18. November 2020

Jean Lorrain, "Das verschlossene Zimmer" (1891)



Das Abweisende, Feindselige mancher Häuser und Zimmer auf dem Land, ihre abgestandene Luft, die an eine Totenkammer gemahnt, hatte ich noch sie so stark empfunden wie an jenem verregneten, tristen Oktobermorgen, als der Hausknecht meinen Koffer auf dem Boden jener Kammer im Obergeschoß abgestellt hatte und die Tür hinter mir von selbst ins Schloß fiel.

Welches herbstliche Mißgeschick hatte mich, den unfähigsten Jäger der Welt, mit einem beinahe körperlichen Abscheu vor Schußwaffen, in dieses einsame Haus mitten im Wald verschlagen? Welcher kranke Spleen hatte mich dazu getrieben, den Treibern des Marquis de Hauthère zu folgen, die Boulevards von Paris und die Arbeit für meine Zeitung zu verlassen und mich hier in diesem finsteren Forst zu vergraben, am Vorabend vor der Premiere von Cléopâtre und Réjanes langerwartetem Comeback in dem Stück von Meilhac?

Auch wenn es verrückt klingt: ich bin der festen Überzeugung, daß es mich gegen meinen Willen in diesen vom Herbst verwüsteten, einsamen Forst gezogen hatte, daß ich, ohne daß ich mir dessen bewußt gewesen wäre, dazu ausgesucht war, eine Rolle in einem Drama aus dem Jenseits zu spielen.

Wer hatte früher einmal in diesem alten Waldhaus aus der Zeit Louis des Dreizehnten gelebt,das da mit seinem von winzigen Fenstern durchbrochenen steilen Schieferdach neben dem von toten Blättern bedeckten Teich an der einsamsten Stelle des großen Waldes stand?

Es befand sich seit Jahrhunderten in Besitz der Familie de Hauthère, und der Vater des jetzigen Marquis hatte es zu einem Gästehaus umbauen lassen, in dem während der Jagdsaison die Gäste untergebracht wurden, die im Schloß keinen Platz mehr fanden.

­ Dazu gehörte auch ich; am Bahnhof hatte mich samt meinem Koffer und meinen Habseligkeiten ein schlichter Bauernkarren abgeholt und mich, durchgeschüttelt von den tiefen Fahrspuren, durch die nassen Felder zu dieser Stelle, halb Wiese und halb Lichtung, befördert, auf der dieser aus Holz gebaute Pavillon stand.

Das Gästehaus des Marquis de Hauthère erhob sich neben diesem toten Teich, umgeben von der Wiese, auf der das Heu und die Wildgräser im Regen verrotteten. Die Atmosphäre hatte etwas Seltsames und Bedrückendes. Über dem Wald lag eine beklemmende Stille, wie ein dichter Nebel ohne Stimme und Echo, die nur durch das Kreischen der großen Wetterfahnen unterbrochen wurde, die sich im Oktoberwind drehten.

Als ich das hohe Vorzimmer mit seinen schwarzen und weißen Fliesen betrat, verstärkte sich mein Eindruck noch, daß ich hier Teilnehmer an einem unbekannten Drama war: das Zimmer, das mir zugewiesen worden war, lag im Obergeschoß. Zwei große Fenster mit Vorhängen aus alter, zerschlissener Seide, sorgten für Helligkeit, trotz des verhangenen Himmels und der Dunkelheit des Waldes. Trotzdem dämpfte ich instinktiv meine Schritte, als ich über die Schwelle trat, als ob ich ein Krankenzimmer betreten hätte. In der Luft hing noch ein schwacher Geruch nach Äther und auf allen lag dick der Staub: in den Falten des verblichenen Brokats der Vorhänge, auf den kalten, altmodischen Sesseln, dem Baldachin des Himmelbetts und der Marmorplatte eine alten Konsole, wie Schnee, der von der Jahren geschwärzt war und den seit langer Zeit nichts aufgestört hatte.

Seltsames Zimmer - als sei ein Geheimnis verborgen von trauriger Art, und ihr graute davor, Ihm zuzusehen, wie sich's im Spiegel verlor...

Dies Zeilen von Rodenbach sind mir seither oft in den Sinn gekommen, wenn ich an dieses Zimmer gedacht habe, das natürlich auch merkwürdig war und ein Geheimnis besaß, ein Gehemnis und einen Verlust, die sich in der Tiefe der Düsterkeit, der Verlassenheit und dem Schweigen verbargen, dem großen feindseligen Schweigen, das immer noch auf diesem Ort im Wald lastete, zu dem ich eingeladen worden war.

Der Eindruck währte nur kurz; man erwartete mich zum Mittagsmahl im Schloß.

Nach einem Tag, in dem ich mich durchs Unterholz geschlagen hatte und einer Jadgstrecke von sechzehn Rehböcken und mein Geist durch die Atmosphäre eines festlichen Dinners für zweiundzwanzig Gäste im Jagdsaal des Sitzes der de Hauthère angeregt worden war, mein Blut von den Weinen eines vorzüglichen Kellers erfrischt in den Adern kreiste und meine Gedanken weit von der bedrückten Stimmung des Morgens entfernt waren, wachte ich um Mitternacht in Schweiß gebadet auf; das Herz raste mir wie bei einem schweren Anfall.

Mich fror, als hätte mich der Atem des Todes gestreift. Die Vorhänge der Fenster vor dem Fußende des Bettes waren nicht zugezogen, und das Mondlicht, das durch die Scheiben fiel, zeichnete weiche Schatten auf das Parkett. Am Himmel trieb die der Ostwind die Wolken wie Segelschiffe über ein stürmisches Meer und die letzten Tropfen des Herbstregens klopften monoton an die Fensterscheiben... Plötzlich erklang aus dem Nebenzimmer die Melodie einer alten Gavotte: der Klang eines Cembalos, so leise und sacht, als würde es von unsichtbaren Händen gespielt. Jemand befand sich im Nebenzimmer, hinter der Trennwand, da gab es keinen Zweifel, und jetzt, in der Nachtstille dieses einsamen Hauses, gewann die Musik an Sicherheit, fand zu präzisen Rhythmen und Skalenläufen, eine Arietta oder Chaconne aus alter Zeit, die da langsam aus der Vergangenheit emporstieg, von zarter Eleganz, wie ein Lufthauch aus einem anderen Jahrhundert: als hätten die Lippen alter Bilder zu sprechen begonnen...

Aber mir stand in dieser Nacht nicht der Sinn nach alten Versen. Gepackt vor Entsetzen hörte ich zu, ballte die Hände, mit denen ich mich am Kissen abstütze, zur Faust zusammen, während mir der Angstschweiß den Rück hinablief. Jemand befand sich hier im Haus, im Zimmer gleich nebenan, in dem unsichtbare Hände auf einem vergessenen Cembalo spielten. Die Sinne drohten mir zu schwinden, ich fühlte mein Herz wie wild in meiner Brust schlagen, ich starrte mit weit aufgerissenen Augen ins Dunkel, als ich einen Atemzug auf meinem Gesicht spürte und von der anderen Seite der sich bauschenden Seidenvorhänge am meinem eiskalten Bett eine erstickte, schluchzende Stimme erklang:

"Nehmen Sie mich mit! Nehmen Sie mich mit!"

Die Stimme wiederholte den Satz zweimal. Fast vor Sinnen vor Angst war ich aufgesprungen und stand jetzt nackt mitten im Zimmer, und dann hörte ich - deutlich vernehmbar - das Geräusch von Schritten auf dem Parkett, die davon huschten, das Zuschlagen einer Tür, das Knirschen eines Schlüssels, der im Schloß gedreht wurde. Dann herrschte wieder Stille. Das Cembalo nebenan war verstummt, in meinem mondhellen Zimmer hingen die verblichenen rosafarbenen Vorhänge an den Fenstern glatt und ohne jede Falte... Draßen hatte der Regen aufgehört, und vor dem bleichen, milchigen Grau des Nachthimmels regten sich die Äste dreier hoher Buchen, die vor dem Gästehaus wuchsen, im frischen Nachtwind.

Ich hatte mich wieder gefaßt. Mit meinem Revolver in der Hand, ging ich zur Tür, die zum Nebenzimmer führte; ich versuchte sie zu öffnen. Sie war abgeschlossen und widerstand allen meinen Bemühungen; dann ging ich zur anderen Tür. Der Schlüssel, den ich im Schloß gelassen hatte, stekte nicht mehr darin, und auch hier versuchte ich vergebens, sie zu öffnen. Ich war im Zimmer eingeschlossen.

Hastig zündete ich eine Kerze an, zog mir eine Hose und eine Jacke an und schlüpfte in die Pantoffeln, und nachdem ich beide Türen verbarrikadiert hatte - die eine, indem ich eine Kommode davorschob und die andere mit einem großen Ohrensessel mit roten und grünem Bezug - setzte ich mich in einen Sessel am Kopfende des Bettes, deckte mir die Füße mit der Decke zu und schlug das neueste Buch von Anatole France auf, weil ich entschlossen war, wachzubleiben, bis der Morgen anbrach ... und ich erwachte am hellen Morgen, ausgezogen und in meinem Bett liegend. Vor mir stand der Bauernjunge, der mir für meinen Aufenthalt in diesem seltsamen Gästehaus als Bedienter zugewiesen worden war und wartete respektvoll auf meine Anordnungen.

"Wie spät ist es?" lautete meine erste Frage.

"Halb elf."

"Halb elf! Dann sind die anderen schon auf der Jagd?"

"Oh, seit sieben Uhr schon. Monsieur können die Schüsse bis hierher hören."

"Was? Und du hast mich einfach schlafen lassen?"

"Oh, Monsieur schliefen so fest, Monsieur schinen so erschöpft und glücklich im Schlaf, Monsieur waren so blaß, daß es mir beser schien, Monsieur schlafen zu lassen. Hier ist die Morgenschokolade von Monsieur."

Und mit einer ungelenken Geste zeigte der Junge auf das Tablett, das er auf meinem Nachttisch abgesetzt hatte.

Offenbar hatte ich nur geträumt, trotzdem blieb ein Zweifel, und als ich meine Toilette beendet hatte und der Junge das Zimmer verlassen wollte, fragte ich beiläufig: "Was ist mit dem Zimmer nebenan?" und erschrak, wie sehr sich der Tonfall meiner Stimme geändert hatte.

"Was soll mit dem Zimmer nebenan sein?" wollte der Junge wissen.

"Ja, das Zimmer neben diesem. Wohnt dort jemand? Hat da jemand letzte Nacht geschlafen?"

"Das Zimmer nebenan! Oh nein, Monsieur, dort schläft niemand mehr; die Türen sind zugemauert. Oh nein: niemand schläft im Zimmer von Madame la Marquise."

"Das Zimmer von Madame la Marquise?"

"Ja, dort ist die Mutter von Monsieur le Marquis gestorben, oh, vor langer Zeit, oh ja, das ist schon über dreißig Jahre her."

Das war alles, was ich aus dem Jungen herausholen konnte. Ich entließ ich, und als ich allein war, versuchte ich einen Blick durch das Schlüsselloch zu werfen. Das erwies sich als Zeitverschwendung: entweder waren die Fensterläden drüben dicht geschlossen oder die Türen waren mit einem Vorhang verhängt. Es war nichts zu erkennen; mein Blick traf nur auf absolute Dunkelheit.

In der folgenden Nacht schlief ich im Schloss. Als ich verspätet zum Mittagsmahl eingetroffen war, erkundete sich der Marquis, wie ich die Nacht in dem einsamen Waldhaus verbracht hatte und entschuldigte sich dafür, mir ein so schlechtes Nachtquartieir zugewiesen zu haben.

"Aber," setzte er mit einem entschuldigenden Lächeln hinzu, "einer unserer Gäste ist heute Morgen abgereist. Sein Zimmer ist frei. François wird heute nachmittag Ihr Gepäck herüberbringen; heute Nacht können Sie hier im Schloß übernachten."

Und das war alles... Zweifellos war ich das Opfer einer Einbildung geworden; meine überreizten Nerven hatten mir unter dem Eindruck der Trostlosigkeit und der Verlorenheit dieses einsamen Waldhauses im Schlaf einen Streich gespielt, und mein Albtraum war nur das gewesen, was alle Albträume darstellen: die Fortsetzung eines unangenehmen Eindrucks aus dem Wachzustand.

Und dennoch... Seither habe ich in Erfahrung gebracht, daß die Mutter meines Gastgebers, die Marquise Simonne-Henriette d'Hauthère, im LAter von achtundzwanzig Jahren gestorben ist, als Wahnsinnige - oder zumindest hieß es in ihrer Familie so. Manche sagten, ihr Gatte habe sie aus krankhafter Eifersucht in jenem einsamen, merkwürdigen Waldhaus gefangen gehalten. Und seitdem frage ich mich, ob ich nicht, durch einen unerklärlichen Zufall, in jener Nacht Zeuge eines Dramas geworden bin, das nicht zu dieser Welt gehört.

Und trotzdem ... bei meinem Bericht über die verworrenen Erinnerungen, die mir schon so fern und undeutlich vorkommen, habe ich etwas zu erwähnen vergessen ... am Morgen nach meiner schrecklichen Vision, als ich mich in meinem Zimmer umschaute, was entdeckte ich auf der verstaubten Marmorplatte einer der Kommoden? ... Eine Rose, eine helle weiße Rose, naß vom Regenwasser, die Blütenblätter schwer vor Nässe, mit einem langen, biegsamen Stiel, der keine Dornen trug, und daneben, im Staub, den Abdruck von fünf Fingern ... Diese Blume und diese Abdrücke: wer hatte sie hinterlassen?

"La chambe close" erschien 1891 in Lorrains Erzählungsband "Sonyeuse."

Die drei zitierten Gedichtzeilen von Georges Rodenbach gehören zum siebten der 25 Gedichte des Zyklus "Du silence" (1888), der 1891 unter den Titel "La regne du silence" in Paris neuaufgelegt wurde.

Victor Sardous (1831-1908) Drama "Cléopâtre" wurde 1890 im Théatre de la Porte-Saint-Martin uraufgeführt, mit Sarah Bernhardt, die Lorrain abgöttisch verherte, in dder Hauptrolle. Gabrielle Réjane (1856-1926) war eine populäre Schauspielerin auf den Bühnen des Vaudeville; Henri Meilhac (1831-1897) verfaßte zahlreiche leichte Komödien, oft in Zusammenarbeit mit Ludovic Halévy.

Die Erwähnung von Anatole France könnte einen kleinen Verweis auf die Inspirationsquelle der kleinen Erzählung darstellen. In seinem Roman "Thais", der im Jahr der Erzählung, eben 1890, erschien, wird ein frommer Einsiedler, für den offenkundig der heilige Antonius Pate gestanden hat (durch Flauberts "Tentation de St. Antoine" zu einem der geheimen Idole der Dekadenz geworden), der von sündigen Visionen heimgesucht wird, nachdem der die Kurtisane des Titels vom Pfad der Untugend abgebracht hat.



U.E.

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