24. November 2020

Arecibo. Das Ende einer Ikone



I

Zu den Besonderheiten, die die Astronomie unter ihren Schwesterdisziplinen im Bereich der "exakten" Naturwissenschaften - den messenden, quantifizierenden, mathematisch bis auf diverse Nachkommastellen präzisen wie der Physik, der Chemie und der Biologie (soweit sie sich auf das Individuum und dessen körperliche Vorgänge kapriziert) - auszeichnet, ist das, was man ihre "Ikonizität" nennen könnte: der Wiedererkennungswert ihrer Instrumente, namentlich der großen Teleskope, die auch von flüchtigen Zaungästen sofort wiedererkannt werden. Die Labore und Forschungsstätten der anderen Abteilungen der exakten Auslotung dessen "was die Welt / im Innersten zusammenhält" sind zumeist gesichtslos und austauschbar. Bilder des Caltech oder des Fermilab führen selbst bei Betrachtern, die mit der Geschichte der Naturwissenschaften gut vertraut sind, nicht zu einem "Aha!"-Effekt; eine Einrichtung von Weltrang zur Meeresforschung wie Woods Hole in Massachusetts würde ohne Bildlegende nicht von einem von hundert Nicht-Fachleuten nicht erkannt (die Ausnahme stellt auf diesem Gebiet sicher Jacques Cousteaus "Calypso" dar, das für Generationen von Fernsehzuschauern neben der roten Pudelmütze zum Markenzeichen dieses Tauchpioniers wurde). Der Speicherring des LHC, des Large Hadron Collider des CERN dürfte für die Teilchenphysik auch eine solche Ausnahme darstellen (daß der gut neun Kilometer durchmessende Tunnelring den Alterssitz des Aufklärers Voltaire, Ferney, umschließt, dürfte diesen im Elysium, an das er nicht glaubte, nicht wenig erfreuen). Und vielleicht noch die Kaverne des Neutrinodetektors Super Kamiokande in der japanischen Präfektur Gifo: die vierzig Meter messende kugelförmige Höhle, in einem ehemaligen Bergwerk in einem Kilometer Tiefe vor aller Strahlung abgeschirmt, ist mit 13.000 Photodetektoren ausgekleidet, deren Wartung und Austausch durchs Bootsmannschaften bei entsprechend reguliertem Wasserstand erfolgt, was den Bildern davon genau diesen "Wiedererkennungswert" verleiht, weil es wirkt, es sei hier in einem unterirdischen Venusberg eine Inzsenierung der "Zauberflöte" mit dem Bühnenbild Karl Friedrich Schinkels wahr geworden.

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Freilich ist in der Astronomie diese Ikonizität auch nur wenigen Instrumenten bescheiden gewesen. Die riesigen "Luftteleskope," mit denen im 17. und frühen 18. Jahrhundert Himmelsforscher wie Cassini oder die Brüder Huygens die störenden Farbverzerrungen durch die unterschiedliche Brechung der verschiedenen Wellenlängen in den Linsen zu minimieren suchten - Objektiv und Okular waren dabei ohne Tubus fluchtend an langen Halterungen aufeinander fixiert - waren zwar den Zeitgenossen durchaus bekannt wie auch die vereinzelten Großteleskope des 19. Jahrhunderts wie die Sternwarte Johann Heinrich Schröters bei Bremen, die Arno Schmidt zum Schauplatz seines nie geschriebenen Opus Eximium "Lilienthal oder Die Astronomen" machen wollte, oder der "Leviathan von Parsonstown," den der Earl of Rosse ab 1838 auf seinem Landsitz in Irland konstruierte. Aber Bildkraft erlangten diese Instrumente erst mit dem Ende des 19. Jahrhundert - zu gleicher Zeit, als das "typische Erscheinungsbild" der Sternwarten entstand: mit ihre gewaltigen, alles dominierenden Kuppeln, deren Größe durch die immense Rohrlänge der Fernrohre bedingt war. Der Zeitpunkt, zu dem dieser Prozeß einsetzt, läßt sich recht genau festlegen: mit der Fertigung des bis heute größen Linsenfernrohrs der Geschichte, dem Yerkes Refraktor mit 104 Zentimetern Durchmesser mit einer doppelten Objektivlinse mit einem Gesamtgewicht von 2.8 Tonnen. Eingesetzt hatte der Trend zu den "großen Refraktoren" in den 1860er Jahren, als der amerikanische Instrumentenbauer Alvan G. Clark daran ging, diese gewaltigen Linsen in einer Kompositbauweise aus Korn- und Basaltglas zu fertigen, deren unterschiedliche Refraktionsindizes die Farbstörungen neutralisierten und dem Beobachter ein chromatisch korrektes Bild boten. Danach war die Größe der Linsen nur durch ihr immenses Gewicht beschränkt, das dazu führte, daß sie sich je nach der Ausrichtung des Teleskops durchbogen und so erneut zu Abbildungsfehlern führten. Mit dem zwischen 1891 und 1893 mit seinen 40 Zoll Durchmesser waren hier die technischen Möglichkeiten ausgereizt. Die größeren Teleskope seitdem waren deshalb, angefangen mit dem 100-Zoll-Spiegel des Hale-Teleskops 1917, ausnahmslos Spiegelfernohre.

Seine ikonische Bekanntheit erreichte das fertiggestellte Teleskop vor allem deshalb, daß es, weil sich der Bau der Sternwarte selbst verzögerte, nach seiner Fertigstellung auf der Weltausstellung in Chicago der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Mit seiner Tubuslänge von beinahe 20 Metern und dem über zehn Meter hohen Stützpfeiler, auf dem die Montierung des Rohr aufsaß, war es einer der bestimmenden Blickfänge der "Columbian Exposition," die zur Feier des 400-jährigen Entdeckung der "Neuen Welt" durch Kolumbus gedacht war (man lasse sich durch das Datum nicht irreführen: die Eröffnungsfeier fand termingerecht am 21. Oktober 1892 statt; für den Publikumsverkehr wurde aber erst am folgenden 1. Mai geöffnet, um die Kälte der Wintersaison in der "Windy City" zu vermeiden). Nicht zuletzt wirkte das Teleskop wie eine handfeste Illustration der später berühmt gewordenen "Frontier Thesis" dar, die Frederick Jackson Turner (1861-1932) just aus Anlaß dieser Weltausstellung im Rahmen dieser Ausstellung präsentierte. In seinem Vortrag "The Significance of the Frontier in American History", gehalten auf der Jahrestagung der American Historical Association auf dem Ausstellungsgelänge am 12. Juni 1893, vertrat Turner die These, die amerikanische Demokratie, ihr Gerechtigkeit- und Gleichheitsempfinden, und vor allem ihr Unternehmungsgest und erfinderisches Ingenium verdanke sich sich der Frontier, der sich stets nach Westen verschobenen Grenze und ihre Erschließung und Besiedlung durch die Pioniere, die zu Neuem aufbrachen und sich bewähren mußten. Mit dem Erreichen der Pazifikküste und dem Bau der transkontinentalen Eisenbahnlinien sei diese Quelle, diese beständige Herausforderung erloschen: wenn Amerika weiterhin diese Eigenschaften für sich beanspruchen wolle, müsse es "neue Grenzen" erschließen: etwa indem es sich in der Weltpolitik engagiere, oder indem es sich in Forschung und Erkenntnisdrang auf Höheres ausrichte als die Bewältigung des Alltags - etwa auf das Universum. (Der Satz "Space: the final frontier" - der Weltraum, der im Voice-Over der Titelsequenz des Originals von "Star Trek" nicht "unendliche Weiten" bezeichnet, sondern die "letzte Grenze" - verdankt sich unmittelbar diesem Gedanken.)



II

Wie gesagt ist die "wirkliche Ikonizität," der unmittelbare Wiedererkennungswert nur wenigen Teleskopen oder Observatorien vorbehalten. Bei einigen liegt es an der besonderen Bauweise ihrer Gebäude, die sie einzigartig wirken läßt, so die Sonnen- und Planeten-Visiermauern des Jantar Mantar, die der Rajah Jai Singh II in den 1740er Jahren in Jaipur errichten ließ, das Sonnenobservatorium des Einsteinturms, das Erich Mendelsohn 1921 in Potsdam gebaut hat oder das Sonnenteleskop des Kitt Peak National Observatory. Die irdische Atmosphäre besitzt bekanntlich nur zwei "Fenster," in denen sie für die Strahlung des elektromagnetischen Spektrums transparent ist: den des "sichtbaren Lichts" mit Wellenlängen zwischen 380 und 750 Nanometern, und den Bereich der Radiostrahlung. Von den Teleskopen, die das optische Fenster nutzen, können neben dem Yerkes-Refraktor nur drei, vier universellen Wiedererkennungswert für sich beanspruchen: der 5-Meter-Spiegel des Hale-Observatoriums auf dem Mount Palomar, das 1949 nach 21 Jahren Vorplanung und 13 Jahren Bauzeit "erstes Licht" hatte, die großen Instrumentenkuppeln des Keck-Teleskops auf dem Mauna Kea in Hawaii und die der Europäischen Südsternwarte auf dem Cerro Paranal in der chilenischen Atacama-Wüste (und, demnächst, auf dem benachbarten Cerro Amazones das ELT, das Extremely Large Telescope, das 2025 seinen Betrieb aufnehmen soll und dessen 798 Hauptspiegelsegemente einen Gesamtdurchmesser von 39 Metern aufweisen, und das auf Jahrzehnte hinaus das größte Teleskop der Welt darstellen wird) - und das Weltraumteleskop Hubble, das HST, das seit 30 Jahren in 540 km Höhe seinen Dienst versieht und seither gut 160.000 Mal die Erde umkreist hat. (Und, wenn man es als "Observatorium" werten möchte, natürlich der Dolmenkreis von Stonehenge.)





(Die Konstruktionszeichnungen, die Russell W. Porter (1861-1949) Ende der dreißiger Jahre für das 5-Meter-Teleskop auf dem Mt. Palomar angefertigt hat, als er am Entwurf für die technische Innenausstattung beteiligt waren, wären einen eigenen Beitrag wert.)

Im Bereich der Radioteleskope können zwei, höchstens drei Instrumente diesen Wiedererkennungswert für sich beanspruchen, der in der ersten Sekunde im Betrachter nicht nur die Reaktion "EIN Teleskop" und die allgemeine Association "Astronomie" auslöst, sondern: "DIESES Teleskop!" Zum einen, als ungewissem Fall, das erste Großinstrument dieser Art, das 1957 in Betrieb genommene Lock-Teleskop im englischen Jodrell Bank mit 76 Metern Antennenschüssel-Durchmesser, aufgrund seiner ungewöhnlichen Konstruktionsweise mit zwei seitlichen Gitterpylonen, auf die die Antennenschüssel gelagert ist, und dem 40 Meter messenden Gitterhalbrund samt Zahnkranz unter der Schüssel, über die die vertikale Ausrichtung der Antenne erfolgt. Mit Sicherheit gilt es aber für die 27 Radioteleskope des VLA, des Very Large Array in New Mexiko, deren jeweils 25 Meter durchmessende Einzelkomponenten auf einem Y-förmigen Gleisnetz mit jeweils 21 km Armlänge in verschiedene Konfigurationen bewegt werden und als Interferometer zu einer größeren Gesamteinheit verschaltet werden können. Es ist kein Zufall, daß die erste Szene in Peter Hyams' Verfilmung von Arthur C. Clarkes Fortsetzung zu der Romanfassung von "2001: A Space Odyssey", "2010: Odyssey Two" (1982) von Peter Hyams aus dem Jahr 1984, in der der "Vater" von HAL-9000, Dr. Heywood Floyd, die Nachricht von den alarmierenden Vorgängen auf Jupiter erhält, auf einem dieser Teleskope spielt. Und es ist kein Zufall, daß Jody Fosters Arbeitsplatz in der Verfilmung von Carl Sagans Roman "Contact" von 1997, auf dem sie gern mit Kopfhörern des Radiopulsen aus dem All lauscht und als erste die erste Botschaft empfängt, die die Außerirdischen an die Erdlinge richten, das VLT ist.

Und das zweite (oder dritte) dieser ikonischen Radioteleskope ist das von Arecibo in Puerto Rico, das bis zum Jahr 2016 mit einem Antennendurchmesser von 305 Metern das größte seiner Art war.

III

"Der Krieg ist der Vater aller Dinge," wußte schon Herodot, und in Sachen technischer Innovation und Großtechnik hat dieser Satz für das von blutigen Antagonismen zerrissene zwanzigste Jahrhundert seine Berechtigung. Die Radar-, Nachrichten- und Computertechnik verdankt ihnen ihre Anfangsimpulse, auch wenn die Entwicklung des ARPA-Netzes ab 1969 als "Urzelle des Internets" auch andere Gründe hatte, als die Informationsstruktur der USA nach einem nuklearen Angriff intakt zu halten. Genau diese Überlegung stand aber auch hinter der Konstruktion der offiziell William E. Gordon Telescope genannten Vorrichtung 15 Kilometer südlich des Hafenstadt Arecibo. In der Hochphase des Kalten Krieges, Ende der fünfziger Jahre, war damit zu rechnen, daß aus dem Kalten ein Heißer Krieg werden könnte und auf die USA ein atomarer Erstschlag mit Interkontinentalraketen erfolgen könnte. In diesem Fall war es wichtig, rechtzeitig vorgewarnt zu sein, um noch einen Gegenschlag auslösen zu können, bevor die eigenen Basen getroffen wurden und die Bevölkerung vorzuwarnen (das letztere wäre eher eine hilflose Geste gewesen: wer sich an die "Duck and Cover"-Filme jener Zeit und die Schulübungen erinnert, bei denen im Fall einer nuklearen Explosion unter die Tische gekrochen werden sollte, weiß um die Hilflosigkeit, mit denen die Regierungen des Westens - und natürlich auch die des Ostblocks - vor einer solchen Möglichkeit standen). Interkontinentalraketen, ICBMs, legen den größten Teil ihrer Flugbahn außerhalb der Atmosphäre mit ihrem Luftwiderstand zurück (tatsächlich waren die frühen Booster, mit denen in Ost und West die ersten Satelliten und Raumkapseln gestartet wurden, umkonstrukierte Interkontinentalraketen, wie die R7 und R11 oder die Atlas Redstone). Es war bekannt, DASS beim Wiedereintritt in die oberen Atmosphärenschichten mit 4- bis 7-facher Schallgeschwindigkeit durch den Reibungswiderstand die Luftmoleküle ionisiert wurden und eine Radio- und Radarsignatur hinterließen, die man - hoffentlich - als klares Indiz für einen solchen Wiedereintritt erkennen konnte - und die nicht auf reflektierten Radarpulse von den Stationen der NORAD-Kette angeweisen waren, die Nordamerika davor wanrne sollte, wenn solche Danaergeschenke aus der Richtung des Nordpols einflogen. Es galt vor allem, sicher zu gehen, um nicht durch Fehlalarm selbst durch einen voreiligen "Gegenschlag" den dritten Weltkrieg auszulösen. Man sollte im Hinterkopf behalten, daß es zu dieser Zeit noch keine "Direktverbindung" zwischen den Regierungszentren in Washington und Moskau gab; während der Kubakrise im November 1962 brauchten die Botschaften jeweils sechs Stunden, um über die diplomatischen Kanäle ihr Ziel zu erreichen. Der "heiße Draht" (im Englischen "red telephone" genannt) wurde erst im Anschluß daran 1963 eingerichtet. Es handelte sich auch nicht um eine Telephonleitung (man fürchtete, daß Sprachsignale verrauscht und fehlinterpretiert werden könnten), sondern um einen Fernschreiber, und die amerikanische Endstelle befand sich im Pentagon. (Fun fact: die Verbindung bestand bis 2008; seitdem ist sie durch Email ersetzt; sie wurde einmal pro Stunde getestet; die amerikanische Seite schickte gerne Textauszüge aus den Werken von Shakespeare und Mark Twain, die russische aus Anton Tschechow; am 1. Mai gratulierten die USA zur jährlichen Parade auf dem Roten Platz.)

Um die genaue Art einer solchen Radiosignatur erkennen zu können, brauchte es aber genaue Kenntnisse der Verhältnisse der oberen Atmosphäre, der Ionosphäre, die von der hochenergetischen Strahlung der Sonne ionisiert, als elektrisch leitfähig gemacht wird (die Moleküle verlieren Elektronen ihrer äußersten Elektronenschale; von daher der Name) und wie infolgedessen Radio- und Radarwellen reflektiert und abgelenkt werden, vor allem in der F-Schicht, dem obersten Bereich zwischen 100 und 300 Kilometern Höhe. Darüber gab es praktisch keine Daten, und um die zu gewinnen, wurde von Mitte 1960 bis Ende 1963 dieses Teleskop in einer Karstlandschaft gebaut, deren große runde Talmulden schon die "Rohform" für die Antennenschüssel abgaben. Das ist auch der Grund, warum zu den Instrumenten des Observatoriums ein "Ionosphärenheizer" gehört, eine Sendeanlage, deren Sendeenergie die Luftmoleküle in diesen Schichten absorbieren und entsprechende Änderungen in den Messergebnissen erzeugen. Da die ausgesendeten Energien bekannt sind, können somit exakte Messreichen erstellt werden. Darüber hinaus war die Anlage natürlich von Anfang an als das größte und auflösungsstärkste Radioteleskop angelegt - aber ohne diesen militärischen Hintergrund wäre es nicht zu Finanzierung und Bau gekommen.

Die Dimension der Antenne bringt es mit sich, daß ihre Ausrichtung fixiert ist und senkrecht nach oben zeigt: der beobachtete Himmelsausschnitt von einer Breite von gut fünf Grad bestreicht also einmal das direkt darüber liegende Himmelsareal; im Laufe eines Jahres wandert dieser Streifen infolge der Neigung der Erdachse um 23 Grad umd 44 Bogeminuten von Nord nach Süd. Ein solches Instrument nennt sich "Meridianinstrument", da es immer auf dieselbe Richtung fixiert ist, und noch genauer: ein "Zenitteleskop", weil es starr nach oben blickt wie die beiden Flaschen in Christian Morgensterns Gedicht ("Mit ihrem Doppel-Auge leiden / sie auf zum blauen Firmament . . ./ Doch niemand kommt herabgerennt /und kopuliert die beiden"). Man mag sich fragen, was der Nutzen eines astronomischen Teleskops ist, das fest fixiert ist; indes kommen sie gar nicht so selten vor. Das bekannteste Meridianinstrument befand sich in der Sternwarte von Greenwich, das den mittäglichen Süddurchgang der Sonne registierte und automatisch das Senken der roten Kugel auf dem Dach auslöste; über Jahrzehnte war dies der tägliche Taktgeber der Weltzeit. (Bei den Mittagskanonen, die für Zentren im östlichen Bereich des britischen Empire charakteristisch waren, wie in Rangun, Singapur und Hongkong und in Anlehnung danach auch in Peking, erfolgte nach dem gleichen Prinzip der Signalschuß durch ein Brennglas.) Von den optischen Teleskopen sind etwa das Hobby-Eberly-Teleskop und das Southern African Large Telescope als fixierte Meridianinstrumente konstruiert. Das Large Zenith Telescope im kanadischen British Columbia, das von 2003 bis 2019 in Betrieb war, und das NASA Orbital Debris Telescope, das von 1995 bis 2002 operierte, waren Zenitteleskope, weil ihre Hauptspiegel mit 6 und 3 Metern Durchmesser aus Quecksilber bestanden und dadurch in Form gehalten wurden, daß die Halterung rotierte.

Das erste Zenitteleskop wurde übrigens vor über 350 Jahren konstruiert, von dem Physiker ("Naturphilosophon" bzw. "natural philosopher," wie man damals sagte) und späteren Präsidenten des Royal Society, Robert Hooke, der seine "Archimedean Engine" 1666 in Gebäude des Gresham College aufbaute, mit einem Objektivtubus anstelle einer Dachluke und zwei Stockwerken tiefer einem Okulartubus, unter dem der Beobachter auf dem Rücken lag. Ziel war, wie bei den meisten Fernrohren dieser Bauart in den kommenden Jahrhunderten, die exakte Positionsbestimmung eines durch den Zenit wandernden Sterns, die durch die genaue Messung des Zeitpunkts, an dem er das Fadenkreuz im Okular passiert, ermittelt werden kann. Hooke wollte anhand der im Lauf eines Jahres wechselnden Position des Sterns Etamin (Gamma Draconis, γ Dra), der die Kopfspitze des gewundenen Sternbilds Drache darstellt, das sich zwischen dem Großen und dem Kleinen Bären schlängelt, die Sternparallaxe (oder ihr Fehlen) nachweisen und somit die Konkurrenz zwischen dem geozentrischen und dem heliozentrischen Weltbild entscheiden. Bei vier Messungen zwischen Juli 1669 und Oktober 1670 ermittelte er eine Versetzung um 30 Bogensekunden; obwohl sich dieser Wert später als viel zu groß heruasstellte (es dauerte bis 1839, bis Friedrich Wilhelm Bessel der erste exakte Nachweis einer Sternparallaxe gelang), galt das für die nächsten hundert Jahre als Beweis, daß sich die Erde tatsächlich um die Sonne drehte und nicht umgekehrt.



Im Fall von Arecibo (und den beiden oben erwähnten optischen Teleskopen) erfolgt eine Ausweitung des zu beobachtenden Areals dadurch, daß die Meßinstrumente, die sich im Fokus der reflektierten Strahlen befinden, geschwenkt werden können; die Empfangsantennen lassen sich um gut drei Grad justieren und ermöglichen somit die längere Beobachtung eines Zielobjekts. Bei Arecibo befinden sich die Empfangsantennen in einer Plattform mit einem Gewicht von 900 Tonnen, die 139 Meter über dem Gitternetz der Hauptantenne hängt und von Stahlseilen gehalten wird, die zu drei Pylonen laufen, die am Rand der Antennenschüssel 110 Meter in die Höhe ragen.

Hinzu kommt, daß, anders als in der optischen Astronomie, im Fall von Radiopulsen nicht stundenlang Photonen auf CCD-Chips gesammelt und addiert werden (oder früher photographischen Emulsionen; beide aber auf minus 120 Grad heruntergekühlt), sondern die registierten Impulse auf einer Zeitleiste registriert werden, die sich ändernde Stärke und Verrauschung wird also registriert. Die Konstruktion von Radioteleskopen - mit einer gewaltigen Antenne und elektrischen Schwingkreisen, auf die die empfangenen Signale aufmoduliert werden - bringt es mit sich, daß nicht nur empfangen, sondern auch gesendet werden kann. Und so kommt es, daß Arecibo mit dem bekanntesten Versuch verbunden ist, unsererseits hypothetischen Intelligenzen "da draußen" Kenntnis von uns und dem Stand unseres Wissens zu vermitteln: der "Arecibo-Botschaft" von 1974. Diese Botschaft, die ein einziges Mal, am 16. November 1974, in Richtung des Kugelsternhaufens M 13 im Sternbild Herkules ausgestrahlt wurde, besteht aus insgesamt 1679 Bit, also einzelnen Impulsen in unterschiedliche Intensität, die auf einer Bildmatrix von 23 mal 79 Punkten angeordnet eine Darstellung ergeben, die elementare Informationen zu den Sendern, ihrer Kenntnis von der physikalischen Beschaffenheit der Welt und nicht zuletzt von der verwendeten Funkstation vermitteln könnten, vorausgesetzt, der Empfänger knackt diesen Code und versteht die kryptische Botschaft zu dechiffrieren. Natürlich ist dergleichen frivol: nichts als ein Spiel. Sollte das Signal in 25.000 Jahren tatsächlich noch aus dem Radiorauschen des galaktischen Hintergrund herauszufiltern sein, dürfte dort wohl niemand am Empfangsgerät sitzen: die chaotischen Verhältnisse in einem Kugelsternhaufen, in dem sich 300.000 Sterne in einem Kugelareal von 150 Lichtjahren drängen, dürfte der Entstehung von Planeten nicht sonderlich förderlich gewesen sein. (Die Agenten Scully und Mulder mußten feilich feststellen, daß das Signal empfangen worden war und bedenklichen Besuch angelockt hatte, als sie in der ersten Folge der zweiten Staffel von "The X-Files" mit dem Titel "Little Green Men" nachschauten, warum das Observatorium auf Funkstille gegangen war und es verlassen antrafen. In dem, was man frivolerweise das "reale Leben" nennt, wäre das eher die Aufgabe der 140 Angestellten vor Ort gewesen.)

Frank Drake (*1930 - ), von dem Idee und Realisierung der Botschaft stammen, ist in Astronomie-Kreisen eher bekannt als Vater der "Drake-Gleichung," der "Drake Equation" von 1961. Auch hier handelt es sich um ein eher frivoles Gedankenspiel, ein erster zögernder Versuch, anhand von sieben Schätzwerten einen vagen Überschlag zu tun, wie viele technisch vorangeschrittene Zivilisationen es denn wohl in unserer Galaxis geben könnte - mithin den ekinzigen, von denen wir je Kenntnis haben könnten, weil sie sich durch Radiosignale bemerkbar machen könnten. Die Formel nimmt die Anzahl der sonnenähnlichen Sterne, die Zeit, während der sie stabil genug in ihrer stellaren Entwicklung sind, um, Leben zu ermöglichen, den Prozentsatz dieser Sterne, die Planeten mit flüssigem Wasser ausweisen, die Wahrscheinlichkeit, daß dort komplexes biologisches Leben entsteht, daß dieses auch Intelligenz ausbildet, eine technologische Zivilisation entwickelt und lang genug bestehen bleibt (hier sind wir wieder im Bereich der Atomsprengköpfe), um auf galaktischen Sende- und Empfangsbetrieb gehen zu können. Das Problem ist, daß wir außer einem einzigen Wert - daß in unserer Milchstraße eine solche Zivilisation entstanden ist und die bekannte Anzahl genau "1" beträgt - für alle anderen Faktoren nur aus der Luft (oder dem Vakuum) gegriffene Schätzwerte in die Gleichung einsetzen können. Je nach Kalkulation hat dieses Gedankenexperiment Werte zwischen 100.000 und 30 ergeben. Wie beim berühmten Fermi-Paradoxon ("Wenn die Entstehung von Leben einfach ist und überall unter den gegeben Umständen stattfindet, und wenn auch nur ein verschwindender Bruchteil davon Raumfahrt und Radio entwickelt, so muß die Anzahl doch immer noch immens sein. Und wir dürften nicht die ersten sein. Wo sind sie also?") hat sich ergeben, daß das Nachdenken über diese Frage wenig ergiebig ist. Nach dem gegenwärtigen Erkenntnisstand sind solche Fragestellungen schlicht nicht zu beantworten, und das dürfte auch für die nächsten Jahrhunderttausende der Fall sein. Das heißt nicht, daß sie PRINZIPIELL unbeantwortbar sein. Wenn ich mir meine Science-Ficiton-Denkerkappe aufsetze, kann ich schnell ein Erkundungsprogramm für die gesamte Milchstraße umreißen, das aus driftenden winzigen Sonden besteht, die sich am nächsten stellaren Ziel aus Asteroiden- und Kometenmaterial reproduzieren und neue Generationen zu weiteren Zielen losschicken. Ich brauche dieses Konzept nicht einmal zu erfinden: solche selbstreplizierenden Einheiten sind als "van Neumann-Proben" bekannt, und sie sind es, die - und hier blenden wir auf das VLA und Dr. Heywood Floyd zurück - in Arthur C. Clarkes "2010" - die Störungen auf dem Jupiter verursachen und ihn am Ende in eine Sonne im Westentaschenformat verwandeln. Entworfen wurde dieses Szenario 1980 von Robert A. Freitas, und benannt ist es nach den Konzepten selbstreproduzierender mathematischer Muster, die auf John von Neumann zurückgeht. Freitas' Paper, "A Self-Reproducing Interstellar Probe" kann hier nachgelesen werden.



IV



Oben hieß es "die Ausweitung des Beobachtungsfelds erfolgt dadurch, daß die Instrumente geschwenkt werden." Das Präsenz ist hinfällig. Diese Tätigkeit gehört der Vergangenheit an. Die amerikanische National Science Foundation hat in der vorigen Woche, am 19. November 2020, entschieden, daß der Betrieb des Teleskops nicht wieder aufgenommen und es wohl abgerissen werden wird. Der Messbetrieb war am 9. August unterbrochen worden, nachdem sich eine der 13 Zentimeter starken Stahltrossen, die die Messplattform tragen, aus ihrer Verankerung am Pylon gelöst hatte und eine 30 Meter lange Schneise in den darunterliegenden Antennenrand geschlagen hatte. Diese Hilfstrossen wurden 1994 nach einer Umrüstung und Aufstockung der Messplattform installiert, um das zusätzliche Gewicht aufzufangen. Am Samstag, dem 7. November, brach dann am selben Pylon eine der vier Haupttrossen, mit einem Durchmesser von 9 Zentimetern. Es liegt nahe, daß die zusätzliche Belastung der letzten drei Monate die Ursache war; befürchtet wird, daß die Materialermüdung im Lauf der fast sechs Jahrzehnte die gesamte Struktur betrifft und die Meßplattform abstürzen könnte. Das weitere Schicksal des Observatoriums ist noch völlig unentschieden. Es könnte sein, daß es stillgelegt und abgerissen wird. Es ist ebenso denkbar, daß man versuchen wird, die Plattform abzusenken, durch zusätzliche Kabel gesichert und sich zum Neuaufbau der Pylone und einer neuen Antennenstation entschließt. Es ist nicht damit zu rechnen, daß die NSF und der amerikanischen Kongreß, der über die Freigabe der entsprechenden Gelder zu verfügen haben, hier etwas "mit schneller Nadel" stricken und die Weichenstellungen - gerade für den Wiederaufbau - erst im kommenden Jahr erfolgen (zumal sich auch erst einmal das Wahlchaos in den USA auf die eine oder andere Weise klären muß und die Budgets für kleine grüne Männchen und Verwandtes in den kommenden Jahren eher eng gesteckt sein dürften.)

Es ist nicht das erste Radioteleskop, das, salopp gesagt, "zu Bruch geht." Arecibo selbst war schon im August 2017 durch einen Hurrikan beschädigt worden, und die Reparaturarbeiten waren im August noch im Gange. Das Lovell-Teleskop in Jodrell Bank wurde im Januar 1976, als der Orkan Capella, auch "Gale of January 1976" genannt, eine Spur der Verwüstung durch England und die Niederlande zog und große Teile der Antennenschüssel beschädigt wurden. Das 300-Fuß-Radioteleskop in Green Bank im amerikanischen West Virginia kollabierte in der Nacht des 15. November 1988 zu einem Trümmerhaufen, als ein Riß der Gitterstützkonstruktion zum Bruch einer Stützstrebe führte. (Dieses Teleskop arbeitete übrigens auch als Transitinstrument, mit einer Beobachtungsdauer von 40 Sekunden je beobachtetem Objekt, die durch Justierung der Meßantennen auf mehrere Minuten gedehnt werden konnte. Jodrell Bank wurde instandgesetzt; für Green Bank wurde als Ersatz das Robert C. Byrd-Green-Bank-Telescope erreichtet, das seit dem August 2000 in Betrieb ist und ebenfalls dadurch ins Auge sticht, daß sich der Empänger nicht über der Mitte der Antennenschüssel befindet, sondern dezentral an einem Auslegerarm über dem oberen Scheitelpunkt.





Das bleibt abzuwarten. Festgehalten sei, daß ein Jahr, das als ein "Annus mirabilis" in die Annalen der Astronomiegeschichte einzugehen scheint, auch seine Schattenseiten zeigt. Das war bereits im Frühjahr so, als eine Recherche des Astronomy Magazine ergab, daß fast sämtliche großen Observatorien auf der Welt den laufenden Beobachtungsbetrieb aufgrund der COVID-Pandemie eingestellt hatten (Green Bank bildete eine Ausnahme) und die 120 größen Teleskope der Erde keine Daten mehr sammelten. Eine weitere Ausnahme war das Doppel-Teleskop Pan-STARRS auf dem Halekala in Hawaii, das den Himmel nach Asteroiden durchsucht, die die Erdbahn kreuzen (die sogenannten Apollo-Asteroiden) und somit eine potentielle Gefahr darstellen, und dessen Betrieb vollautomatisiert ist. Ich war nicht der einzige, das davon überrascht war: zumindest für die neuen Observatorien auf dem Mauna Kea und dem Cerro Paranal war ich bisher davon ausgegangen, daß der Betrieb vollautomatisiert ist und nur wöchentlich anfallende Wartungs- und Justierarbeiten kurze Humanpräsenz erfordern. Nach kurzem Nachdenken habe ich mich dann daran erinnert, daß den Technikern nicht erlaubt ist, dort als Einzelkämpfer ihren Job zu erledigen. Die Quartiere und Leitzentralen liegen tiefer, in 2000 Meter Höhe über dem Meeresspiegel, und die rasche Anfahrt zu den zwei Kilometer höher gelegenen Sternwarten selbst kann zu Schwindel und Konzentrationsschwächen infolge mangelnder Akklimatisierung führen, weswegen Kontrolle durch einen Kollegen vorgeschrieben ist.

Nachtrag, 1. Dezember 2020, 14:10.

Heute ist die 900 t schwere Antennenplattform des Radioteleskops endgültig abgestürzt.

Deborah Martorell @DeborahTiempo

Amigos es con profundo pesar comunicarles que acaba de colapsar la plataforma del Observatorio de Arecibo.

12:56 nachm. · 1. Dez. 2020·Twitter for iPhone

https://twitter.com/DeborahTiempo/status/1333741751069192195




U.E.

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