(Jean Lorrain; Portrait von Antonio de la Gandara, 1861-1917)
« Vous voulez en voir, m’avait dit mon ami de Jakels, soit, procurez-vous un domino et un loup, un domino assez élégant de satin noir, chaussez des escarpins et, pour cette fois, des bas de soie noire et attendez-moi chez vous mardi. Vers dix heures et demie, j’irai vous prendre. »
* * *
I
"Wenn Sie sich das ansehen möchten," hatte mir mein Freund de Jakels gesagt, "dann besorgen Sie sich einen Domino und einen anständigen Umhang aus schwarzer Seide, ziehen Sie Tanzschuhe und aus diesem Anlaß auch schwarze Seidenstrümpfe an und erwarten Sie mich nächsten Dienstag. Ich hole Sie dann um halb elf ab."
Am darauffolgernden Dienstag wartete ich also auf meinen Freund de Jakels in meiner Junggesellenwohnung in der Rue Taitbout, eingehüllt in die Falten eines langen Kapuzenmantels und mit einer Samtmaske mit einem künstlichen Bart, deren Seidenbänder ich hinter den Ohren zusammengebunden hatte und wärmte mir die Füße am Kamin. Das ungewohnte Gefühl von Seide auf der Haut irritierte mich; von draußen drang das undeutliche Lärmen und Musizieren eines Karnevalsabends herein.
Die ganze Situation hatte etwas Merkwürdiges und, bei Licht betrachtet, durchaus Beunruhigendes an sich: diese maskierte Gestalt, die da ausgestreckt im Sessel Nachtwache hielt, im Dämmerlicht der Erdgeschoßwohnung mit den vielen Nippsachen und den schweren Behängen und den Spiegeln an den Wänden, im Licht einer weit hochgedrehten Petroleumlampe und zweier hoher schmaler, weißer Kerzenflammen wie bei einer Totenwache - und de Jakels kam nicht. Das Gelärm des Maskierten verklang in der Ferne und die Stille wurde bedrückender, und die beiden Kerzenflammen brannten so regungslos, daß mich diese drei Lichter so nervös machten, daß ich schließlich aufstand, um eins davon zu löschen.
In diesem Augenblick öffente sich eine der Türen, und de Jakels trat ein.
De Jakels? Ich hatte ihn weder klingeln noch kommen hören. Wie war er hereingekommen? Ich habe seither darüber lange nachgedacht - aber hier stand er greifbar vor mir. De Jakels? Auf jeden Fall jemand in einem langen Umhang, eine große Gestalt, maskiert wie ich. "Sind Sie soweit?" fragte seine Stimme, die ich nicht erkannte. "Mein Wagen steht bereit - gehen wir."
Ich hatte seinen Wagen nicht draußen vorfahren oder anhalten gehört. Was war das für ein Albtraum, der hier begonnen hatte, welche dunklen Geheimnisse taten sich hier auf? "Sie hören mit der Kapuze über den Ohren nichts, und sind nicht an die Maske gewöhnt," durchbrach de Jakels hohe Stimme mein Schweigen. Er konnte heute abend also beinahe meine Gedanken lesen. Er hob meinen Umhang an und überzeugte sich davon, daß ich auch Seidenstrümpfe und leichtes Schuhwerk trug.
Das beruhigte mich: es war tatsächlich de Jakels und nicht jemand anderes, der hier in seinen Umhang gehüllt vor mir stand. Ein anderer hätte sich nicht überzeugt, daß ich den Ratschlag, den er mir vor einer Woche gegeben hatte, auch befolgt hatte. "Also gut, gehen wir," befahl die Stimme, und wir eilten zur Haustür, unter dem Rascheln und Knistern vom Samt und Seide, gleich zwei riesigen Fledermäusen, so schien es mir, als unsere Mäntel sich hinter uns weit nach oben bauschten.
Woher war dieser kräftige Wind auf einmal gekommen, dieser Hauch des Unbekannten? Das Wetter in dieser Karnevalsnacht war doch mild und feucht.
II
Wohin fahren wir jetzt, zusammengekauert im Dunkel dieser Kutsche, deren Räder auf dem Pflaster der Seitenstraßen und dem Asphalt der menschenleeren Boulevards so wenig zu hören sind wie die Hufeisen der Pferde?
Wohin fahren wir, über die langen Uferstraßen und an den namenlosen Gewässern entlang, die nur spärlich von matten altertümlichen Straßenlaternen erhellt werden? Schon lange haben wir den phantastischen Umriß von Notre Dame, der sich am anderen Flußufer vor einem bleiernen Himmel abzeichnet, aus den Augen verloren. Quai Saint-Michel, Quai de la Tournelle,selbst der Quai de Berry liegen hinter uns, wir sind weit von der Avenue de l'Opéra, der Rue Drouot, Rue Peletier und vom Stadtzentrum entfernt. Unser Ziel ist aber nicht Bullier, wo man die schändlichen Laster pflegt und ihnen in den Nächten des Karnevals, im Schutz der Masken, so besessen wie zynisch frönt. Und mein Begleiter schwieg.
Während wir am Ufer der stillen und fahlen Seine dahinrollten, wo die Abstände zwischen den Brücken immer größer wurden und die Äste der Bäume, die die Uferstraße säumten, wie die Finger von Toten in den Himmel ragten, packte mich eine irrationale Furcht, eine Angst, die durch das unerklärliche Schweigen de Jakels noch verstärkt wurde. Ich zweifelte, daß er es war und hatte den Eindruck, neben einem Unbekannten zu sitzen. Die Hand meines Begleiters hatte nach meiner gegriffen, und obwohl sie weich und schlaff war, kam es mir vor, als wäre meine Hand wie in einem Schraubstock gefangen. Dieser willensstarke und unnachgiebige Griff schnürte mir die Kehle zu und ich fühlte, wie aller Entschluß zum Widerstand in mir erlosch. Wir befanden uns etzt jenseits der Bastionen am Stadtrand und rollten über eine breite Ausfallstraße an Hecken, armseligen Weinhandlungen und schon lange geschlossenen Vorstadtkneipen verüber, wir fuhren unter dem Schein des Mondes, der endlich durch die Wolkenbänke gebrochen war und diese verdächtige Vorstadtlandschaft wie mit einem gewaltigen schmutzigen Tuch bedeckte. In diesem Augenblick war es mir, als wären die Räder unserer Kutsche nicht mehr geräuschlos wie bei einer Gespensterdroschke, sondern vernehmlich über Straßenpflaster und Schotter knirschten.
"Hier ist es," flüsterte die Stimme meines Begleiters. "Wir sind am Ziel, wir können aussteigen," und auf mein verschüchtertes "Wo sind wir?" "Barriere d'Italie, jenseits der Stadtgrenze. Wir haben den den längsten Weg genommen, aber auch den sichersten. Wir nehmen morgen einen anderen Rückweg." Die Pferde hielten an. De Jakels ließ mich los, stieg aus und reichte mir die Hand.
III
Wir kamen in einen großen, sehr hohen Saal mit weiß getünchten Wänden; die Fensterläden waren dicht geschlossen. Die gesamte Länge des Saal war von Tischen eingenommen, auf denen Zinnbecher standen, die an die Tischplatte gekettet waren; am Ende des Raumes führte drei Stufen zu einer Empore, auf sich auf einem zinkbeschlagenen Tresen Spirituosen und die Weinflaschen mit den bunten Etiketten der besten Händler drängten. Der Raum war von laut zischendem Gaslicht hell erleuchtet; er war zwar größer, wirkte aber sonst wie der Schankraum eines Landgasthofs, der gute Umsätze macht. "Vor allem: Reden Sie mit mit niemandem hier und geben Sie keine Antwort, sonst weiß man sofort, daß Sie nicht hierhergehören, und wir bekommen Schwierigkeiten. Mich selbst kennt man hier schon." Und damit schob mich de Jakels in den Saal.
Da und dort verstreut saßen einige Maskierte und tranken. Als wir eintraten, erhob sich der Wirt und kam mit schweren Schritten auf uns zu, als wollte er uns den Zutritt verwheren. Wortlos hob de Jekels den Saum unserer Umhänge hoch und zeigte ihm die Tanzschuhe, die wir trugen. Ohne Zweifel war das das Sesam-öffne-dich! dieses merkwürdigen Lokals. Der Wirt stapfte schwerfällig zu seinen Tresen zurück, und ich sah, daß auch er, seltsamerweise, maskiert war, mit einer Larve aus Pappe, deren grobschlächtige, grelle Bemalung ein menschliches Gesicht nachbildete.
Die beiden riesenhaften Kellner, die ihre Ärmel hochgekrempelt hatten, so daß man ihre gewaltigen Ringkämpferarme sah, machten schweigend ihre Runde, verborgen hinter den gleichen gräßlichen Masken.
Die wenigen Maskierten, die an den Tischen saßen und tranken, trugen Larven aus Samt und Seide. Mit der Ausnahme eines hünenhaften Kürassiers in Uniform, einer ungeschlachten Gestalt mit gewaltigem Unterkiefer und einem gelblichen Schnurrbart, der neben zwei grazilen Dominos aus hellvioletter Seide saß und mit unverdeckten Gesicht trank, mit einem schon verschwommenen Blick aus blauen Augen, besaß keines dieser Wesen ein ein menschliches Antlitz. In einer Ecke fielen mir zwei hochgewachsene Gestalten mit kleinen Mützen aus Satin und Masken aus schwarzem Samtdurch ihre fragwürdige Eleganz auf; sie trugen Blusen aus hellgelber Seide und unter ihren nagelneuen Hosen schauten schmale Frauenfüße hervor, eingehüllt in Seide, die in Tanzschuhen staken. Ich wäre wahrscheinlich in diesen Anblick versunken geblieben, wenn mich de Jakels nicht am Arm gefaßt und zu einer Glastür weiter hinten im Sall gezogen hätte, zu einer Glastür, die mit einem roten Vorhang verhängt war. "Eingang zum Ballsaal" war in altmodischer Schrift über der Tür zu lesen, wie in der ungelenken Pinselführung eines Malerlehrlings. Daneben hielt ein Dorfpolizist Wache. Das zumindest beruhigte mich ein wenig, aber als ich ihm die Hand geben wollte, mußte ich feststellten, daß sie aus Wachs bestand wie auch das rosige Gesicht mit dem falschen Schnurrbart, und mir wurde klar, daß das einzige Wesen, dessen Anblick an diesem seltsamen Ort Vertrauen eingeflößt hatte, nur eine Wachsfigur war.
IV
Wie viele Stunden irrte ich jetzt schon unter diesen schweigenden Masken umher, durch diesen riesigen Raum, dessen Decke gewölbt war wie der einer Kirche? Es handelte sich bei diesem gewaltigen Sall mit seinen schmalen, bis zur halben Höhe vermauerten Spitzbogenfenstern, die von Säulen im Halbrelief eingefaßt waren, die mit einer dicken weißgetünchten Gipsschicht überzogen worden waren, so daß die Blattornamente und den gemießelten Blütenschmuck der Kapitelle kaum noch zu erkenen waren, tatsächlich um eine Kirche, eine nicht mehr genutzte, entweihte KIrche.
Ein seltsamer Ball, wo nicht getanzt wurde und wo es kein Orchester gab. De Jakels war verschwunden, ich befand mich allein inmitten dieser Menge von Unbekannten. Ein alter schmiedeeiserner Kronleuchter, der von der Decke hing, brannte hell und beschien die verstaubten Fliesen, von denen einige schwärzliche Inschriften trugen und womöglich alte Gräber bedeckten. Am Ende des Raums, wo sich eimnal der Altar befunden haben mußte, waren Futterkrippen und Heuraufen an der Wand angebracht; vergessene Halfter und Zaumzeug lag in Haufen in den Ecken. Der Ballsaal war einmal eine Pferdestall gewesen. Immense Frisierspiegel, deren Rahmen mit Goldpapier beschlagen waren, warfen einander das Bild der stummen Maskenprozession zu - vielmehr spiegelten sie sie nicht mehr, denn die Teilmehmer hatten sich zu beiden Seiten des Kirchenschiffs niedergelassen und das alte Chorgestühl verbarg sie jetzt bis zu den Schultern.
Sie verharrten dort schweigend, ohne jede Bewegung, als wenn sie sich in das Geheminis unter ihren weiten Kapuzen zurückgezogen hätten, hinter ihre silbernen Masken, ein stumpfes, glanzloses Silber. Hier gab es keine Dominos mehr, keine Bluse aus blauem Seidenstoff, weder Harlekins noch Kolombinen, keine grostesken Verlarvungen. Alle Masken sahen einander gleich, eingehüllt in die gleichen grünen Umhänge, von einem fahlen, schwefligen Grün, mit weiten schwarzen Ärmeln, in der Leere unter ihren schwarzgrünen Kapuzen verdeckten die silbernen Maske mit ihren beiden Augenlöchern die Gesichter.
Sie wirkten wie die fahlen weißen Gesichter von Aussätzigen; in ihren schwarz behandschuhten Händen hielten sie langgestielte schwarze Lilien mit hellgrünen Blättern, und ihre Kapuzen waren wie bei Dante von schwarzen Lilien bekränzt.
Und all diese Gestalten verharrten stumm in gespenstischer Regungslosigkeit, und der fahle Mondhimmel, der durch die Bogenfenster hereinschien, bildete einen Kranz wie von Bischofsmützen über ihren Totengestecken.
Ich spürte, wie das Entsetzen jeden klaren Gedanken lähmte; das Übernatürlich ergriff von mir Besitz. Die Unbeweglichkeit, die Stille dieser maskierten Wesen. Wer waren sie? Noch eine Minute länger, und ich wäre wahnsinnig geworden! Ich ertrug es nicht länger: ich trat zu einer der Gestalten und zog mit einer Hand, die mir vor Angst zitterte, ihre Maske herunter.
Es war grauenvoll. Dahinter befand sich nicht. Nichts. Mein Blick traf auf nichts als die Falten des Kapzuenstoffs; der Umhang, der Mantel waren leer. Das Wesen, das doch lebte, bestand nur aus Schatten und Nichts.
Wahnsinnig vor Angst riß ich auch der vermummten Gestalt im nächsten Chorgestühl die Maske herunter; die Kapuze aus grünem Samt war leer, leer wie die aller anderen, die an der Wand aufgereiht saßen. Alle hatten sie Gesichter aus Schatten, alle bestanden sie nur aus Nichts.
Das Gaslicht flammte heller auf, es zischte fast pfeifend im hohen Saal; das Mondlicht drang blendend durch die zersprungenen Scheiben der Spitzbogenfenster. Und dann, inmitten dieser dieser körperlosen Phantome, ergriff mich eine Angst, eine furchtbarer Zweifel und schnürte mir das Herz zusammen.
Wenn ich nun auch einer von ihnen war, wenn ich selber nicht mehr existierte, und wenn unter meine Maske ebenfalls nichts mehr befände, nichts als die Leere? Ich eilte zu einem der Spiegel. Vor mir stand eine Gestalt wie aus einem Traum, mit einer dunkelgrünen Kapuze über dem Kopf und hinter einer silbernen Maske verborgen, die von schwarzen Lilien eingerahmt war.
Und diese Maske war ich: ich erkannte meine Handbewegung, als ich sie anhob - und ich fuhr vor Entsetzen zusammen und stieß einen Schrei aus, denn hinter dem silbernen Stoff der Maske befand sich nichts, nichts als die Rundung der Kapuze und die Falten des Stoffes, der diese Leere umgab. Ich war tot, und ich...
"Und Sie haben schon wieder Äther getrunken," brummte mir die Stimme de Jakels ins Ohr. "Keine gute Idee, sich die Zeit damit zu vertreiben, während Sie auf mich gewartet haben." Ich lag mitten in meinem Zimmer. Ich war fast zur Länge auf den Boden gerutscht; nur mein Kopf ruhte noch auf dem Sessel, und de Jakels, der Abendgarderobe und darüber eine Mönchskutte trug, gab meinem verstörten Kammerdiener Anweisungen. Auf dem Kamin waren die beiden Kerzen herabgebrannt und hatten ihre Tropfenfänger zerspringen lassen; das hatte mich geweckt. ... Es war Zeit.
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"Le trous du masque" erschien 1895 in der Sammlung "Sensations et souvernirs" im Pariser Verlag Bibliothèque-Charpentier, in dem vorher schone Lorrains Prosabände "Sonyeuse" (1891) und "Buveurs d'âmes" (1893) erschienen waren. Später wurde er in die Sammelbände, die Lorrains Erzählungen um die Erfahrungen des Ätherrausches und der Drogenerfahrung bündeln - "Histoires des masques" (Ollendorff, 1900) und "Contes d'un bouveur d'éther" (Marabout, 1975; Band 514 in der Reihe "Bibliographique excentrique"), aufgenommen.
Der Titel der kleinen Erzählung enthält ein in anderen Sprachen nicht wiederzugebendes Wortspiel: "Masque" bedeutet sowohl die Maske wie auch den Maskenball (ganz im Sinne von Edgar Allan Poes "The Masque of the Red Death", für die sich im Deutschen der Titel "Die Maske des roten Todes" eingebürgert hat, obwohl Freund Hein auf dem Maskenball, den Prinz Prospero gibt, als einziger keine Maske trägt). "Trou" bedeutet nicht nur wörtlich das Loch, die Öffnung, sondern auch im übertragenen Sinn das "Nichts", eine Nullität.
"Procurez-vous un domino et un loup": Der Domino, der im Deutschen die Augenmaske bezeichnet, die wie nichts stellvertretend für "Karneval in Venedig" steht, bezeichnet im Französischen den Umhang des traditionellen Kostüms; "le loup" meint die Maske (die Etymologie ist ungeklärt; sie hat aber wahrscheinlich nichts mit Wölfen zu tun). Im Italienischen heißt es übrigens "la larva" beziehungsweise "il tabarro." Die schwarzen Lilien in unserem Text sind übrgiens ein Verweis auf die Blume, die Lorrain für sich als Signum und Markenzeichen gewählt hatte, gleich der grünen Nelke Oscar Wilde und der blauen Hortensie von Robert de Montesquieu, dem Vorbild von Huysmans' Des Esseintes.
(Karikatur von "Sem", d.h. Georges Coursat, 1863-1934)
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Jean Lorrain (1855-1906), verkörperte für die französische Dekadenzliteratur des Fin de Siècle wahrscheinlich am reinsten den damit verbundenen Lebensstil des Dandys und Exzentrikers, der allem gesellschaftlichen Konventionen Hohn spricht und doch gleichzeitig Teil von ihnen ist und sein Ästhetentum nur der Spiegelung und Invertierung ihrer Normen verdankt. (Die Tragik dieser Abhängigkeit hat niemand so verkörpert wie Oscar Wilde, der nichts als ein gescheiterter Exilant war, der alles verloren hatte, nachdem er seine zweijährige Haftstrafe in Reading Goal abgesesssen hatte und das glänzendste, witzreichste Konversationstalent der englischen Literatur aus der Gesellschaft ausgestoßen worden war.) Joris-Karl Huysmans kehrte sich Anfang der 1890er Jahre von der exemplarischen Auslotung des Perversen und Satanischen, denen er in seinen Romanen "Là-bas" und "Au rebours" eine mustergültige Gestaltung verliehen hatte, die diese beiden Bücher zu Bibeln und Leitfäden überall dort machte, wo eine kleine Schar von Dandys sich von diesem lebensweltlichen Extremismus verführen ließ - von London (etwa in Fall von Wilde, Ernest Dowson, oder Arthur Machen), San Franzisko (George Sterling, Sylvester Viereck und Parke Barnitz), Oslo - beziehungweise damals noch "Kristiana" - im Kreis um Hans Jaeger, in Warschau in der Gestalt Stanisław Przybyszewskis, in Wien von Leopold Andrian und Felix Dörmann, in St. Petersburg von Walerij Brjussow, in Lissabon von Mário de Sá-Carneiro, in Buenos Aires von Leopoldo Lugones... - ab und wandte sich dem Katholizismus zu. Rachilde frönte dem Schattenreich aus Dämmer, Todessehnsucht und solipstistischer Egozentrik allein unter der Persona, der Maske, der Autorin; im Zivilstand blieb sie stets die respektable Verlegersgattin Mme. Alfred Valette. (Ein Gleiches gilt natürlich für den bedeutendsten Vertreter des literarischen Dekadenz überhaupt, nämlich Thomas Mann, dessen Frühwerk, vor allem die kürzeren Erzählungen, "Königliche Hoheit" und der "Tod in Venedig" diesem Bereich zuzurechnen sind - bis die Erfahrung des Ersten Weltkriegs rabiat einen Schlußstrich unter diese Welthaltung zog und vom Zerfallenden, Todessehnsüchtigen nur noch die Kehrseite des Nietzscheanischen Machtwillens das Bewußtsein das Sein bestimmen ließ.)
Es ist durchaus möglich, daß Lorrain das Delir und die Qualen seiner Äther-Abhängigkeit in den späten 1880er Jahren, aus denen er die Stoffe für seine Erzählungen in seiner literarischen Frühphase gewann, übertrieben und als Pose benutzt hat; die Ausmalungen der Wirkungen sind oft so übertrieben und verzerrt wie etwa die Darstellungen des Haschischrausches, wie sie zwei Generationen, in den 1830er und 1840er etwa Théophile Gautier im "Club des Hashishins" ausgemalt hat; an diesem Manko laboriert die Drogenliteratur allgemein: selbst wenn die psychotrope Wirkung halluzinogener Drogen ohne körperliche Symptome im Mittelpunkt einer Schilderung stehen, wie in Aldous Huxleys "The Doors of Perception" oder Ernst Jüngers "Annäherungen", bleibt ein Zweifel, ob nicht Selbsttäuschung und Erwartungshaltung den Augenzeugenbericht aus den Tiefen des psychischen Ver-rückt-seins mehr konstituieren als das tatsächliche Erleben. Fest steht aber, daß er zumindest einige Erfahrungen in dieser Hinsicht gesammelt hat, und ihm die Gefahr der rasanten Selbstzerstörung durch die fatale Abhängigkeit durchaus bewußt geworden ist. Auch seine offen und flamboyant ausgelebte Homosexualität, die ihm den Spitznahmen "der Botschafter Sodoms" einbrachte, sein übertriebenes Auftreten - stets stark geschminkt und parfümiert - dürfte sich nicht nur dem "épater les bourgeois", der Pose des mutwilligen Verletzens aller Konventionen des "bürgerlichen Anstands" verdanken - ebenso wie seine Neigung zur zynischen Brüskierung in seiner Rolle als Journalist und Kritikers, mit der er seinen letztlich bescheidenen Lebensunterhalt verdiente. (Das brachte ihm übrigens, 1897, eine Duellforderung von Marcel Proust ein, der darauf bestand, daß die mitgerachten Pistolen auch abgefeuert werden mußten - freilich nicht auf das Gegenüber.) Seiner Karriere als Autor setzte eine andere Episode dieser Art ein Ende: Jeanne Jaquemin (1863-1938), ihres Zeichens Zeichnerin und Malerin im Umkreis der Symbolisten und ihres Interessenfeldes aus dunklem mystischem Raunen und den mehr-oder-weniger klandestinen Cénacles um Rosenkreuzer, Okkultisten, Illuminaten und sonstige Gurus im Paris jener Jahre, hatte Lorrain aufgrund der Themen seiner Erzählungen angeboten, ihn im dieses Umfeld einzuführen, so wie Berthe de Courrière, die die Geliebte Remy de Gourmonts gewesen war, sich einen literarischen Ruf - beziehungsweise Ruch - erworben hatte, als sie Huysmans bei der Abfassung von "Là-Bas" in diese Kreise einführte, was das Buch bis heute zu einem Schlüsseltext für den "okkulten Untergrund" jener Zeit macht (sie war das Vorbild für die Mme. Hyacinthe Chantelouve; die Teilnahme an Schwarzen Messen erwies sich in dem, was man Reales Leben nennt, als nicht förderlich für ihre geistige Gesundheit). Lorrain seinerseits erachtete die Dame freilich als eine durchgeknallte Schreckschraube und zeichnete in seinem kurzen Roman "Les Pelléastres" ein überaus garstiges Porträt von ihr. Als der Text 1902 in Le Journal vorabgedruckt wurde, trug es dem Verfasser nicht eine Duellforderung, sondern eine Vorladung vor Gericht ein, das mit einer Strafe über die damals immense Summe von 80.000 Franc für die Rufschädigung endete. (In der deutschen Literatur gibt es einen vergleichbaren Fall: Annette von Droste-Hülshoff hat ihrem "Schüler," dem von ihre geöferte und zum Druck beförderten Levin Schücking, das gehässige Porträt nie verziehen, das dieser in seinem Roman "Die Ritterbürtigen" (1846) von ihr gezeichnet hat.
Die rastlose Überarbeitung, das endlose Verfassen hastiger und anspruchloser Texte, mit deren Ausstoß er seinen ruinösen Schuldenberg abtragen wollte, ruinierten seine immer schon angeschlagene Gesundheit vollends. Insbesondere begann er unter schmerzhaften Darmgeschwüren zu leiden. In den letzten Lebensjahren unterzeichnete er oft seine Kolumnen in Le Journal und in La Vie parisienne mit "Le cadavre". Von 1887 bis 1900 hatte er in Paris gelebt, in der Rue de Courty Nr. 8 im 7. Arrondissement (in der Wohnung, die er in seinen "Äther"-Erzählungen beschreibt, seit 1900 lebte er in Nizza. Im Juni 1906, als er sich in Paris aufhielt, um bei der Bühnenfassung einer seiner Erzählungen, "La princesse sous verre" ("Die Prinzessin unter Glas" von 1896, eine Adaptation des Schneewittchenstoffs) mitzuarbeiten, verletzte er sich beim Versuch, sich ein Klistier zu setzen, die Dickdarmwand und starb wenige Tage später an fäkaler Bauchfellentzündung.
U.E.
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