19. Mai 2023

Joris-Karl Huysmans. "Auf Reede." Ein Mondspaziergang aus dem Jahr 1887





Meine Damen und Herren, die Gesundheit ist doch das Kostbarste, das wir besitzen. Und da können wir nicht dankbar genug sein, daß uns vor kurzem noch ein neues, fast unberührtes Erholungsgebiet erschlossen wurde - da haben wir für Sie eine Wanderroute ausgearbeitet, die für Alt und Jung die ideale Möglichkeit freizeitlicher Entspannung bietet. Nach zügiger Anfahrt von knapp 385.000 Kilometern parken wir unser Fahrzeug hier am südlichen Ausläufer des Mare Nectaris. Von dort wählen wir den gut gekennzeichneten Fußweg in Richtung nordwestlicher Richtung. Wir erreichen ein entzückendes Hochplateau, wo wir schon einen hübschen Blick auf die romantischen Ringgebirge Hortensius, Reinhold und Eddington genießen. Wir nutzen den Aufenthalt zu einer kleinen Rast, da die Temperaturen bei steigender Sonne 125 Grad übersteigen dürften. Vorsicht mit verderblichem Proviant! Frisch gestärkt nähern wir uns nun dem Gipfelgrat des Kraters Kopernikus, wobei ältere Herrschaften die leichtere Route am südlichen Rand des Mare Galilei wählen, oder einem leichten Bogen nach Osten gleich über eine gut geräumte Schotterhalde den Weg zurück zum Fahrzeug nehmen. Wanderfreudige Teilnehmer dagegen und die Jugend erreichen bei rüstigem Ausschreiten in gut drei Monaten die Zwillingsgipfel Castor und Pollux, von wo wir durch einen wundervollen und unvergesslichen Blick über das Mare Imbrium bis hin zum majestätischen Krater Plato belohnt werden. Vorsicht bei empfindlicher Haut, und bitte: Abfälle gehören in die Papierkörbe! Wenn Sie noch einen Urlaubstag zugeben können und den Umweg von 4000 Kilometern nicht scheuen, lohnt sich der Abstecher über die Mare Serenitatis und Tranquillitatis mit ihren reichlichen Vorkommen an kosmischem Staub. Es werden tiefe Eindrücke zurückbleiben!

- Loriot, "Die Mondwanderung" (gesendet in der Folge 8 der Reihe „Cartoon“ des Süddeutschen Rundfunks am 8. März 1969)


* * * ­

Joris-Karl Huysmans, „Auf Reede“ (1887)

Sie hielten ihn für einen Spinner, sagte sich Jacques, dem die Ansichten seiner Familie nicht verborgen geblieben waren. Das heißt: nicht verrückt, aber völlig lebensuntauglich, völlig uninteressiert an den Erwerbstätigkeiten der Menschen, dem es nie gelang, eine längere Anstellung zu finden, dem an Anerkennung und Wohlstand nichts lag. Trotzdem war er nicht träge - er las unermüdlich, sein Wissen erstreckte sich auf viele entlegene Gebiete, aus denen aber kein Nutzen zu ziehen war und die deshalb von den Geschäftstüchtigen mit Verachtung gestraft wurden.

Er versuchte, die Frage, mit welchen Tricks und Kniffen er seinen Lebensunterhalt verdienen sollte, zu seinen Gedanken zu verdrängen, aber sie stellte sich ihm immer hartnäckiger, und das besonders, als sein Blick auf seine Frau fiel, die auf ihrem Klappstuhl saß und von ähnlichen Sorgen geplagt schien.

Er stand auf und ging ein paar Schritte auf dem Hof hinaus.

Die Nacht, die mittlerweile angebrochen war, ließ das gegenüberliegende Kirchenschiff verzerrt erscheinen, in allen Schattierungen von Schwarz, am dunkelsten an den von Efeu bewachsenen Mauerstellen, etwas heller an den freien Steinpartien, am hellsten innerhalb der Fenster, durch deren Scheiben man auf ein dunkles, trübes Gewässer zu blicken schien.

Jacques sah zu, wie das Mauerwerk langsam mit der Dunkelheit verschmolz, als von der Turmspitze ein Vogel aufflog wie ein Adler, mit ausgebreiteten Flügeln blitzschnell eine Kreisbahn zog und sich mit einem dumpfen Laut in den Wald fallen und die Äste knacken ließ

„Was war das?“ fragte Louise, die sich eng an ihren Gatten klammerte.

„Bestimmt ein Waldkauz. Davon gibt es viele im Kirchturm.“

Er hakte sich bei ihr unter und sie spazierten über den Hof, im Bann der gewaltigen Stille auf dem freien Land, jene Stille, die aus den leisen Geräuschen der Tiere und der Gräser und Blätter entsteht, wenn man genau hinhört.

Die Nacht, die immer dichter wurde, schien aus der Erde emporzusteigen, überflutete die Wege und Beete, ballte sich um die Büsche, hüllte die längst verschwundenen Stämme der Bäume ein, spann sich um die Zweige, füllte die Astlöcher und verschmolz die Bäume zu einer einzigen dichten Masse, die sich erst unter den Kronen der Kiefern auflöste.

Über der Kirche, über dem Garten mit seinen Wegen, strömte das kalte Meer der Sterne dahin. Die meisten glichen eisigen Lichtquellen, die helleren mit ihrem warmen Glühen himmlischen Geysiren. Keine Welle, keine Gischt zeigte sich in diesem festen Meer, das mit driftenden Inseln besetzt war.

Jacques spürte am ganzen Leib, wie er schwach wurde, wie ihn ein Schwindel ergriff, als seine Augen keinen Halt mehr finden konnten.

Die Weite dieses lautlosen Ozeans mit seinen brennenden, lodernden Inselketten ließ ihn fast zittern, überwältig vom Eindruck des Unbekannten, der Leere, vor der die Seele erschrickt und sie zu ersticken droht.

Auch Louise hatte wie ihr Mann, der von diesem Trugbild genarrt wurde, ihren Blick in die fernen Abgründe schweifen lassen, aber sie entdeckte dort die bunt leuchtenden Sternbilder, die violetten und gelben Sterne der Kassiopeia, Venus, den grünen Planeten und die rote Wüste des Mars, die blauen und roten Sonnen des Orion - oder glaubte sie dort zu sehen, wo sie nicht standen.

Von ihrem Mann geführt, glaubte sie sie zu sehen; ihr Atem ging schnell und ihr wurde schwindlig, und sie spürte im Magen eine Schwäche, die ihre Beine weich werden ließ und sie wie eine Hand unerbittlich nach unten zu ziehen drohte.

„Ich fühle mich nicht gut,“ sagte sie. „Kehren wir um.“

Und in diesem Augenblick ging hinter dem Schloß der Mond auf, voll und rund, wie ein klaffender Brunnen, der in die Tiefe des Abgrunds führte und auf dessen silbernem Rand die Eimer im fahlem Feuer leuchten.

Kapitel V

Er befand sich jenseits aller Grenzen, in einer gewaltigen Wüste aus trockenem Gips, ohne Fluchtpunkt, einer Sahara aus erstarrtem Kalk, in deren Mitte sich ein immenser runden Berg erhob, mit schroffen Hängen, die wie ein Schwamm durchlöchert waren, da und dort wie mit Zuckerguß überzogen glänzten und dessen schneeweiße Spitze wie eine Schale ausgehöhlt war.

Daneben, abgetrennt durch ein Tal, dessen ebener Boden aus erstarrtem, kalkigem Schlamm zu bestehen schien, erhob ein weiterer Berg seinen trichterförmigen Gipfel in immense Höhen. Er wirkte, als sei hier Metall unter hohem Druck bearbeitet worden, mit immensen Blasen, an der Spitze gekappt, gehärtet im Feuer unzähligen Essen, dessen Siedevorgang durch ein schockartiges Einfrieren zum Stillstand gebracht worden war.

„Soviel ist sicher,“ dachte Jacques, „wir befinden uns mitten im Ozean der Stürme, und diese beiden ungeheuerlichen Kelche, die sich gen Himmel erstrecken, sind die Gipfelkrater von Kopernikus und Kepler.

„Nein, ich habe nicht den falschen Weg genommen,“ sagte er sich und betrachtete das milchige Eis der fast völlig flachen Oberfläche, die sich erst in der Nähe eines Bergs aufwölbte und Buckel bildete.

Ruhig und konzentriert begann er sich zu orientieren: das, was da im Süden an eine große Bucht erinnert, ist das Meer der Feuchtigkeit, die die beiden furchtbaren Geschwüre, die den Zugang bewachen, sind ohne Zweifel der Mons Gassendi und der Agatharchides. - Mit einem Lächeln dachte er daran, daß der Mond eine einzigartige Welt war, auf der es weder Luft, keine Vegetation, kein Erdreich, kein Wasser gab, nichts als Felsen und erstarrte Lavaströme, nur Kraterwälle und erloschene Vulkane. Weshalb haben die Astronomen diese irreführenden Namen beibehalten, diese altmodischen und seltsamen Bezeichnungen, die die alten Sternkundigen den Ebenen und Bergketten verliehen haben?

Er wandte sich zu seiner Frau um, die gebannt von der Helligkeit dasaß, und erklärte ihr in kurzen Worten, daß es nicht ratsam wäre, sich zu weit in den Süden dieses Gestirn vorzuwagen, denn dort beginn die vulkanische Zone, die dichtgedrängten erloschenen Krater, die ineinander übergehenden Hochebenen und die Gebirgszüge, die einander fast berühren und zwischen denen nur Raum für schmale Pfade bleibt, die wie aus Kalkstein gemeißelt wirken oder aus weißem Blei zugeschnitten.

Er half ihr, aufzustehen. Sie hörte ihm zu, sie achtete auf die Bewegung seiner Lippen und verstand seine Worte, konnte sie aber nicht hören, weil es auf diesem luftleeren Gestirn kein Medium gab, das Schallwellen verbreiten konnte. Sie wandten sich von der Landschaft ab, die sie betrachtet hatten, und stiegen in nördlicher Richtung empor, vorbei an der Bergkette der Karpaten, überquerten den Paß des Aristarchus dessen gezackter Gipfelring an dem Schwanz eines Krebses erinnerte. Sie kamen leicht voran. Sie glitten eher vorwärts als daß sie gingen, über Eis, in dessen Tiefe undeutlich die Umrisse farnähnliche Gewächse auszumachen waren, deren Adern und Ränder wie heles Silber schimmerten. Es war, als ob sie über ein plattgewalztes Unterholz gingen, über Baumstämme, die in der Tiefe eines erstarrten Sees zu sehen waren.

Sie erreichten eine weitere Ebene, das Regenmeer, und auch hier sahen sie von einer Anhöhe aus eine Landschaft vor sich bis ins Unendliche erstrecken, zerrissen von Alpen aus Gips, von Ätnas aus Salz entstellt, wie von Tuberkeln und Geschwüren zernarbt und ausgeglüht wie Schlacke.

Vor ihnen lagen wie auf einer Generalstabskarte die großen Krater: der Euler und der Pytheas, der Timocharis und der Archimedes, der Autolycus und der Aristillus; und im Norden, fast an der Grenze zum Meer der Kälte, in der Nähe der Regenbogenbucht, deren Ränder aus dem ebenen Boden aufstiegen, ragte der Krater Plato auf, streckte Rahen aus Stein und Masten aus Marmor empor, bildete Lawinenfelder aus Alabaster, durchlöchert wie Steinkorallenwälder und glänzend wie Siebe aus Metall.

Es wirkte, als würde die Landschaft aus sich selbst heraus leuchten. Das Licht schien vom Boden aufzusteigen, denn der Himmel darüber war schwarz, von einer absoluten Schwärze, übersäht mit Sternen, die nichts erhellten, während sie reglos vor sich hin glühten.

Weit entfernt wirkte der Kraterrand des Aristillus wie die Mauer einer mittelalterlichen Stadt, wie eine Säge, deren Zähne den sternenübersäten Basalt des Himmels spalteten. Davor und dahinter lagen zwei weitere Mauerringe, in denen sich das Mittelalter eines Heidelbergs und die maurische Architektur Granadas vermischten. Minarette und Kirchtürme, Nadeln und Pfeile, Schießscharten und Mauerzinnen, Pechnasen und Kuppeln, eine monströse dreifaltige tote Metropole, die vor Urzeiten von glühender Lava in einen Berg aus Silber gefräst worden war.

Und davor zeichneten sich diese Städte als pechschwarze Schatten ab, zwei Meilen lang, ein Gewirr aus Chirurgenbesteck: kolossale Knochensägen, gewaltige Skalpelle, monumentale Injektionsnadeln, Klammern für Titanen und Saugglocken für Zyklopen, ein ganzer Operationstisch für Atlas und Enceladus, ausgebreitet auf einem weißen Tuch.

Jacques und seine Frau trauten ihren Augen nicht. Sie rieben sie – aber als sie sie wieder öffneten, bot sich ihnen gleiche unwirkliche Anblick: eine aus Silber getriebene Stadt vor einem schwarzen Hintergrund, deren Schattenmuster exakt die Umrisse der Instrumente nachzeichnete, die vor einer Operation bereitgelegt werden.

Louise faßte ihren Mann am Arm und sie stiegen wieder hinunter auf die Ebene, wandten sich nach rechts und bogen in das Tal ein, das auf der einen Seite von den Kratern Timocharis und Archimedes begrenzt wird, auf der anderen vom Apennin, dessen höchste Erhebungen, der Eratosthenes und der Huygens, ihre gewölbten Flanken emporstreckten, die sich allmählich verjüngten und in offenstehende Flaschenhälse ausliefen, mit einem Saum aus weißem Wachs.

„Es ist schon merkwürdig,“ sagte Jacques. „Wir sind im Sumpf der Fäulnis angekommen – aber es ist kein Sumpf, und er riecht nach nichts! Es stimmt, daß der Ozean der Stürme völlig trocken ist und das Meer der Feuchtigkeit, das man sich wie einen gärenden, brodelnden Sumpf vorstellt, nur eine gewaltiger Steingutteller ist, von Sprüngen durchzogen und von grauer Lava umgeben.“

Louise schnupperte und sog die nichtvorhandene Luft ein. Nein – in diesem Sumpf der Fäulnis gab es keinen Geruch – kein Hauch von Schwefelwasserstoff, der die Verwesung eines Aases anzeigte, kein Miasma von sich zersetzenden Leichen oder faulendem Blut – nur das Nichts, die Abwesenheit jedes Dufts, das Fehlen jedes Geräuschs, das Aussetzen des Gehörs und des Geruchssinns. Jacques trat mit der Fußspitze ein paar Steinbrocken los, die in die Tiefe rollten wie Papierkugeln, ohne jedes Geräusch.

Sie kamen nur mühsam voran; der Sumpf, erstarrt wie ein Salzsee, bildete wilde Wogen, von Pockennarben gezeichnet und mit riesigen Einsenkungen übersäht, so breit wie die Wasserbecken der Brunnen, die zur Zeit des Sonnenkönigs in Versailles errichtet worden waren. An anderen Stellen führten falsche Kanäle zu unechten Teichen, die das kranke Rot von Brom zeigten, und aus anderen Wunden ergossen sich rosafarbene Bläschen auf das steinerne Fleisch.

Jacques zog eine Karte zu Rate, die er gefaltet in der Tasche seiner englischen Weste bei sich trug (er konnte sich nicht erinnern, sie jemals getragen zu haben. Die Karte, in Gotha erschienen und herausgegeben von Justus Perthes, erschien ihm von vorzüglicher Verständlichkeit, mit ihren durch Punkte markierten Flächen, den Details der Erhebungen und ihren lateinischen Bezeichnungen: „Lacus Mortus, Palus Putredinus, Oceanus Procellarum,“ die der alten Mappa Selenographica von Beer und Mädler entnommen waren, von der sie übrigens nur einer verkleinerte Kopie darstellte.

„Mal sehen,“ sagte er zu sich selbst. „Wir haben zwei Wege zur Auswahl. Entweder halten wir uns am Rand des Meers der Ruhe und nehmen den Paßweg über die Haemus Montes. Oder wir folgen der Schlucht durch den Kaukasus bis zum See der Träume und steigen dann entlang des Taurusgebirges zum Krater Jansen hinunter.“

Die zweite Strecke schien ihm einfacher und breiter zu sein, aber er verlängerte den Weg, den er sich vorgenommen hatte, um Tausende von Meilen. Er entschied sich für die Bergpfade über den Haemus, aber dort fanden er und Louise sich eingezwängt zwischen Steilwänden aus versteinerten Schwämmen und weißer Schlacke, auf einem Boden, der von Warzen wie aus erstarrten Chlorlösungen überzogen war. Dann standen sie vor einem Tunnel, den sie nur hintereinander betreten konnten und der wie eine Röhre aus Kristall wirkte, an deren Wänden sich das Licht spiegelte und funkelnd den Weg erhellte. Plötzlich führte der Gang nach oben und mündete in einen Schacht, an dessen Spitze, ungezählte Meter hoch über ihnen, sich ein schwarzer Himmelsausschnitt zeigte.

„Wir sind da,“ murmelte Jacques, „Denn diese Öffnung ist der hohle Gipfel des Menelaos.“ Und tatsächlich: als sie den Tunnel hinter sich gelassen hatten, fanden sie sich in der Nähe des Vorgebirges Archerusia, mit weit vom Berg Plinius im Meer der Ruhe entfernt, dessen Umriß das weiße Bild eines Bauches zu zeichnen scheint, auf dem der Jansen den Nabel bildet, dessen weibliches Geschlecht durch das große V einer Bucht angedeutet wird und vom Meer der Fruchtbarkeit und dem Nektarmeer mit zwei plumpen Beinen eingezwängt wird.



Sie näherten sich schnell dem Berg Jansen und ließen den Sumpf des Schlafs, der gelb wie ein See aus geronnener Galle dalag, links hinter sich zurück und das Meer der Krisen, ein Tafelland, das das milchige Grün von Jade zeigte, hinter sich.

Sie kletterten die steilen Hänge hinauf und setzten sich.

Vor ihnen entfaltete sich ein außergewöhnliches Schauspiel.

Soweit das Auge reichte, dehnte sich ein aufgewühltes Meer, mit Wellen hoch wie Kirchtürme, in völliger Stille. Wasserfälle aus erstarrtem Schlamm, versteinerte Lawinen, das stumme Tosen der Fluten, die geballte Verbitterung eines Orkans, der durch ein Handzeichen zur Reglosigkeit betäubt worden ist.

Es erstreckte sich so weit, daß das Auge jegliches Maß verlor, Meile um Meile überflog, ohne das es auch nur ansatzweise möglich gewesen wäre, die Entfernung abzuschätzen.

Hier wanden sich erstarrte Mahlströme in unbewegten Spiralen und tauchten apathisch in Abgründe ohnegleichen hinab; dort gischteten Schaumteppiche, hingen bebende Niagarafälle, vernichtende Wassersäulen über der Tiefe, mit vom Schlaf ersticktem Heulen, im Sprung erstarrt, die Wirbel gelähmt und taub.

Es dachte nach und fragte sich, welche Katastrophen dazu geführt hatten, daß diese Wirbelstürme eingefroren waren, welche Kraft diese Krater zum Erlöschen gebracht hatte. Welcher immense Druck hatte diese Konvulsion, diese Epilepsie dieses Planeten, das Toben dieser Welt, die Feuer spie, von Orkanen gepeitscht wurde, sich aufbäumte und in ihrem Lavabett wälzte, zum Erliegen gebracht? Welche Magie hatte die kalte Selene in Erstarrung fallen lassen, in dieses unauflösbare Schweigen, das jetzt auf ewig unter der Schwärze eines unbegreifbaren Himmels schwebt?

Welche schrecklichen Erreger hatten diese öden Gebirge hinterlassen, diese Himalajas aus Kalk und Asche? Welche Zyklone hatten diese Ozeane ausgetrocknet und die unbekannte Vegetation von ihren Ufern gekratzt? Von welchen Feuerstürmen, welchen Blitzeinschlägen war die Kruste dieses Gestirn zerfurcht worden, waren Spalten gezogen worden, tiefer als Flußbetten, Gräben, in denen die Wassermassen von zehn Brahmaputras leicht Platz gefunden hätten?

Und dahinter, in noch größerer Ferne, tauchten über dem nur zu erahnenden Horizont weitere Bergketten auf, deren endlose Gipfel deren Deckel des Nachthimmels stützten, einen Deckel, der einzig auf ihnen auflag und nur darauf wartete, von einem gewaltigen Hammerschlag getroffen zu werden und eindrückt zu werden und alles unter sich zu begraben.

Das hier war das Spielzeug eines Titanenkinds, einer jungen, kindischen Riesin, eine Spielzeugschachtel mit Nachbildungen von Stürmen und Ebenen, Felsen aus Papier und ausgehöhlten Vulkanen, in die dieses Kind Polyphems seinen kleinen Finger stecken und das kolossale Gerippe durch die Leere schleudern konnte. Der Mond ließ den Verstand erschauern; er machte deutlich, die schwach der Wille des Menschen war.

Und jetzt verspürte Jacques, das schwere, langsame Zusammenkrampfen im Unterleib, daß sich einstellt, wenn die Furcht vor der Leere zu lange andauert.

Er sah seine Frau an; sie saß ruhig da, hatte ihren Kneifer aufgesetzt und studierte die Karte, die sie auf ihrem Schoß ausgebreitet hatte, wie eine Engländerin, die in ihrem Reiseführer liest.

Diese Ruhe und das Gespür, ein lebendes Wesen in seiner Nähe zu haben, das er berühren konnte, wenn er es wollte, beruhigte ihn. Das Schwindelgefühl, das ihm den Eindruck vermittelt hatte, ihm würden gleich die Augäpfel aus den Augenhöhlen springen, verschwand, als sein Blick auf sie fiel, zwei Schritt entfernt, wohlvertraut, deren Anwesenheit unbezweifelbar war.

Dann ergriff ihn das Gefühl, daß er unter seiner Kleidung ebensowenig vorhanden war die das Innere dieser hohlen Berge, ohne ein Herz aus Gestein, Adern aus Granit, ohne eherne Lungen. Er fühlte sich leicht, beinahe, als ob er in einem flüssigen Zustand übergegangen wäre, bereit, fortzufliegen, wenn auf diesem Gestirn ein Wind aufkommen würde. Die entsetzliche Kälte der Pole und die benehmende Hitze am Äquator wechselten einander blitzartig ab, ohne daß er es bemerkte, denn er hatte das Gefühl, von der Last seiner irdischen Hülle befreit zu sein. In diesem Moment wurde ihm das Grauen dieser trostlosen Wüste, dieser Totenstille, bewußt. Die qualvolle Agonie des Mondes, der unter der Grabplatte des Himmels lag, versetzte ihn in Panik. Er sah auf, um zu fliehen.

„Sieh doch nur,“ sagte seine Frau treuherzig. „Das Licht geht an!“

In diesem Moment stieg die Sonne über die Berggipfel, und ihre zerklüfteten Kämme blitzten weiß flammend auf, wie geschmolzenes Metall. Ein glühendes Leuchten ergoß sich über ihre Flanken, in deren Mitte der Zentralberg des Tycho sein Maul aufriß, in dem das Feuer rosig loderte, die glühenden Zähne bleckte und lautlos die unwandelbare Stille des tauben Firmaments anheulte.

„Das ist schöner als der Blick von der Terrasse von Saint-Germain-en-Laye,“ setzte Louise im Brustton der Überzeugung hinzu.

„Ohne Zweifel,“ gab er zurück, selbst überrascht über die Dummheit seiner Frau, die er bisher nicht für so einfältig und unempfindlich gehalten hatte.



* * *



(Joris-Karl Huysmans in jüngeren Jahren)

Am Donnerstag, dem 19. August 1886, schreibt Joris-Karl Huysmans in seiner Wohnung im ersten Geschoß des Hauses in der Rue des Sévres mit der Hausnummer Nr. 11 einen Brief an den niederländischen Kaufmann Arij Prins in Hamburg, der im Außenhandels-Kontor der Firma Ebeling & Prins mit der Organisation des Imports der Stearinkerzen beschäftigt ist, die die Firma Apollo seines Vaters im niederländischen Schiedam herstellt. Allerdings interessiert dieser prosaische Broterwerb in diesem Zusammenhang weder den französischen Romancier, dessen vierter Roman „Á Rebours“ ihn drei Jahre zuvor schlagartig zum Skandalautor gemacht hat (aber seinen horrenden Schuldenberg nicht abgetragen hat) noch den Empfänger, der sich nach Büroschluß seiner eigentlichen Leidenschaft, der neuesten französischen Literatur, widmet, und der fast auf den Tag genau ein Jahr vorher, am 16. August 1885, in der Zeitschrift De groene Amsterdammer unter dem Nom de plume „A. Cooplandt,“ eine begeisterte Besprechung von Huysmans erstem Roman „Marthe“ aus dem Jahr 1876 veröffentlicht hat, die den Namen Huysmans in den Niederlanden bekannt gemacht hat – soweit man sich dort für solche Verstiegenheiten interessiert (*). Nachdem Prins ein Exemplar dieser Ausgabe nach Paris gesandt hatte, ergab sich daraus ein angeregter Briefwechsel.

(* Es läßt sich leider nicht abstreiten, daß die Belles lettres in den Laagen Landen in der Zeit zwischen etwa 1820 und 1880 hauptsächlich durch Abwesenheit glänzen. Derlei Frivolitäten laufen dem utilitaristischen Geist des Calvinismus und des Puritanismus zuwider. Auch Nathaniel Hawthorne hatte 35 Jahre früher im Vorwort zu „The Scarlet Letter“ noch ein heftiges Bedürfnis, sich dafür zu rechtfertigen, daß er seinen Lesern mit erfundenen Schicksalen Lebens- und Heilszeit stahl. Die einzige nennenswerte Ausnahme bildet des Roman „Max Havelaar“ von Multatuli aus dem Jahr 1860, und es ist bezeichnend, daß es sich hier nicht um einen Bildungs- oder Künstlerroman handelt, sondern um eine detailgenaue Schilderung des Kaffeehandels und -anbaus auf Java, der die Mißstände und die Ausbeutung der Einheimischen schonungslos schildert und anklagt – es sich also eher um eine Sozialreportage als einen Roman handelt. Der Autor Edouard Douwes Dekker, betont dies am Schluß des Buchs noch einmal ausdrücklich. Dekker hatte wegen seiner harschen Kritik an den Zuständen in Indonesien bereits 1857 seinen Posten in der dortigen Kolonialverwaltung verloren.)

Huysmans hat an diesem Donnerstag eine kleine Bitte an seinen Brieffreund:

Autre question - - Je suis éreinté par un travail sur la Lune - vous savez que dans mon livre, il y a des rêves et j'ai entràutes un voyage dans la lune. Je crois pouvoir faire quelque chose d'un peu propre -car je suis soulevé pas mon sujet - et j'emmerde Verne!

Or, après des recherches infinies, comme en france on est idiot, il n'existe pas des cartes de la lune. A force de chercher j'ai trouvé dans une librarie allemande, une carte allemande-latine de chez Justus Perthes. C'est parait - pour le latin - mais pour l'allemand, il y a des explications initiales, quelques phrases, des fils d'Ariane en tête, que je ne comprends pas et dont j'ai besion pour me guider. Je vous les note, sur l'autre page, soyez donc assez pour me les traduire.

Wo zwei Zahlen bei einigen Ringgebirgen vorkommen, da bezeichnet die zweite die Höhe des Walles über der äussern Umgebung.

Höhen u Tiefen angaben, in pariser fuss:

Erklärung der einzelnen Buchstaben:

R. Ringgebirg

Str. R. - strahlendes Ringgebirg

B.g. - Berg

Bg.Kr. - Bergkranz

geb. - Gebirge

W. Wallebene

V. eine Vertiefung.

Die sichtbare Seite der Mondoberfläche, bei voller Beleuchtung.




Eine andere Frage: ich sitze gerade bis zur Erschöpfung an einer Arbeit über den Mond – Sie wissen daß in meinem Buch einige Träume vorkommen. Ich unternehme eine Reise zum Mond. Ich möchte gerne eine solide Arbeit abliefern – denn ich kenne mich mit dem Thema nicht gut aus – und ich verabscheue Verne!!

Nach endloser Suche, die sich hier in Frankreich schwierig gestaltet, habe ich feststellen müssen, daß es bei uns keine Mondkarten gibt. Bei meiner Suche habe ich in einer deutschen Buchhandlung eine deutsch und lateinische beschriftete Karte von Justus Perthes aufgetrieben. Damit komme ich zurecht – was das Lateinische angeht – aber auf Deutsch gibt es einige Erklärungen der Buchstaben als Ariadnefäden ganz oben, die ich nicht verstehe und die ich brauche, um mich zurechtzufinden. Ich schreibe Sie Ihnen auf der nächsten Seite auf. Bitte tun Sie mir den Gefallen und übersetzen Sie sie.




(Arij Prins op jongere leeftijd)

In seinem nächsten Brief vom 30. August bedankt sich Huysmans:

Merci, mon cher Prins, des explications que vous me donnez pour ma carte. Elles me suffisent amplement et affirment les explications que j'avais à peu près devinées, pour mon itinéraire en pleine Lune.

Je viens de terminer ce sacré chapitre et retombé dans l'ordure terre à terre de mes paysans.


Danke, mein lieber Prins, für die Erklärungen, die Sie mir für meine Karte geschickt haben. Sie reichen mir völlig aus und bestätigen meine Vermutungen, die ich in Bezug auf meinen Weg bei Vollmond angestellt habe.

Ich habe dieses verfluchte Kapitel abgeschlossen und stecke jetzt wieder in der Jauche, die meine Bauern jeden Tag hinterlassen.


Bei dem Text, an dem sich Huysmans hier abmühte, handelte es sich um „En Rade,“ seinen ersten Roman – und seinem ersten Buch - nach „Á Rebours.“ Als Vorabdruck erschien der Text in der „Revue indépendante,“ dem literarischen Hausorgan der Symbolisten, von November 1886 bis zum April 1887, und die Buchveröffentlichung folgte am 26. April 1887 beim Pariser Verlag Tresse & Stock. (In den folgenden Ausgaben der „Revue“ folgte übrigens von Mai bis August 1887 der Vorabdruck des Romans „Les lauriers sont coupés,“ in dem sein Autor, Édouard Dujardin, zum ersten Mal eine literarische Technik anwandte, die für die literarische Avantgarde des frühen 20. Jahrhunderts so kennzeichnend werden sollte: den „Bewußtseinsstrom“ („Stream of conscience“ oder auch „Courant de conscience“), wie er dann in Texten wie Arthur Schnitzlers „Leutnant Gustl“ (1900) oder James Joyces „Ulysses“ (1922) stilprägend wurde.

(Der Kleine Pendant merkt an, daß es sich trotz der Fertigstellung des Kapitels im August um eine „promenade en plein lune“ im Jahr 1887 handelt: der von mir ausgewählte Textabschnitt erschien zuerst in der Januarnummer 1887 der Revue Indépendante, auf den Seiten 134 bis 144.)



Dem Buch war weder beim Publikum noch bei der Kritik ein Erfolg beschieden – und abei ist es bis heute geblieben. „En rade“ ist einer der in der Literatur am wenigsten beachteten frühen Texte Huysmans (seine spätere Konversion zu einem inbrünstig ausgelebtem Katholizismus, der seine Herkunft aus einem übersteigerten Ästhetizismus nicht verleugnen kann, hat viele Romanisten nicht weniger befremdet). Die Symbolisten und Ästhetiker, für die die Lebenshaltung des Herzogs Des Esseintes im vorigen Buch zu einer Offenbarung geworden war (wie etwa auf den anderen Seite des Ärmelkanals für Oscar Wilde oder eine Generation später auf der anderen Seite des Atlantiks für George Sterling), warne von den drastischen Schilderungen der Schattenseiten des Landlebens abgestoßen; die „Naturalisten“ um Émile Zola, zu denen Huysmans zu Beginn seiner Karriere als Autor gezählt worden war, fühlten sich gleich in zweierlei Hinsicht brüskiert – zum einen sahen sie die eingeschobenen längeren Traumsequenzen – von denen die Mondwanderung die zweite darstellt – als unmotivierten, phantastischen Bruch. Und zum anderen empfanden sie ausschließlich Betonung der Misere und der Armut, die Charakterisierung des Landvolks als stumpf, fühllos, brutal und habgierig als gewollte Provokation. Anders als bei Zola, der zehn Jahre später, 1887, in „La Terre,“ dem 15. Band seines Rougon-Marquart-Zyklus, sich ebenfalls mit diesem Milieu befaßte, sind Huysmans Bauern nicht die Opfer von Armut, Ausbeutung und traditioneller sozialer Klassenverhältnisse. Es wäre vollkommen ausgeschlossen, ihre Umstände über die Bildung von Genossenschaften und die Verheißungen des Sozialismus zu bessern. (Eine ähnlich ablehnende, fast schon angeekelte Haltung findet sich natürlich im Werk des literarischen Einsiedlers Arno Schmidt, der für die Bauern, mit denen er sein dörfliches Umfeld teilen muß, auch niemals Toleranz oder gar Verständnis entwickelt hat.)

(ich habe mich dafür entschieden, den Titel des Romans ganz wortwörtlich mit „Auf Reede“ wiederzugeben, wie die erste Übersetzung ins Deutsche durch Eva-Maria Thimme, die 1984 in Berlin bei der Edition Sirene erschienen ist und damals praktisch keinerlei Beachtung gefunden hat, weil es sich um eine kleine Auflage als bibliophiler Sonderdruck für ein Sammlerpublikum gedacht war – gewissermaßen als reine Liebhaberei des Verlagsgründers Wolfgang Schmidt. Die einzige etwas weiter verbreitete Übersetzung durch Michael Kleeberg, die 1998 beim Bremer Manholt Verlag erschienen ist, trägt den Titel „Zuflucht.“ Hier dauerte es neun Jahre, bis der deutsche tasschenbuch verlag 2007 den bislang einzigen Nachdruck veranstaltete. Die erste Übersetzung ins Englische erfolgte auch erst 1992 durch Terry Hale als „Stranded“; eine zweite 2010 durch Bendan King als „Becalmed“ bei der Dedalus Press (die sich mit einem Schwerpunkt der europäischen Dekadenzliteratur der vorigen Jahrhundertwende widmet und deren erster Titel 1983 Robert Irwins „The Arabian Nightmare“ war). Eine Übersetzung ins Spanische erschien 1977; eine portugiesische 2011 in Rio de Janeiro. Und das war es auch schon – nicht viel, verglichen mit den zahllosen Übertragungen von „Á rebours“ oder „La-Bas“ (Jacques‘ dritte Traumsequenz, in der er sich in einem Glockenstuhl wiederfindet und Zeuge eines Hexensabbats wird, nimmt schon den Okkultismus und Satanismus von „La-Bas“ vorweg, mit dessen Niederschrift Huysmans Ende 1877 begann.)

* * *

Der Abend brach an; Jacques Marles ging schneller; er hatte den Flecken Jutigny hinter sich gelassen und folgte der endlosen Straße, die von Bray-sur-Seine nach Longueville führt und hielt nach der Stelle Ausschau, von den ihm ein Bauer erzählt hatte, an der links ein Pfad abzweigte, auf dem man schneller zum Schloß von Lourps gelangte.

„Was für ein verfluchtes Leben!“ murmelte er und senkte den Kopf. Beim Gedanken an seine finanziellen Verhältnisse überkam ihn die Verzweiflung. Seine Ersparnisse in Paris hatte er verloren, als sein risikofreudiger Bankier Bankrott gemacht hatte. Dort erwartete ihn nur das Unheil in Gestalt einer Menge von Gläubigern, die seinen Untergang kommen sahen und ihm deshalb so nachstellten, daß er die Flucht ergreifen mußte. In Lourps wohnte seine kranke Frau, Louise, die bei ihrem Onkel Zuflucht gesucht hatte, der das Schloß verwaltete, das einem Coutourier an einem der großen Pariser Boulevards gehörte, der darauf wartete, es verkaufen zu können und es bis dahin unbewohnt und leergeräumt dem Verfall überließ.

Das war die einzige Zuflucht, die ihm und seiner Frau geblieben nach. Als sich nach dem Bankrott alle ihre Freunde von ihnen abgewendet hatten, hatten sie sich auf die Suche nach einem Schlupfwinkel gemacht, nach einer Reede, wo sie Anker werfen und Kriegsrat halten konnten, bevor sie nach Paris zurückkehrten und sich von neuem nach oben kämpfen würden. Vater Antoine, der Onkel seiner Frau, hatte Jacques schon des öfteren eingeladen, den Sommer in dem leeren Schloß zu verbringen, und dieses Mal hatte er zugesagt. Seine Frau war schon nach Longueville vorgefahren, an deren Gemeindegrenze das Schloß von Lourps liegt, während er am Bahnhof von Les Ormes ausgestiegen war, um zu versuchen, noch ein paar alte Schulden eintreiben zu können. (Kapitel 1)


Huysmans hatte den Schauplatz seines Romans, das Chateau de Lourps in der Gemeinde Longueville, gut 80 Kilometer östlich von Paris, im Sommer 1882 kennengelernt, als er den Zeichner Louis Bescherer (1837-1897), der zu seinem Cénacle in Paris gehörte, und dessen Frau Virginie in oben erwähnten Markflecken Jutigny im Départment Seine-et-Marne besuchte und dabei den verfallenen Bau oberhalb des Tals der Voulzie zum ersten Mal sah. Der Name „Schloß“ führt leicht in die Irre: bei dem Bau, dessen älteste Teile auf das späte Mittelalter zurückgehen, handelt es sich um nicht viel mehr als ein Herrenhaus, einen nicht einmal luxuriösen Landsitz. Das Anwesen war 1756 in den Besitz des Familie Saint-Phalle gekommen, die es nach dem Ende der Revolution zurückerhalten hatten. Der letzte Sproß der Familie war 1850 gestorben, und seitdem waren die Gebäude und Ställe dem Verfall preisgegeben. Longueville hatte zur Zeit von Huysmans Visiten 350 Einwohner; heute sind es gut 1800.

Bei seinem zweiten Sommeraufenthalt im Juli 1884 mietete sich Huysmans ein Zimmer bei dem Blumenhändler Simonot in Jutigny, der das Anwesen nach dem Tod des letzten Saint-Phalle erworben hatte und nahm es näher in Augenschein. Trotz des maroden Zustandes („es litt an allen Gebrechen eines grausamen Greisenalters, mit seinen katarrhalischen Dachrinnen, seinem fleckigen Wandverputz, den rheumatischen Fensterscheiben, dem von Geschwüren entstellten Mauerwerk und Steinen, die die Lepra zerfressen hatte…“ heiß es im 3. Kapitel von „En rade“) mietete er am Ende seiner Sommerfrische mehre der fünf oder sechs noch halbwegs bewohnbaren Räume für den nächsten Sommer an. (Huysmans schreibt den Namen in seinen Briefen übrigens durchgehend „Saint-Phale.“ Ob dieses Kleinadelsgeschlecht mit der Künstlerin Niki de Saint-Phalle verwandt ist – bzw. sie mit ihm – entzieht sich bislang meiner Kenntnis.)





(Das Schloß und die Kirche von Lourps, heute)

Im August 1885 fuhr Huysmans mit Anna Meunier, seiner Lebensgefährtin, mit der er seit sechs Jahren ein Verhältnis hatte, und deren Tochter Antonine und Annas Schwester Josephine für einige Wochen nach Lourps; am 2. September stieß Léon Bloy hinzu, den er zu jener Zeit unterstützte, weil Bloys streitsüchtiges Temperament ihn nicht nur seine Stellung in einer Anwaltskanzlei und bei der katholischen Tageszeitung „L’Univers“ gekostet hatte, sondern auch die Aufträge für Kabaretts wie das Le Chat Noir. (Als Huysmans 1889 öffentlich zum Katholizismus konvertierte, war das Anlaß für Bloy, über ihn in höchst vergifteten Polemiken in La Plume und im Gil Blas herzufallen). Eines der Projekte, die Huysmans und Bloy in den nächsten Tagen im Garten von Lourps diskutierten, war das Projekt einer Zeitschrift mit dem provisorischen Titel „Le Pal,“ der Pfahl, dessen Herausgeber Bloy werden sollte. Die finanzielle Übernahme für die Druckkosten, die Huysmans leistete, reichte nicht aus, dem Blatt einen bescheidenen Erfolg zu sichern. Die Tageszeitung „La France“ veröffentlichte am 10. März 1886 einen Aufruf von 38 Autoren, die sich von Bloys früheren Polemiken getroffen fühlten, keine Anzeigen für das Journal zu bringen und Autoren, die dafür schrieben, zu boykottieren. Nach nur fünf wöchentlichen Ausgaben, vom 5. März bis zum 10. April 1886 erschienen, fand das Unternehmen sein unrühmliches Ende. Am 7. September 1885 fuhr der ganze Troß zurück nach Paris.



(La chateau de Lourps. Postkarte aus dem Jahr 1904.)

Der Aufenthalt von Jacques und Louise in „En rade“ verdankt sich dieser Sommerfrische. Huysmans erhoffte sich hier ein Refugium für einige Wochen, übersah aber keineswegs nach Nachteile des Aufenthalts in der Ruine – der Anstieg von der Dorfstraße, da der Bücker das frische Brot, das er morgens austrug, nur in einem Korb unten an der Dorfstraße deponierte; der Metzger, der ebenfalls nichts ins Haus lieferte, das Wasser, das aus einem tiefen Brunnen im Hof gefördert werden mußte. „Anna fühlt sich nicht wohl; sie ist beständig todmüde; sie kann nachts nicht schlafen und fürchtet sich vor den langen dunklen Fluren, den Klang unserer Schritte und den Geräuschen, die die Vögel machen. Ich kann nur hoffen, daß sie darüber hinwegkommt und nicht auf die Bauern hier hört, die glauben, daß es hier im Schloß spukt, seit der letzte Saint-Phale gestorben ist,“ schreibt er am 19. August an seinen alten Bekannten Alexis Orsat.



Zu dieser Zeit begann Anna Meunier die ersten Symptome jener Krankheit zu zeigen, die bei ihr in relativ jungem Alter zum Tod führten – dieselben Symptome, unter denen auch Louise Marles im Buch leidet, und die zu ihren Lebzeiten von den Ärzten wahlweise als Chlorose, als Gebärmutterentzündung oder als Neurose gedeutet worden ist – die aber in jedem Fall mit chronischen Schwächeanfällen und Lähmungserscheinungen einherging. Im April 1893 mußte sie aufgrund einer zunehmenden geistigen Umnachtung in die Heilanstalt von Sainte-Anne eingeliefert werden, wo sie am 12 Februar 1895 starb im Alter von 43 Jahren. (Im letzten Kapitel von „En rade“ gibt es eine geradezu gespenstische Szene, in der Louise eine Katze findet, die gelähmt und winselnd stirbt und entsetzt erkennt, daß ihr dasselbe Schicksal bevorsteht.) Huysmans und Anna haben nie zusammen gelebt; in einem Brief vom Januar 1890 an seinen Freund, den Nervenarzt Jean de Fleury, Schüler von Charcot, i in dem es um ihren Gesundheitszustand geht, nennt er als ihre Adresse immer noch die Rue Cardinal Lemoine.

Anna Meunier war im März 1851 in Metz als Tochter eines Eisenbahners in Metz geboren, der von einer Lok überrollt wurde, als sie noch jung war. Huysmans Freund, der Romancier Gustave Guiches (1860-1935) hat aus diesem Grund in seinen Erinnerungen „Au Banquet de la vie“ (1925) vermutet, daß es sich bei Annas Erkrankung um eine Neurose handelte und dieses traumatische Kindheitserlebnis der Auslöser war. Nach dem frühen Tod ihres Vaters wurde sie Näherin in Paris, zunächst in der Schneiderei Hentenaar in der Rue de Quatre-September, wo sie 1872 von ihrer Kollegin Virginie Huysmans und seinem Boheme-Kreis vorgestellt wurde (eben jener Virginie, die aus Jutigny stammte und kurz darauf Louis Bescherer heiratete). Und damals war sie noch die lebenslustige junge Frau, die unter dem Namen Jeanne im Huysmans dritten Roman, „En ménage,“ erschienen im Februar 1881, auftaucht. 1879, als sie ihre Partnerschaft mit Huysmans begann, hatte sie ihr eigenes Schneidereiatelier in der Rue de Cardinal-Lemoine 21 aufgemacht und war die uneheliche Mutter zweier Töchter, deren jüngere, Antonine (1877-1972) - die im Sommer 1876 mit ihrer Mutter in Lourps logierte – später Karriere im Ballett der Pariser Oper machte und nach ihrem Ausscheiden aus der Truppe 1923 Ballettlehrerin am Conservatoire Populaire Mimi Pinson in Paris wurde. Während des „Großen Kriegs“ organisierte sie das Thêatre aux armées, das ab Mai 1917 Ballettaufführungen für die Soldaten (oder besser: hinter) an der Front durchführte, wofür ihr 1932 das Kreuz der Ehrenlegion verliehen wurde.



(Antonine Meunier (rechts) zusammen mit Carlotta Zambelli im Ballett "Les deux pigeons" an der Pariser Oper)

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„Die Karte, in Gotha erschienen und herausgegeben von Justus Perthes mit …ihren lateinischen Bezeichnungen: „Lacus Mortus, Palus Putredinus, Oceanus Procellarum,“ die der alten Mappa Selenographica von Beer und Mädler entnommen waren, von der sie übrigens nur einer verkleinerte Kopie darstellte“ - über diese Mondkarte von Wilhelm Beer und Johann Heinrich Mädler habe ich in Zettels Raum vor einiger Zeit schon einmal berichtet („Paul Scheerbart, ‚Der Halleysche Komet‘ (1909),“ Zettels Raum vom 20. Dezember 2021). Dort heißt es:

Die zweite Frucht dieser astronomischen Zusammenarbeit, die Mädler dann seinen späteren Weltruf einbrachte, die Scheerbart ihn verfrüht zuschreibt, war die Mondkarte, die sie in über 600 Bobachtungsnächten anfertigten und die als vier Einzelblätter zwischen 1834 und 1836 gedruckt wurden und als Mappenwerk 1837 in Berlin mit erläuterndem Text („Der Mond nach seinen kosmischen und individuellen Verhältnissen“) als „Allgemeine Selenographie“ im Verlag von Simon Schropp und Co. in Berlin erschienen. Zusammen ergaben die einzelnen Kartensegmente eine topographische Darstellung der sichtbaren Seite der Erdtrabanten von 192 Zentimetern Durchmesser, die für die nächsten vierzig Jahre unübertroffen blieb. Sie führte auch dazu daß, Mädler eine Anstellung an der Berliner Sternwarte erhielt und von König Friedrich Wilhelm II. im Dezember 1837 zum Professor ernannt wurde.


Die Wanderkarte, die Jacques (und sein Erfinder) hier zu Rate ziehen, stammt aus der verkleinerten Fassung Darstellung in Adolf Stielers „Hand-Atlas und alle Theile der Erde und über das Weltgebäude,“ zuerst 19841 im Verlag von Justus Perthes in Gotha gedruckt und bei in die 1870er in immer neuen Auflagen erschienen. Die korrekte Überschrift lautet: „Die sichtbare Seite des Mond-Oberfläche bei voller Beleuchtung; nach Beer u. Mädlers Karte.“ Die Karte samt ihren Legenden hat das Format 39 x 48 cm; der Durchmesser der Mondscheibe beträgt 29 cm; der Abbildungsmaßstab beläuft sich auf 1:13.000.000.



U.E.

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