über den hängenden Schultern ausmachen, mit einem Halo schütterer Haare, die seine Glatze umrahmten. Er sah die Blumenkohlohren mit ihren abstehenden Ohrläppchen, die sich scharf von der Lichtflut abhoben. Aber zwischen den beiden Ohrmuscheln, zwischen Stirn und Hals sah er nur leere Schwärze. Mr. Robinson besaß außergewöhnlich scharfe Augen - vielleicht zu scharf, wie er oft gerne sagte hätte, denn daran lag es wohl, daß ihn helles Licht so peinigte. "Wenn meine Augen weniger scharf wären," hätte er gesagt, "dann würde mich grelles Licht nicht so stören - ich will damit sagen: meine Augen sind so empfindlich, daß sie zuviel...oder anders gesagt: es ist eben deshalb, weil meine Augen so empfindlich sind, daß..." Aber niemand war je interessiert und sagte: "Ich verstehe Sie ganz genau, Herr Robinson; das ist interessant: Ihre Augen sind so empfindlich, daß sie sich gegen zu helles Licht nicht wehren können, und das setzt ihren Nerven zu - und andererseits ist das genau der Grund, warum Sie soviel wahrnehmen können." Niemand sagte etwas in dieser Art zu ihm, aber die Leute interessieren sich nun einmal für sich selbst. Mr. Robinson intereressierte sich nicht für sich selbst - er interessierte sich nur brennend für seine Umgebung, nicht für seine Mitmenschen. Jetzt etwa sah er sich um - während der Hotelpage im Schatten nach seinem Koffer suchte - und studierte die Terasse, die von breiten Lichtbändern in Streifen geteilt wurde - breite flache Bänder wie gelbe Laken, die von jedem Fenster und jer Tür des Hotels zu den Bäumen, Urnen und Tischen liefen, die die Terrasse säumten. Stimmengewirr lag in der Luft, aber in den gleißenden Lichtstreifen saß niemand - nur kauernde schwarze Umrisse in den Schatten - und auf jeder Lichtinsel schlafende Hunde und Katzen. Hunde und Katzen lagen ausgestreckt oder zusammengerollt auf den warmen, unebenen Steinen, und Mr. Robinsons Adlerblick sog die Umrisse jedes braunen, gelben oder schwarzen Fleckens ihrer Felle auf, wie ein Geograph die Konturen eines neuentdeckten Kontinents verzeichnet. "Das ist wie Kartenkunde - die Felle von Tieren," hatte Mr. Robinson einmal einem Amerikaner erklärt, den er in einer Ecke festgenagelt hatte. "Ich will dsamit sagen, daß die Flecken auf dem Fell eines Hundes oder eines Kaninchens genausoviel bedeuten wie die Verteilung von Land und Meer. Anders gesagt: die kleinen schwarzen Punkte dieses kleinen Dalmatiners sind auf dieselbe Art voneinander isoliert wie die Inseln in der Adria..." Der Amerikaner hatte nur gemeint: "Im Gegenteil, Mr. Robinson. Ich werde diesen Sommer - dank American Express und Co. - mit meiner Frau eine Kreuzfahrt durch die griechischen Inseln unternehmen, und wir werden auf dem Meer seekrank sein und auf den Inseln wird man uns ausplündern. Das Fell dieses Hündchens wird höchstens von Flöhen besucht, und denen ist es egal, welche Farbe das Fell hat, in das sie stechen." Was wieder einmal zeigte, daß niemand außer Mr. Robinson die Dinge nüchtern und unpersönlich ansah.
Mr. Robinson war ein aufgeschlossener und empfindsamer Mensch und zudem gutsituiert, und stets auf der Suche nach neuen Orten, an denen er sein Glück machen konnte - oder genauer: an denen niemand etwas von seinen zahllosen bisherigen Mißerfolgen im Leben wußte. St. Pierre schien ihm vielversprechend, obwohl sich die Anreise als so beschwerlich erwiesen hatte. Schon das erste, was er darüber gelesen hatte - eine kurze, flüchtige Reiseskizze eines beliebten Romanautors im "Daily Call" - hatte in ihm Erwartungen geweckt. Ein kleines Städtchen in der Provence, mit einer Stadtmauer aus dem Mittelalter, hinter Weinbergen hoch über dem blauen Mittelmeer gelegen - ein ruhiges kleines Hotel, sauber und mit einer guten Küche - von wenigen, aber interessanten Gästen besucht...
"Wenn ich wieder unten bin," dachte Mr. Robinson, während er eine frische Hose anzog und die getragene unter die Matratze in seinem Zimmer legte, "werden die Lichter auf der Terrasse schon brennen, und ich kann meine zukünftigen Freunde erkennen. Ich muß jemandem einmal davon erzählen, wie merkwürdig sich das Licht in der Rhone spiegelt.." Er begab sich nach unten und trat auf die Terrasse hinaus, wo das Klirren und Klappern von Gläsern und Tellern seinen Apetit weckte. Als er in der Tür innehielt und nach draußen sah, konnte er eine männliche Stimme hören, die in schneller Folge witzige Bemerkungen ausstieß und das Gelächter, das wie Windstöße die kurzen Pausen füllte und wie Wellen an einem Strand brach und mit einem dünnen, einsamen Klang abflutete. "Wahrscheinlich ist das alles auf seine Bekannten gemünzt," dachte Mr. Robinson, "und deshalb nicht zwingend witzig. Und bestimmt auch noch anzüglich. Wann sehen diese Leute endlich ein, wie interessant und aufregend die wirklich wichtigen Dinge..."
Einer der Kellner zog für ihn einen Stuhl unter einem der Tische hervor, der im hellen Viereck des Lichts lag, das aus einem der Fenster fiel. Mr. Robinson, der sich geistesabwesend gesetzt hatte, wollte ihn schon zurückrufen und ihm erklären, daß seine Augen überaus empfindlich waren und er nichts erkennen konnte, als ein großer Hund mit einem hellen, fleckigen, dummen Clownsgesicht auf ihn zugetrottet kam und ihm den Kopf auf das Knie legte. Mr. Robinson brachte es nicht über sich, Tiere abzuweisen. Er sah in ihnen all die heißen und kalten Gefühlsaufwallungen am Werk, die ihn selbst heimsuchten, und bestrich das geduldige Fell des Tiers mit seiner eigenen dünnen Haut. Als der Kellner geräuschlos wieder hinter ihm auftauchte und ihm die Weinkarte in die Hand drückte, sagt Mr. Robinson nur: "Danke, Garçon. Aber ich rühre niemals Alkohol in irgendeiner Form an. Und, was das angeht, auch keinen Tabak. Meiner Ansicht nach -" und rief den enteilenden Kellner nicht zurück, um ihn zu bitten, den Tisch aus dem Licht zu rücken. Der Hund hatte jetzt seinen Kopf seitwärts auf sein Knie gelegt, und seine Pfote war fest an seinen Knöchel gepreßt.
Mr. Robinson machte das Beste aus seiner Stellung im gleißenden Licht und versuchte sich umzusehen. Das Trois Moineaux befand sich gerade außerhalb des Mauerrings, der das Städtchen St. Pierre einfaßte, und da St. Pierre den Gipfel eines steilen Hügels einnahm, befand sich die Terrasse hoch über einer in steilen Stufen zur Ebene abfallenden Reihe von Weinbergen. Die Ebene in der Ferne war unter dem sternfunkelnden Dunkel kaum auszumachen, aber am Rand der Terrasse hatte man einen Eindruck von Weite, und die Tische standen in einer Reihe an der niedrigen Brüstungsmauer aufgereiht, und luden die Speisen und Getränke, die sie trugen, mit Ferne und Sternenlicht auf. Die Gäste dort saßen der Welt zugewandt und kehrten Mr. Robinson den Rücken zu. Mr. Robinson war zu spät nach unten gekommen, um einen freien Platz am Terrassenrand zu erhaschen, und sein Tisch war war im Netz aus Licht unter einem Olivenbaum gefangen. Auf der Mitte des Tisches waren Pfirsische und grüne Weintrauben auf einer Schale mit kurzem Stiel aufgehäuft, und am Rand der Schale wand sich eine Raupe fast ganz aufgerichtet hin und her, als könnte sie nicht begreifen, daß die Welt an dieser Kante endete. Mr Robinson schirmte seine Augen vor dem Licht ab und widmete ihr lange Minuten konzentrierter Aufmerksamkeit, um alle Einzelheiten genau zu studieren. Sie war von heller bleichgrüner Färbung, und trug anstelle von Augen zwei dunkle Flecken. "Uns würde sein Leben unvorstellbar schwierig und einsam vorkommen," dachte Mr. Robinson, der sich tief über sie gebeugt hatte. "Es wäre furchtbar, wenn der kleinste Funken an Selbstbewußtsein sich in ein Insekt verirren würde (vielleicht durch einen Kurzschluß im Strom der Lebensenergie?) - und es wüßte, daß es absolut allein und verlassen ist..." Er streckte seinen Finger aus, so daß das kreisende Würmchen darauf zu ruhen kam, und sah zu, wie es seinen Fingernagel entlang kroch und den himmlischen Beistand ohne Zögern und Zweifel annahm. Er legte seinen Finger an ein Blatt, und die Raupe kroch nach ihrer Luftreise eilig davon. Als sie fort war, sah sich Mr. Robinson bestürzt um. "Mein Gott," dachte er, "das Gesicht dieser Raupe ist das einzige, das ich heute abend gesehen habe."
Das Lärmen der Gespräche und des Gelächters stieg wie eine Art von Rauch von den flackernden Gestalten am Rand der Terrasse auf. An jedem Tischen verschmolzen die Köpfe und Schultern der Frauen und Männer - flackerten wie Flammen, die ein Luftzug erfaßt hat. "Meine Liebe, sie sah aus wie ... Na, wenn du unbedingt willst ... er ist ein Mann, der ... nein, mein Lieber, nicht in meinem Schlafzimmer ... eine tolle Geschichte ... sagt Bescheid, wenn ihr den schon kennt... " Ein Mann hielt leicht schwankend an Mr. Robinsons Nebentisch eine Ansprache: "... das letzte Mal ... wunderbare Gesellschaft ... des schönen Geschlechts ... nichgt eure Zeit verschwenden ... wir normalen Sterblichen ... wie der Ire zu dem Schotten sagte, als sie beide .. glücklichster Tag meines Lebens ... nur noch eine Minute ... Sie nicht aufhalten ... vor kurzem die folgende kleine Geschichte ..." Seine Zuhörer steckten am ganzen Tisch die Köpfe zusammen, blickten auf die dunkle Ebene hinaus oder flüsterten leise miteinander. The einzige Frau, die Mr. Robinson vielleicht hätte erkennen können, hatte die Hände vors Gesicht geschlagen und ziterte vor stummem Gelächter. Der Sprecher schwankte hin und her, fast wie die Raupe hin und her geschwankt hatte, und seine ausholenden Gesten, mit denen er um die Aufmerksamkeit seiner Freunde heischte, erinnerten Mr. Robinson an die Sucher der Raupe nach Halt, wo es keinen Halt gab. "Ja," dachte Mr. Robinson, "die Raupe war heute abend mein Gastgeber. Niemand sonst sieht mich an."
Als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoß, kam ein Mann vor einem der Tische weiter hinten auf ihn zu und blieb unter dem Olivenbaum stehen, zwischen Mr. Robinson und der erleuchteten Tür, und sah ihn an. Der Mann streckte eine Hand aus und stützte sich am Baum ab. Ein Lichtstrahl erfaßte die breite, kurze Hand, braun und mit Fingergelenken wie Walnüsse, die sich um den Ast schlossen. Mr. Robinson konnte nichts von der Zügen des Mannes erkennen, aber es hatte den Eindruck, daß der Besuch freundlich gemeint war. Als Entgegenkommen wäre er sogar bereit gewesen, über den Wetter zu reden oder Bemerkungen über hübsche Mädchen und Bier auszutauschen, aber ihm fiel absolut nichts ein, was er in dieser Art zu jemandem sagen sollte, von dem einzig eine Hand auszumachen war, die einen Ast umklammerte. Ihm blieb nur, sich zu fragen, weshalb er nähergekommen war. "Es kann nicht daran liegen," dachte Mr. Robinson bescheiden, "daß ihm mein Äußeres anzieht, denn denn das tut es niemandem." Und dann dachte er daran, daß ein Verlust für einen Menschen zumeist einen Gewinn für einen anderen darstellt, wenn man nur alle Umstände in Betracht zieht. Letztlich heißt verlassen zu werden, daß jemand anderes einen neuen Freund gewinnt. "Dieser junge Mann," dachte Mr Robinson und betrachtete den dunklen Umriß des Kopfes des Unbekannten vor ihm, "steht hier vielleicht aus Zufall, wil ihn jemand verletzt hat, mit einem Vorwurf, einer Beleidigung von den Leuten dort drüben am Tisch - vielleicht von einer Frau. Vielleicht glaubt er, daß sie sein Herz gebrochen hat (er wirkt ja noch jung aus) - daß er alles verloren hat. Sonst würde er sich nicht so seltsam verhalten und seine Freunde verlassen und hier schweigend im Dunkeln bei mir warten. Aber wenn ihm eines Tages klar wird - und ich bin sicher, daß das der Fall sein wird - daß es unter dem Strich gleich bleibt, daß ein anderer deswegen jetzt glücklicher ist - und wenn sie ihm ein Lächeln geschenkt hätte, daß dafür ein anderes Herz gebrochen worden wäre und der Schmerz, den er fühlt, der gleiche bleibt und nicht abnimmt ... Wir müssen nur alles ins Auge fassen, und sogar der Tod ... entweder stehen wir zumeist kurz davor oder sind gerade eben erst geboren worden, und in der Summe von Leben und Tod ändert sich nichts. Diese Sicht auf uns allein ist der Fluch unseres Daseins. Warum erdrückt uns diese Last, dieses erstickende ICH, diese Natter in unserem Paradies?" Er wantde sich an den jungen Mann und sagte: "Seltsam, nicht? Wenn man sich die Alten und die Jungen ansieht, dann ist es gleich, ob sie geboren werden oder sterben... Ich meine damit: es ist dasselber, was auch immer passiert, verstehen Sie? - und so viele Leute halten das für das Wichtigste im Leben, aber das ist es nicht, und wenn ihnen das nur klar würde..." In diesem Augenblick begann man am Tisch drüben heftig zu klatschen, und der junge Mann eilte von Mr. Robinsons Seite wieder zu seinen Freunden und rief: "Seid ihr soweit? Habt ihr euch für ein Wort entschieden? Tier, Pflanze, Mineral - und bitte laute Antworten. Ihr wißt, daß ich schwerhörig bin..."
Mr. Robinson fühlte sich schlagartig wieder als Herbert Robinson, als höchstpersönlich beleidigt. Die Summe des Glücks auf Erden (die natürlich dieselbe blieb) war ihn jetzt völlig gleichgültig. Er stand abrupt auf und ging nach oben, ließ seinen Käse unangerührt auf dem Teller zurück und den Hund mit seinem Clownsausdruck ohne Gesellschaft. Er betrat sein Zimmer und setzte sich vor den Spiegel, Angesicht zu Angesicht mit seinem äußerlichen ICH. Da saß die Gestalt im Spiegel, klein, beleibt, bleich, mit kleinen dunklen Augen und fettigem, wirren Haar. "Was ist los?" fragte Mr. Robinson und studierte das Spiegelbild seines eigenen, mißmutigen Gesichts - des einzigen menschlichen Gesichts, das er den Abend über gesehen hatte. "Sieh dich an - ich lebe - ich lebe sogar mit höchster Intensität - bin bestimmt lebendiger als alle diese Blinden - diese Halbtoten, blind vor Gier und Lust ... Ja, es stimmt schon: das Leben hat mir nie etwas geschenkt; ich habe nie geliebt, ich habe keine Freunde - aber ich lebe, ich lebe mit jeder Faser - und es gibt - es gibt - es gibt mehr als das eigene, beschränkte Leben. Der Adler und der Kohlkopf leben beide. Und vielleicht ist mein Leben, so wie ich es führe, näher an dem des Adlers als am Kohlkopf. Vielleicht muß ich ja allein sein, muß hier im Geheimen für mich bleiben, weil ich nach draußen blicke statt nach innen - das intensivste Leben, das sich denken läßt. Wenn man ich es nur vollkommen so leben könnte... "
Er versuchte die Gestalt im Spiegel als das zu sehen, wie er es gewohnt war: als bloßes zufällig entstandenes Lebewesen, eine Säule aus Fleisch und Muskeln, in der ein Leben gefangen war. Er starrte sich an, als ob er diesen Leib dadurch auflösen könnte, daß er jede Einzelheit erfaßte - dieses lächerliche, weiße, schwitzende, weiche Ding, das sich Herbert Robinson nannte und keine Freunde hatte. Aber in dieser Nacht behauptete der Funke namens Leben sein Recht und klammerte sich an seinen Kerker - heute Nacht zitterte sein Körper vor Eigenwillen - in dieser Nacht blieb das ersehnte Vergessen aus und er spürte nicht den weiten Nachthimmel, der sich über ihm drehte, wurde nicht Teil des Nachtwinds, der durch die Täler blies, der unzähligen schlafenden und horchenden und gejagten Tiere, die durch die Wälder huschten und über den Staub und durch die strömenden Gewässer der Welt. Er blieb Herbert Robinson, der unter den Menschen geweilt und kein menschliches Gesicht erblickt hatte.
Ein unwiderstehliches Bedürfnis überwältigte ihn - eine tiefe, dunkle Lust - allein zu sein, weit weg von alle Menschen, von Büchern, Spiegeln und Lichtern und ihren erbarmungslosen Blicken, und nur noch die blinden, instinktiven Bewegungen der Tiere sehen zu müssen - von Wesen, die kein ICH besaßen. "Dann wüßte ich kaum noch, ob ich lebe, und würde es vielleicht nicht einmal bemerken, wenn ich sterbe..." Er faßte den festen Entschluß, am nächsten Tag abzureisen, und nie wieder irgendeiner Gruppe die Möglichkeit zu geben, ihn ausschließen zu können.
Er entsann sich, daß er am Eingang des Hotels einen Aushang gesehen hatte, der die wenigen Abfahrtszeiten eines Busses aus St. Pierre aufführte. "Ich nehme den ersten Bus am Morgen, bevor jemand wach ist und mir die kalte Schulter zeigen kann."
Er fand keinen Schlaf, sondern verbrachte die Nacht ruhelos auf dem Bett und las die Anzeigen in einer Illustrierten, die er mitgebracht hatte. Das Betrachten von Anzeigen beruhigte ihn stets, denn Werbetexter, so dachte er, nahmen wirklich einen übergeordenten Standpunkt ein: sie schrieben zynisch und zugleich subtil über - und für - ihre Mitmenschen, sie nutzten das banale Bedrüfnis aus, direkt angesprochen zu werden, und behandelten die Menschen doch wie eine Masse, auf der man wie auf einem Instrument spielen konnte. Für Mr. Robinson schien dies die ideale Haltung, und doch fühlte er sich durch die kalte Distanz, die in diesem Ideal lag, beleidigt.
Er zog sich früh an, verstaute die wenigen Kleidungsstücke wieder im Koffer, legte ein paar Banknoten in den Umschlag, den er an Monsieur Dupont addressiert hatte, undlehnte sich aus dem Fenster, um nach dem Bus Aussschau zu halten. Die weißen und rosa getünchten Häuser von St. Pierre ersteckten sich über den Gipfel des Hügels wie eine gebundene Getreidegarbe. Das gedrängte und dicht gebaute Städten, das von einem spitzen weißen Glockenturm gekrönt wurde, schien im Lauf der Zeit wie eine goße Kerze zusammengeschmolzen zu sein; die Sonne und die Jahrhunderte hatten die festungsartigen Umrisse geglättet. Die umliegenden Hügel, ohne die Kappe einer menschlichen Siedlung, schienen schärfer umrissen, gemauert aus den präzisen Vierkanten der gelben und grünen Weinberge, mit dem dunklen Grün der Olivenbäume als Fugen im Mauerwerk. Leuchtende zerfasernde Wolken trieben weiß über die Hügelkämme - "wie kleine Kätzchen," dachte Mr. Robinson, der dazu neigte, kosmische Vergleiche zwischen dem Unendlichen und dem Winzigen zu ziehen. Auf der Terrasse des Hotels sonnte sich ein halbes Dutzend Hunde in der Frühsonne. Über dem Tal schwebt ein Falke und zog seine Kreise, so ausgehungert nach der Fastenzeit der letzten Nacht, daß er ein paar Mal vergeblich in die Tiefe stürzte und wieder abrupt in die Höhe stieg, als wäre er eine Marionette, die an ihren Fäden aufwärts gerissen würde. Mr. Robinson blieb eine Weile auf das Fenstersims gelehnt, bis seine Ellenbogen unter seinem Gewicht zu schmerzen begannen, und er sich fragte, wo der Bus blieb, der ihn ins Reich der Einsamkeit bringen sollte. Er ging mit seinem Koffer in der Hand zur Terrasse hinunter und wartete im Eingang. Er konnte keinen näherkommenden Bus hören - er konnte überhaut keine Geräusche vernehmen, außer einem Platschen und Klatschen und einem leisen Gemurmel, das von rechts kam. Ein paar Schritt in die Richtung zeigten, daß sich dort zwei lange Waschrinnen auf beiden Seiten des Torwegs befanden, beiden von einer Mauergalerie überdacht und gesäumt von einer Art Spalier vorübergebeugter kniender Frauen, die walkten und kneteten. Leicht beunruhigt registrierte Mr. Robinson, daß er nicht eins der Gesichter dieser Frauen ausmachen konnt; sie waren zu weit zusammengekauert in ihre Arbeit vertieft. Er war erleichtert, als ihn eine Frauenstimme aus der Gruppe hinter ihm fragte, ob er auf den Bus warten würde. Er drehte sich für eine Antwort um, in der Hoffnung, den Bann zu brechen und in ein bäuerliches Gesicht zu schauen, das ihm zugewandt worden war. Aber sie waren alle wieder über ihre Arbeit gebeugt, und es war andere Frau, hinter ihm, die ihm mitteilte, daß der Bus vor zehn Minuten abgefahren war. Auch sie hatte sich wieder ihrer Arbeit zugewandt, bevor Mr. Robinson sich umdrehen und ihr ins Gesciht sehen konnte. "Sehr merkwürdig," dachte er bei sich und verfluchte seine seltsame Isolation, bevor ihm aufging, daß er jetzt noch sechs weitere Stunden in St. Pierre festsitzen würde. Er stellte seinen Koffer im Eingangsflur des Hotels ab, und entschied sich für einen Weg, der durch die Weinberge führte. Wie auf ein Signal standen alle Hunde auf der Terrasse auf, dehnten und streckten sich und folgten ihm langsam, wie Arbeiter, die ihr Heim verlassen, wenn die Werkssirene zur Arbeit ruft.
Getreu seiner Angewohnheiten konzentrierte Mr. Robinson seine Aufmerksamkeit auf die Farben um sich - oder genauer: ließ sich davon ablenken. Die Blätter der Weinreben stachen ihm besonders ins Auge: sie trugen den gleichen frostigen Schimmer, der oft auf den Trauben selbst liegt - wie ein himmelblauer Tau auf grünen Blättern. Zwei Elstern stießen ihren Polizei-Wachruf aus, als er sich näherte und flogen davon, mit ungelenk gesprezten Schwanzfedern und einem flaschengrünen metallischen Schimmern auf den Flügeln. Dreißig Meter weiter aufwärts, wo der Boden sogar für Weinreben zu steil anstieg, stiße Mr. Robinson auf einen Hain alter knorriger Olivenbäume, hinter der spanische Kastanien ein kleines Wäldchen bildeten. Er setzte sich und sah zwischen den Stämmen und die verworrenen Schatten hinab auf das hügelige gelbe Land unter sich und den dünnen blaßblauen Strich des Meers, der zwischen den fernen Hügel hervorstach. Die Hunde umringten ihn in der Erwartung, daß er gleich wieder aufstehen und sie weiterführen würde. Als er sitzenblieb, begannen sie, geduldig aber auffordernd mit dem Schwanz zu wedeln. Schließlich schickten sie sich ins Unvermeidbare und begannen den Oliverhain zu erkunden und beschnüffelten die Stämme auf der Suche nach Ablenkung. Mr. Robinson sah ihnen mit wachsender Gelassenheit zu. "Da sind sie jetzt," dachte er bei sich, "die unschuldigen Tiere, ohne Hintergedanken. Ich wußte ja, daß sie mich retten würden. Sie schließen sich nicht vor dem Leben ab, in ihre kleinen Persönlichkeiten, oder rechtfertigen ihre Triebe mit lächerlichen Bedürfnissen. Sie sind nicht in ihren Körpern gefangen - sie sind darin zuhause ... " Er war entzückt, den Hunden dabei zuzusehen, wie die das Leben auskostete, ohne Zweifel und Selbstbewußtsein. Es gab ihm die Sicherheit, nicht von anderen Menschen abhängig zu sein. (Ihn hatten quälende Zweifel hinsichtlich dieser Unabhängigkeit überfallen.)
Einer der Hunde entdeckte ein Mauseloch, und nachdem er seine Nase hineingestoßen hatte, um sicherzugehen, daß der Geruch noch frisch war, begann er umgeschickt zu graben, obwohl er eigentlich zu groß für das Vergnügen war. Die anderen Hunde kamen dazugelaufen, überprüften selber den Geruch und setzten sich rings um den Entdecker mit jenem verärgerten Ausdruck, den wir alle zur Schau tragen, wenn wir jemanden an einer Aufgabe scheitern sehen, von der wir (irrigerweise) glauben, wir könnten sie im Handumdrehen erledigen. Schließlich schoben sie den ersten Hund beiseite und begannen an der gleichen Stelle zu graben. Da sich das als unmöglich erwies, spürten sie anderen Stellen nach, die denselben Geruch aufwiesen. Bald war die Luft auf drei Meter im Umkreis von erfüllt von einem Wirbelsturm aus Staub, umherfliegenden Erdklumpen, Gras und wirbelnden Vorderpfoten. Die Hinterbeine standen wie verwurzelt, während die Vorderbeine die ganze Arbeit erledigten, aber wenn die Erdanhäufung hinter einem Hund zu hoch wurde, traten es die Hinterbeine mit ein paar ungeduldigen kräftigen Stößen fort - bis fast zu Mr. Robinsons Schuhen. Wie wie auf ein Kommando ließen die Hunde auf einmal in ihrem Eifer nach; schlagartig kamen sie zu dem Schluß, daß es an diesem Flecken nirgendwo eine Maus gab. Sie zeigten ihre Verachtung für die Stelle in der üblichen Weise aller Hunde, verteilten sich, schnüffelten, japsten, suchten nach neuer Ablenkung. Mr. Robinson, der sich in den letzten Minuten selbst fast wie Hund gefühlt hatte und jeden Moment damit gerechnet hatte, daß eine Maus in Todesangst aus diesem Wirbelsturm auftauchen würde, tat es seinen Artgenossen im Geist nach und beruhigte sich mit einer Gleichgültigkeit, die der ihren fast gleichkam. Aber er hatte die Last des Menschseins abgestreift; er war entspannt, er fühlte sich schläfrig....
Er schlief viele Stunden lang, und als er erwachte, stand die Sonne auf der Höhe des Hügelkamms und warf gewaltige Schatten über die Weinberge. Die Hunde hatten sich verstreut. Und dort, auf dem freien Fleckchen zwischen zwei aufstrebenden Baumwurzeln, saß eine Mäusefamilie. Mr. Robinson, der sich jetzt selbst ganz als Maus empfand und keine Erinnerung an sein Dasein als Hund hatte, blieb regungslos auf der Seite liegen. Die Mäusemutter bewegte sich in Zuckungen, erschnupperte mit der Nase Unsichtbares im Staub. Ihre Nachkommenschar wirkten wie kleine leichte Federn, Staubkörnchen, die der Widn hin und her trieb. Ihre Bewegungen schienen nur einem Gesetz zu gehorchen: wenn die Mutter innehielt, trieb es eins der Mäusekinder nach vorn, und wenn dessen Bewegung erstarrte, trieb es eins seiner Brüderchen ein paar Zoll weiter. Solcherweise bewegte sich die ganze Familie über das freie Fleckchen und das Gras davor und tauchte zwischen den Halmen auf. Mr. Robinson lag regungslos und sah ihnen zu.
Zwischen zwei Grashalmen tauchte der Mäusevater oben auf einem kleinen Erdhügel auf, einen guten halben Meter von Mr. Robinsons reglosen Augen entfernt. Aus dieser Entfernung konnte Mr. Robinson sein Gesicht so deutlich erkennen wie man das Gesicht seiner Gattin am Frühstückstisch sieht. Es war ein würdiges, aber gieriges Gesicht; die Augen, sofern in ihnen ein Ausdruck zu erkennen war, zeigten ein kaltes Herz; sein Reiz lag allein in dem samtigen Fell, das es bedeckte - und das nie ein menschlicher Finger streicheln würde, egal wie sanft und freundlich. In dem Moment, als Mr. Robinson diesen fernen, abweisenden Ausdruck erkannte, fühlte er sich wie ein verlorener Seemann auf einem sinkenden Schiff, der das rettende Seil nicht zu fassen bekommt.
Hinter sich hörte er das Geräusch menschlicher Schritte. Neben ihm entstand ein kurzes Huschen - und die Mäusefamilie war verschwunden. Durch den Olivenhain kam eine Reihe von Männern im Gänsemarsch, die von der Arbeit in den Weinbergen heimkehrten. Mr. Robinson setzte sich auf und ihm wurde kalt ums Herz, als er sah, daß sie alle die hier üblichen Strohhüte trugen, die sie tief ins Gesicht gezogen hatten, um nicht von den letzten flachen Sonnenstrahlen geblendet zu werden, und er keines ihrer Gesichter erkennen konnte.
Mr. Robinson blieb einige Zeit so sitzen, das Gesicht in den Händen vergraben. Er tastete mit den Fingern über seine Augenlider, befühlte Nase und Wangen; er biß sich kräftig auf die Finger. Hier gab es ein Gesicht - das einzige menschliche Antlitz auf der Welt. Ihn verlangte plötzlich nach dem Anblick des alten Bekannten im Spiegel; er stand auf und machte sich auf den Rückweg zu den Tres Moineaux. Er war hungrig, das er den ganzen Tag nichts gegessen hatte, aber seine Einsamkeit erzeugte in ihm das Gefühl einer lähmenderen Leere als sein leerer Magen, daß er zuerst auf sein Zimmer ging, obwohl das Abendessen unter den breiten Streifen aus Licht und Dunkelheit auf der Terrasse serviert wurde, und vor den Spiegel trat. Im Spiegel zeigte sich Nebel. Er rieb mit der Hand darüber. Der Nebel blieb - ein dichter Schleier aus Leere, der genau die Stelle bedeckte, an der sich seine Gesichtszüge spiegeln sollten. Er betrachtete sich aus einem anderen Blickwinkel - he schon den Spiegel an einer andere Stelle - er das Zimmer deutlich vor sich im Spiegel, seine eigene Gestalt, die in Tweed gekleidet war, seine Krawatte, seinen Koffer mitten im Zimmer. Aber sein Gesicht blieb ausgelöscht, wie eine verschmierte, ausradierte Kohlezeichnung. Von Angst gelähmt, stand er minutenlang vor dem Spiegel, fühlte mit zitternden Fingern nach seinen Augen, seinen Lippen, seiner Stirn. Sein Tastsinn schien von der gleichen Fühllosigkeit erfaßt zu ein wie seine Sehkraft - von einer Ertaubtheit - das Gefühl, als ob er etwas Totes berührte. Es war, als wäre seine Hand durch Kälte oder durch eine unglückliche Belastung im Schlaf wie abgestorben.
Benommen ging Mr. Robinson nach unten und trat auf die Terrasse hinaus. Wie zuvor waren die in Dunkeln liegenden Tische am Rand der Brüstung von lachenden, schwatzenden Gästen besetzt. Mr. Robinson nahm wieder unter dem Olivenbaum Platz. "Bringen Sie mir eine Flasche .... Sauterne," sagte er zum Kellner (er erinnerte sich, daß seine verstorbene Schwester, die nie geheiratet hatte, diesen Wein stets allen Mittbewohnern in ihrem Mietshaus, in den wie wohnte, zu ihrer großen Zufriedenheit empfohlen hatte). "Und, Kellner: ist hier ein Tisch frei, von dem man einen Ausblick hat? Von hier aus kann ich nichts sehen." Natürlich ging es ihm nicht um die Aussicht, sondern um einen Platz, von dem aus er einen Blick auf die Gesichter der anderen sonderbaren lauten Gäste werfen konnte. Sein Bedürfnis danach war heftiger als je zuvor, seit ihn sein einziger Freund im Stich gelassen hatte. "Es werden gleich Tische frei werden," sagte der Kellner. "Das Tanz fängt gleich an. Sie warten nur noch darauf, daß der Mond aufgeht." Und der Kellner nickte mit seinem unsichtbaren Gesicht in Richtung eines fernen Hügels, hinter dem gerade - wie ein fernes rotes Feuer - der Mond aufstieg. "Seht nur: der Mond, der Mond, der Mond, schaut..." erklang es von überall auf der Terrasse. Und einen Moment später, löste sich der Mond, voll und rund, geteilt von einer niedrigen Wolkenbank, sanft von der Kuppe des Hügels.
Das Scharren von Stühlen, die zurückgeschoben wurden, erklang, das Wetzen einer Grammophonnadel, und ein halbes Dutzend Paare junger Männer und Frauen begann auf der Terrase zwischen den hohen italienischen Urnen und den Olivenbäumen zu tanzen. Mr. Robinson schenkte sich ein großes Glas Sauterne ein. "Kellner, ich möchte doch keinen Platz am Rand - ich würde gerne in der Nähe der Tanzfläche sitzen - ich würde gerne ihre Gesichter sehen."
"In der Terrasse sind gerade keine Tische frei. Am Rand gibt es ein paar freie Plätze."
"Ich sehe da drüben einen Tisch, und nur zwei besetzte Stühle. Kann ich da nicht Platz nehmen?"
"Der Tisch ist für eine große Tischgesellschaft reserviert. Die meisten tanzen gerade; sie werden sich aber gleich wieder setzen."
Mr. Robinson achtete nicht weiter auf den Kellner, nahm sein Glas in die eine und die Flasche in die andere Hand und ging zu dem Tisch hinüber. "Ich bin zu allein - ich muß hier sitzen."
"So einsam - arrmerr Mann," sagte die Frau, die am Tisch saß, eine stämmige Dame mittleren Alters mit fülliger Figur, die ein hellblaues Pailettenkleid trug. Im rosaschimmernden Mondlicht wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Mr. Robinson war nicht überrascht. Ihr Gesicht zeigte die gleiche Leere - dasselbe furchtbare Nichts, das ihn aus seinem Spiegel angeschaut hatte. Mr. Robinson sah zu ihren Begleiter hinüber. Auch dort bot sich ihm die gleiche Leere.
"Sch--- einsam, ja?" erklang eine belegte junge Stimme aus dem Dunkeln. "Freundchen, du wirst gleich noch viel einsamer sein, wenn du meinst, dich hier einfach so -"
"Ach sei ruhig, Ronnie," fiel ihn seine Begleiterin ins Wort - aber in diesem Moment setzte die Grammophonmusik aus, und die Tänzer kehrten zu ihren Tischen zurück. Mr. Robinson sah ihnen allen dorthin, wo sie ihre Gesichter hätten tragen sollen - sie waren wie die blinden Flecke, die vor den Augen tanzen, wenn man aus Versehen direkt in die Sonne geblickt hat.
"Der alte Knabe sagt was von einsam und hat sich auf deinen Stuhl gesetzt, Belle."
"Das macht doch nichts, Herzchen," sagte Belle und setzte sich auf Mr. Robinsons Knie. "Hier ist noch jede Menge Platz für meine Wenigkeit."
Das weiße Nichts ihres Gesichts, das kein Gesicht war, nahm ihm alle Sicht auf die Welt.
"Oh mein Gott!" schrie sie auf und sprang in die Höhe. "Ich weiß, warum er einsam ist - er lebt nicht mehr! Schaut euch sein Gesicht an!"
"Ich bin - ich bin - ich bin..." rief Mr. Robinson entsetzt. "Ich werde euch zeigen, daß ich..." Er stolperte hinter ihr her und zerrte sie auf die Tanzfläche, als die Musik wieder einsetzte. Er konnte ihr wildes kreischendes Gelächter hören und fühlte, wie sich ihr schlanker Körper unter seinen Händen wand.
Mr. Robinson saß am Rand der Straße auf der Mauer, die den Weinberg begrenzte, äußerlich ruhig aber im Innern aufgewühlt von Verwirrung, Aufregung und Ekel, und sah zu, wie die letzten Sterne im Dunst verschwanden, der die Hügel einhüllte. Der Mond war schon lange untergegangen. Mr. Robinsons ganzes Verlangen war darauf gerichtet, an diesem Morgen den Bus zu erwischen. Die Dämmerung, die unmerklich das Sternenlicht auslöschte, war ein Vorbote, der den Bus und die Flucht ankündigte. Er dachte nicht nach, er hatte nichts vor, außer den Bus zu nehmen. Ihm war bewußt, daß er fror - aber die die Flucht würde ihn wärmen -; daß er hungrig und durstig war - aber das Entkommen würde ihm neue Kraft verleihen; daß er erschöpft und innerlich am Ende war - aber die Flucht würde ihn beruhigen und inneren Frieden schenken.
Ein weißes Leuchten flammte über einem Hügel auf, hinter dem der Himmel schon seit einiger Zeit mit einem Schimmer überzogen war, und eine Minute später blendete ein unerträglich heller Lichtstrahl vom Hügel Mr. Robinsons Augen. Der lodernde Sonnenrand tauchte hinter der Silhouette eines Baumes auf und ein blütenweißes Licht ergoß sich ins Tal.
Der Bus bog schnaufend und ächzend um die Kurve. Mr. Robinson begann zu winken und zu rufen.
"Enfin ... très peu de place, m'sieu - n'y a qu'un tout p'tit coin par ici..."
Mr. Robinson brauchte dem Fahrer nicht ins Gesicht zu schauen, oder den regungslosen Reihen der Gespenster auf den Sitzreihen, durch die das Sonnenlicht hindurchschien. Er wußte, welcher Fluch auf ihm lastete. Er setzte sich auf den Platz, auf den der Fahrer wies. Der Bus schwankte die schmale, gewundene Straße hinab, die hoch über den steilen Weinbergen unten im Tal verlief. Tief unten - so weit unten, daß die Bewegung des Wassers nicht mehr auszumachen war - spann ein gelbes Flüßchen die Felsen in seinem Bett in ein Netz von Gischt ein.
Mr. Robinson saß neben dem Fahrer. Er sah dem Phantom nicht ins leere, gesichtslose Antlitz - eine solche Travestie des hellen, klaren Sonnenscheins - sondern nur auf die Straße, die ihm ein Entkommen bot. Er wußte nicht, wie weit er fliehen mußte, aber er fühlte, daß er erst weit hinter der letzten Straßenbiegung sicher sein würde. Nach einem letzten Blick zurück auf St. Pierre, das gleißend im Sonnenlicht auf seinem Hügel hockte, blickte er nur noch auf die kurvenreiche, gefährliche Straße vor sich.
Und seine scharfen Augen machten mitten auf dem Weg ein halbes Dutzend winzige, lebendige Fellfleckchen aus, die eine ausgewaschene Spurrinne entlang wuselten. Das Dröhnen des näherkommenden Busses hatte die Mäusefamilie in Panik versetzt. Eins der Atome hüpfte hierhin, ein anderes dorthin, es war, als würden sie durch einen unsichtbaren Irrgarten hasten.
Mr. Robinsons Herz schien zu zerspringen. Ohne auch nur nachzudenken, sprang er auf und riß das Lenkrad herum. Ihn blieben vielleicht zwanzig Sekunden, in denen er sah, wie die Mäuse auf den grasigen Wegrand flüchteten, die niedrige Begrenzungsmauer am Straßenrand unter dem Gewicht des Busses zerbarst. Er sah aus nächster Nähe das Gesicht - das "Gesicht" - des Fahrers - die rollenden Augen, die verzerrten Lippen - das sich ihm zugewandt hatte, das den Tod vor sich sah. Dort unten in der Tiefe öffnete sich das gelbe Netz des Flusses, um sie alle aufzufangen.
* * *
"The Man Who Missed the Bus" erschien 1928 als eigenständige Buchpublikation (oder, wenn man so will, als Broschüre) als sechste Publikation in der Reihe der "Woburn Books" des Londoner Verlages Elkin Mathews & Marrot. In dieser Reihe erschienen 1928-29 insgesamt 18 Titel, allesamt Kurzgeschichten, mit Pappeinband und Fadenheftung, in einem Umfang von durchschnittlich 30 Seiten, die nicht selten der literarischen Phantastik zuzurechnen sind. Die Auflage betrug jeweils 530 Exemplare (30 Vorzugsausgaben für den Autor und 500, die für den Buchhandel gedacht waren.) Andere phantastische Erzählungen in dieser kleinen Reihe waren: G. K. Chesterton, "The Sword of Wood" (Nr. 1), Algernon Blackwood, "Full Circle" (#11), May Sinclair, "Fame" (#13), Christopher Morley, "The Goldfish Under the Ice" (#14), Shane Leslie, "A Ghost In the Isle of Wight" (#15), Robert Graves, "The Shout" (#16) und Sylvia Townsend Warner, "Some World far from Ours" (#18). Der Ladenpreis der kleinen Heftchen betrug jeweils 6 Shilling. (Für die Nachgeborenen, die mit dem alten britischen Währungssystem seit der Umstellung auf das Dezimalsystem am "Decimal Day" am 15. Februar 1971 nicht mehr vertraut sind: 20s entsprachen 1£.) Der (damals noch anonyme) Rezensent, der die ersten drei Bändchen am 29. November 1928 im Times Literary Supplement besprach, konnte der Reihe nichts abgewinnen:
"...perhaps designed for invalids, since they are so light to hold and so clearly printed, besides having nothiing to distress or agitate the mind in any of them. In fact, the contents, like the cover design of this series, are not quite interesting enough, judging by these three tales, for special presentation. None of these stories has much distinction, and none is quite characteristic of its writer."
Im Bereich der literarischen Phantastik ist mir als einzig vergleichbares Unterfangen, eine längere eigenständige Reihe nur mit jeweils einer einzigen Kurzgeschichte zu bestreiten, nur vom anderen geographischen Ende des Anglosphäre und mehr als ein halbes Jahrhundert später geläufig, als im Kleinverlag Pulphouse Publishing, das von Kristine Kathryn Rusch und Dean Wesley Smith in Portland, Oregon betrieben wurde, zwischen Januar 1991 und Juli 1992 insgesamt 55 Erzählungen (zumeist als Nachdruck) in der Reihe "Short Story Paperbacks" (bzw. "Hardbacks", was die jeweils 100 gebundenen Exemplare betraf) erschienen, zum Preis von jeweils $ 1,95.
Die erste "richtige" Buchveröffentlichung von "The Man Who Missed the Bus" erfolgte in der Sammlung "Collected Short Stories" von 1936 (London: Macmillan); Philip Van Doren Stern nahm sie 1943 in seine Anthologie "The Moonlight Traveller" auf, die so etwas wie DIE klassische englischsprachige Anthologie auf diesem Bereich in englischen Sprachraum für die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts darstellt (die Taschenbuchausgabe von 1954 trug den Untertitel des Erstausgabe: "Great Tales of Fantasy and Imagination"). Joan Kahn druckte die Erzählung 1975 in ihrer Anthologie "Open at Your Own Risk" (Houghton-Mifflin) nach, in der sich, zwei Texte später, auch die Erzählung "The Toll-House" eines gewissen W. W. Jacobs findet.
(Wer übrigens glaubt, der Besitz respektive Verkauf einer solchen bibliophilen Preziose, wie ihn die Erstausgabe darstellt, sei ein Cornucopia, ein Füllhorn, sei an dieser Stelle enttäuscht. Gegenwärtig finden sich auf dem US-amerikanischen Antiquariatsmarkt zehn der 500 (bzw. 530) Exemplare im Angebot - die Nummern 54, 65, 163, 193, 257, 296, 313, 363, 374 und 446 - mit Preisen zwischen umgerechnet €21 und €65.)
U.E.
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