9. November 2020

Die Blume des Paradieses. Eine Blütenspur

"Esas consideraciones (implícitas, desde luego, en el panteísmo) permitirían un inacabable debate; yo, ahora, las invoco para ejecutar un modesto propósito: la historia de la evolución de una idea, a través de los textos heterogéneos de tres autores." (Jorge Luis Borges, "La flor de Coleridge", La Nación, 23. September 1945)

Ziel dieser kleinen Miszelle ist, gemäß dem Verfahren von Borges, "ein vergleichsweise bescheidenes Vorhaben: die Entwicklungsgeschichte einer Idee, eines literatischen Motivs, in den unterschiedlich gearteten Texten verschiedener Autoren" anzuzeigen und als Coda zu Borges' kleinem Essay über "Die Blume Coleridges" zwei weitere Beispiele anzufügen und auf die ursprüngliche Quelle zu verweisen, die bislang keinem Literaturhistoriker aufgefallen zu sein scheint. Das Motiv ist das des aus einem Traum in die Tagwirklichkeit hinübergeretteten Gegenstands; im Fall der von Borges angeführten Beispiele eine Blume, die das Traumgeschehen auf ihre paradoxe Weise bestätigt - und gleichzeitig ein ontologisches Paradox aufwirft: wenn dem "Traumgeschehen" der gleiche Wirklichkeitsstatus zukommt wie der Alltagsrealität, worin liegt dann der Unterschied? Und könnte es nicht sein, daß das, was wir für "real" halten, ebenso nur eine Illusion, ein Traum ist: "La vida es sueño," wie es der Titel des Versdramas von Calderón de la Barca von 1635 nennt. Diese erkenntnistheoretische Mise en abyme, die wenige Jahre zuvor, am Martinstag des Jahres 1619 (also fast auf den Tag genau vor vierhundertundeinem Jahr) im oberbayerischen Neuburg an der Donau René Descartes zu seiner radikalen Bottom-Up-Existenzphilosophie anregte, bleibt in den im folgenden angeführten Texten außen vor. Der Sicherheit des Bestehens, der Wirklichkeit, wird nicht radikal der Stöpsel gezogen - der Vorhang wird nur durchlässiger, und dahinter zeichnet sich eine vage angedeutete umfassendere Realität ab, von der das irdische Geschehen nur einen Ausschnitt darstellt, ohne ihm Konturen und Regeln zu verleihen. (Dies ist ein zentrales Problem in der Literatur des Schreckens und des Erstaunens, das die Evokation des "Sense of wonder," das "Mysterium Tremendum" in den Kernpunkt eines Textes rückt: wird der Schleier ganz gehoben, ist der Autor verpflichtet, das sichtbar Werdende konkret vorzustellen, ihm Gestalt und Regeln beizulegen, und es letztlich als Teil der Lebenswirklichkeit einzureihen, dem man bei Bedarf durch den wirkmächtigeren Bannfluch beikommen kann. Ein Paradies - wir werden diesem Ort im Folgenden noch begegnen - von dem eine Karte gezeichnet werden kann, ist kein Elysium mehr, sondern nur noch ein Locus amoenus.) Natürlich muß es sich bei dem handfesten Beweis aus der Traumwirklichkeit nicht um eine Blume handeln; die beiden ersten Beispiele zeigen dies; tatsächlich läßt sich anhand dieser Corpora delicti recht gut zeigen, welche von welchem Motiv der jeweilige Text inspriert wurde.

­ In der Esoterik des ausgehenden 19. Jahrhunderts, als der Spiritismus in zwei Wellen so etwas wie eine Modeerscheinung wurde und zwischen Bauernfängerei, Trickbetrügerei und dem vermeintlichen Nachweis der durch die Wissenschaft infragegestellten Hoffnung auf ein "Leben nach dem Tod" changierte, wurde diesem Phänomen die Bezeichnung "Apport" gegeben: die "Medien" ließen im Dämmerlicht der Séancen Gegenstände (zumeist eben Blumen) materialisieren, aber auch Briefe, Spielkarten - und natürlich Ektoplasma, "feinstoffliche" Ausdüntungen geisterhafter Materie. Bezeichnenderweise griffen an diesem Punkt die meisten handfesten Nachweise von Skeptikern, die die mit dem Jenseits Tuchfühlung Aufnehmenden rabiat fixierten und eine Leibesvisitation unterzogen (das "Ektoplasma" erwies sich in der Regel als Tüll). So etwa das "sächsische Blumenmedium" Anna Rothe (1850-1907), die im März 1903 vom Berliner Landgericht wegen Betrug zu zehn Monaten Haft verurteilt wurde. Solcher Budenzauber ist, aus naheliegenden Gründen, selten das Thema phantastischer Erzählungen, deren Erzählkosmos auf der Voraussetzung beruht, daß die "übernatürliche Welt" tatsächlich gegeben ist; die meisten der Texte, in denen derlei vorkommt, drehen sich um den Nachweis solcher Schwindeleien - und die Gefahr, daß dadurch ungewollt tatsächlich Dämonisches in diie Alltagswirklichkeit einbrechen kann, wie im Karl Hans Strobls "Gespenster im Sumpf" ("Ein phantastischer Wiener Roman") aus dem Jahr 1920, in der der apokalyptische Totentanz damit anhebt, daß ein auf einer Séance ein Armpaar aus dem Jenseits materialisiert und dem Medium mit den Worten "Nun hat der Spaß ein Ende!" den Hals umdreht.

Meine kleine Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; ich bin sicher, daß auf den Kilometern von Regalen mit Erzählungen und Prosagedichten aus der Zeit zwischen dem Ende des Romantik, als Kurzgeschichten und Romane in Zeitungen, Journalen und Magazinen das Gros der trivialen Unterhaltung zu bestreiten begannen, und den 1950er Jahren, als die Staffelweitergabe an die drahtlosen Massenmedien Radio und Fernsehen erfolgte, noch zahlreiche Beispiele auszugraben wären, nicht nur im Englischen und Deutschen, sondern etwa auch im Französischen, Spanischen oder Russischen, dessen Textmassen zumeist nur Kennern und Spezialisten in den jeweiligen Sprachen geläufig sind und über die man nur stolpert, wenn sie zufällig in einer kommentierten Bibliographie erwähnt, einem Aufsatz oder einer Monographie umrissen oder doch einmal in einer Anthologie nachgedruckt werden.

(Ein kleines Beiseit zu einem anderen Motiv als Illustration: ich sammle seit Jahren Beispiele für "literarische Astronomie," Texte oder Gedichte, in denen der Blick durchs Teleskop in den Sternenhimmel dem Astronom ein Gesicht, einen Kopf, ein starrendes Auge präsentiert, verlockend oder als Drohung. Letztendlich handelt es sich um eine heruntergespannte Abwandlung der alten Vorstellung des "göttlichen Auges", das in diesem Fall wortwörtlich vom Himmel herabschaut und in die nüchterne Mathesis der "Nebelflecken und Sonnen" (Schiller) einbricht. Das Motiv findet sich zuerst in einer längeren essayhaft ausufernden Rezension von Thomas de Quincey aus dem Jahr 1846 in Tait's Edinburgh Magazine ("System of the Heavens as Revealed by Lord Rosse's Telescopes") und taucht als Gedankensplitter in Clark Ashton Smiths "Schwarzem Buch" auf, in Herbert Fritsches Erzählung "Die Stadt in der Phiole" von 1937, in Ross Rocklynnes "Find the Face!" von 1968 und ganz aktuell in Marina J. Lostetters Story "Things That Shouldn't Exist" in der 46. Ausgabe des Netz-Science-Fiction-Magazins "Galaxy's Edge" von September/Oktober 2020. Aber wenn der kleine amerikanische Verlag Armchair Fiction in Medford, Oregon nicht im Juni dieses Jahres eine Sammlung von Texten der völlig vergessenen Autorin Allison V. Harding herausgegeben hätte ("The Forgotten Queen of Horror," ISBN 978-1-61287-463-0, Tb, 360 S., US-$ 16,95), hätte ich niemals erfahren, daß die letzte der gut dreißig Geschichten, die sie zwischen 1943 und 1951 in dem "einzigartigen Magazin" Weird Tales veröffentlicht hat, und von denen in den letzten 75 Jahren überhaupt nur vier verstreut in Anthologien mit Gruselgeschichten nachgedruckt worden sind, nämlich die Erählung "Scope" (Weird Tales, Januar 1951), ein Paradebeispiel für die Verwendung dieser Trope darstellt.)

In medias res; und, da nicht nur eine Zeitreise vorkommt, sondern das Paradies, mithin der Ursprung, das Ziel ist, rückweisend in die Zeit. Aber: "Of Paradise I cannot speak properly, for I have not been there." (The Travels of Sir John de Mandeville, ca. 1370)

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Fritz Leiber (1910-1992) zählt zwar nicht zu den ganz großen Klassikern im Bereich der drei Varianten der phantastischen Literatur - Fantasy, Science Fiction und Horror - aber zu ihren angesehendsten und geschätztesten Vertretern. Mit seinen Erzählungen um Fafhrd und den Grauen Mausling gehört er, neben Robert E. Howard, zu den Begründern der "Sword and Sorcery", den Abenteuererzählungen in einer phantastischen, vom Iridischen losgelösten Welt in einem Ambiente, daß dem Mittelalter oder der westlichen Antike nachempfunden ist. Anders als bei Howards brachialem Rüpel Conan, dem Barbaren aus Kimmerien überwiegen bei Leiber Ironie, Sprachwitz und das ständige Bewußtsein, daß es sich um ein literarisches Kostümspiel handelt, während Howard oft in seiner Korrespondenz betonte, daß er seine Geschichten wie in einer Selbsthypnose, in einem nichtreflektierenden Rauschzustand in rasendem Tempo in die Schreibmaschine tippte, als handele es sich um verschüttete Erinnerungen aus vorhergehenden Leben. (Es sei angemerkt, daß Arnie S., der in Richard Fleischers wenig begeisternder Filmumsetzung von 1984 den Barbaren verkörperte, aus einer Gegend herstammt, die von Howards Heimat Texas aus gesehen nicht sehr vom antiken Cimmeria entfernt liegt, die damit die Krim und die umliegenden Gebiete am Schwarzen Meer bezeichneten.) Nicht zuletzt ist Leiber einer jener Autoren, die dem literarischen Schrecken eine legitime Heimstatt im Ambiente der modernen Großstadt verliehen hat, nachdem die klassischen Versatzstücke des abgesunkenen "gotischen Schreckens", der verlassenen Landsitze und Friedhöfe, der um Mitternacht umgehenden Kettenrassler "eigentlich" dem elektrischen Licht und der Nüchternheit der Wissenschaft zum Opfer gefallen sein sollten. "Die elektrische Birne, setzt sie aus, zeigt keine Geisterwelt an, die das Licht erdrückt, sondern Kurzschluß oder Reparatur im Elektrizitätswerk," befand Ernst Bloch 1935 in "Technik und Geistererscheinungen". Oscar Wildes "Gespenst von Canterville" diente, irreführenderweise, Bloch als Beweis für das endgültige Absinken dieser Stoffe in Klamaukhafte (daß der erste Text, der das Übernatürlich-Bedrohliche in den Rahmen der Moderne und der Technik setzt, nämlich Bram Stokers "Dracula, or The Un-Dead" fast zeitgleich mit Wildes Parodie erschien, ist eine hübsche Volte).

Leibers Kurzgeschichte "Smoke Ghost" aus dem Jahr 1941 liest sich fast wie eine programmatische Widerlegung der Bloch'schen Entsorgung des literarischen Spuks. "Haben Sie sich jemals gefragt, wie ein Gespenst heutzutage aussehen würde, Miss Millick? Stellen Sie sich das bitte für einem Moment vor: ein verrußtes Gesicht, zusammengesetzt aus den Lebenssorgen der Arbeitslosen, der ziellosen Nervosität all derer, die kein Ziel im Leben haben, der Anspannung des gehetzten Akkordarbeiters, der aufgeladenen Wut der Streikenden, dem gefühllosen Opportunismus des Kleinkriminellen, dem schrillen Geschrei der Straßenhändler, der Angst des Zivlisten, wenn die Städte unter Bombenhagel liegen, und tausend weitere Neurosen und Ängste. All das überlagert sich und vermischt sich, wie zahllose durchsichtige Masken ... Genau so würde solch ein Geist oder eine solche Prjektion aussehen. Sie würde aus der Wirklichkeit entstehen. Sie wäre ein Spiegelbild all der verworrenen, schäbigen, bösen Aspekte. All der Hoffnungslosigkeit. Und es wäre überaus schmutzig. Ich glaube nicht, daß es als weißer Nebelstreif auftreten würde oder auf Friedhöfen spuken würde. Es dürfte nicht heulen oder stöhnen. Aber es würde unverständlich flüstern, würde Sie am Ärmel fassen. Wie ein böses, krankes Äffchen. Was würde solche eine Erscheinung von einem wohl wollen, Miss Millick? Opfer? Verehrung? Oder nur Ihre Furcht? Was könnten Sie gegen so etwas unternehmen ... Natürlich könnte es ihnen nichts anhaben, es ist ja körperlos. Sie müßten schon empfänglich dafür sein, um es wahrzunehmen. Aber es würde Einfluß auf Ihr Handeln nehmen. Sie würden dies oder das tun, oder etwas lassen. Es wäre nur eine Projektion, aber es würde seine Klauen in Sie schlagen, würde die Welt beeinflussen. Vielleicht könnte es sogar die Hirne unserer gelangweilten, neurotischen Zeitgenossen übernehmen. Und dann könnte es allen schaden, denen es übel will."

In Leibers Erzählung "The Dreams of Albert Moreland," im Frühjahr 1945 in der zehnten Ausgabe des Amateurmagazins The Acolyte erschienen, das sich als erstes auf die Beschäftigung mit Werk und Leben von H. P. Lovecraft spezialiserte und zu den am besten redigierten "Fanzines" der vierziger Jahre zählte, lernt der Ich-Erzähler, wie Leiber selbst ein passionierter und spielstarker Schachspieler, im Sommer 1939, in der seltsam angespannten "Ruhe vor dem Sturm" in den Wochen vor dem Asbruch des Zweiten Weltkriegs, in einer Spielhalle auf Coney Island, das auch schon den verfallenden Charme eines abgetakelten Vergnügungsparks aufweist, den im Titel genannten Albert Moreland näher kennen, den er als Mitbewohner in seiner billigen Mietskaserne flüchtig wahrgenommen hat, der seinen Lebensunterhalt dadurch fristet, daß er gegen einen Dollar eine Partie gegen jeden herausfordernden Amateur bestreitet. Im Verlauf ihrer Bekanntschaft gesteht er, daß ihm dies fortwährend schwerer fällt. Jede Nacht wird er vom stets gleichbleibenden Albtraum heimgesucht: auf einer nachtschwarzen Ebene, außerhalb von Raum und Zeit gelegen, findet er sich vor einem gewaltigen Spielbrett; sein Gegner ist nur schemenhaft auszumachen, aber es ist klar, daß es sich nicht um ein menschliches Wesen handelt. Im Traum sind die Figuren - die wie die Staunton-Figuren des Schachs stilisierte Gestalten darstellen, die aber nichts Irdischem entsprechen - und die Spielzüge klar, auch wenn Moreland sie im Wachen kaum zu beschreiben vermag ("die mächtigen Spielfiguren schienen nach dem Vorbild von Lebewesen gestaltet; sie trugen stilisierte Waffen und Tiaras - ähnlich die der König, die Dame und der Läufer im Schach - während die Umrisse weite Umhänge andeutete. Aber sonst waren sie in ,keiner Hinsicht menschenähnlich. Morland suchte vergeblich nach irdischen Entsprechungen: indische Götterbilder, urzeitliche Echsen, futuristische Skulpturen, Kraken mit Dolchen in den Tentakeln, riesige Ameisen und Gottesanbeterinnenund andere Insekten mit fantastischen Greifzangen"). Moreland kann den Eindruck nicht abschütteln, daß nicht nur sein persönliches Schicksal, sondern auch das der Erde vom Spielausgang abhängt. ("'Und das geht jede Nacht so?' wollte ich wissen. 'Nacht für Nacht!' bestätigte er mit plötzlichem Nachdruck. Das geht jetzt schon länger als einen Monat so. Und meine Figuren habe ich gerade erstmal in Eröffnungsposition gebracht. Es kostet mich alle geistigenn Reserven. Ich wollte, daß das endlich aufhören würde. Mittlerweile habe ich Angst vor dem Einschlafen.'") Als er sich am letzten Abend vom Ich-Erzähler verabschiedet, hegt er eine verzweifelte Hoffnung, daß das mentale Drama - in dem beide eine Spiegelung der zermürbenden Wartezeit und des Wartens auf den bevorstehenden Kriegsausbruch sehen - bald an sein Ende kommt. ("Ich habe den Eindruck, daß mein Gegner einen Überraschungsangriff plant, obwohl er auf Verteidigung spielt."). Der Erzähler, der in der Nacht keinen Schlaf findet, hört, als er an Morelands Zimmertür vorbei kommt, ihn im Schlaf reden: "Mein Spinnenwesen schlägt deinen Waffenträger. Ich biete Schach." Am nächsten Morgen ergibt sich, daß Morelands Zug katastrophal für den Spielverlauf war; aus dem Match ist ein Albtraum geworden. Dem Erzähler gelingt es nr mit Mühe, ihn durch einen Zug um die Gemeinde, durch Restaurant- und Barbesuch, ihn soweit zu beruhigen, daß Morelands offenkundige Neurose ihn nicht überwältigt und er zumindest versuchen kann, einige Stunden Ruhe zu finden. Für den Fall, daß eine Krise eintreten sollte, läßt er seine Zimmertür unverschlosen. Als der Erzähler am nächsten Morgen nach dem Rechten schaut, ist Moreland spurlos verschwunden. Und statt dessen...

"Dann sah ich es. Und alles andere schien wie in einem Nebel zu verschwinden.


"Es lag auf dem zerwühlten Bettzeug, halb unter einer Falte in der Wolldecke versteckt - vielleicht zehn Zoll groß, so substantiell und so wirklich wie jede andere Statuette. Aber ich sah sofort, daß seine Form nichts auf dieser Erde entsprach. Man mußte kein Kunstepxerte sein, um das zu erkennen. Und im selben Augenblick wußte ich auch, daß das rote, violett gefleckte Material, aus dem es geschnitzt oder gegossen worden war, nicht unter den irdischen Mineralien oder Halbedelsteinen zu finden sein würde. Jede Einzelheit war da: der fünflappige Kopf, der fast unter der Kapuze verschwand. Die Greifzangen, jede mit vier Gelenken, die unter dem Umhang hervorsahen. Die achtzackige Waffe mit den Hebeln und Stellrädern und den kleinen Taschen, die aussahen, als würden sie Gift enthalten. Die Haltung deutete an, daß die Gestalt mit der Waffe zielen wollte. Das Ganze strahlte eine Stimmung von bösartiger, übernatürlicher Gewalt aus. Ohne Zweifel war dies das Ding, von dem Moreland geträumt hatte, das ihn entsetzt und fasziniert hatte - die zentrale Figur, auf den der Angriff seines Gegners zentriert war, und dessen Schlagen - und wie es aussah, war sie geschlagen worden - über Sieg oder Verlust der Partie entschied."


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Bei Leibers Apport handelt es sich um eine Hommage an den Autor, den er, zu Beginn seiner "Lehrlingszeit" als Autor, als seinen literarischen Meister und Mentor betrachtete: Howard Phillips Lovecraft (1890-1937), mit dem Leiber ein halbes Jahr vor dessen Tod an Magenkrebs im März 1937 auf Anregung seiner Frau Jonquil, die wie er von den Erzählungen um die "Großen Alten", von diesen Symbolisierungen des "kosmischen Schreckens, " begeistert war. In den wenigen, aber stets umfangreicheren Erzählungen, die Lovecraft in den 1930er Jahren noch schrieb, verlagerte sich die Ausmalung seiner dämonischen, zutiefst a-humanen Universums immer mehr aus der Beschwörung des reinen Schreckens hin zu einer "geheimen Geschichte" dieses Kosmos, dieses Universums. Auf ihre Weise sind die späten Texte wie "Der Schrecken aus der Zeit" oder "An den Bergen des Wahnsinns" vollwertige Science Fiction wie auch Beschwörungen des puren Grauens. In "The Dreams in the Witch-House," im Januar und Februar 1932 geschrieben und in der Juni-Ausgabe 1933 von Weird Tales erschienen, wird der Protagonist, der junge Walter Gilman, der an der Miskatonic-Universität Mathematik und Volkskunde durchaus studiert mit heißem Bemühn, zum Opfer seiner unglücklichen Herbergswahl: "Ob die Träume das Fieber brachten oder das Fieber die Träume, konnte Gilman nicht sagen." Es erweist sich, daß die erste Bewohnerin der alten, verwinkelten Kaschemme, Keziah Mason, während der Hexenprozesse in Salem im Jahr 1692 angeklagt worden war, aber vor der Eröffnung des Prozesses spurlos aus ihrer Zelle verschwand. Sie und ihr rattenhaftes Gefolgstier, ihr Hexenüberwachungsdämon, Brown Jenkin, mit seinen wie Menschenhände anmutenden Pfoten, erscheinen in den Fieberträumen, die Gilman heimsuchen und lähmen. Hilflos entführen sie ihn durch Raum und Zeit, auf jenen Pfaden, die dem Duo infernale die Flucht durch die Überwindung der Grenzen von Raum und Zeit ermöglicht haben. Nicht nur in das hermetische Dachgeschoß über Gilmans Zimmer, das den beiden seither als Refugium dient, sondern auch auf ferne Welten.

"Als Gilman in jeder Nacht schlief, brach das violette Licht noch stärker über ihn herein, und die alte Hexe und das kleine pelzige Wesen kamen ihm näher als je zuvor und setzten ihm mit unmenshclichen Schreien und teuflischen Gesten zu. Er war froh, als er der in die leise dröhnenden Dämmertiefen sank, obwohl die Verfolgung der schimmernden Blasenkomplexe and des blitzenden Polyeders seinen Nerven zusetzte. Dann setzte der Sprung ein und über und unter ihm erschienen ausgedehnte Flächen aus einer glaten, glitschig wirkenden Substanz - ein Sprung, der in einem aufblitzenden Delir endete und in einer Flut aus unirdischem Licht, in dem sich Gelb, tiefes Rot und Blau in irrsinniger Weise vermischten.


"Er lag halb hoch oben auf einer Terrasse mit einer Brüstung, die von fantastisch geformten Säulchen stand, über einem endlosen Dschungel unglaublicher Berggipfel, Domen, Minaretten, wagerechten Scheiben, die auf Pfeilern ruhten, und zahllosen noch wilderen Formen - aus Stein und aus Metall - die berauschend im blenden, fast heißen Licht blitzen, das von einem Himmel in zahlreichen Faren strahlte. Als er auflickte, sah er drei gewaltige flammende Scheiben, jede in einer anderen Farbe und in anderer Höhe über den fernen, flachen Bergen, am leicht gebogenen Horizont schweben.


"Das Pflaster, von dem er jetzt ohne Mühe aufstand, bestand aus einem geäderten, polierten Stein, den er nicht bestimmen konnte; die Fliesen wiesen Formen auf, die ihm nicht so sehr asymetrisch schienen, sondern einer seltsamen unbekannten Geomtrie zu gehochen schienen, deren Gesetzmäßigkieten sich ihm nicht erschlossen. Die Balustrade was brusthoch, and zeigte phantastische Formen, während sich an der Brüstung in regelmäßigen Abständen kleine Figuren von groteskem Aussehen und beeindruckender Kunstfertigkeit zeigten. Sie die Brüstung selbst schienen sie aus einem leuchtenden Metall zu bestehen, deren Farbe im LIchterchaos nicht auszumachen war, und deren Natur jeder Vermutung spottete. Sie stellten eingekerbte, tonnenförmige Objekte dar, mit waagrechten Armen, die wie Speichen von einem zentralen Ring abstanden und mit mit Tropfen oder Blasen, die aus Ober- und Unterseite der Tonne ragten. Von diesen Blasen gingen fünf lange, flache Arme aus mit dreieckigem Querschnitt wie die Arme eine Seesterns: waagrecht, aber mit eichter Krümmung. Die unteren Blasen verschmolzen mit einer derart schmalen Basis mit der eigentlchen Brüstung, daß einige der Tonnen abgebrochen waren und fehlten. Das Ganze war gut viereinhalb Zoll hoch; der größte Durchmesser des Rings dieser spitzen Arme betrug etwa zweieinhalb Zoll.


"Als sich Gilman aufrichtete, fühlten sich die Fliesen unter seinen Füßen heiß an. Er war völlig allein, und als erstes Trat er an die Balustrade und betrachtete die endlose, zyklopiche Stadt an, die beinahe zweitausend Fuß unter ihm lag. Während er horchte, glaubte er eine leises, fernes Pfeifen auszumachen, das auf den engen Straßen unter ihm aufstieg und in ihm den Wunsch weckte, die Bewohner dieser Welt zu Gesicht zu bekommen. Nach kurzer Zeit wurde ihm von dem Anblick schwindlig, so daß er fast auf das Pflaster gestürzt wäre, wenn er sich sich nicht instinktiv and der Balustrade festgehalten hätte. Seine rechte Hand schloß sich um deiner der vorstehenden Figuren; die Berührung schien ihm wieder Halt zu verleihen. Aber es war zuviel für die filigrane Metallarbeit, und die stachelige Figur bach unter seinem Griff ab. Immer noch halb benommen, hielt er sie weiter fest, während er mit der anderen Hand nach einer leeren Stelle auf der Brüstung tastete."


Der Anblick der pfeifenden Prozession, die aus den lebenden Vorbildern der Geländer-Karyatiden besteht, läßt Gilmans Traumsinne schwinden, und er findet sich beim Erwachen in seinem irdischen Pfühl wieder. Nachdem er den Tag mit ruheloser Wanderung zugebracht hat, um seine Nerven zu beruhigen, kehrt er am Abend in seine spartanische Dachkammer zurück.

"Um neun Uhr abends machte er sich auf den Heimweg und betrat das alte Haus wieder. Joe Mazurewicz jammerte unverständliche Gebete, und Gilman beeilte sich, in seine Dachkammer zu kommen und schaute nicht nach, ob Elwood zuhause war. Der Schock kam, als er die schwache Glühbirne einschaltete. Mit dem ersten Blick erfaßte er, daß auf dem Tisch etwas lag, das dort nicht hingehörte, und ein zweiter Blick beseitigte alle Zweifel. Dort lag - denn stehen konnte sie nicht mehr - die seltsame stachelige Figur, die er in seinem monströsen Traum von der Brüstung abgebrochen hatte. Keine Einzelheit fehlte. Die eingekerbte, tonnenförmige Mitte, die dünnen abstehenden Arme, die Blasen an beiden Enden, und die flachen Seestern-Arme, die von diesen Kugeln ausgingen: alles war da. Im Licht der Glübirne schien die Farbe eine changierendes Grau, mit einem Einschuss von grün, zu sein, und zu seinem Schrecken sah Gilman, daß eine der Blasen in einer Bruchkante endete, dort wo sie in seinem Traum an der Brüstung befestigt gewesen war.


"Nur das lähmende Erstaunen, das ihn erfaßte, hinderte ihn daran, laut aufzuschreien. Diese Verschmelzung von Traum und Wirklichkeit, war mehr, als er ertragen konnte. Immer noch benommen, nahm er das stachelige Ding und stolperte die Treppe hinunter zur Wohnung der Vermierts Dombrowski. ... Der Vermieter war dahin und begrüßte ihn fröhlich. Nein, er hatte dieses Ding noch nie gesehen und konnte nichts dazu sagen. Aber sein Frau hätte gesagt, daß sie im Bettzeug etwas Merkwürdiges gefunden hätte, als sie mittag die Zimmer putzte - vielleicht meinte sie das hier? Dombrowski rief nach ihr, und sie kam herbeigewatschelt. Ja, das war das Ding. Sie hatte es im Bett des jungen Herrn gefunden - gleich an der Wand. Es war ihr merkwürdig vorgekommen, aber natürlich hätte der junge Herr lauter seltsame Sachen in seinem Zimmmer - Bücher und Nippes und Bilder und beschriebenes Papier. Nein, sie könnte dazu bestimmt nichts Genaueres sagen.


"In großer Verwirrung stieg Gilman wieder die Treppe hinauf, überzeugt, daß er entweder immer noch träumte oder daß sein Schlafwandeln edes Maß sprengte und ihn gottweißwohin geführt hatte. Woher hatte er dieses bizarre Ding? Er konnte sich nicht daran erinnern, es in irgendeinem Museum in Arkham gesehen zu haben. Aber er mußte es irgendwo gesehen haben, und die Erinnerung, als er es im Schlaf an sich nahm, mußte den merkwürdigen Traum von der Terasse ausgelöst haben."


In "The Curse of the Smalls and the Stars" (1983), einer der letzten Erzählungen um Fafhrd und den Grauen Mausling, hat Leiber eine weitere Referenz an diese "Astralreise"-Passage aus den "Träumen im Hexenhaus" versteckt. Gilman wird nach einem seiner Ausflüge in die Sternenwelt den ganzen folgenden Tag über magisch von einem bestimmten Fleck angezogen, der sich unter der Erde zu befinden scheint und zu dem er sich begeben muß. Im Lauf des Tages wandert dieser Fleck, liegt tiefer und steigt dann wieder höher zum Hoizont hinauf, während er mit der einsetzenden Abenddämmerung in den Himmel zeigt: es bezeichnet den Stern, an den ihn sein "Traum" geführt hat. Das gleiche wiederfährt dem Grauen Mausling in Leibers Geschichte. (Als kleine Anmerkung sei erwähnt, daß viele Planetariumsprogramme, mit denen man sich auf dem Rechner oder dem Mobiltelefon den aktuellen Sternenhimmel anzeigen lassen kann, über eine Funktion verfügen, die den üblicherweise dargestellten Erdboden und Horizont "transparent" machen; das ist recht nützlich, um etwa in Kürze über dem Horizont aufgehende Sterne oder Planeten ausmachen zu können.)

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Um auf Borges' kleinen Essay zurückzukommen: sein zeitlich rezentestes Beispiel der Blume, die aus der Irrealität, dem Nie- oder Nichtsgewesenen hergebracht für die Wahrheit dessen bürgt,was der Überbringer zu berichten weiß, ist "Die Zeitmaschine" von H. G. Wels (1866-1946), 1895 zuerst in seiner abgeschlossenen Form erschienen. Wells' kurzer Roman wird gerahmt von zwei (augenscheinlich) genuinen, nicht anders als durch temporale Ausflüge zu erklärenden Episoden: zu Beginn führt der namenslose Zeitreisende ("for so it will be convenient to call him") den im Rauchsalon vesammelten fünf Zuhörern das kleine Arbeitsmodell seiner Zeitmaschine vor, platziert seinen Zigarrenstumpen auf den Sitz und läßt beides nach Anwerfen des Antriebs verschwinden. (Diese "kleine Zeitmaschine" spielt bei Wells im wieteren Verlauf der Erzählung keine Rolle mehr. In Egon Friedells Fortsetzung "Die Reise mit der Zeitmaschine", 1946 postum erschienen, ist sie das entscheidende Hilfswerkzeug, das dem Nachahmer des Zeitreisenden den rettenden Ausstieg aus dem Teufelskreis der Zeitsprünge ermöglicht.) Die Zeitmaschine selbst wird am ersten Abend dem staunenden Cenacle nur in Ruhe vorgeführt; auch beim zweiten Abend, als der Zeitreisende nach seiner Rückkehr den Freunden den Schreckensbericht über die Zustände des Jahrs 802701 mitteilt, haben wir nur sein Wort für die Wahrheit seiner Erlebnisse. (Manche Philologen haben die These aufgestellt, es handele sich überhaupt nur um eine Münchhausiade, mit der der "Zeitreisende" sein Zuspätkommen zum zweiten Treffen aufhübschen wollte, weil er mit dem Fahrrad eine Bruchlandung erlitten habe.) Und anschließend verschwindet er - mitsamt seiner Apparatur - erneut, um nie wieder aufzutauchen. "Vielleicht," mutmaßt Wells' Ich-Erzähler (hinter dem man getrost Wells selbst vermuten darf) "spaziert er gerade jetzt - wenn ich es einmal so ausdrücken darf - über ein oolithisches Korallenriff, vor dem die Ichthyosaurier tauchen, oder die toten Salzseen der Trias. Oder ist er wieder in die Zukunft gereist, nicht ganz so weit, in eine Zeit, inder es noch Menschen gibt, aber wo die Rätsel unserer Zeit ihre Antwort gefunden haben und ihre Probleme gelöst sind?" Einzig die Blumen, die er für Weena gepflückt hat, in dem kleinen Waldstück, das die Morlocks aus Rache über seine Rettungsaktion und die Befreiung der Eloi, die als Mittagsmahl gedacht waren, angezündet haben, und dessen Brand seine Flucht aus dem achthundertdritten Jahrtausend ausgelöst hat, bleiben als stumme Zeugen zurück: ein kleiner Strauß weißer Blüten, deren Blütenblätter und Staubgefäße keiner irdischen Art entsprechen und deren Atome heute noch über alle Welt verstreut sind und sich erst in Jahrhunderttausenden zu Saatkorn, Keimling und Blume vereinigen werden.

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Wells' Zukunftswelt ist alles andere als ein Paradies, obwohl sie dem Zeitreisenden, als er nach seinem rasanten Sturz durch die Jahrtausende am Fuß der Sphinx in einem Wolkenbruch dort aufschlägt, zunächst als solches erscheint. Tatsächlich ist sein Aufenthalt dort durch fortwährende Erkenntnisstürze und Desillusionen gekennzeichnet: weder ist die Gartenlandschaft ohne Mauern und Zäune, die das verschmutzte und elende London seiner Gegenwart ersetzt hat, ein Produkt der Menschheitserlösung Sozialismus (wie er, und später auch sein Erdenker, das gehofft hatten), noch sind die elfenhaften Eloi die aufgeklärten Nutznießer von Äonen des Fortschritts: nicht nur sind sie allen Verstandes und aller Tradition verlustig gegangen: sie dienen als Nahrung der vertierten Morlocks, die die unterirdische Maschinerie, die diesen im Wortsinn Menschenzoo am Laufen hält, aus reinem in Fleisch und Blut übergegangenen Instinkt warten, mit nicht mehr Verstand als staatenbildende Insekten.

Die Verbindung zu einer tasächlichen Paradiesvision findet sich bei Borges' zweitem Zeugen, Samuel Taylor Coleridge (1872-1834). In dessen Notizbüchern, aus dem Nachlass von seinem Sohn Ernest Hartley Coleridge herausgegeben und im gleichen Jahr wie "The Time Machine" by William Heinemann in London erschienen, findet sich auf Seite 238 das Aperçu:

"If a man could pass through Paradise in a dream, and have a flower presented to him as a pledge that his soul had really been there, and if he found a flower in that hand as he woke - Aye! and what then?"


"Wenn jemand im Traum durch das Paradies wandern würde, und eine Blume zum Zeichen dafür überreicht bekäme, daß seine Seele wirklich dort war, und wenn er nach dem Erwachen eine Blume in seiner Hand fände - was wäre daraus zu schließen?"


Borges setzt hinzu: "Wells kannte den Text von Coleridge wahrscheinlich nicht," was Eliot Weinberger in seiner Auswahlausgabe von Borges' Essays ("Selected Non-Fiction", New York: Viking Press, 1999) zu der kritischen Anmerkung veranlaßt: "This is either an error or a joke: Coleridge's lines are the epigraph to The Time Machine." (S. 538). Auch wenn es auf Erbsenzählerei hinausläuft, so sei doch darauf hingewiesen, daß Professor Weinberg irrt: Coleridges Passus findet sich weder im Vor- noch im Abspann von Wells' Text; schon gar nicht dem Vorabdruck und der ersten Buchpublikation von 1895.

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Was aber bislang keinem Philologen aufgefallen zu sein scheint - auch keinem Spezialisten für die englische Romantik (zu der man gewöhnlich Coleridge zählt), auch nicht John Livingston Lowes, dessen Auswertung der Tagebücher Coleridges aus den Jahren 1795 bis 1798 ihn in seinem immer noch atemverschlagenden Werk The Road to Xanadu von 1929 erlaubte, anhand der penibel verzeichneten Bücher, die Coleridge in diesem Jahren wie ein Verzeifelnder, wie ein Beserker durchlas und exzerpierte, bis in die kleinsten Vereinzelungen nachzuweisen, welche Passagen, Ideen, Einfälle in den Steinbruch eingingen, aus denen Coleridge den Stoff und die Motive für sein dramatisches Großgedicht "The Rime of the Ancient Mariner" schöpfte - was also niemandem aufgefallen zu sein scheint, ist, daß Coleridges Notiz keineswegs einen originellen Einfall wiedergibt, so knapp und bündig und in seiner Art vollkommen er auch anmutet. (Borges: "Wie mein Leser über diesen Einfall denkt kann ich nicht beurteilen. Ich jedenfalls halte ihn für vollkommen. Ihn als Sprungbrett für weitere glückliche Einfälle zu nutzen, erscheint aufs Erste unmöglich. Er hat die Unversehrbarkeit und Geschlossenheit eines 'terminus ad quem', einer Zielmarke.")

Tatsächlich handelt es sich nicht etwa um eine Paraphrase, sondern um eine fast wörtliche Wiedergabe, respektive Übersetzung, von ein paar Zeilen, die sich im Werk eines anderen Autors finden, dessen Echo man in der englischen Literatur um 1800 am wenigsten erwartet hätte. Coleridge las freilich fließend deutsch und war mit der Literatur seiner Zeit vortrefflich vertraut; die Lektüre von Bürger und Schiller im Original hat Spuren in seiner Korrespondenz hinterlassen. Und der deutsche "Erfolgsroman" des Jahres 1795, der den Namen seines bis dahin fast unbekannten Verfassers auf die literarische Landkarte des damaligen Deutschlands setzte, war "Hesperus, oder 45 Hundsposttage" - das einzige Buch Jean Pauls (1763-1825), dem ein wirklicher Publikumserfolg beschieden war. Der echt umfangreiche Roman, zu Anfang des Sommers 1795 in drei Bänden ("Heftlein") bei Karl Matzdorffs Buchhandlung in Berlin erschienen und für die dritte Auflage in vier Heftlein von 1798 überarbeitet, enthält zwar, wenn man die Handlung der gut 800 Seiten bündig zusammenfaßt, sogar so etwas wie einen politischen Bildungs- und Geheimbundroman, aber wie in anderen Großprojekten auf dem Gebiet des barocken Wortlabyrinths (etwa Arno Schmidts "Zettels Traum", James Joyces "Ulysses" oder Musil "Mann ohne Eigenschaften") geht dieser Plan über dem Niagarafall der Einfälle, Disgressionen, Sprachkobolzereien und eingeschobenen Assoziationskaskaden des öfteren völlig verloren. Die Rahmenhandlung, daß "Jean Paul", der Hauptprotagonist, damit beschäftigt ist, diese 45 Briefsendungen, die ihm sein Pudel auf seine einsame Flußinsel bringt, zu kopieren, tut ein Übriges dazu bei. Was den Erfolg des Buches bei der lesenden Damenwelt begründete, waren die zahllosen hymnischen Naturpassagen, das Parlando des Stils, durchschossen von den für Jean Paul so charakteristischen skurrilen Assoziationen, die Girlanden des Vom-Hundersten-ins-Tausendste-Kommen, gegen die die berüchtigten Abschweifungen in Sternes "Tristram Shandy" eine leichte Fingerübung sind.

Und im 30. Kapitel, Verzeihung, Hundsposttag, zu Beginn des dritten Heftlein, mit dem Titel "Briefe" (die "Vorrede zum dritten Heftlein" folgt übrigens erst nach den ersten drei Kapiteln), schreibt nun Viktor an seine Geliebte Klotilde:

"O wenn ein Erdenmensch in einem Traum durch das Elysium gegangen, wenn große unbekannte Blumen über ihm zusammengeschlagen wären, wenn ein Seliger ihm eine von diesen Blumen gereicht hätte mit den Worten: 'Diese erinnere dich, wenn du erwachst, daß du nicht geträumt!' wie oft würde er schmachten nach dem elysischen Lande, sooft er die Blume ansähe. - Unvergeßliche! Sie haben in der Schimmernacht, wo mein Herz zweimal erlag, aber nur einmal vor Schmerz, einem Menschen ein Eden gegeben, das hinausreicht über sein Leben; aber mir war bisher, als würd ich wacher aus der zurückgehenden Traumnacht - Siehe! da behielt ich aus dem paradiesischen Traum eine Blume, die Sie mir gelassen haben, damit ich unausprechlich glücklich bliebe - und meine Sehnsucht so groß würde wie meine Seligkeit."
U.E.

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