28. Februar 2007

Was wird aus der SPD?

Von elf SPD-Mitgliedern im Ausschuß für Gesundheit des Bundestags haben ganze vier für das jetzt verabschiedete Gesetz zur Gesundheitsreform gestimmt. Fünf haben dagegen gestimmt, zwei sich enthalten. Die Fraktion läuft aus dem Ruder.

Die Hamburger SPD ist gerade dabei, den Ruf Hamburgs als einer Stadt seriöser Kaufleute zu zerstören.

Kindergartenspiele, anders kann man das wohl nicht nennen, was diese Partei dort veranstaltet.

Die Partei, die einmal fast mit Hamburg identisch gewesen war - mit ihren großen Bürgermeistern Max Brauer, Paul Nevermann, Herbert Weichmann, Hans-Ulrich Klose, Klaus von Dohnanyi, Henning Voscherau - führt sich auf wie eine Selbsterfahrungsgruppe aus ausgeflippten Hanse- Stadtneurotikern.

In der Hauptstadt Hessens, das zur Zeit von Georg August Zinn, zur Zeit des großen Fritz Bauer, das Bundesland großzügiger Liberalität gewesen war, hat die SPD eine Groteske veranstaltet, als wolle sie Wiesbaden endlich zu einer der Karnevals- Hochburgen machen, als Sieg über den Konkurrenten Mainz. Gelebte Realsatire.

Zufall? Ja, das kann man ja nicht ausschließen. Pech und Pannen, shit happens.

Nur könnte es auch symptomatisch sein.



Als ich Ende der sechziger Jahre in die SPD eintrat, war das eine Arbeiterpartei. Ich habe in den Ortsvereinen, in denen ich aktiv war, wirkliche Sozialdemokraten erlebt- ehrliche, selbstlose, durch und durch demokratisch gesonnene Menschen. Es war eine schöne Zeit, in der ich viel politisch gelernt habe.

Ungefähr 1970 habe ich für die Zeitung unseres Ortsvereins einen fast neunzigjährigen Genossen interviewt, der es noch erlebt hatte, wie die Polizei des Kaisers Wilhelm II in jeder SPD-Versammlung die Aufpasser stellte.

Ich habe in diesem Ruhrgebiets- SPD- Ortsverein viele solche beeindruckende Menschen kennengelernt - "Zeitzeugen" des Kampfs für den demokratischen Rechtsstaat.

Die SPD ist ja einmal die Partei des Fortschritts gewesen, der Demokratie. Die Partei, die dem Ermächtigungsgesetz die Zustimmung verweigert hatte. Die Partei Kurt Schumachers dann, und des großen Intellektuellen Carlo Schmid.



Die Partei, aus der ich dann ausgetreten bin, als Lafontaine putschte, war nicht mehr diese SPD. Sie war eine Partei von Lehrern, Sozialarbeitern, Angehörigen des Öffentlichen Dienstes, Karriersten aller Art geworden. Arbeiter gab es kaum noch in den Ortsvereinsvorständen. Allenfalls als Kassierer, weil das Arbeit machte. Ansonsten hatten die 68er die Partei erobert.

Nun sind sie alt geworden, die 68er. Sie haben aus einer liberalen, weltoffenen Partei, aus der Partei Ernst Reuters und Fritz Bauers, eine öde Funktionärspartei gemacht. Sie haben die SPD ruiniert.

Und wer ist jetzt die SPD, nachdem die 68er abtreten? Ich weiß es nicht; ich habe ja zu dieser Partei seit langem keine Verbindung mehr.

Offenbar aber sind es Schussel, die keinen Termin einhalten können; undiszplinierte Parlamentarier, die gegen ihre Partei stimmen; Infantile, die Urnen klauen.



Nein, zu dieser heruntergekommenen Partei habe ich keine Beziehung mehr. Ihr Schicksal könnte mir egal sein.

Nur ist sie ja die einzige demokratische Alternative zur demokratischen Rechten.

Und in dem heruntergewirtschafteten Zustand, in dem sie sich jetzt befindet, traue ich ihr alles zu. Auch eine Koalition mit den Kommunisten.

Grund also zur Sorge.

27. Februar 2007

Randbemerkung: Die PDS und der Gruß eines Terroristen

Meldungen brauchen manchmal lange, bis sie das Interesse finden, das sie verdienen.

Zum Beispiel eine Grußbotschaft, mit der sich Christian Klar an die Teilnehmer einer "Rosa- Luxemburg- Konferenz" wandte. Diese Grußadresse wurde am 15. Januar in der "Jungen Welt" im Wortlaut veröffentlicht. Vor knapp sechs Wochen also. Erst jetzt findet sie Beachtung.

Klar schreibt unter anderem:
Aber wie sieht das in Europa aus? Von hier aus rollt weiter dieses imperiale Bündnis, das sich ermächtigt, jedes Land der Erde, das sich seiner Zurichtung für die aktuelle Neuverteilung der Profite widersetzt, aus dem Himmel herab zu züchtigen (...) Trotzdem gilt hier ebenso: "Das geht anders". Wo sollte sonst die Kraft zu kämpfen herkommen? Die spezielle Sache dürfte sein, daß die in Europa ökonomisch gerade abstürzenden großen Gesellschaftsbereiche den chauvinistischen "Rettern" entrissen werden. Sonst wird es nicht möglich sein, die Niederlage der Pläne des Kapitals zu vollenden und die Tür für eine andere Zukunft aufzumachen.
In den gestrigen Zeitungen wurde das hauptsächlich unter dem Gesichtspunkt kommentiert, daß Klar nicht eben die Reue erkennen läßt, die vielleicht doch eine Voraussetzung für eine Begnadigung sein sollte. Klar rede sich um Kopf und Kragen, schrieb zum Beispiel Welt-Online.



Mir erscheint dieser Aspekt uninteressant. Daß Klar weiter seinen Wahnideen anhängt, ist ja bekannt; siehe in diesem Blog zum Beispiel hier und hier. Es gab und gibt keinen Hinweis darauf, daß er sich geändert hat.

Viel interessanter finde ich, daß er eine Grußadresse an diese Konferenz richten konnte. Eine Grußadresse, die offenbar ja keineswegs zurückgewiesen, sondern im Gegenteil sogar in der "Jungen Welt" im Wortlaut veröffentlicht wurde.



Was hat es mit dieser Rosa-Luxemburg-Konferenz auf sich? Ist es vielleicht eine Konferenz, in der man die Freiheit der Andersdenkenden diskutiert hat?

Nein. Diese Konferenz findet seit 1996 jährlich statt, veranstaltet von der "Jungen Welt" und anderen Organisationen wie Cuba Sí; und zentral sind die "Suche nach Wegen, die mörderische neoliberale Entwicklung zu durchbrechen, der Wille, den Kapitalismus zu überwinden und die Einsicht in die Notwendigkeit einer sozialistischen Perspektive."

Mit anderen Worten, da treffen sich militante Kommunisten.



Hier, der "Jungen Welt" entnommen, die Liste der diesjähirgen Referentinnen und Referenten:
*Mumia Abu Jamal, politischer Gefangener (USA)

*Francisco Brown Infante, Direktor am Institut für Europäische Studien (Havanna / Cuba)

*Robert R. Bryan, Rechtsanwalt (San Francisco / USA)

*Prof. Peter Grottian, Freie Universität Berlin

*Ernest Kaltenegger, Fraktionsvorsitzender der KPÖ im Steiermärkischen Landtag (Österreich)

*Gesine Lötzsch, stellvertretende Fraktionsvorsitzende Die Linke.PDS, MdB

*Arnaldo Otegi,Sprecher der derzeit verbotenen Partei Batasuna (Baskenland)

*Leo Mayer, Sekretariat Parteivorstand DKP, ehem. stellv. BRV Siemens

*Dr. Alberto Moreira, Befreiungstheologe (Universität Goiania / Brasilien)

*Andrea Schuhmann, Antifaschistische Linke Berlin (ALB)

*Klaus Steiniger, Chefredakteur Rotfuchs

*Feng Yuan, Journalistin (Peking / China)
Eine interessante Referentenliste.

Der erste Referent, Mumia Abul Jamal, sitzt im Hochsicherheitsgefängnis State Correctional Institution Greene im US-Bundesstaat Pennsylvania. Er wurde keineswegs aus politischen Gründen verurteilt, sondern wegen Mordes an dem Polizisten Daniel Faulkner. Ein seltsamer Referent auf einer Konferenz. Wie mag er nach Berlin gekommen sein?

Als zweiter Referent wird Francisco Brown Infante genannt, ein cubanischer Spezialist für den Zusammenbruch des Kommunismus in der UdSSR und Osteuropa.

Arnaldo Otegi ist ein Angehöriger der ETA, der wegen Verherrlichung des Terrorismus zu 15 Monaten Gefängnis verurteilt wurde.

Weiter gehören zu den Referenten unter anderem ein österreichischer Kommunist, ein Mann aus dem Parteivorstand der DKP (ja, die gibt's noch!), eine chinesische Journalistin - und Gesine Lötzsch, stellvertretende Vorsitzende der Franktion "Die Linke.PDS" im Bundestag.



Ich wundere mich immer wieder über die Naivität derer, die der PDS abnehmen, "in der Demokratie angekommen" zu sein.

Wenn ein demokratischer Rechter sich in einer Konferenz mit einer Ansammlung lupenreiner Nazis zusammentun würde, wäre das sein politisches Ende.

Gesine Lötzsch, stellvertretende Frationsvorsitzende der PDS im Bundestag, kann sich hingegen mit einem amerikanischen verurteilten Mörder, mit einem Funktionär der cubanischen Diktatur, mit Kommunisten aus Deutschland und Österreich, mit einem verurteilten Verherrlicher des Terrorismus in einer Konferenz zusammenfinden - und kein Hahn kräht danach. Ihre Partei ruft sie nicht zur Ordnung; ganz zu schweigen von dem Parteiausschluß, der jeden Demokraten treffen würde, der sich mit ähnlich militanten Rechtsextremisten gemeinsam auf einer Konferenz sehen ließe.



Nun also, nach fast sechs Wochen, gibt es ein Medienecho auf Christian Klars "Grußadresse".

Aber nicht auf den Umstand, daß an einer solchen Konferenz eine hochrangige Bundespolitikerin der PDS teilgenommen hat, immerhin einer Regierungspartei im Land Berlin. Nicht deshalb wird jetzt verspätet über diese Konferenz berichtet.

Sondern weil man sich darüber wundert, daß Christian Klar noch immer Kommunist ist, und er das auch bekundet hat.

26. Februar 2007

Oscar für "Das Leben der Anderen"

Das freut mich aber: Ein Film, der mich in diesem Blog dreimal beschäftigt hat - nachdem ich ihn das erste Mal gesehen hatte, nachdem ich ihn das zweite Mal gesehen hatte, und das dritte Mal, als ich eine ausgezeichnete Kritik in der "New York Times gelesen hatte - also, der hat den Oscar für den besten fremdsprachlichen Film bekommen.

Ist das nicht schön? Dafür, das in Realzeit zu erleben, bin ich bis halb fünf aufgeblieben. ;-)



Sie haben's verdient, den Oscar zu bekommen. Florian Henckel von Donnersmarck. Der unglaublich gute Ulrich Mühe. Alle, die diesen sorgfältigen, glaubhaften, kunstvollen, ehrlichen und spannenden Film gemacht haben.

Glückwunsch!

"... die Ziele der RAF nach wie vor für richtig"

Ich war wohl etwas naiv gewesen, als ich damit rechnete, daß die Medien mit einer politisch motivierten Massenmörderin so verfahren würden wie mit, sagen wir, Politikern der NPD: Sie ignorieren, sie nicht zu Interviews und Talkshows einladen. Weil es nicht zu verantworten ist, solchen Menschen, solchen politischen Einstellungen auch noch eine Plattform in der Öffentlichkeit zu geben.

Aber es scheint, daß die Mörderin Brigitte Mohnhaupt unseren Medien als präsentabler gilt als der NPD-Vorsitzende Voigt; dieser ein Dummkopf, aber ja kein Verbrecher. Brigitte Mohnhaupt eine Verbrecherin von ungewöhnlicher krimineller Energie. Ohne Reue, soweit erkennbar, soweit geäußert.
Die Ex-Terroristin Brigitte Mohnhaupt, die nach 24 Jahren Haft voraussichtlich am 27. März auf Bewährung freikommt, ist äußerst gefragt. Ihr Anwalt Franz Schwinghammer sagte dem "Tagesspiegel" laut Vorabbericht: "Bei mir stapeln sich um die 100 Anfragen von Medien aus dem In- und Ausland."
So ist es in Welt-Online zu lesen.

Und im gleichen Artikel erfährt man etwas darüber, wie der Terrorist Dellwo (nein, kein Ex-Terrorist - es gibt ja auch keine Ex-Mörder und Ex-Opfer) seine kriminelle Vergangenheit sieht:
"Da sind dann einfach Sachen passiert, was wir als revolutionären Kampf bezeichnet haben, von denen ich sagen würde im Nachhinein, da ist vieles schlicht und einfach nicht legitim gewesen"
Also, man hat offenbar nicht immer richtig gemordet, so wie es eigentlich hätte sein sollen. Denn, heißt es weiter in dem Artikel:
Dellwo bekräftigte, er halte die damaligen Ziele der RAF nach wie vor für richtig.


Welches waren diese Ziele? Man kann das nachlesen. Zum Beispiel hier:
Wir behaupten, daß die Organisierung von bewaffneten Widerstandsgruppen zu diesem Zeitpunkt in der Bundesrepublik und Westberlin richtig ist, möglich ist, gerechtfertigt ist. Daß es richtig, möglich und gerechtfertigt ist, hier und jetzt Stadtguerilla zu machen. Daß der bewaffnete Kampf als "die höchste Form des Marxismus-Leninismus" (Mao) jetzt begonnen werden kann und muß, daß es ohne das keinen antiimperialistischen Kampf in den Metropolen gibt. (...)

Eine Führungsrolle der Marxisten-Leninisten in zukünftigen Klassenkämpfen wird es nicht geben, wenn die Avantgarde selbst nicht das Rote Banner des Proletarischen Internationalismus hochhält und wenn die Avantgarde selbst die Frage nicht beantwortet, wie die Diktatur des Proletariats zu errichten sein wird, wie die politische Macht des Proletariats zu erlangen, wie die Macht der Bourgeoisie zu brechen ist, und durch keine Praxis darauf vorbereitet ist, sie zu beantworten. Die Klassenanalyse, die wir brauchen, ist nicht zu machen ohne revolutionäre Praxis, ohne revolutionäre Initiative. (...)

Wir sagen: Die politischen Möglichkeiten werden solange nicht wirklich ausgenutzt werden können, solange das Ziel, der bewaffnete Kampf, nicht als das Ziel der Politisierung zu erkennen ist (...)
Dies sind Zitate aus dem programmatischen Text der RAF "Das Konzept Stadtguerrilla". Das waren die Ziele, die Karlheinz Dellwo "nach wie vor für richtig" hält.



Mir scheint, daß viele, die das damals nicht miterlebt haben und/oder die die Absichten dieser Leute nicht ihren Texten entnommen haben, noch immer romantische Vorstellungen vom Terrorismus der siebziger Jahre haben.

Diese Leute wollten einen Bürgerkrieg entfachen. Sie haben die hundertausende Tote gewollt, die es ja unweigerlich gegeben hätte, wenn sie ihren "bewaffneten Kampf", also einen deutschen Bürgerkrieg zwischen einer kommunistischen Roten Armee und der regulären Polizei und Armee, hätten Wirklichkeit werden lassen können.

Sie waren nicht nur einfache Massenmörder, sondern sie waren Politverbrecher, die sozusagen das Glück hatten, die Massenverbrechen nicht realisieren zu können, die sie sich ausmalten. Sie wollten Verhältnisse herbeiführen, wie sie im Krieg zwischen den Roten und den Weißen in Rußland, wie sie im Spanischen Bürgerkrieg herrschten. Sie wollten Deutschland in ein Blutbad stürzen.

Das war keine "Spaßguerilla"; das waren keine "irregeleiteten Idealisten". Es waren Leute in der Tradition Lenins, der SS, von Mao.



Wenn man ihnen jetzt in den Medien Gelegenheit gibt, sich zu erklären, sich zu rechtfertigen - warum hat man denn den KZ-Mördern, den SS-Schergen diese Gelegenheit nicht gegeben? Historisches Interesse hätte ja auch damals bestanden.

25. Februar 2007

Schurkenstaaten, amerikanische Raketen, russische Interessen

Was veranlaßt Putin und Iwanow, so massiv gegen das von den USA geplante Raketenabwehrsystem NMD (National Missile Defense) anzugehen, daß nun schon der deutsche Außenminister Wirkung zeigt und pflichtschuldig die USA kritisiert? Ist diese Raketenabwehr gegen Rußland gerichtet? Offensichtlich nicht.

Erstens, weil - so ist es heute in Welt-Online zu lesen - der Radar in Richtung Iran und Nordkorea ausgerichtet sein wird. Nun gut, das könnte man vermutlich gegebenenfalls leicht ändern.

Zweitens aber, weil gegen von russischem Boden auf Polen oder Tschechien abgefeuerte Mittelstreckenraketen die Vorwarnzeit zu kurz wäre. Und drittens, weil nur 10 Abfangraketen in Stellung gebracht werden sollen. Genug, um einer Bedrohung aus den Schurkenstaaten Iran und Nordkorea zu begegnen. Eine nachgerade lächerliche Abwehr gegen die hunderte von Mittelstreckenraketen, die Rußland im Arsenal hat.



Warum also die harsche Reaktion aus Moskau? Welche russischen Interessen sehen Putin und Iwanow gefährdet? Vor zwei Wochen habe ich auf einen Artikel des damaligen russischen Verteidigungs- Ministers Sergej Iwanow hingewiesen, der inzwischen zum stellvertretenden Premierminister aufgestiegen ist. In diesem Beitrag für die SZ brachte Iwanow das Thema der Raketenstationierung mit zwei anderen Themen in Verbindung - dem möglichen Beitritt der Ukraine und Georgiens zur Nato und der Behandlung des russischen Bevölkerungsanteils in den baltischen Staaten.

Was hat das mit einer angeblichen militärischen Bedrohung Rußlands durch die geplanten Abfangraketen zu tun? Natürlich nichts, solange man nur die Militärstrategie sieht.

Sehr viel aber, wenn man sich klarmacht, wozu die Stationierung von Waffensystemen auch dient. Ich habe darauf schon kurz in der Diskussion zu dem verlinkten Beitrag hingewiesen: Es gibt eine offensichtliche Parallele zum Nato- Doppelbeschluß und zur Stationierung amerikanischer Pershing in der Bundesrepublik Anfang der achtziger Jahre.

Helmut Schmidt hatte diesen Nato- Doppelbeschluß herbeigeführt (und mußte dann erleben, wie seine eigene Partei ihm in den Rücken fiel): Die Nato, so besagte der Beschluß, würde die Pershing in der Bundesrepublik installieren, es sei denn, die Sowjets verzichteten auf die Stationierung ihrer SS-20, die gegen die Bundesrepublik gerichtet waren.

Die Pershing waren natürlich keine Abfangraketen, sondern Boden- Boden- Raketen wie auch die SS-20. Dennoch waren sie in den Augen Helmut Schmidts, der immer sehr strategisch dachte, ein Mittel der Abwehr.

Denn wenn US-Atomraketen in der Bundesrepublik stationiert wären, dann würde jeder Angriff auf die Bundesrepublik automatisch ein Angriff auf die USA sein. Das war ein Thema der deutschen Außen- und Militärpolitik seit Adenauer gewesen: Die USA so in Deutschland zu binden, daß die Sowjets keinen Angriff auf Deutschland wagen konnten, weil er den großen Atomkrieg ausgelöst hätte.



Sehr ähnlich scheint mir auch heute die Situation der Länder Osteueropas zu sein, die sich aus der russischen Herrschaft befreien konnten. Sie wissen, daß Rußland - daß jedenfalls Putin, daß Sergej Iwanow, daß Experten wie Valentin Falin - dem verlorenen (aus ihrer Sicht von Gorbatschow leichtfertig verschleuderten) Sowjetreich nachtrauen, und daß sie den jetzigen Zustand nicht als unveränderlich ansehen.

Der einzige sicherere Schutz dieser Länder vor russischen Pressionen, vor russischen atomaren Erpressungen, besteht darin, daß ein Angriff auf sie ein Angriff auf die USA wäre und somit eine Vergeltung ("retaliation" - dieser Begriff aus dem Kalten Krieg wird wieder aktuell) auslösen würde.

Also wollen sie das Raketenabwehrsystem, die Tschechen, die Polen. Ihre Interessen treffen sich mit denen der USA, obwohl es den USA militärstrategisch um etwas ganz anderes geht.

Nämlich um den Schutz vor iranischen, vor nordkoreanischen Atomraketen. Und vor pakistanischen, von denen gerade wieder einmal eine getestet wurde.



Denn daß es dem US-Verbündeten Musharaf so gehen könnte wie einst dem US-Verbündeten Reza Pahlewi im Iran, das ist ja nicht ausgeschlossen. Ein von Taliban regiertes Pakistan, mit der Verfügungsgewalt über dessen atomares Arsenal - das ist ein Bedrohungsszenario, das im Hintergrund der gesamten militärstrategischen Planung der USA, der Nato stehen dürfte, auch wenn man das natürlich nicht an die Große Glocke hängt.

Toujours y penser, jamais en parler - immer daran denken, nie davon sprechen, sagte man in Frankreich nach der Niederlage von 1870/71.



Titelvignette: Agência Brasil. Frei unter Creative Commons Attribution 2.5 Brazil

"So macht Kommunismus Spaß" (2): Lektüren

Es hat etwas gedauert, bis die vor fünf Wochen angekündigte Fortsetzung zu meiner Rezension von Bettina Röhls "So macht Kommunismus Spaß" jetzt anhebt. Oder fast.

Das liegt daran, daß ich zum Thema zuvor das eine oder andere lesen oder wiederlesen wollte; vor allem Klaus Rainer Röhls Fünf Finger sind keine Faust und Stefan Austs Der Baader- Meinhof- Komplex; ein Buch, an dem Bettina Röhl - leider ungenannt - bei den Recherchen mitgewirkt hat. Ich habe auch damals, zur RAF-Zeit, sehr viel an Zeitungsausschnitten und dergleichen gesammelt, was ich jetzt wieder durchgesehen habe.



Nun also kann es zügig vorangehen. Hopefully

In der jetzigen Folge kurz etwas über diese Quellen.

Dann, in Folge 3, der Versuch einer, sagen wir, subjektiven Sicht auf Ulrike Marie Meinhof. Es hat mich selbst einigermaßen überrascht, zu welcher Beurteilung ich gekommen bin.

Teil 4 geht es (so ist es jedenfalls geplant) um die RAF, die mir umso verbrecherischer, umso inhumaner erscheint, je mehr ich mich wieder mit ihr befaßt habe.



Das, was Bettina Röhl über ihre Mutter schreibt, ist sehr sachlich. Bemüht sachlich, fast erschreckend sachlich. Es ist offensichtlich, daß sie versucht, ihre eigenen Empfindungen beiseite zu lassen und die Biographie ihrer Mutter so zu schreiben, wie das eben eine Journalistin tun sollte.

Auch Klaus Rainer Röhl hat sich in "Fünf Finger sind keine Faust" erkennbar darum bemüht, Ulrike Marie Meinhof Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Sein Buch ist nicht das eines Historikers, auch nicht das eines Journalisten. Es ist ein Stück Memoiren- Literatur. Wie jeder, der Memoiren schreibt, schildert Röhl die Ereignisse aus seiner Perspektive; sich selbst hervorhebend und exkulpierend, seine Mitstreiter lobend, seine Feinde denunzierend. So sind Memoiren nun mal.

Aber was Ulrike Meinhof angeht, ist das nobel und - soweit ich es beurteilen kann - auch zutreffend, was Röhl schreibt. Manchmal flapsig, oft oberflächlich, wie Röhl halt ist. Aber fair; ich möchte fast sagen: bewundernswert fair.



Und das Buch von Stefan Aust ist geradezu das Musterbeispiel eines herausragenden Journalismus - eines Journalismus von fast schon amerikanischer Qualität.

Er nimmt nicht Stellung. Er interpretiert nicht. Er teilt einfach die Fakten mit, die er recherchiert hat. Nicht auf der Seite der RAF, nicht auf der Seite der Strafverfolgungsbhörden. Er schreibt nicht, um zu beeinflussen. Er schreibt, um zu informieren.

Wenn eine Interpretation auf der Hand liegt, dann trägt er sie freilich schon mal vor. Meist in Form eines trockenen, ironischen Kommentars. Nicht mehr. Wo Fragen offen sind, da spekuliert Aust nicht, sondern er schreibt, daß Fragen offen sind. Er versteht sich als ein Faktenhuber; er überläßt es dem Leser, Folgerungen zu ziehen.

Als ich jetzt dieses herausragende Buch wieder gelesen habe, da habe ich zum ersten Mal verstanden, warum Rudolf Augstein diesen Stefan Aust als seinen Erben ausersehen hat.

Und warum es Aust es gelungen ist, den "Spiegel" aus seiner seinerzeitigen Krise zu führen.

Ein großer Journalist. Ein demokratischer Journalist, der verstanden hat, daß seine Aufgabe als Journalist nicht die Beeinflussung ist, sondern die vorurteilsfreie Information.

Anmerkung zur Moral des Fressens

Erst kommt das Fressen, dann die Moral? Nein: Die Moral kam mit dem Fressen. Die just-so story vieler Evolutionsbiologen dazu geht ungefähr so:

Moral, das heißt die sozial erforderliche Disziplinierung von Triebverhalten. Die mores überlagern die Instinkte.

Zu den gewaltigen Umgestaltungen, die - vor vielleicht zwei Millionen Jahren - mit dem Auftreten des Homo Erectus einhergingen, gehörte die Erfindung einer Form der Sozialorganisation, die es ermöglichte, daß auch diejenigen Hordenmitglieder satt wurden, die sich nicht an der Jagd beteiligten.

Sondern die sich um die Aufzucht - die immer länger, immer ressourcenaufwendiger werdende Aufzucht - des Nachwuches kümmerten. Die, später vielleicht, der Horde auch dadurch nützten, daß sie neue Werkzeuge oder neue Jagdtechniken ersannen, statt sich als Jäger zu bewähren.

Also brauchte man Tischsitten.

Die Starken, die erfolgreichen Jäger, mußten lernen, auch den anderen etwas von der Jagdbeute zu überlassen. Auch sie brauchte die Horde ja.

Mit der Erfindung des Feuers mußte man lernen, nicht sofort über die ersehnte tierische Nahrung herzufallen, sondern zu warten, bis sie gegart war. Und damit besser verdaulich; das heißt mit einer höheren Energieausbeute.

Die das über die Generationen hinweg wachsende Gehirn brauchte. Die man brauchte, um hinter dem Wild über lange Strecken herzujagen. Das entscheidende Problem auf dem Weg zum Homo Sapiens war die Energieversorgung.

Sie verlangte Selbstbeherrschung. Das ging nur dank des wachsenden Gehirns; ein Rückmeldekreis also. Die Beherrschung der Triebe wurde möglich nicht nur durch die Vergrößerung des Cortex überhaupt, sondern speziell durch die gewaltige Zunahme des Präfrontalhirns mit seinen Hemmungsmechanismen, wie sie sich auf dem Weg zum Homo Sapiens vollzogen hat. Der Mensch lernte "sich zu beherrschen", indem das Hirn inhibitorische Mechanismen herausbildete.

Essen - das ist also, neben dem Sexualverhalten, neben der Aggression, das Gebiet, auf dem wir Menschen im Lauf der Evolution den Triebverzicht lernen mußten; auf dem folglich das sich konkretisierte, was Freud als das Unbehagen in der Kultur beschrieben hat: Die Unmöglichkeit, das Lustprinzip unmittelbar zu verwirklichen; die Notwendigkeit, den Umweg über das Realitätsprinzips zu gehen.



Soweit in Kürze und Einfachheit das, was - soweit ich es überblicke - state of the art der Evolutionsbiologie ist. Der Anlaß dafür, daß ich darauf hinweise, ist die Reaktion auf meinen kürzlichen Beitrag über Öko- und Bio- Produkte. Zahlreiche Kommentare, heftige zum Teil. Überraschend heftig; denn der Diskussionsstil in "Zettels Raum" ist ja fast immer sehr rational, sehr beherrscht.

Wie kommt's? Ich erkläre mir das damit, daß die Moral des Fressens eben etwas sehr Archaisches ist. Was man essen darf und was nicht, wann man essen darf und wann nicht - darüber enthalten viele Religionen genaue Festlegungen. Opfer, die die meisten Religionen kennen, bestehen oft darin, dem Gott oder den Göttern etwas Eßbares anzubieten; im Grenzfall einen Menschen als seine Nahrung.

Also, wenn wir über's Essen reden und streiten, dann geht es nicht nur darum, was schmeckt und was uns gut tut.

Da spielt Ursprünglicheres mit hinein. Wer gegen Nahrungs- Tabus verstößt, der versündigt sich. Wer nicht ißt wie wir, der ist auch nicht wie wir - wenn man mir den Kalauer verzeiht.



So erkläre ich mir die affektive Besetzung, die oft seltsame Heftigkeit der Diskussion, wenn es ums Essen geht. Darum, ob Zucker nun "gesund" ist oder nicht, ob man vegetarisch leben sollte, ob veganisch, trennkostmäßig, oder wie immer. Die Diskussion über "Belastung" von Nahrungsmitteln und über "Genfood".

Da geht es, scheint mir, nicht nur um's Essen. Sondern sozusagen moralisch um die Wurst.

23. Februar 2007

Randbemerkung: Vance Packard und die Öko-Tomaten

Heute habe ich für ein geplantes Pasta- Gericht unter anderem die Tomaten eingekauft. Ich brauchte ungefähr ein Pfund ziemlich große Tomaten, also, sagen wir, vier. Geeignetes fiel mir alsbald im Supermarkt ins Auge - vier große Tomaten, abgepackt, 500 g.

Ich hatte sie schon fast in den Warenkorb getan, als mein Blick auf den Preis fiel: 2.99 Euro.



Moment mal. Zwei Euro neunundneunzig, also rund sechs Mark, für vier Tomaten? Da habe ich dann doch noch mal hingeguckt.

Und siehe, es waren nicht einfach Tomaten, sondern Öko- Tomaten aus ich weiß nicht was für einem wie zertifizierten Bio- Anbau. Aus Israel.

Ich habe die Packung erst mal zurückgelegt und mich nach anderen Tomaten umgesehen. Nebenan wurden schöne, wohlriechende, lose Rispentomaten angeboten, für 1.99 das Kilo. Zwei Mark also statt sechs Mark für 500 Gramm.

Die habe ich genommen. Inzwischen kann ich dem Leser nach einer Geschmacksprobe mitteilen, daß sie ausgezeichnet schmecken.



Was ist da los? Vermutlich hätte kein Autobauer eine Chance, der einen Mittelklassewagen zum dreifachen Preis seiner Mitbewerber anbieten würde. Niemand würde einen Computer kaufen, der bei vergleichbarer Leistung dreimal so viel kostet wie die Computer der Konkurrenz.

Aber bei Lebensmitteln ist es offenbar anders. Sobald das Zauberwort "Öko" draufsteht, ist der Verbraucher - nein, nicht der, aber doch ein Segment der Verbraucher - bereit, Preise zu zahlen, die weit jenseits jedes vernünftigen Marktpreises liegen.



Was bekommt er dafür, der Konsument, der sich diesen Luxus leistet? Naja, Tomaten, Eier, Kartoffeln.

Meine Frau und ich haben gelegentlich den doppelten Blindversuch gemacht: Öko- Ei gegen Normalo- Ei. Öko- Kartoffel gegen Normalo- Kartoffel.

Es fand sich nicht die Spur eines Hinweises darauf, daß die Öko-Produkte besser schmecken als die anderen. Mal die einen, mal die anderen. Wie es halt im Wesen zufälliger Unterschiede liegt.



Ja, aber, sie sind doch gesünder, die Bio- Öko- Produkte. Sind sie?

"Gesund" sind eigentlich Menschen und Tiere, nicht Äpfel und geschlachtete Hähnchen. Gemeint ist mit "gesund" wohl so etwas wie "gesundheitsfördernd". Oder "nicht krankmachend".

Ja, stimmt das denn? Ich kenne keine Daten, die belegen oder es auch nur wahrscheinlich machen, daß Konsumenten von Bio- Produkten weniger krankheitsanfällig sind, daß ihre Lebenserwartung höher ist als die der Normalos.

Vielleicht sind mir diese Daten entgangen - wenn jemand solche Untersuchungen kennt, wäre ich für einen Hinweis dankbar.



Vorläufig, bis zum Beleg oder wenigstens Hinweisen auf das Gegenteil, bin ich der Meinung, daß diese Öko- und Bio- Produkte genauso gut oder schlecht schmecken wie die anderen auch; daß sie genauso gesund erhalten oder krank machen wie die anderen auch.

Warum also geben so viele Menschen so viel mehr Geld dafür aus, sie zu erwerben? Ich versuche mir das mit Rückgriff auf einen Klassiker der Werbepsychologie zu erklären, den guten alten Vance Packard.

Der publizierte 1957 den Bestseller The Hidden Persuaders. Darin vertrat er die - aus Sicht der heutigen Werbepsychologie vielleicht ein wenig naive - These, daß der Verbraucher nicht Kosmetika kauft, sondern Schönheit; nicht einen Straßenkreuzer, sondern sozialen Status; nicht den Staubsauger, sondern die Wohlanständigkeit der Wohnung.



Das war sicher ein wenig simpel gedacht. Aber in unserem jetzigen Fall, bei der Bereitschaft, Bio- Produkte zu Wahnsinnspreisen zu kaufen, hilft seine These vielleicht in der Tat zum Verständnis:

Man gibt - so will es mir scheinen - viel Geld aus: Nicht, damit es besser schmeckt; nicht, weil man dadurch seltener krank wird oder länger lebt.

Sondern weil man damit das schöne Gefühl kauft, gesünder zu leben als die anderen, progressiv zu sein, umweltbewußt.

It simply feels better. Und dafür zahlen diejenigen, die sich das leisten können.




Um diesen Beitrag mit etwas Positivem zu beenden: Man bereite zur Pasta, z.B. Spaghetti, ein kaltes Sugo aus frischen Tomaten, Thunfisch, Knoblauch, abgeriebener Zitrone, gehackten Kapern, gehackten Chilischoten, Basilikum, Olivenöl. Abschmecken mit Salz und Pfeffer, das versteht sich ja.

Auf die Mengen kommt es nicht so an, das ist Geschmackssache. Nur sollten Thunfisch und Olivenöl erste Qualität sein. Und die Tomaten auf Geschmack statt auf Rundheit oder "Schnittfestigkeit" gezüchtet. Öko ist nicht erforderlich.

Das ist ein Rezept meiner Lieblings- Fernsehköche Martina Meuth und Bernd Neuner-Duttenhofer

21. Februar 2007

Gedanken zu Frankreich (5): Die Rechte, die Linke - und François Bayrou

In Frankreich, so glauben wir zu wissen, kandidiert bei den im April anstehenden Wahlen Nicolas Sarkozy gegen Ségolène Royal, Sarko gegen Ségo.

Wirklich? Gewiß, da gibt es noch die Kandidaten der extremen Linken, der extremen Rechten. Aber die haben keine Chance.

Stimmt. Aber es gibt da noch François Bayrou.



Laut einer IFOP-Umfrage für den Nachrichtensender LCI vom 19. 2. 2007 würde jener François Bayrou, wenn er im zweiten Wahlgang gegen Nicolas Sarkozy anträte, diesen mit 52 % zu 48 % schlagen; Ségolène Royal würde er sogar mit 54 % zu 46 % schlagen.

CNN hat über dieses sensationelle Umfrageresultat am Tag danach, vorgestern also, berichtet. In den deutschen Medien scheint es noch wenig Beachtung gefunden zu haben. Die Suche bei Paperball zeigt im Augenblick nur wenige Medien, die die AFP-Meldung überhaupt brachten; mit einer eigenen Überschrift berichtete darüber offenbar bisher von den deutschen Zeitungen nur die Rheinpfalz.

Wer ist dieser François Bayrou? Und wie kommt es, daß er bei einer Stichwahl sowohl den Spitzenkandidaten der Rechten als auch die Spitzenkandidatin der Linken schlagen würde?

Dazu möchte ich ein paar Anmerkungen machen. Aus der Perspektive nicht eines "Frankreich- Experten", aber doch eines politisch Interessierten, der die französischen Dinge schon recht lange ziemlich intensiv verfolgt. Und der die Kultur und Sprache dieses Landes sehr schätzt.



In kaum einem europäischen Land verstehen sich die politisch Interessierten so explizit als "Rechte" oder "Linke" wie in Frankreich.

Das geht zurück auf die wechselvolle Geschichte Frankreichs seit der Großen Revolution und vor allem auf die Zeit der Volksfront in den dreißiger Jahren des Zwanzigsten Jahrhunderts, als die Linke erstmals in der Dritten Republik an die Macht gekommen war und kurzfristig versucht hatte, Frankreich zu einem sozialistischen Land umzugestalten.

Die Linke - das sind in Frankreich traditionell die Spielarten des Sozialismus und Kommunismus, die auf etliche Parteien und sogenannte Clubs verteilt gewesen waren, bevor es Anfang der siebziger Jahre gelang, sie in der Parti Socialiste (PS; "Sozialistische Partei") zusammenzuführen; bis auf die Kommunisten, die aber in Frankreich traditionell Partner der Sozialisten sind.

Ähnlich zersplittert war die Rechte, die sich in der Fünften Republik in immer neue Parteien und Parteienbündnisse gliederte; meist dominiert von einer gaullistischen und einer bürgerlich- liberalen Partei.

In der Fünften Republik war das auf der gaullistischen Seite zunächst die Union pour la Nouvelle République (UNR; "Union für die Neue Republik"), die nach mehrfachen Umbenennungen zum Rassemblement pour la République (RPR; "Sammlungsbewegung für die Republik") wurde.

Auf der bürgerlich-liberalen Seite gab es mannigfache Parteien und Strömungen, die schließlich überwiegend in der Union pour la Démocratie Française (UDF; "Union für die Französische Demokratie") aufgingen.

Schon die Namen deuten darauf hin, das es sich hier um Bündnisse sehr unterschiedlicher Strömungen und Kräfte handelte und handelt.



Parteien der "Mitte" hatten es in diesem Parteiensystem immer schwer, und sie haben niemals eine dominierende Rolle gespielt. Am ehesten noch am Beginn der Vierten Republik, als die christdemokratischen Volksrepublikaner Robert Schumans zeitweise Regierungspartei waren; Partner der CDU, der Democracia Cristiana.

Danach aber führten die "Zentristen" meist ein Schattendasein - mal mehr der Rechten zuneigend, mal mehr der Linken; oft zwischen ihnen zusammengestaucht. Zu Beginn der Fünften Republik versuchte Jean Lecanuet mit seinem Centre Démocrate (CD; "Demokratisches Zentrum") einen Dritten Weg zwischen Sozialisten und Rechten. Später gab es immer wieder Parteigründungen und Fusionen, die meist mehr oder weniger mit der Rechten kooperierten. Die UDF kann man als die liberale Rechte sehen, oder als die rechte Mitte.



Vor fünf Jahren nun, bei den Präsidentschaftswahlen 2002, erlebte Frankreich ein politisches Erdbeben. Im ersten Wahlgang schied der Sozialist Lionel Jospin aus, und Chirac mußte im zweiten Wahlgang gegen den Rechtsextremisten Le Pen antreten.

Das brachte eine breite Unterstützungsbewegung für Chirac mit sich, die dieser dazu ausnutzte, so etwas wie eine rechte Einheitspartei zu schmieden: Die Union pour la Majorité Présidentielle (UMP; "Union für die Präsidentenmehrheit"). Später wurde daraus Union pour un Mouvement Populaire ("Union für eine Volksbewegung"). Man behielt etwas verkrampft das Kürzel bei, nachdem sich der Name, für den zweiten Wahlgang 2002 ersonnen, überholt hatte.



Und nun zu François Bayrou. Als diese rechte Einheitspartei UMP gegründet wurde, da machten die meisten UDF- Abgeordeneten mit, aber nicht alle. Die UDF zerfiel sozusagen wieder in ihre Komponenten - die rechtsliberalen Weggefährten der Rechten und die Liberalen der Mitte.

Ungefähr dreißig Abgeordnete der UDF traten nicht in die UMP ein, sondern machten unter dem alten Namen weiter. Als ihr wichtigster Kopf erwies sich bald François Bayrou.

Ein interessanter Mann. Auf dem Land aufgewachsen, in der Nähe von Lourdes, in einer stockkatholischen Umgebung. Studium der klassischen Philologie; dann zugleich Studienrat und Bauer, der seiner verwitweten Mutter auf dem Hof half. Züchter von Rassepferden. Privat ein überzeugter Katholik. Als Lehrer für den Laizismus eintretend.

Er schreibt eine Biographie ("Le roi libre"; "Der freie König") des Königs Henri IV (ja, genau, der mit dem Huhn im sonntäglichen Topf und dem "Paris ist eine Messe wert"). Kein Zufall, daß er sich diesen großen Versöhner zum Helden aussucht. Denn das wird nun das Thema des Politikers Bayrou: Eine Politik der Mitte, zwischen Links und Rechts. Oder vielmehr jenseits der Links- Rechts- Einteilung.

Das versucht er in diversen Parteien des komplexen Spektrums der französischen Mitte zu realisieren; zum Schluß in der UDF. Dort tritt er dafür ein, daß kein Abgeordneter dieser Partei sich von den Rechtsextremisten mitwählen lassen darf. Er ist ein überzeugter Antitotalitärer; egal, ob es um den linken oder den rechten Totalitarismus geht.

Im Europaparlament sorgt er mit dafür, daß die Fraktion der UDF sich von der konservativen "Europäischen Volkspartei" trennt und sich der "Allianz der Liberalen Demokraten" anschließt.

Er tritt gegen den EU-Beitritt der Türkei ein, für die freie Marktwirtschaft, für eine Überwindung des Links- Rechts- Gegensatzes. Kurz, er ist ein Liberalkonservativer. (Ein Mann nach meinem Herzen; ich kann's ja nicht leugnen).



Und wieso würde eine Mehrheit der Franzosen für diesen Kandidaten stimmen, wenn er der Gegenkandidat von Ségolène Royal oder von Nicolas Sarkozy wäre, im zweiten Wahlgang?

Zum einen, vermute ich, weil er ein persönlich sehr eindrucksvoller Kandidat ist. Ein bedächtiger, glaubhafter, prinzipientreuer Mann. Der damit einen Vorteil hat gegen die Populistin Ségolène Royal, diesen Jeanne- d'Arc- Verschnitt, und gegen den Populisten Nicolas Sarkozy, diesen Hans- Dampf- in- allen- Gassen, diesen gallischen Guido Westerwelle.

Und zweitens könnte das, was in Frankreich die Schwäche der Mitte ausmacht, jetzt seine Stärke sein. Gerade weil die meisten Franzosen sich nicht vorstellen können, eine Linke zu wählen, wenn sie sich als rechts verstehen, oder einen Rechten zu wählen, wenn sie in ihrem Selbstverständnis Linke sind - just deshalb könnten sie in einem zweiten Wahlgang, in dem der Kandidat ihrer Richtung nicht mehr im Spiel ist, einen Mann der Mitte wählen.



Könnte François Bayrou also der nächste französische Präsident werden? Die Chancen stehen - malgré tout - leider sehr schlecht.

Denn um den genannten Vorteil zu genießen, muß er ja erst mal in den zweiten Wahlgang kommen. Und in den schaffen es, nach französischem Wahlrecht, nur der Erst- und Zweitplazierte.

Bayrou müßte also das gelingen, was Jean- Marie Le Pen 2002 schaffte: als zweiter durchs Ziel zu gehen.

Wieso hat das damals Le Pen geschafft? Weil niemand damit gerechnet hatte. Weil folglich viele Wähler der Linken im ersten Wahlgang irgendwelche Exoten gewählt hatten - Trotzkisten diverser Couleur vor allem -, in der festen Absicht, im zweiten Wahlgang dann Jospin zu wählen.

Daß dadurch ein Rechtsextremist in den zweiten Wahlgang kam, obwohl er keine siebzehn Prozent der Stimmen erreicht hatte, war ein Schock für die Franzosen. Sie haben gemerkt, daß man das voter utile, das Nützlich- Wählen, nicht für den zweiten Wahlgang reservieren darf.

Also werden, falls es keine Überraschung gibt, wohl Sarko und Ségo als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgehen.

Leider.


Links zu den vorausgehenden Beiträgen dieser Serie findet man hier in "Zettels kleinem Zimmer".

Zettels Meckerecke: Embryonenschutz, Fötenschutz. Oder: Ils sont fous, les Allemands

Deutschland, einst in Europa als ein Land der Schützen gefürchtet, ist zu einem Land des Schützens geworden. Wir haben ein Ministerium für den Schutz der Umwelt, eines für den Schutz der Verbraucher. Wir haben ein Bundesamt für Naturschutz, ein Bundesamt für Strahlenschutz, ein Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit.

Und wir haben ein Embryonenschutzgesetz. Ein Gesetz, das 1991 nach langer Diskussion inner- und auch außerhalb des Parlaments verabschiedet wurde und das den Embryo - von der ersten Zellteilung an - mit dem Recht auf Leben ausstattet.

Deshalb darf in Deutschland nicht befruchtet werden, um Embryonen für die Forschung, für therapeutische Zwecke zu erhalten. Und deshalb gelten für die Reproduktions- Medizin gesetzliche Regelungen, deren Unlogik, deren Inhumanität, deren Absurdität ein heutiger Beitrag von Anett Wittich in der ZDF-Sendung Frontal 21 beleuchtet hat:

Bei einer Befruchtung in vitro, also außerhalb des Körpers, entstehen befruchtete Eizellen, deren Chancen, zu einer Schwangerschaft zu führen, unterschiedlich gut sind.

Wenn ein Befruchtungsversuch in vitro, sagen wir, vier erfolgreiche Befruchtungen ergeben hat, dann verfährt man deshalb in den meisten Ländern so, wie es auf der Hand liegt: Man untersucht diese Zellen und wählt für den Versuch, eine Schwangerschaft herbeizuführen, diejenige befruchtete Zelle aus, die dafür am geeignetsten ist. Denn das Ziel ist ja eine Schwangerschaft, aber keine Mehrlingsschwangerschaft.



Nicht aber in Deutschland. In Deutschland ist das verboten. Denn es blieben dann ja befruchtete Eizellen übrig, die keine Chance hätten, zu einem Fötus, einem Kind zu werden.

Die man gar zu Forschungszwecken verwenden könnte; also um - horribile dictu - Therapien zu entwickeln.

Das verbietet die Bundesrepublik Deutschland, weil sie das Recht einer befruchteten Eizelle auf Weiterleben, ihr Recht, zu einer Morula usw. zu werden, über die Gesundheit lebender Menschen stellt.

So streng ist die fundamentalistische Moral, die dem deutschen Embryonenschutzgesetz zugrundeliegt. Streng wie die Moral der Katholischen Kirche. Deren Moral, vom Bundestag zur Allgemeinverbindlichkeit erhoben.

In Deutschland macht sich folglich der Arzt strafbar, der so verfährt, wie das seine Kollegen weltweit tun. Er muß alle befruchteten Zellen implantieren. Jede hat ein Recht auf Leben, so gilt es in Deutschland.



Die Folge ist, wie man sich denken kann, eine ziemlich hohe Wahrscheinlichkeit, daß mehrere dieser befruchteten Eizellen sich auch einnisten und zu einer Mehrlingsschwangerschaft führen.

Diese wiederum hat die Folge, daß die Risiken für die Föten massiv steigen. Frühgeburten sind häufig, bei Drillingen und Vierlingen die Regel.

Diese Kinder leiden gehäuft unter neurologischen Störungen, sind geistig eingeschränkt. Erblindungen sind deutlich gehäuft.

Was ja auch auf der Hand liegt - beim Menschen, wie bei vielen Primaten, sind die Ressourcen der werdenden Mutter darauf eingerichtet, einen Fötus, allenfalls zwei Föten zu versorgen. Was ihnen darüber hinaus abverlangt wird, kann nicht ohne Beeinträchtigung der Föten abgehen.

In dem Bericht schildert eine Mutter von Drillingen ein solches Schicksal, von dem zwei der drei Kinder betroffen waren: "Beide Kinder hatten Hirnblutungen, wobei bei dem einen Kind verlief es halt so, dass dadurch sowohl eine geistige als auch körperliche Behinderung vorliegt." Das andere, heißt es weiter in dem Bericht, könne nicht alleine sitzen, schon gar nicht laufen.



Müssen die Eltern, wenn die Mehrlingsschwangerschaft feststeht und den Kindern derartige Schäden drohen, sich mit diesem Schicksal abfinden? Nein.

Denn was bei befruchteten Eizellen nicht möglich ist, das darf man nach der absurden deutschen Gesetzeslage bei im Uterus heranwachsenden Föten tun: Man darf einen oder mehrere der Föten abtöten, damit die verbleibenden eine hinreichende Chance haben, zu gesunden Kindern zu werden.

Fetozid heißt das, und es ist vollkommen legal.

Denn hier nun folgt die deutsche Gesetzgebung nicht mehr der Katholischen Kirche, die ja immerhin konsequent ist. Hier, wo es nicht mehr um Forschung geht, sondern um die "Selbstbestimmung der Frau" (vulgo "Mein Bauch gehört mir"), verwandelt sich die deutsche Gesetzeslage von einer fundamentalistischen in eine liberale.

Eine, die nach dem Willen des Gesetzgebers sogar sehr liberal wäre; eingeschränkt nur durch die Rechtsprechung des BVG, das der Fristenlösung nicht zugestimmt hat.



Heute ging die Meldung durch die Presse, daß in den USA das Kind Amillia aus dem Krankenhaus entlassen wurde. Geboren in der 22. Woche der Schwangerschaft, damals "kaum größer als ein Kugelschreiber", heißt es in der Meldung.

Geboren also als ein Fötus, dem - nach deutschen Recht - zum Zeitpunkt der Geburt ohne rechtliche Bedenken ein "Fetozid" hätte zuteil werden können.

Aber die befruchtete Eizelle, aus der Amillia entstanden ist, die hätte man nach deutschem Recht nicht vernichten dürfen.

Ils sont fous, les Allemands

20. Februar 2007

Überlegungen zur Freiheit (1): Rauchen in einer freien Gesellschaft

In dem Gebäude, in dem ich arbeite, ist im Lauf der Jahre immer mehr an Behindertengerechtigkeit verwirklicht worden. Die meisten Türen lassen sich jetzt automatisch, durch Drücken auf eine weit unten angebrachte Taste, öffnen. In den meisten Fahrstühlen gibt es ein horizontales Duplikat der Tastenreihe, weit unten und mit zusätzlicher Kennzeichnung der Etagen in Braille- Schrift. Hörsäle lassen sich im Rollstuhl erreichen, Schwellen wurden beseitigt usw.

Ich finde das ausgezeichnet. Jeder Mensch in unserer Gesellschaft soll soviel persönliche Freiheit haben, wie das nur möglich ist. Und dazu gehört eine Gestaltung des man- made enivronment, der vom Menschen hergestellten Umwelt, die diese Freiheit auch Behinderten ermöglicht, soweit das irgend geht.



Ein Recht auf diese Freiheit haben auch Raucher. Sie haben sich für eine bestimmte Form des Genusses entschieden, die - wie fast jeder Genuß - Risiken mit sich bringt. Aber es ist ihre freie Entscheidung. Ihr, wenn man so will, Lebensstil.

Auch ihnen gegenüber hat die Gesellschaft die Aufgabe, ihnen ein möglichst freies Leben zu ermöglichen. So wie anderen Minderheiten - Homosexuellen, Moslems, Nudisten, christlichen Fundamentalisten, Atheisten, Freunden des Gang- Bangs.

Wer immer, der sich für einen anderen Lebensstil entschieden hat als die Mehrheit: In einer freiheitlichen Gesellschaft muß er das Recht haben, diesen Lebensstil zu realisieren. Und er hat Anspruch darauf, daß die Gesellschaft ihm dabei keine Schwierigkeiten macht, daß sie im Gegenteil eventuell bestehende Schwierigkeiten beseitigt.

Wie die Schwellen, über die ein Rollstuhl nicht rollen kann.



Nun gibt es allerdings das Problem des Passivrauchens. Wer sich den Genuß des Rauchens gönnt, der kann damit die Gesundheit anderer beeinträchtigen.

Man muß dann abwägen: Ist die Freiheit des Rauchers das höhere Rechtsgut, oder die Gefährdung der anderen?

Eine schwierige Abwägung. Man kann da sehr unterschiedlicher Meinung sein, und letztlich geht es um nicht weiter begründbare Wertentscheidungen.

Zur Vereinfachung der Argumentation will ich aber im folgenden voraussetzen, daß die Gesundheit potentieller Passivraucher das uneingeschränkt höherwertige Rechtsgut ist. Daß also die Freiheit der Raucher ihrer absolute Grenze dort findet, wo andere in ihre Gesundheit beeinträchtigt werden. Ich will - for the sake of the argument - sogar voraussetzen, daß jede Art des Passivrauchens schädlich ist; obwohl mir das keineswegs nachgewiesen zu sein scheint.



Dies vorausgesetzt, erscheint mir offenkundig, was in einer freiheitlichen Gesellschaft erforderlich ist: Vorrichtungen zu schaffen, Regelungen zu erlassen, die Nichtraucher vor Beeinträchtigung schützen und die es zugleich den Rauchern ermöglichen, zu rauchen, wo immer sie wollen.

Sofern sie eben damit nicht die gesundheitlichen Belange von Nichtrauchern beeinträchtigen. So, wie Nudisten unter sich nackt sein dürfen, man es ihnen aber zu Recht untersagt, andere mit ihrer Nacktheit zu behelligen, die diese nicht sehen wollen. So wie Homosexuelle, wie Gang- Bang- Freunde ihren Lebensstil leben dürfen, wenn sie niemanden damit belästigen.



In den meisten Ländern der Welt gibt es ein klassisches, gelungenes Beispiel für diese Politik: Die Einrichtung von Raucher- und Nichtraucherabteilen in den Zügen der Eisenbahnen.

In manchen der älteren Züge, wie sie noch in den fünfziger Jahren fuhren, war das auf eine perfekte Weise realisiert. Jedes Abteil hatte seine eigene Tür nach außen. Wer in ein Nichtraucherabteil einstieg - vom Bahnsteig aus direkt dort einstieg -, der war also vor jeder Beeinträchtigung durch Raucher sicher. Er war hermetisch von den Raucherabteilen abgeschlossen.

Dann wurden die Wagen offener. Es gab immer mehr die D-Zug-Wagen, mit einem gemeinsamen Gang, der die Raucher- und die Nichtraucherabteile miteinander verband. Da konnte schon mal, via diesen Gang, Rauch vom einen Abteil ins andere gelangen. Oder Nichtraucher mußten - in den fünfziger, sechziger Jahren nicht selten - wegen Überfüllung im Gang stehen, wo sie dann der Rauch der dort auch stehenden Raucher ereilte.

Dann wurden die Großraumwagen eingeführt; ab den siebziger Jahren, wenn ich mich recht erinnere. Und dort waren der Raucher- und der Nichtraucherbereich überhaupt nicht mehr physisch getrennt; nur noch durch die Andeutung einer Glasscheibe. Da konnte man nun, wenn man im Nichtrauchberbreich gen Raucherbereich saß, kräftig passivrauchen.



Nun gibt es also in letzter Zeit ein verstärktes, wesentlich von der EU-Bürokratie angetriebenes Bemühen, Nichtraucher vor Passivrauchen zu schützen. Ich will das gar nicht kritisieren; ich argumentiere ja jetzt unter der oben formulierten Prämisse eines absoluten Vorrangs des Nichtraucherschutzes.

Also muß auch die Eisenbahn, muß die Deutsche Bahn etwas tun. Was, das liegt auf der Hand: Sie muß ihre Wagen so umbauen, daß die Raucher- und die Nichtraucherbereiche so gut getrennt sind, wie das in den Abteilwagen der fünfziger Jahre der Fall gewesen war.

Das wäre technisch gewiß nicht schwer. Die allereinfachste Möglichkeit bestünde darin, in jedem - beispielsweise - IC und ICE mindestens einen Wagen der ersten und einen der zweiten Klasse einzusetzen, die völlig den Rauchern vorbehalten sind. Man könnte zwischen sie und die anderen Wagen gewiß auch zusätzliche Vorrichtungen einbauen, die eine Ausbreitung von Rauch vom einen auf den anderen Wagen zuverlässig verhindern.

Gewiß, die Raucher müßten dann etwas weiter auf dem Bahnsteig laufen, um den oder die ihnen reservierten Wagen zu erreichen.

Aber das muß auch jetzt schon oft der Erste- Klasse- Reisende. Denn während zum Beispiel in der alten Pariser Métro die Erste Klasse selbstverständlich in der Mitte gewesen war, hat es sich die Deutsche Bahn ja einfallen lassen, ihren Erste- Klasse- Passagieren den Weg bis zum Anfang und/oder Ende des Zugs zuzumuten. Schließlich zahlen sie mehr, da können sie auch weiter laufen.



Nun, es ist seit vergangener Woche bekannt, daß die Deutsche Bundesregierung nicht daran denkt, das zu tun, was in einer freien Gesellschaft selbstverständlich sein müßte: Gesetzliche Regelungen anzustreben, die den Belangen der Raucher ebenso wie denjenigern der Nichtraucher gerecht werden. Sondern zum Schutz der Nichtraucher soll das Rauchen in Zügen ganz verboten werden.

Es gibt dafür nicht die Spur einer Rechtfertigung. So, wie man durch bauliche Maßnahmen den Belangen der Behinderten gerecht werden kann, so könnte man durch geringfügige technische Maßnahmen den Rauchern ermöglichen, weiter in den Zügen der Deutschen Bahn zu rauchen, ohne daß sie damit die Gesundheit der Nichtraucher gefährden.

Das deutsche Bundeskabinett - das sich in dieser Sache mal wieder so verhält, als sei auch die CDU bereits eine sozialistische Partei, wie die Partei ihrer Drogenbeauftragten - schert sich einen Dreck um die Belange der Raucher.

Sie werden, als eine Minderheit, nach Strich und Faden benachteiligt. Und kaum jemand scheint sich darüber zu empören.



Ja, aber, ist es denn nicht gut, wenn Raucher behindert werden? Weil Rauchen doch schädlich ist? Vermutlich wird manchem Leser dieser Gedanke durch den Kopf gegangen sein.

Er sollte sich dafür schämen, der betreffende gedachte Leser. Denn es kann doch nicht die Aufgabe des Staats sein, Menschen davor zu bewahren, sich - wenn sie es denn wollen, wenn sie ein Risiko einzugehen bereit sind - selbst zu schaden.

Wer das für eine Aufgabe des Staats hält, der hat den Boden des Grundgesetzes verlassen. Denn dessen erster und in gewisser Weise auch oberster Paragraph lautet: "Die Würde des Menschen ist unantastbar." Zur Würde des Menschen gehört seine Freiheit, sich zu entscheiden. Ohne daß ein anderer, schon gar ohne daß ein Bürokrat ihm da reinredet.



PS: Ja, kann man denn Raucher mit Behinderten vergleichen? Ja.

19. Februar 2007

Ketzereien zum Irak (7): Challenge to the Reader

Selten habe ich im Web nach einem Dokument gesucht, das sich, als ich es aufgestöbert hatte, als so unergiebig erwies.

Ich wollte wissen, wie denn die Resolution genau lautet, die das amerikanische Repräsentantenhaus am 16. Februar verabschiedet hat. Hier ist sie, und sie lautet schlicht und nicht unbedingt ergreifend:
110th CONGRESS

1st Session

H. CON. RES. 63

CONCURRENT RESOLUTION

Resolved by the House of Representatives (the Senate concurring), That--

(1) Congress and the American people will continue to support and protect the members of the United States Armed Forces who are serving or who have served bravely and honorably in Iraq; and

(2) Congress disapproves of the decision of President George W. Bush announced on January 10, 2007, to deploy more than 20,000 additional United States combat troops to Iraq.

Passed the House of Representatives February 16, 2007.

110ter Kongreß

Erste Sitzung

H. CON. RES. 63

GEMEINSAME RESOLUTION

Das Repräsentantenhaus beschließt (vorbehaltlich der Zustimmung des Senats), daß

(1) der Kongreß und das amerikanische Volk auch weiterhin die Angehörigen der Streitkräfte der Vereinigten Staaten, die im Irak tapfer und ehrenhaft dienen und gedient haben, unterstützen und sie schützen werden; und

(2) der Kongreß die am 10. Januar 2007 von Präsident George W. Bush bekanntgegebene Entscheidung mißbilligt, mehr als 20 000 weitere Mann US- Kampftruppen in den Irak zu verlegen.

Vom Repräsentantenhaus am 16. Februar 2007 verabschiedet.



Vor fünf Wochen habe ich in diesem Beitrag auf die Inkonsequenz der US-Demokraten hingewiesen.

Wenn man den Krieg im Irak als noch gewinnbar ansieht, dann ist es nicht begründbar, dem Oberkommandieren die Truppen zu verweigern, die er für erforderlich hält.

Wenn die US-Demokraten andererseits den Krieg für verloren halten, dann ist seine Fortsetzung mit 140 000 Mann so wenig zu rechtfertigen wie mit 160 000 Mann.

Die US-Demokraten können sich, einem buridanischen Esel gleich, offenbar weder für das eine noch das andere entscheiden. Die beiden Artikel der Resolution bringen diesen Widerspruch so deutlich ans Licht, wie man es sich überhaupt nur vorstellen kann.



Was also wollen sie, die US-Demokraten? Mir scheint, sie wollen den Wählern nach dem Mund reden. Die nämlich haben einerseits das patriotische Gefühl, ihre Jungs nicht im Stich lassen zu wollen. Und sie haben zweitens in ihrer Mehrheit genug von einem Krieg, der nicht so läuft, wie sie sich das vorgestellt hatten.

Das ist verständlich, es ist menschlich. Aber logisch ist es nicht, staatsmännisch schon gar nicht.

Präsident Bush hat eine mutige Entscheidung getroffen, basierend auf einer rationalen Analyse:

Der Terrorismus im Irak ist weitgehend auf Bagdad und seine Umgebung sowie ein, zwei andere Provinzen beschränkt. Wenn er durch eine massive Offensive dort entscheidend geschwächt werden kann, dann besteht eine vernünftige Chance, daß die irakische Regierung ihre Kontrolle über das Land so weit festigt, daß die US-Truppen im Irak allmählich abgebaut werden können.

Die Demokraten können diese Analyse und diese Entscheidung teilen oder nicht. Wenn sie sie nicht teilen, dann müßten sie entweder einen alternativen Plan für eine Strategie vorlegen, die zum Sieg führt, oder sie müßten in ihrer Resolution den Abzug der US-Truppen fordern, so schnell das möglich ist.

Sie tun nicht das eine, sie tun nicht das andere. Sie lassen es zu, daß im Irak weiter US-Soldaten sterben, aber sie verweigern dem Oberbefehlshaber die Zustimmung zu der Strategie, die er für erfolgreich hält.




Ich habe schon oft mit einer gewissen Spannung auf die Kritik von Lesern gewartet, wenn ich einen Beitrag geschrieben hatte. Diesmal tue ich das in besonderem Maß.

Denn ich möchte so etwas ähnliches tun wie Ellery Queen in einem Teil "seiner" Kriminalromane: Eine Challenge to the Reader formulieren, eine Herausforderung an den Leser.

Ich möchte diejenigen, die meiner Analyse nicht zustimmen, einladen, zu schreiben, welches Ziel denn nach ihrer Analyse die US-Demokraten verfolgen; wie vor allem sie es denn nach ihrer Auffassung moralisch rechtfertigen können, weiter amerikanische Soldaten in einem Krieg zu opfern, den sie doch - so scheint es mir - für verloren halten.

Oder halten sie den Krieg gar nicht für verloren, die US-Demokraten? Dann würde ich gern wissen, ob mir jemand sagen kann, warum sie dem Präsidenten die Truppenverstärkung verweigern wollen, die er als erforderlich für diesen Sieg ansieht.


Links zu den vorausgehenden Beiträgen dieser Serie findet man hier in "Zettels kleinem Zimmer".

17. Februar 2007

Randbemerkung: Rauche, staune - aus die Laune

Wenn dasselbe Verbot, je nach Umständen und Umfeld, mal mit dem einen, mal mit einem anderen Argument begründet wird, dann empfiehlt es sich, hellhörig zu werden. Der Verdacht liegt nahe, daß es den VerbieterInnen gar nicht um die angegebenen Gründe geht, sondern um's Verbieten selbst.

So ist es bei einem Thema, über das ich kürzlich etwas geschrieben habe, das Verbot der Holocaust- Leugnung. In Deutschland ist das verboten, weil es eine Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener ist (inzwischen ist ein weiterer Paragraph hinzugetreten). In Frankreich, weil es etwas leugnet, was ein Internationales Gericht festgestellt hat. In Österreich, weil es gegen das Wiederbetätigungsverbot verstößt, das dort für Nazis gilt. In Kanada, weil es ein Haßdelikt ist. Und so fort.

Ein anderes Beispiel (ich vergleiche, ich setze nicht gleich, was hier besonders absurd wäre) ist das Rauchverbot. Ursprünglich sollte es dem Schutz von Nichtrauchern vor Passivrauchen dienen. Dann wurde auch ein Rauchverbot in Zügen gefordert - wo die Raucher ja gerade in den Raucherwagen, den Raucherabteilen unter sich sind.

Und nun also die Autos. Generell soll das Rauchen in Autos verboten werden, verlangt die Drogenbeauftragte der Bundesregierung, Sabine Bätzing (SPD); so meldet es zum Beispiel die Tagesschau. "Zwar würde dies einen Eingriff in die Privatsphäre des Einzelnen bedeuten: 'Aber wir müssen uns ernsthaft fragen, ob Verkehrssicherheit und Gesundheitsschutz nicht höher zu bewerten sind.'"

Die Verkehrssicherheit soll jetzt also als Begründung herhalten. Weil ja ein Fahrer damit überfordert ist, das Auto zu lenken und sich dabei eine Zigarette anzuzünden.

Das allerdings würde es den Mitfahrern immer noch nicht verbieten, das Rauchen. Also verweist Bätzing auf eventuell mitfahrende Säuglinge.



Der Gedanke, daß Eltern selbst darüber entscheiden können, ob sie in Gegenwart eines mitfahrenden Säuglings rauchen; der Gedanke, daß wir freien Bürger überhaupt entscheiden können, was wir unserer Gesundheit zumuten und was nicht - dieser Gedanke ist ihr vermutlich ganz und gar fremd, der Sabine Bätzing. Was gut für uns ist, das weiß - denkt sie vermutlich - allein der fürsorgliche Staat, der sich um uns kümmert. Der uns vor uns selbst schützt.

Auf ihrer WebSite verrät sie uns ihr "persönliches Motto", die Frau Bätzing: "Lache und die Welt lacht mit dir, alles andere ist viel zu anstrengend".

Nein, mit dieser Frau vermag ich nicht zu lachen. Und im Grunde auch nicht über sie. Dazu sind diejenigen, die wie sie denken, in unserem Land zu mächtig geworden.

Über das Vergleichen von Äpfeln mit Birnen. Und etwas über zwei herausragende Deutsche

"Das kann man nicht vergleichen" ist ein Argument, das ich immer wieder höre und lese. Ich wundere mich darüber. Sie kommt mir oft geradezu abwegig vor, diese Behauptung: "Das kann man nicht vergleichen".

Was gäbe es denn schon, das man nicht vergleichen könnte?

Ein tertium comparationis existiert fast immer - also eine Dimension, ein gemeinsames Merkmal, vor dem als Hintergrund (als "Folie") man Unterschiede sichtbar machen kann. Man kann Mörder mit rechtschaffenen Menschen vergleichen, George W. Bush mit Adolf Hitler, einen Sonnenuntergang mit einem Alfa Romeo.

Oder, sagen wir, die Schrift von Aristoteles über die Seele mit den Pappeln, die vor einigen Tagen vor unserem Haus gefällt wurden.

Es ist mal leicht, mal schwer, solche Vergleiche anzustellen. Es ist manchmal vielleicht eine intellektuelle Herausforderung. Aber gehen tut's eigentlich immer. Aristoteles zum Beispiel hat seinen Begriff der Psyché, der Seele, keineswegs allein auf den Menschen bezogen, sondern auch die belebte Natur eingeschlossen. Für ihn war es durchaus so etwas wie ein Töten, wenn man einen Baum fällt.

Naja, das ist mir jetzt so eingefallen. Etwas weit hergeholt, das räume ich ein. Distante Vergleiche verlangen es halt, weit herzuholen. Aber das, was ich damit illustrieren will, liegt, scheint mir, auf der Hand:

Vergleichen ist ein sozusagen unschuldiges Unterfangen; allenfalls eines, das an die Kreativität, an laterales Denken appelliert. Die Behauptung "Das kann man nicht vergleichen" ist fast immer falsch. Man kann.

Und das läßt sich beweisen, indem man eben den betreffenden Vergleich anstellt.



Nun sagen, nun schreiben das allerdings oft intelligente und seriöse Leute, daß man Dies und Jenes nicht vergleichen könne.

Wieso vertreten sie eine so offensichtlich falsche Behauptung? Ich vermute, weil sie gar nicht "vergleichen" meinen, sondern "gleichsetzen"; und weil sie nicht vom Können reden, sondern vom Dürfen.

Sie sagen, man "könne" nicht "vergleichen". Sie meinen aber, man "dürfe" nicht "gleichsetzen".



Nun, dürfen tut man schon, in einer freien Gesellschaft, auch das Gleichsetzen darf man.

Nur kann man sich damit natürlich blamieren. Wer Äpfel für Birnen hält, der ist ein Dummkopf. Wer - um nun zum Politischen zu kommen - den Holocaust mit dem Gulag gleichsetzt, der ist ein schon fast unglaublicher Dummkopf. Denn es liegt doch auf der Hand, daß es dazwischen zahlreiche, fast könnte man sagen: zahllose gravierende Unterschiede gibt.

Aber natürlich auch Gemeinsamkeiten. Um es nochmal zu sagen: Unterschiede lassen sich überhaupt nur auf der Folie von Gemeinsamkeit bestimmen. Wo es kein tertium comparationis gibt, da gibt es auch keine comparatio. Kein Unterschied ohne Gemeinsamkeit.




Für diese - zugegebenermaßen etwas abstrakten - Überlegungen habe ich zwei konkrete Anlässe.

Erstens: Als ich kürzlich auf die Menschenrechtsverletzungen im Gefängnis von Guantánamo hingewiesen habe, allerdings in dem cubanischen Combinado de Guantánamo und nicht im amerikanischen Guantánamo Bay, da haben einige Kommentatoren das Bedenken geäußert, ich würde damit die US- Menschenrechtsverletzungen verharmlosen. Man dürfe da nicht vergleichen, so klang es.



Zweitens - und jetzt bitte ich den geneigten Leser in der Tat um die Bereitschaft, nicht nur Äpfel mit Birnen, sondern gefällte Pappeln mit den Schriften des Aristoteles zu vergleichen - : Der unmittelbare Anlaß für diesen Beitrag war ein Gedanke, der mir heute durch den Kopf ging:

Wie schön, daß es in Deutschland wieder eine intellektuelle Elite gibt; genauer: Eine, die endlich wieder anerkannt wird. Wie schön, daß die Hochbegabten, die Ausnahme- Intelligenten, diejenigen mit einem IQ jenseits der 135 oder 140, endlich wieder Bewunderung finden, statt daß die Egalitären sich über sie hermachen, sie heruntermachen, sie vielleicht fertigmachen.

So wurde dem großen Marcel Reich-Ranicki die verdiente Anerkennung zuteil, die Ehrendoktorwürde der Humboldt- Universität verliehen zu bekommen. In der FAZ hat dazu Frank Schirrmacher einen sehr schönen Kommentar geschrieben.

Marcel Reich-Ranicki wurde diese Ehrendoktorwürde verliehen - einem dieser großen jüdischen Intellektuellen, die das deutsche Geistesleben so ungeheuer bereichert haben. Zuerst, im Achtzehnten Jahrhundert, im liberalen, rechtsstaatlichen Preußen und Hamburg, wo Salomon Maimon, der Freund des ebenfalls sehr großen Karl Philipp Moritz, unbehelligt von Antisemiten wirken konnte, und Moses Mendelssohn.

Mit diesen Großen begann es. Das deutsche Geistesleben des Neunzehnten, des Zwanzigsten Jahrhunderts ist ohne den Beitrag jüdischer Professoren, Journalisten, Autoren überhaupt nicht zu denken. Wie Frank Schirrmacher sehr treffend schreibt:
Marcel Reich- Ranicki ist die letzte Erscheinungsform jener literarisch- kosmopolitischen Intelligenz, die die Weimarer Republik prägte. Er lässt uns ahnen, was hätte sein können, wenn sie geblieben wären und nicht ermordet oder in Tod und Exil getrieben worden wären: Menschen wie Walter Benjamin und Joseph Roth, Schönberg und Einstein, Wassermann und Kerr.


Und nun also die Birnen zu den Äpfeln: Der aktuelle, der unmittelbare Anlaß für diesen Beitrag ist - Günter Jauchs "Wer wird Millionär?". Ja.

Da war am Montag ein junger Mensch aufgetreten, ein gewisser Felix Rautenberg, 19. Gestern, am Freitag, noch mal.

Ein junger Mensch, wie man sie im Umfeld der Pariser Grandes Écoles vielfach antrifft, wie man sie in Oxford und Cambridge, am MIT und in Harvard, am israelischen Technion oft findet: Blitzgescheit, dabei unprätentiös. Eine Mischung aus Selbstsicherheit und einem leichten Anflug von Arroganz, wie das eben die Hochbegabung mit sich bringt.

Einer, der jede Frage rational analysierte, seine Chancen kühl abwog, der mit Harry- Potter- Miene sich klüger benahm als die meisten Älteren.

Als es gestern um 500 000 Euro ging, bei der Frage, welcher Verein der Fußball- Bundesliga die meisten Niederlagen kassiert hatte, da erkannte er sofort, welche Parameter da zu bedenken sind:

Wieviele Spielzeiten lang war der Verein in der Bundesliga? Wo stand er jeweils im Durchschnitt? Wenn er sehr schlecht war, dann wird er zwar viele Niederlagen eingesteckt haben, aber auch oft abgestiegen sein. Die meisten Niederlagen wird derjenige Verein gehabt haben, der zwar immer wieder in der Ersten Liga blieb, aber oft nur knapp.

Am Ende dieser Erwägungen erkannte Felix Rautenberg kühl, daß sich das Problem nicht durch rationale Analyse hinreichend sicher lösen ließ. Also hörte er auf, der Felix Rautenberg.



Menschen wie ihn braucht unser Land. Menschen wie Marcel Reich-Ranicki. Und vor allem brauchen wir endlich ein gesellschaftliches Klima, in dem auf die Außerordentlichen, die Herausragenden, nicht sofort Neid und Häme einprasseln.

Wir brauchen also Eliteschulen, Eliteuniversitäten. Wir brauchen endlich wieder eine gesellschaftliche Oberschicht, die sich ihrer Exzellenz, aber auch damit ihrer Verantwortung bewußt ist.

Es muß endlich aufhören damit, daß in Deutschland - was ja gut und richtig ist - die Schwachen gefördert, aber die Intelligenten, die Leistungsfähigen, die Reich- Ranickis und Rautenbergs scheel angesehen, oft benachteiligt werden.

Reich-Ranicki hat das ja nicht nur zur Nazi-Zeit erlebt. Auch noch in und von der Redaktion der liberalen Zeit wurde er so behandelt, wie das einem so außerordentlichen Geist nicht zugekommen wäre. Er hat sich über diese Jahre oft bitter geäußert.

Nun erlebt er noch die verdienten Ehrungen. Und wer weiß, vielleicht hat er ja den jungen Felix Rautenberg im TV gesehen und sich an dessen Intelligenz erfreut.

15. Februar 2007

Marginalie: Ist es strafbar, etwas zu leugnen? Eine Anmerkung zum First Amendment

"Pol Pot hat keine Menschen ermorden lassen. Die Antikommunisten haben das nur deshalb behauptet, weil sie den Kommunismus verunglimpfen wollten." "Stalin hat keine Menschen ermorden lassen". "Es hat keinen Genozid an Armeniern gegeben".

Was hat jemand zu befürchten, der in Deutschland solche Absurditäten behauptet? Ungläubigkeit, Unverständnis. Er wird als der Spinner, als der Fanatiker behandelt werden, der er ist.

Er redet Unfug. Nur ist es ja kein Verbrechen, Unfug zu reden.

Wenn jemand aber behauptet "Die Nazis haben keine Juden ermordet", dann trifft ihn nicht nur die berechtigte allgemeine Ablehnung, die ein solcher Dummkopf verdient hat, ein solcher Mensch, der keine Sensibilität gegenüber Opfern kennt.

Sondern dann wird er zu Gefängnis verurteilt. Wie gestern Ernst Zündel



Als ich als Schüler viel Philosophie gelesen, mich für die Aufklärung begeistert habe, da war mir kaum ein Satz wichtiger als der Voltaire zugeschriebene: "Ich bin überhaupt nicht deiner Meinung, aber ich werde dein Recht verteidigen, es zu sagen."

Friedrichs II "Gazetten sollen nicht genieret werden" war für mich die praktische politische Anwendung. Dann, als ich mehr gelesen hatte, das First Amendment der amerikanischen Verfassung.



Es ist meines Erachtens ein Skandal, daß im Deutschland des 21. Jahrhunderts jemand dafür verurteilt wird, daß er etwas geleugnet hat.

Es ist ein Schandfleck auf unserer Rechtskultur. Durch nichts zu entschuldigen. Ein Stück totalitären Denkens in einem liberalen Rechtsstaat.

P.S.: Von Zustimmung durch Antisemiten bitte ich abzusehen.

Ein Diktator für den Irak? Nebst Anmerkungen zu politischen Grundfragen

Vor ein paar Tagen gab es in der BBC eine jener Diskussionssendungen, wie man sie in dieser Mischung aus Schärfe und Fairness wohl nur in dem Land findet, in dem Discussion Clubs zu jeder Uni gehören. Und je besser die Uni, umso unbarmherziger wird argumentiert. Meist auch umso fairer, wenngleich auch schon einmal ein Schürhaken die Diskussion bereichern kann, wenn allzu viele Genies beteiligt sind. Und wenn es schon etwas mehr ist als ein Discussion Club.

In der betreffenden Sendung wurde die These diskutiert, daß der Irak einen Dikator brauche. Spannend war die Diskussion eigentlich nicht, denn die Argumente, die pros and cons, lagen auf der Hand:

Pro: Gegen brutale, mit allen Mitteln kämpfende Terrroristen kann man nicht allein mit den Mitteln eines demokratischen Rechtsstaats gewinnen. Counterinsurgency ist immer, wenn sie erfolgreich sein soll, ein schmutziges Geschäft. Im Irak kann diese Härte, diesen erbarmungslosen Kampf gegen die Erbarmungslosen, nur ein Diktator hinbekommen.

Pro: Der Irak hat, wie die ganze arabische Welt, keine demokratische Tradition. Die meisten dort wollen im Grunde den Kalifen, den Sultan, den Scheich - jedenfalls denjenigen, der sagt, wo es langgeht.

Con: Wozu den Irak von Saddam befreien, wenn man ihn nun einem anderen Diktator ausliefert?

Das war's im Grunde, das Argument contra Diktator.

Ein nun allerdings sehr starkes Argument.



Spricht nicht doch oft vieles für den Starken Mann? Für das autoritäre System? Diese Frage, diese oft in Frageform gekleidete Behauptung, finde ich in letzter Zeit immer häufiger.

Und wieder mal ist wie so oft: Linke und Rechtsextreme sind einer Meinung. So argumentieren sie, so reden sie dahin, so reden sie daher:
  • Castro? Ja gewiß, in Cuba werden die Menschenrechte nicht unbedingt beachtet. Aber wenn man es im Vergleich mit anderen Staaten Lateinamerikas sieht ... wenig Analphabeten ... so viele Mediziner, daß die sogar exportiert werden können ... Das ist doch alles positiv. (Anmerkung: Nur Autobahnen hat er bisher nicht gebaut, der Máximo Leader, heute meist bescheiden El Comandante genannt. Was freilich beides "der Führer" heißt). Nun ja. Führer ist ja nichts Schlechtes, oder? Sogar eine Fußballmannschaft braucht einen Spielführer, nicht wahr?

  • Rußland? Zugegeben, "lupenreiner Demokrat" war vielleicht ein wenig übertrieben. Aber vor Putins Präsidentschaft herrschte doch, nicht wahr, in Rußland ein ziemliches Chaos. Da regierten doch diese Juden, die Plutokraten. Nein, "Plutokraten" hießen sie ja bei den Nazis. Also: diese jüdischen Oligarchen, das ist das Wort. Mit ihren undurchsichtigen Verbindungen zu Israel, zur "Ostküste" der USA, Sie wissen schon. Und Putin, das ist, nicht wahr, ein Patriot, ein wirklicher Russe. Der wehrt sich gegen die Herrschaft dieses internationalen Kapitals.

  • China? Ja, da werden die Menschenrechte freilich auch nicht beachtet. Aber wer würde denn wünschen, daß dieses Riesenreich im Chaos versinkt?

  • Venezuela? Ja, sicher, Chávez bereitet ein Ermächtigungsgesetz vor. Aber wie sonst soll er sich denn gegen die übermächtigen USA behaupten? Und war das denn bisher in Venezuela eine Demokratie? Nur weil es freie Wahlen gab? Ja, herrschten denn da nicht die Reichen, die Kollaborateure der USA?


  • Und so fort. Bei keinem dieser Argumente kann man auf Anhieb erkennen, ob es ein linkes oder ein rechtsextremes ist.




    Für eine Diktatur, für die systematische Mißachtung der Menschenrechte, gibt es aber keine Argumente. Genauer: Es gibt sie nicht, solange und insofern man den demokratischen Rechtsstaat bejaht. Das, was ich aufgezählt habe, und alles, was sonst an Argumenten dieser Art vorgetragen wird - das sind ja allenfalls Argumente gegen das Recht, gegen die Freiheit, gegen die Demokratie.

    Und da geht es nun freilich um, sagen wir, Axiome. Mit jemandem, der gegen Recht, Freiheit, Demokratie ist, mag ich nicht diskutieren. Das wäre ungefähr genauso sinnvoll, wie wenn sich die Gazelle mit dem Löwen auf eine Diskussion darüber einlassen würde, ob man vegetarisch leben sollte. Vielleicht hätte sie ja die besseren Argumente. Aber wahrscheinlich nicht das bessere Ende für sich.




    Daß Rechtsextreme solche Auffassungen vertreten, das darf man füglich von ihnen erwarten. Warum aber auch Linke? Mir scheint das diverse, sagen wir, hochempfindliche Punkte der Linken zu berühren:
  • Das ambivalente Verhältnis zur Freiheit. Linke sind immer mit Verve für die Freiheit eingetreten, wenn sie von rechten Diktatoren bedroht war. Kaum je sind Linke mit derselben Deutlichkeit aufgetreten, wenn die Freiheit von Links bedroht wurde. Castro ist sozusagen das vorletzte, Chávez im Augenblick das aktuellste Beispiel für diese Ambivalenz. Stalin, Mao, Pol Pot sind frühere und noch schlimmere Beispiele. Die Linke tritt in ihrer großen Mehrheit im Grunde nicht für die Freiheit ein, sondern nur für die Freiheit, linke Politik zu machen. Übrigens tat das auch Rosa Luxemburg, die Vielzitierte, vielfach Falschzitierte.

  • The white man's burden. In Diskussionen mit linken Freunden und Bekannten höre ich immer wieder diese Überlegung: Wo nehmen wir Weißen, wir Europäer, eigentlich das Recht her, anderen unser Verständnis von Demokratie aufzuzwingen, mindestens aufzudrängen? Sie haben eben andere Traditionen, andere Werte. Wie dürfen uns doch nicht als Lehrmeister der Welt aufspielen.

  • Und dann das, sagen wir, linke Super- Extra- Total- Argument: Hä, was ist denn das für eine Freiheit, die bei uns herrscht? Die Freiheit von 200 Reichen, ihre Meinung zu verbreiten? Die Freiheit der Konzerne, ihre Produkte zu vermarkten? Die Freiheit von Arbeit, von sozialer Gerechtigkeit?

  • Da kann ich dann nicht mehr mitdiskutieren. Wer nicht verstanden hat, daß Menschen nicht glücklich leben können, wenn sie nicht frei sind, der mag das halt glauben. Ich glaube es nicht. Und ich glaube es dem Betreffenden, ehrlich gesagt, auch nicht, daß er es ehrlich glaubt.




    Ein Problem gibt es freilich schon. Aus meiner Sicht ist es nicht das Problem, ob Freiheit oder Unterdrückung vorzuziehen sei. Sondern das Problem ist es, wie man die Freiheit so organisiert, daß sie auch funktioniert.

    Alle diese Argumente gegen Freiheit und Recht - das sind ja im Grunde nur Argumente gegen gescheiterte Freiheit, gegen mißglückte Rechtsstaatlichkeit.

    Der Demokratische Rechtsstaat ist freilich nicht leicht hinzukriegen. Er kann sehr schnell scheitern, er ist immer gefährdet. Also muß man sehr viele Überlegungen daran wenden, wie man ihn so organisiert, daß er der menschlichen Einfalt, dem Egoismus von uns Menschen, unserem Machtstreben usw. Rechnung trägt.



    Mit anderen Worten: Eine demokratische Verfassung, die funktioniert, muß so konstruiert werden wie eine komplexe Maschine. Das ist in der Geschichte bisher ein einziges Mal gelungen: Bei der Konstruktion der amerikanischen Verfassung. Sie war angewandte politische Theorie. Sie war ein nachgerade unglaublicher Erfolg - eine Verfassung, vor mehr als 200 Jahren erdacht, die immer noch fast völlig so ist, wie sie damals war. Gegen die niemals jemand revoltieren wollte, die niemals die Zustimmung der Mehrheit des Volks verloren hat.

    Es geht also. Es ging unter den extrem schwierigen Bedingungen der amerikanischen Kolonien, die sich ihre Unabhängigkeit erkämpft hatten. Unter den Bedingungen einer bunt zusammengewürfelten Gesellschaft, die keine eigene Tradition hatte, die sich ständig durch neue Einwanderungswellen veränderte.

    Es kann ebenso unter ähnlich schwierigen Bedingungen gehen, in Asien, in Afrika, in Lateinamerika.

    Es gibt keine Entschuldigung dafür, den demokratischen Rechtsstaat abzuschreiben, egal wo. Und es gibt erst recht keine Entschuldigung dafür, Verfassungen zu beschließen, die irgendwelche Wolkenkuckucksheime zu realisieren versuchen.

    Statt auf den Erfahrungen der US-Verfassung aufzubauen.

    14. Februar 2007

    Zettels Meckerecke: Diese verfluchten Automatismen - mit einer besonderen Breitseite gegen Blogspot und Word

    Es mag sein, daß Blogspot, wo ich nun mal publiziere, besonders schlimm ist: Jedenfalls beginnt, wenn ich einen Text ins Netz zu stellen versuche, ein ermüdender Kampf gegen die Idiotie von Automatismen, die sich irgendwer ausgedacht hat.

    Um mir zu helfen, behauptet er. In Wahrheit, um mich zu knechten, um mir Ärger zu machen.

    Ich beginne eine Aufzählung. Am Beginn des ersten Punkts der Aufzählung (blockquote, li) habe ich Unglücksrabe vielleicht etwas kursiv oder durch bold hervorgehoben.

    Also setzt das dieses idiotische Programm auch bei allen anderen Items der Aufzählung ein, ohne meinen Willen, und ich muß es dann mühsam wieder löschen.

    Wenn ich einen horizontalen Strich (hr) eingefügt habe, und danach kommt irgendwas, dann nimmt dieses schwachsinnige Programm an, daß nun Dasselbe hinter allen horizontalen Strichen der Fall sein wird. Setzt es also ein, und ich lösche und lösche. Ein Kampf gegen die Dummheit.

    Kurzum, es ist der reine Sozialismus Es ist Gleichmacherei, es ist eine unverschämte Einschränkung der Freiheit des Einzelnen, was diese Programme veranstalten.

    Word ist, in seinen neuen Versionen, voll derartiger "Hilfen", die in Wahrheit eine ständige Vergewaltigung des Benutzers sind. Ich benutze folglich meine alter Version und weigere mich, sie "upzudaten".



    Warum, zum Geier, kann nicht wenigstens jedes dieser Programme eine Option haben: Reject all automatic helps oder sowas?

    Ich würde sie liebend gern abschalten, alle. Ich will genau das schreiben, was ich schreiben will, und kein wizard soll mir da reinreden.

    Gut, ich muß dann ein paar mehr Steuerzeichen einsetzen. Aber ich habe das Textschreiben mit LocoScript und mit Wordstar gelernt, Anfang der achtziger Jahre; da machte man das eben.

    Und war Herr des Textes. Bekam genau das, was man wollte.



    Ich benutze auch keine shortcuts. Warum, verflucht noch mal, macht der Rechner ständig etwas, was ich gar nicht will, nur weil ich mich vertippt und dabei eine Tastenkombination ausgelöst habe?

    Ich will diese Shortcuts nicht. Ich will diese Automatismen nicht. Ich will, daß der Rechner nicht für mich denkt, sondern gefälligst als mein Sklave genau das tut, was ich will.



    Kurz bevor dieser Text fertig war, habe ich versehentlich irgendeine Tastenkombination betätigt, die dazu geführt hätte, daß er unfertig publiziert worden wäre.

    Glücklicherweise hatte ich aber gegen ein anderes Gebot verstoßen, nämlich vor jeder Publikation festzulegen, ob Kommentare zu diesem Beitrag erlaubt sind. Obwohl ich das generell festgelegt habe -, das fürsorgliche Programm zwingt mich, es wieder und wieder zu bestätigen.

    Die eine sozialistische Vergewaltigung hat in diesem Fall die andere konterkariert.

    Was wahrscheinlich generell das Geheimnis des Überlebens im Sozialismus ist.



    PS: Absurdistan hoch zwei: Bei Blogspot kann man, was schön ist, neuerdings den Beiträgen Stichwörter zuordnen, Tags also. Irgendwann habe ich zum Beispiel mal "Diktatur des Proletariats" eingeben. Das hat das freundliche Programm sich gemerkt. Als ich vorhin "Diktatur" eingegeben habe, hat es also in seiner unverschämten Dummheit "des Proletariats" ergänzt. Und ich kann machen und löschen, wie ich will - am Ende steht wieder "Diktatur des Proletariats" da.

    Also habe ich jetzt "Dik" geschrieben.

    Gegen Sozialismus ist der Einzelne hilflos, gegen Dummheit ist er es. Wie erst gegen die Dummheit sozialistischer "Hilfe".

    11. Februar 2007

    Rückblick: Putin 2007 und sein Iwanow

    In einem Beitrag gestern habe ich mich, wie ein freundlicher Kommentator schrieb, "rasanten Spekulationen über Putins Strategie des Machterhalts" hingegeben. Stimmt; jedenfalls was das Spekulative angeht.

    Heute nun lese ich in der SZ einen Gastbeitrag des russischen Verteidigungsministers Iwanow. Er stammt schon vom 7. Februar, war mir aber entgangen.

    Es ist wohl auch damals, Mitte letzter Woche, kaum über ihn berichtet worden. Im Licht des Auftritts von Putin scheint mir das, was Iwanow da schreibt, nun aber sehr aufschlußreich zu sein. Und auch hier und da die Spekulationen in meinem Beitrag zu bestätigen.

    Besonders interessant ist, was Iwanow über die Staaten schreibt, die einmal zum russischen Kolonialreich gehörten (Hervorhebungen von Zettel):
    Die Errichtung eines Raketenabwehr-Abschnitts nahe der russischen Grenze ist ein unfreundliches Signal. Es belastet die Beziehungen zwischen Russland und den USA, Russland und den Nato-Staaten sowie Russland und Polen (oder jedem anderen Land, das seinem Beispiel folgt). (...)

    Der Aufnahmeprozess neuer Mitglieder in die Allianz führt nicht nur zu einer Erweiterung ihrer Grenzen, sondern auch zur Vergrößerung ihres Interessengebiets. (...) Ich bin zutiefst überzeugt, dass die intensiven Gespräche, die auf einen Beitritt der Ukraine und Georgiens zur Nato abzielen, weder die Sicherheit in der Region noch die Sicherheit Russlands erhöhen.(...)

    Das führt zu ernsthaften Risiken und Problemen. (...) Estland und Lettland können als Präzedenzfälle dienen. (...) Selbst die "Demokratisierung" in diesen baltischen Staaten hat einen verdrehten Charakter angenommen. (...)

    In absurder Weise werden faschistische und nationalistische Ideen propagiert, wird die russischsprachige und insbesondere die ethnisch- russische Bevölkerung diskriminiert. Die politische "Blindheit" der Allianz in dieser Frage ruft bei uns, gelinde gesagt, Unverständnis hervor.
    Auch hier will ich die Parallele zu Hitler in den dreißiger Jahren nicht überstrapazieren - aber auch diesem hat damals die "Minderheitenfrage" immer wieder als Hebel gedient, um Druck auf kleinere Nachbarstaaten wie Polen und die Tschechoslowakei auszuüben.



    Sergej Iwanow (nicht zu verwechseln mit dem früheren russischen Außenminister Igor Iwanow) ist übrigens, wie Putin, ein alter KGB-Mann. Er trat schon im Alter von 23 Jahren, sofort nach Abschluß seines Studiums, in den KGB ein, absolvierte erst die KGB- Schule in Minsk und dann die Moskauer Führungsakademie des KGB. Er war dann in diversen KGB- Residenturen im Ausland im Einsatz, unter anderem in Helsinki und in Kenia. Auch nach dem Ende der Sowjetunion setzte er seine Karriere im KGB und späteren FSB fort; zum Schluß als dessen stellvertretender Leiter, direkt dem Leiter Putin unterstellt. 1999 ernannte ihn Jelzin zum Chef des russischen Nationalen Sicherheitsrats, und von dort wechselte er unter Putin ins Verteidigungsministerium.