(Willy. Zeichnung von Felix Valloton)
"Je me promenais dans un bois, affamé, quand je vis venir le Petit Chaperon Rouge qui me dit:" A cinq cent mètres d'ici demeure mère-grand, une méchante vieille qui me fait mille misères; petit Loup, tu serais gentil comme un petit loup chéri d'aller lui tordre le cou. Elle est très grasse." Comme un imbécile, j''étranglai la mégère; pendant ce temps, le Petit Chaperon Rouge prévenait les gendarmes de m'arrêter comme anarchiste. J'ai fait vingt ans de Nouvelle , et le drôlesse a hérité les économies de sa grand-mère, qu'elle convoitait pour épouser un garçon coiffeur. N'essayez pas de venger les rancunes d'autrui." (Histoire du loup)
Eines Nachmittags wartete ein Wolf in einem dunklen Wald darauf, daß ein kleines Mädchen vorbeikäme, das seiner Großmutter einen Korb mit Speisen bringen würde. Schließlich kam ein kleines Mädchen des Wegs und sie hatte einen Korb mit Speisen bei sich. "Bringst du den Korb deiner Großmutter?" fragte der Wolf. Das kleine Mädchen sagte, ja, das tue es. Also fragte der Wolf sie, wo ihre Großmutter wohnte, und sie erzählte es ihm, und er verschwand im Wald.
Als das kleine Mädchen die Tür des Hauses ihrer Großmutter öffnete, sah sie, daß jemand mit einer Nachtmütze und im Nachthemd in ihrem Bett lag. Sie war noch zehn Schritt entfernt, als sie erkannte, daß es nicht ihre Großmutter war, sondern der Wolf, denn selbst mit einer Nachtmütze hat ein Wolf so wenig Ähnlichkeit mit eurer Großmutter wie der Löwe von Metro Goldwyn Mayer mit Calvin Coolidge. Also zog das kleine Mädchen eine Automatik aus seinem Korb und schoß den Wolf über den Haufen. Moral: Kleine Mädchen sind heute auch nicht mehr so leicht hereinzulegen wie früher.
- James Thurber, "The Little Girl and the Wolf" (1939)
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Es waren einmal zwei entzückende Kinder, von denen das eine Daphnis und das andere Chloë hieß, und die nichts vom Leben wußten, denn sie hatten eine sehr fromme Erzeihung genossen.
Am Vorabend ihres Hochzeitstages geschah es, daß sie sich in einem Wald verliefen und nicht mehr weiterwußten, denn sie fürchteten, sich noch weiter im Dunkeln zu verirren. Die Nacht war undurchdringlich, und Daphnis und Chloë zitterten wie Unschuldige, wenn sie vor dem Untersuchungsrichter stehen.
Schließlich ging der Mond auf, und sie sahen, daß sie eine verlassene Lichtung erreicht hatten. Aber alsbald näherten sich im Gänsemarsch ein räudiger Wolf, ein verschlagen dreinschauender kleiner Schurke, ein rothaariges Mädchen mit einem Schnurrbart, eine prachtvoll gewandete Gestalt, die verschlafen aussah, ein Riese, ein Schmutzfink, ein altes Weib, das in eine Eselhaut gehüllt war, und noch viele andere.
Der Riese trat auf das Paar zu und sprach: "Habt keine Angst, wir wollen euch nichts Böses. Ihr sollt morgen in den Stand der Ehe treten und wißt doch nichts vom wirklichen Leben. Wir sind hergekommen, um euch etwas darüber zu berichten. Es war euer Glücksstern, der euch zu dieser Lichtung geführt hat. Man hat euch den Kopf mit lächerlichen optimistischen Illusionen vollgestopft, man hat euch erzählt, daß es gute Feen gibt, die die Wege der Sterblichen behüten. Das alles, liebe Kinder, ist dummes Geschwätz, und ihr müßt immer das Gegenteil von diesem Unsinn glauben.
"Zunächst müßt ihr wissen, daß es keine guten Feen gibt; die bösen Feen haben sie vor langer Zeit umgebracht. Es gibt keine Könige mehr, die sich nach Erben sehnen; im Gegenteil: je weniger Kinder sie haben, desto glücklicher sind sie. Der einzige Talisman, der eine verschlossene Tür öffnet, ist ein Brecheisen, und es gibt keinen Zauberstab, der euch zu verborgenen Schätzen führt - außerdem würde der Staat sie beschlagnahmen. Es gibt keine Prinzen, die sich in Tiere verwandeln; heute verwandeln sich höchstens noch wilde Bestien in Politiker. Und nun hört meine Geschichte, damit ihr etwas daraus lernt.
Die Geschichte des Menschfressers
"Ich besaß keine Siebenmeilenstiefel; ich hatte nicht einmal ein Fahrrad, sondern nur große Stiefel. Ich habe auch keine Kinder verschlungen; im Gegenteil: ich habe ihnen Obdach geboten, ich habe Reisenden ein Mahl angeboten, ohne nach Bezahlung zu fragen. Der kleine Halunke Däumling ist mit seiner ganzen Verwandtschaft bei mir eingefallen und hat mein Heim verwüstet, er und seine Brüder haben meinen Töchtern nachgestellt, ohne daß ich es ihnen übel genommen hätte (Kinder müssen schließlich ihren Spaß haben!) Und eines bösen Morgens wachte ich auf, und es war niemand mehr zuhaus. Sie hatten sich davongemacht und alles mitgenommen, sogar meine Stiefel. Und dieser Taugenichts von Däumling hat auch noch solche Lügen über mich erzählt, daß mir kein Händler mehr einen Kredit gewährte. Gebt niemals einem Landstreicher Unterschlupf!"
Der Menschenfresser schwieg; der Wolf begann seinen Bericht:
Die Geschichte des Wolfs
"Ich lief gerade hungrig durch den Wald, als ich das Rotkäppchen auf mich zukommen sah. Sie sprach zu mir: 'Einen halben Kilometer von hier wohnt meine Großmutter, die mir das Leben mit tausend Qualen zur Hölle macht. Lieber Wolf, sei doch ein netter kleiner Wolf und geh und dreh ihr den Hals um. Sie ist sehr fett.' Und wie ein Schwachsinniger habe ich die alte Hexe erdrosselt. Und in dieser Zeit ist das kleine Rotkäppchen zur Polizei gelaufen und ich wurde als Anarchist verhaftet. Ich habe zwanzig Jahre Zwangsarbeit bekommen, und die Schlampe hat die Ersparnisse ihrer Großmutter geerbt, die sie haben wollte, um einen Friseurlehrling zu heiraten. Mischt euch nicht in die Affären anderer Leute ein."
Der Wolf schwieg. Die gähnende schöne Frau streckte sich und sprach:
Die Geschichte von Dornröschen
"Ich schlief im Schloß. Der Prinz kam und fand mich vor, obwohl ich ihn nicht hergerufen hatte. Ich wartete auf die Liebe, und ich war bereit, den ersten zu lieben, der sich um ihrer willen bei mir einfand. Aber schon nach ein paar Tagen begann er sich zu langweilen und fing an zu gähnen. Er hörte mir kaum noch zu und zeigte mir, daß er meiner überdrüssig war. Schließlich versank er in Schlaf. Keine meiner Liebkosungen weckte ihn auf, und in seinem Schlaf träumte er von anderen Frauen! Da floh ich, und obwohl ich große Lust hätte zu schlafen, wage ich nicht, die Augen zu schließen. Mein glücklicher Traum ist vorbei, und ich kann die Wirklichkeit nicht mehr vergessen, die mir in die Augen springt. Das ist meine Strafe dafür, daß ich an die Liebe geglaubt habe."
Das schmutzige Mädchen stand auf.
Die Geschichte des Aschenputtels
"Wie alle unglücklichen Menschen könnte ich viel von meinen Mißgeschicken berichten; sie interessieren niemanden. Ich habe mich für meine Schwestern aufgeopfert. Ich habe ihnen eine Mitgift verschafft; sie haben es mir mit Schlägen gedankt. Dann habe ich mich in einen Schuhmacher verliebt, der mich seinerseits schlecht behandelte. Und meine Kinder sind nach ihm ausgeschlagen. Denn das ist das Los der Frauen: Schläge zu empfangen und das Haus zu hüten und von Abenteuern zu träumen, die nie stattfinden werden. Keine gute Fee hat mich behütet; die Mäuse haben meine schäbigen Röcke zernagt und statt Schuhen aus Glas besaß ich nur ausgetretene Pantoffeln. Der Ehestand ist nichts als eine Lüge!"
Ein adliger Herr mit einem langen Bart rief:
Die Geschichte des Blaubarts
"Was hat man mir an Übeltaten nachgesagt! Ich hatte sieben Frauen. Die ersten sechs sind mir davongelaufen und haben sich mit Operntenören in der Welt herumgetrieben. Die siebte ist mit einem Altsänger durchgebrannt, nachdem sie vorher sämtliche Schätze aus meinem Schloß mit Hilfe ihrer beiden Brüder und ihrer Schwester geplündert hatte. Anne hielt Wache, während die Gauner alles zusammenrafften. Während des Scheidungsprozesses haben sie mir jede Art von Verbrechen nachgesagt, und die Lügen wurden geglaubt. Junger Mann: hüte dich vor deiner Frau! Wenn ich die meinen wirklich umgebracht hätte, hätten sie keine Lügen über mich erzählt und mich nicht ausgeraubt, und ich würde mich heute noch eines ausgezeichneten Rufs erfreuen."
Ein kleines, verschlagenes Männchen trat eilig in den Kreis.
Die Geschichte Riquets mit dem Schopf
"Riquet mit dem Schopf, zu Diensten! Ihr beschwert euch über Lügen? Was soll ich denn sagen? Ich besaß Gold, ich besaß einen prachtvollen Schopf, ich verfügte über Witz, und ich verfiel einer kleinen Göre, die gerissener war als ein Wiesel. Ich dachte, sie wäre gutherzig und reizend, und ich glaubte, sie würde mich lieben, aber sie hatte es nur auf mein Geld abgesehen. Sobald sie Frau Riquet geworden war, hinterging und ruinierte und quälte sie mich, bis mir nichts mehr blieb, als sie umzubringen, weil ich das Leben mit ihr nicht mehr ertrug. Glaubt bitte nicht, daß die Liebe alles, das sie berührt, in Gold verwandelt."
Ein junges Mädchen sprach als nächstes.
Die Geschichte des Mädchens mit den Perlen
"Ich war so gut und so schön, daß mir eine Fee die gabe verlieh, Perlen und Edelsteine auszuspucken. Meine böse, häßliche Schwester erhielt die nützliche gabe, Schlangen und Kröten auszuspucken, so daß sich niemand traute, mit ihr zu streiten. Sie war neidisch und erzählte lauter Lügen über mich und versuchte meine Geschäfte zu ruinieren: "Wo kommen all diese Edelsteine her? Bestimmt sind sie gestohlen, oder sie sind gefälscht und sind nur aus Glas." So ging ich pleite und mußte das Land verlassen. Meine Schwester kaufte das Geschäft für einen Spottpreis und heiratete den Geschäftsführer, und wurde mit ihm glücklich. Man muß böse und gemein sein, um es in dieser schlechten Welt zu etwas zu bringen."
Der gestiefelte Kater erzählte, wie er den Prozeß um die Ländereien von Carabasville verloren hatte, nachdem er so unvorsichtig gewesen war, als Strohmann für seinen Herrn und Meister aufzutreten. Zudem wurde ihm auch noch der Mord an dem Menschenfresser vorgeworfen. Die vierzig Räuber hatten Ali so gut übers Ohr gehauen, daß er noch immer ganz ba-ba-baff war. Eselshaut führte ein elendes Leben; der Königssohn bereute, mit ihr gemeinsame Sache gemacht zu haben und hatte sie sitzengelassen. Der Menschenfresser faßte zusammen: "Meine Kleinen, glaubt nicht an Märchen, halten euch lieber an die Manuels Roret, bestellt euren Garten und werft die Steine in den des Nachbarn. Stehlt und lügt - dann werdet ihr glücklich werden."
Am nächsten Morgen, als Daphnis und Chloë den Weg zum Elternhaus wiedergefunden hatten, beschlossen sie, nicht zu heiraten. Allerdings hatten sie während der späten Nacht keine Zeit verschwendet, und Chloë war nicht mehr das, was man guten Gewissens als eine Jungfrau bezeichnen konnte.
Diese Geschichte hat keine Moral.
* * *
"Willy" war das bekannteste Pseudonym von Henri Gauthier-Villars (1859-1931), unter dem er ab Mitte der 1880er Jahre über 50 Bücher publizierte, oft Gesellschaftsromane und leichte Satiren. Heute ist er eigentlich nur noch deswegen bekannt, daß er der erste Ehemann von Colette war, die er 1889 kennenlernte und vier Jahre später heiratete. Daß er die Rechte an ihrem ersten Roman, "Claudine," und dessen Fortsetzungen, nachdem das Buch ein Erfolg geworden war, ohne ihre Zustimmung nach Gutdünken verkauft hat, hat sie ihm nie verziehen; die Ehe wurde 1905 geschieden. Viele seiner Bücher entstanden mit Assistenz von oft nicht ausgewiesenen Ko-Autoren, die damals noch, politisch höchst inkorrekt "négres" genannt wurden. Willys Beitrag bestand aus der Ideenlieferung und Überarbeitung der gelieferten Texte, und nicht zuletzt in der Garantie von Veröffentlichung und guter Vergütung. Auch Une passade, 1894 in Paris bei Flammarion erschienen, in dem "Mécomtes des fées" enthalten ist, ist eine solche Zusammenarbeit, in diesem Fall mit Pierre Veber (1869-1942), ohne das die einzelnen Texte namentlich zuzuordnen wären. In späteren Nachdrucken, etwa in Francis Lacassins Si les fées m'étaient contées... (2003), einer Sammlung von 140 französischen Kunstmärchen von Charles Perrault bis zur Gegenwart, wird der Text Willy zugeschrieben.
Der Bezug auf die Märchen der "Contes de ma mêre l'oye," mit denen Perrault die Tradition der Kunstmärchen begründete, ist deutlich. Willys Text gehört zu einer ganzen Reihe von Versionen im Frankreich das Fin de Siècle, in denen die Topoi und Motive der "klassischen" Märchen satirisch gebrochen und persifliert werden. Im Englischen setzt diese Bewegung etwas später mit den Märchen von Oscar Wilde ein; im Deutschen ebenfalls leicht verspätet, etwa mit Kurd Laßwitz' "Prinzessin Jaja!" aus dem Jahr 1892. Ihre "große Zeit" erfährt dieses parodistische Kleingenre dann nach der Jahrhundertwende, bis in die späten 1920er Jahre.
Zaubermärchen, also "eigentliche" Märchen, sind im Französischen als "contes des fées," also Feengeschichten, geläufig, seit Madame d'Aulnoy im Erscheinungsjahr von Perraults Sammlung, ihre erste Kollektion von Kunstmärchen so betitelte. Allgemein fällt sowohl im Motive und Topoi des Märchens, der Oberbegriff "Märchen" (oder "folktale") weiter gefaßt aus: Tierfabeln, Legenden und Schwänke überlappen sich freilich mit dem, was unter "Zaubermärchen" verstanden wird. Ob der schlaue Bauer den Teufel neppt, dem er zwei Jahre lang die Hälfte seines Ackerertrags verspricht, und ihn zweimal leer ausgehen läßt, wie in den Kinder- und Hausmärchen der Brüder Grimm (KHM 189), oder ob es ein sprechender Bär ist, wie in den Народные русские сказки, den "Russischen Volksmärchen" von A. A. Afanassiew von 1873, spielt eigentlich keine Rolle (abgesehen davon, daß die russische - genauer: die ukrainische - Variante dem Schwank eine deftigere Schlußvolte ermöglicht.
"Manuels-Roret" waren die weit verbreiteten praktischen Handreichungen, mit denen Nicolas Roret (1797-1860) als Verleger und Herausgeber im Bereich "Selbst-ist-der-Mann" in Frankreich so sprichwörtlich wurde wie etwa Baedecker international als Westentaschen-Reiseführer, etwa mit Jean-Sébastien-Eugène Julia de Fontenelle, Nouveau manuel complet du verrier et du fabricant de glaces, cristaux, pierres précieuses factices, verres colorés, yeux artificiels, Librairie encyclopédique Roret, Paris, 1853, in-12, 2 vol. (302 et 264 p.), 10 planches.
Der Titel "Mécomtes des fées" stellt den Übersetzer vor ein kleines Problem: der Anklang an die "Contes des fées" ist deutlich, "mécompte" bedeutet eine Enttäuschung. "Ernüchterte Märchen" läßt dieses Double entendre unter den Tisch fallen.
"Ali, qu'il en était encore Baba" versus "Ali ... ba-ba-baff": Auch hier läßt sich die Doppelbödigkeit des französischen Wortspiels nur sehr verhalten andeuten. Zwar bedeutet "être baba" in der Umgangssprache eben auch "baff, verblüfft sein," aber die die Bedeutung des "avoir dans la baba" mit der Bedeutung "être bien roulé" bzw. "s'être trompé," also "der Gelackmeierte zu sein," "hereingelegt worden zu sein," bleibt weitgehend auf der Strecke.
Ebenso verhält es sich im vorletzten Satz. "D'ailleurs ils n'avaient pas perdu leur temps pendant la fin de la nuit, et Chloé n'était plus qu'une demi-vierge." "Chloë war nicht mehr das, was man guten Gewissens als eine Jungfrau bezeichnen konnte" meint mehr als das Original; aber "war nur noch eine halbe Jungfrau" klingt nach "halb schwanger" und "nur noch eine Demi-vierge" ist ohne die Kenntnis des damaligen Hintergrunds unverständlich. Die Wikipedia definiert "Demi-vierge" folgenderweise:
Als Demivierge oder Demi-Vierge (dəmiˈvjɛrʒ, aus dem Französischen von demi, halb, und vierge, Jungfrau) bezeichnet man ein Mädchen oder eine junge Frau, die sich in Bezug auf Männer bereits wie eine sexuell erfahrene Frau verhält, aber noch keinen vaginalen Geschlechtsverkehr hatte. ... Der Begriff geht vermutlich auf den Roman Les Demi-Vierges (Paris 1894; deutsch: Halbe Unschuld. München 1901) von Marcel Prévost zurück. Er wurde von Anton Lindner in seinem Werk Die Barrisons von 1897 übernommen, das, als Übersetzung aus dem Französischen getarnt, die fiktiven Schicksale der damals populären Tänzerinnengruppe Barrison Sisters schilderte. Eduard Stucken veröffentlichte 1898 in seinem Gedichtband Balladen ein Gedicht mit dem Titel "Demi-vierge." Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand er Eingang in die Umgangssprache.
"Demi-vierge"
Tief in des Sessels Maroquin
den Kopf gedrückt, lauscht er versunken.
Sie spielt den Cis-Moll-Walzer von Chopin.
Durchsichtig milchweiss ist ihr Teint,
ihr Mund von Küssen bleichgetrunken
Doch plötzlich bricht sie ab im Spiel:
und Droschkenrasseln, Tramwayklingeln
dringt durch die Plüsch-Portieren ein. Es fiel
das Dämmerlicht auf ihr Profil,
um das sich goldne Locken ringeln.
Sie schweigen lang. Das erste Wort
spricht er (ihm zittern matt die Lippen):
"Wir wollen Abschied nehmen! Lass mich fort!
Es ist ja deiner Seele Mord,
wenn wir so an der Sünde nippen!
Das ist kein Glück, das ist die Pein
für dich und nmich! Wir kreuzigen kläglich
uns selbst, indem wir unser Fleisch kastein.
Wir bleiben standhaft zwar, - allein
wir sterben in der Folter täglich.
Wir hatten nicht den Heldenmut
der Sünde ins Gesicht zu blicken.
Und da in unsern Adern siedend Blut,
versuchten wir, die Höllenglut
in keuschen Küssen zu ersticken.
In Küssen voll geheimem Hass,
mit Lippen, die von Tränen rinnen -
verderbter als ein Sündenkuss war das!
Die Glut losch nicht im Tränennass,
die Flammen schlugen nur nach innen.
Die Sünde rächt sich, wenn mit ihr
gespielt wird, wie wir's tun, wir beiden:
sie wird zum Vampyr! Ich durchbleiche dir
den Mund mit meiner Lippen Gier.
Dein Fluch bin ich. Drum lass uns scheiden."
Er schweigt. Sie starrt ihn wortlos an,
und, statt der Antwort, schweigend knüpft sie
das Kleid auf an der Brust so schnell sie kann,
auch das Korsett löst sie, und dann
das Hemd an ihren Brüsten lüpft sie.
Und zeigt die Brüste ihm. Und laut,
als ob ihn Wahnsinn packt, schreit er.
Zerfressen sind die Brüste, die er schaut,
zerfetzt vom Krebs die weisse Haut,
das Spitzenhemd durchsickert Eiter.
"Begreifst du's nun, mein armes Lieb,"
spricht sie, "was ich gelitten habe?
Warum dein Werben unerwidert blieb?
Geh und vergiss mich und vergib, -
ich liege ja so bald im Grabe!"
Eduard Stucken, Balladen, 1898
Stuckens Poem ist nachgerade archetypisch für die "literarische Dekadenz" des Fin de Siècle in einer Verknüpfung von hochgespannter sexueller Erregung und der ebenso auf die Spitze getriebenen Besessenheit von Tod, Krankheit, Morbidität und Verfall. Das Echo der bekannten literarischen Anekdote der Renaissance gehört ebenfalls zum Kanon dieser Richtung.
James Thurbers kleine Fabel gehörte zur der ersten Tranche seines Ausflugs auf dieses Gebiet, die 1940 im Band Fables for Our Times in Buchform erschienen, und wurde zuerst am 8. Januar 1939 im New Yorker publiziert.
U.E.
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