25. Februar 2007

Anmerkung zur Moral des Fressens

Erst kommt das Fressen, dann die Moral? Nein: Die Moral kam mit dem Fressen. Die just-so story vieler Evolutionsbiologen dazu geht ungefähr so:

Moral, das heißt die sozial erforderliche Disziplinierung von Triebverhalten. Die mores überlagern die Instinkte.

Zu den gewaltigen Umgestaltungen, die - vor vielleicht zwei Millionen Jahren - mit dem Auftreten des Homo Erectus einhergingen, gehörte die Erfindung einer Form der Sozialorganisation, die es ermöglichte, daß auch diejenigen Hordenmitglieder satt wurden, die sich nicht an der Jagd beteiligten.

Sondern die sich um die Aufzucht - die immer länger, immer ressourcenaufwendiger werdende Aufzucht - des Nachwuches kümmerten. Die, später vielleicht, der Horde auch dadurch nützten, daß sie neue Werkzeuge oder neue Jagdtechniken ersannen, statt sich als Jäger zu bewähren.

Also brauchte man Tischsitten.

Die Starken, die erfolgreichen Jäger, mußten lernen, auch den anderen etwas von der Jagdbeute zu überlassen. Auch sie brauchte die Horde ja.

Mit der Erfindung des Feuers mußte man lernen, nicht sofort über die ersehnte tierische Nahrung herzufallen, sondern zu warten, bis sie gegart war. Und damit besser verdaulich; das heißt mit einer höheren Energieausbeute.

Die das über die Generationen hinweg wachsende Gehirn brauchte. Die man brauchte, um hinter dem Wild über lange Strecken herzujagen. Das entscheidende Problem auf dem Weg zum Homo Sapiens war die Energieversorgung.

Sie verlangte Selbstbeherrschung. Das ging nur dank des wachsenden Gehirns; ein Rückmeldekreis also. Die Beherrschung der Triebe wurde möglich nicht nur durch die Vergrößerung des Cortex überhaupt, sondern speziell durch die gewaltige Zunahme des Präfrontalhirns mit seinen Hemmungsmechanismen, wie sie sich auf dem Weg zum Homo Sapiens vollzogen hat. Der Mensch lernte "sich zu beherrschen", indem das Hirn inhibitorische Mechanismen herausbildete.

Essen - das ist also, neben dem Sexualverhalten, neben der Aggression, das Gebiet, auf dem wir Menschen im Lauf der Evolution den Triebverzicht lernen mußten; auf dem folglich das sich konkretisierte, was Freud als das Unbehagen in der Kultur beschrieben hat: Die Unmöglichkeit, das Lustprinzip unmittelbar zu verwirklichen; die Notwendigkeit, den Umweg über das Realitätsprinzips zu gehen.



Soweit in Kürze und Einfachheit das, was - soweit ich es überblicke - state of the art der Evolutionsbiologie ist. Der Anlaß dafür, daß ich darauf hinweise, ist die Reaktion auf meinen kürzlichen Beitrag über Öko- und Bio- Produkte. Zahlreiche Kommentare, heftige zum Teil. Überraschend heftig; denn der Diskussionsstil in "Zettels Raum" ist ja fast immer sehr rational, sehr beherrscht.

Wie kommt's? Ich erkläre mir das damit, daß die Moral des Fressens eben etwas sehr Archaisches ist. Was man essen darf und was nicht, wann man essen darf und wann nicht - darüber enthalten viele Religionen genaue Festlegungen. Opfer, die die meisten Religionen kennen, bestehen oft darin, dem Gott oder den Göttern etwas Eßbares anzubieten; im Grenzfall einen Menschen als seine Nahrung.

Also, wenn wir über's Essen reden und streiten, dann geht es nicht nur darum, was schmeckt und was uns gut tut.

Da spielt Ursprünglicheres mit hinein. Wer gegen Nahrungs- Tabus verstößt, der versündigt sich. Wer nicht ißt wie wir, der ist auch nicht wie wir - wenn man mir den Kalauer verzeiht.



So erkläre ich mir die affektive Besetzung, die oft seltsame Heftigkeit der Diskussion, wenn es ums Essen geht. Darum, ob Zucker nun "gesund" ist oder nicht, ob man vegetarisch leben sollte, ob veganisch, trennkostmäßig, oder wie immer. Die Diskussion über "Belastung" von Nahrungsmitteln und über "Genfood".

Da geht es, scheint mir, nicht nur um's Essen. Sondern sozusagen moralisch um die Wurst.