6. Mai 2023

Danuri





Южный полюс Луны задремал, он уснул между гор величавых,
Поражающих правильной формой своей.
Это — мысль, заключенная в стройных октавах,
Эти горы живут без воды, в полосе неподвижных лучей,—

Ослепительно ярких, как ум, и ложащихся отблеском странным
На долины, что спят у подножия гор,
Между кратеров мертвых, всегда светлотканных,
Вечно тихих, нетронутых тьмой, и ничей не ласкающих взор.

Эти страшные горы горят неподвижностью вечного света,
Над холодным пространством безжизненных снов,
Это ужас мечты, это дума веков,
Запредельная жизнь Красоты, беспощадная ясность Поэта.

Константин Бальмонт - Южный полюс Луны (1899)

Der Südpol des Mondes: zwischen majestätische Berge gespannt
Schläft er, von ihren starren kristallinen Formen besiegt
Ein Gedanke, in schlanke Oktaven gebannt -
In einem steinernen Ring, der im ewigen Licht liegt.

Gleißend wie der Verstand, so senden sie
Einen Lichtstrahl, ins ewige Dunkel geführt
In die Täler und toten Krater, wo nie
Ein sterbliches Auge das ewige Schweigen berührt.

Dieses furchtbare Lodern im Schweigen des ewigen Lichts
Unter den toten Träumen im eisigen All
Zeitlose tote Schönheit, im unendlichen Nichts
Diese gnadenlose Klarheit, Dichter, sei dein Ideal.

Konstantin Balmont, „Der Südpol des Mondes“ (1899) ­

I.

Ich bleibe bei einem meiner Lieblingsthemen – oder genauer: deren zwei: beim Mond und der Raumfahrt. Vir einer Woche, am 28. April 2023, hat die amerikanische Raumfahrtbehörde NASA eine Reihe von Aufnahmen veröffentlicht, die mit der in den USA gebauten Spezialkamera ShadowCam in den letzten Monaten aufgenommen worden sind, die seit dem Dezember 2022 an Bord der koreanischen Mondsonde Danuri den Erdtrabanten umkreist, in einer Umlaufbahn, die die Sonde mit ihren insgesamt sechs Instrumenten mit einer Geschwindigkeit von 5800 Kilometern pro Stunde und in mit einem Abstand von 81 bis 119 Kilometern zur Oberfläche zwölf Mal am Tag über beide Poel des Mondes hinweg führt – und damit über jene Bereiche, die von den Strahlen der Sonne nie getroffen werden und deshalb im ewigen Schatten liegen. Genauer gesagt: die NASA hat auf diese Bilder aufmerksam gemacht, denn die Arizona State University, der das Team, das die ShadowCam betreibt, hat diese Aufnahmen zeitnah auf der dafür eingerichteten Netzseite eingestellt und entsprechend kommentiert. Allerdings ist dies weitgehend „unter dem Radar“ der Öffentlichkeit geblieben, gerade auch der Nicht-Spezialisten, die durchaus durchaus an den Ergebnissen handfest betriebener Wissenschaft interessiert sein dürften – abseits von den Aufregungen und Verwerfungen der Tagespolitik und dem immer hysterischer wirkenden Blasenwerfen des Zeitgeistes. Man scheint sich bei der NASA gedacht zu haben, daß ein wenig Reklame in dieser Sache nicht schaden könnte. Dem will ich mich an dieser Stelle ausdrücklich anschließen.



(Start von Danuri am 4. August 2022)

Daß sich gerade die Raumfahrt anbietet, auch als Amateur, als interessierter Zaungast, der nicht an den Forschungsprojekten beteiligt ist, teilhaben zu können, ist einer der unbestrittenen, aber viel zu wenig bekannten Segnungen, die wir dem Weltnetz verdanken. Daß es eine Frage von Sekunden ist, herauszufinden, wann etwa die Internationale Raumstation ISS oder ihr chinesisches Pendant Tiangong das nächste Mal sichtbar über den Nachthimmel ziehen werden (für die ISS wird es heute Nacht zweimal der Fall sein – das erste Mal, wenn sie um 2 Uhr 56 und 5 Sekunden in 50 Grad Höhe über dem Horizont unterhalb des Sternbilds des Herkules aus dem Erdschatten tritt und vier Minuten später unter dem Horizont verschwindet). Daß sämtliche Bilder, die die maschinellen Späher auf dem Mars zur Erde gesendet haben, ebenso leicht zu durchsuchen sind wie der tägliche Wetterbericht vom roten Planeten: Im Jezero-Krater auf dem Nordhalbkugel, wo sich der Rover Perseverance befindet, betrug gestern, am Sol 778, die nächtliche Tiefsttemperatur -76 Grad (Celsius), die Höchsttemperatur -27 Grad und der Luftdruck 746 Pascal.



(Das erste Auftauchen der ISS über meinem Schreibtsich für heute nacht, den 6. Mai 2023)



(Aufnahme von Danuri vom 22. November 2022)



(...und die Posirtionen von Erde, Mond und Sonne zum Zeitpunkt dieser Aufnahme)



Fredrik Pohl (1919-2013), in den letzten Jahrzehnten seiner Lebens einer der Doyens der englischsprachigen Science Fiction und als Autor und Herausgeber von Magazinen wie „Galaxy“ und Anthologien einer des Grand Old Men des Genres, hat im Jahr 2000, zum Abschluß des alten oder Auftakt des neuen Jahrtausends, ein Buch mit dem Titel „Chasing Science: Science as a Spectator Sport“ veröffentlicht (Tor Books, 256 S.), in dem er, am eigenen Beispiel, schildert, wie man als interessierter Laie, als schlichter Bürger, bei vielen Forschungseinrichtungen, die für Publikumsverkehr offen sind, etwa dem Fermilab in Illinois oder dem CERN bei Genf, Tuchfühlung mit tatsächlich betriebener Wissenschaft aufnehmen kann. Pohls Text ist in einem leichten Parlando gehalten, einem recht unverbindlichen Plauderton, ähnlich den Büchern seines Autorenkollegan Bill Bryson (hier nicht so sehr in Bezug auf Brysons Reisebücher, sondern seine Streifzüge durch die Welten der Wissens, wie „At Home: A Short History of Private Life“ (2010, dt. Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge) oder „The Body: A Guide for Occupants“ (2019; dt: Eine kurze Geschichte des menschlichen Körpers). Ein relativ kurzer Abschnitt von Pohls Flanerie über das Feld der Wissenschaft, betrieben als Schauplatz der Erbauung und der Aufklärung, ist der Nutzung des Internets gewidmet. In den 22 Jahren, die seit dem Erscheinen des Buchs vergangen sind, sind diese Möglichkeiten im exponentiellen Umfang gewachsen. Was sich in den letzten 100 oder 200 Jahren freilich nicht geändert hat, ist, daß ein Hinweis als solche Titel, solche Orte, virtuell wie handfest-real, zur ihrer Auffindung hilfreich sind, weil ohne gezielte Suche danach die Chance, zufällig darauf zu stoßen, gering ist.



(Ein kleines Beiseit: Pohl beschreibt in seinem Buch, daß die Initialzündung für sein Laieninteresse ein Vortrag war, zu dem er 1962 in seiner Rolle als SF-Autor ans MIT, das Massachusetts Institute of Technology, eingeladen war. Als jemand, der sich für „die Zukunft und ihre technischen Möglichkeiten“ interessierte, wurde er zu einem Besuch des dortigen Elektroniklabors eingeladen und mußte erstaunt feststellen, daß man mit Elektronengehirnen nicht nur komplizierte Gleichungen lösen konnte, sondern auch Spiele spielen konnte, bei denen es darum ging, das Raumschiff des Gegners abzuschießén, bevor man selbst getroffen wurde – „Spacewar!“ war eines der ersten Videospiele, das 1962 von Steve Russell für den PDP der Digital Electronics Corporation entwickelt worden war.)





(Spacewar! - Ein Computerspiel aus dem Jahr 1962)

II.



(Danuri über dem Krater Shackleton am Südpol der Mondes. Künstlerische Darstellung)



(Der Rand des Kraters Shackleton. Aufnahme des Lunar Reconnaissance Orbiter)



(Erduntergang über dem Mondsüdpol. Aufnahme der japanischen Sonde Kaguya von 2007)



Die Mondsonde Danuri (die offizielle Bezeichnung ist KPLO, Korean Pathfinder Lunar Orbiter) ist am 4. August des vergangenen Jahres von der Startrampe 40 in Cape Canaveral mit einer Falcon 9 von SpaceX auf ihren Weg gebracht worden. Nach 134 Tagen Flug entlang dem Kurs, der ein Minimum an spezifischem Impuls (und damit an Treibstoffverbrauch) erforderte und sie Ende September 1,5 Millionen km hinaus trug, ist sie am 17. Dezember in einer weitgestreckte Umlaufbahn um den Mond eingeschwenkt, der bis zum 28 Dezember mit fünf Zündungen des Haupttriebwerks auf seiner jetzigen Bahnparameter abgesenkt worden ist. Die Masse der Sonde beträgt 682 kg (von „Gewicht“ läßt sich in der Schwerelosigkeit nicht sprechen), hat eine Breit von 1,82, einer Länge von 2,14 m und eine Höhe von 2,29 m. Und oben auf diesem Gehäuse (obwohl solche Richtungsangaben hier so sinnlos sind wie Gewichtsangaben) befindet sich die ShadowCam, ein Spiegelteleksop in Ritchie-Cassegrain-Bauweise, dessen Hauptspiegel einen Durchmesser von 19,5 Zentimetern aufweist. Die aufgenommenen Bilder haben eine Breite von 3072 Pixeln und erlauben eine Auflösung von Details an der Mondoberfläche von weniger als zwei Metern. In der Bauweise gleicht sie der NAC des LRO – oder, für Laien, die mit dem notorischen AKüFi der NASA nicht so vertraut sind: Der Narrow Angle Camera des Lunar Reconnaissance Orbiters, der seit Juni 2009 in der Mondumlaufbahn tätig ist und unter anderem Bilder von den sechs Landstufen der Mondfähren des Apollo-Programms geliefert hat. Allerdings ist die ShadowCam 200 mal so lichtempfindlich wie die NAC, da sie zum Ausspähen der PSR, der „permanently shadowed regions“ gedacht ist, eben jener Bereiche, in die niemals direktes Sonnenlicht fällt. Das hat zur Folge, daß jeder Bereich der Mondoberfläche, der von der Sonne beschienen wird, sofort überblendet wird und nur als weißer Fleck erscheint. Der durchschnittliche Stromverbrauch der Kamera liegt übrigens bei 6,4 Watts; im Standby-Modus fällt er auf 4,5 W ab.





(Danuri in der Montagehalle)







(Die ShadowCam)

Wie erhält man aber hochauflösende Bilder von Bereichen, in denen es gemäß Definition stockfinster ist? Auf der Erde arbeiten Nachtsichtgeräte nach zwei Methoden: Im infraroten Bereich, indem sie sich die Wärmeabstrahlung zunutze machen, und als Restlichtverstärker, die das zurückgeworfene Licht schwacher Lichtquellen entsprechend verstärken. Genau dieses Prinzip findet bei der ShadowCam Anwendung. Als Lichtquellen kommt zweierlei in Frage: zum einen das Licht, daß von Erhöhungen in der Nähe stammt, die hoch genug aufragen, um noch im Sonnenlicht zu liegen (Balmonts „…senden sie einen Lichtstrahl ins ewige Dunkel der Täler am Fuß der toten Krater“). Oder der Erdschein – jenes Licht, daß von der Erde reflektiert wird und den Teil der Mondoberfläche schwach beleuchtet, der nicht zum weißgelben Bereich der Mondsichel gehört. Am stärksten ist dieses Phänomen bei Neumond, wenn die Sonne direkt hinter dem Mond steht und aus der Sicht des Trabanten „Vollerde“ herrscht. Obwohl das Phänomen des schwachen, aschfarbenen Anblicks der „eigentlich unsichtbaren“ Teils der Mondscheibe seit der Antike bekannt ist, hat es bis zum Anbruch der Neuzeit gedauert, bis die richtige Erklärung dafür gefunden worden ist.

Der erste, der eine Erklärung für diese Erscheinung geliefert hat, war Leonardo da Vinci. Auf zwei der 36 Doppelseiten der Handschrift, die heute als Codex Leicester bekannt ist (nach dem englischen Adelshaus, in dessen Besitz sich das Manuskript bis 1929 befand), erklärt Leonardo das aschene Licht damit, daß die Ozeane der Erde das Licht der Sonne gut reflektieren und genügend davon auf den Mond fällt, um von der Erde aus noch wahrgenommen werden zu können. Leonardo war noch der Ansicht, daß es sich bei den großen dunklen Bereichen auf der sichtbaren Mondscheibe, den Maria, also Meeren, tatsächlich um Wasserflächen handeln würde, und seit dem Beginn der Raumfahrt wissen wir, daß der größte Teil des Lichts, der von der Erde wieder zurückgestrahlt wird, von den Wolken stammt, die 70 Prozent der Erdoberfläche bedecken. Abe das sind Details, die an der Richtigkeit von Leonardos Erklärung nichts ändern. (Ein unwichtiges Beiseit: Aus unerfindlichen Gründen bin ich viele Jahre der Überzeugung gewesen, die Zeile „Wie geht es dir, Mond?“ – „come sta, la luna?“ – die den Refrain des so betitelten Stücks der deutschen Avantgardecombo Can auf dem Album „Soon Over Babaluma“ bildet, würde aus einem Sonett von Leonardo da Vinci stammen. Das Weltnetz, von dem man neuerdings so viel hört, belehrt mich in Windeseile eines Besseren.)





(Die Erklärung des Erdscheins im Codex Leicester)

Allerdings blieb der Codex Leicester (oder Codex Hammer, nach dem Besitzer, der ihn 1980 erwarb, als die Familie Leicester ihn für 5 Millionen Dollar versteigerte) lange Zeit inhaltlich unbekannt; erst in den dreißiger und vierziger Jahren ist der Inhalt aus Leonardos bekannter Spiegelschrift transkribiert und übertragen worden. Die erste allgemein im Druck verbreitete Erklärung nach da Vinci findet sich in den Büchern von Johannes Kepler, der dort darauf verweist, von wem er dies übernommen hat – von seinem Lehrer Michael Mästlin, der es zuerst in seinem Buch „Epitome Astronomiae“ von 1597 beschreibt, ohne freilich über die Beschreibung des Prinzips hinauszugehen. Kepler verweist in seinem Buch „Astronomia pars optica“ (1604, S.266) darauf hin, daß Mästlin bereits ein Jahr zuvor, in der „Disputatio in de eclipsibus solis et lunae“ (Tübingen, 1596) drei Abschnitte (21 bis 23) diesem Phänomen gewidmet hat.

Im Englischen wurde dieser Erdschein tarditionell „the new moon with the old moon in her arms” genannt, so etwa in der volkstümlichen Ballade von „Sir Patrick Spens,“ zuerst gedruckt im Jahr 1768:

"Mak haste, mak haste, my mirry men,
Our guid ship sails the morne":
"O say na sae, my master deir,
I feir a deadlie storme.

"Yestreen I saw the new moone,
Wi the auld moone in her arme,
And I feir, I feir, my master deir,
That we will cum to harme."

In der Übertragung der Ballade ins Deutsche durch meinen Zunftgenossen Theodor Fontane lauten diese Verse:

Zu Schiff nun, liebe Mannen,
Wir segeln vor Tagesschein!«
Da sprach ein alter Matrose:
»Sir Patrick, das kann nicht sein.

Ich hört' in meiner Koje
Die Windsbraut, wie sie gelacht,
Und der neue Mond hielt den alten
Im Arme die letzte Nacht.«

III.





Das erste Bild, das die NASA in der vorigen Woche in ihrer Bilderstrecke eingestellt hat, stammt vom 9. Januar 2023 und zeigt den Boden des Kraters Shackleton in nie zuvor gesehener Detailfülle. Die Breite des Bildes beträgt gut drei Kilometer ; am oberen Rand verweist ein Pfeil auf etwa 100 Meter lange die Spur, die ein Felsen hinterlassen, der vor wer weiß wie vielen Millionen (oder gar Milliarden) von Jahren den abschüssigen Kraterboden herabgerollt ist, vielleicht, als der Einschlag eines Meteoriten in der Umgebung ein Mondbeben ausgelöst hat. Von den Lunar Orbiter-Sonden sind Ende der sechziger Jahre mehr als 140 solcher Spuren photographiert worden, allerdings sind im Zug des damaligen Programms nur gut ein Prozent der gesamten Mondoberfläche in einer Auslösung von eins bis fünf Metern photographiert worden, die eine genaue Analyse der Energien und der Dichte und Zusammensetzung des Bodens an diesen Stellen zulassen.



Bild 2, vom 9. Februar, zeigt einen im ewigen Schatten liegenden Bereich am Nordpol des Mondes. Die Auflösung pro Pixel liegt hier bei gut 4 Metern je Bildpunkt.



Bild 3, aufgenommen am 22. Januar, zeigt den Krater Bruce, nicht an einem der Pole, sondern in Äquatornähe bei 6 Grad nördlicher Breite, im vollen Erdschein unmittelbar nach Neumond. Die Aufnahme diente zum Test der Leistungsfähigkeit der Kamera.



Bild 4, aufgenommen am 28. Februar 2023, zeigt den Krater Marvin, 26 Kilometer östlich des Mondsüdpols gelegen. Zum Zeitpunkt der Aufnahme lagen sowohl der Innenbereich des Kraters wie auch der äußere Wall des Rings im Schatten. Der Name des Kraters ist übrigens kein Vorname, sondern ehrt die amerikanische Geologien Ursula Marvin (1921-2018), die zu dem Teams gehörte die ab Anfang der siebziger Jahre in der Antarktis auf die Suche nach Meteoriten gingen - wenn dort in den Eiswüsten ein schwarzer Brocken auf dem Packeis gefunden wird, kann es sich eigentlich nur um ein Wurfgeschoss aus höheren Sphären handeln – und hat 1974 den ersten „Stein vom Mond“ gefunden. (Saint-Exupéry spricht in seinem Fliegertagebuch von 1939, „Terre des hommes,“ dt. „Wind, Sand und Sterne“ von „einem Tuch, das zu diesem zweck unter dem Himmel ausgebreitet ist.“) Wenn man genau hinsieht, erkennt man, anhand der Schatten, daß das Licht aus verschiedenen Richtungen einfällt, der Grund ist, daß von unterschiedlichen Erhebungen reflektiert wird.



(Diese spätere Aufnahme des Kraters Marvin zeigt sehr gut, wie die volle Ausleuchtung der Mondoberfläche zur Saturierung des Pixel führt)



Bild 5 zeigt den Krater Aristarchus, am 22. Februar aufgenommen. Die Breite des Bildes beträgt 4400 Meter; während der Kraterboden und der untere, südliche Bereich des Zentralbergs durch reflektiertes Umgebungslicht beleuchtet werden, liegt der nördliche Bereich dieses Zentrums im Schein der Erde, die gut 35 Grad über den Horizont steht.

Auf der Netzseite der Arizona State University, auf der diese Bilder in hoher Auflösung heruntergeladen werden können, gibt es auch eine dynamische Darstellung, auf der man die aktuelle Position von Danuri über der Mondoberfläche anzeigen lassen kann – wahlweise als zylindrische, rechteckige Kartenprojektion oder aber in kreisförmiger Orthogonalprojektion.



(Position von Danuri, für den 6. Mai 2023, 0 Uhr 00 MESZ)

IV.



Die früheste künstlerische Darstellung der Regionen um den Südpol des Monds stammt wohl von dem englischen Amateurastronomen und Zeichner Scriven Bolton, dessen Name heute fast völlig vergessen ist. Bolton, 1883 in Leeds geboren und im Zivilstand im Ölhandel tätig, hatte schon in jungen Jahren ein passioniertes Interesse an der Sternkunde entwickelt. Auf seinem Grundstück in Bramley (heute in Leeds eingemeindet, richtete er sich eine Privatsternwarte ein, deren Pièce de résistance 1913 ein selbstfertigtes Spiegelteleskop mit einem von ihm selbst geschliffenen Hauptspiegel von 66 Zentimetern war. Um der vermuteten wahren Beschaffenheit der Mondoberfläche möglichst nahe zu kommen, verwendete Bolton Modelle, die er aus Gips anfertigte, die er photographierte und die Aufnahmen mit entsprechenden Hintergrunddetails übermalte. Daß diese Landschaften uns, die wir den Mond direkt aus den Aufnahmen der Apollomissionen kennen, grotesk überzeichnet erscheint, ist ihm nicht anzukreiden: auf ausnahmslos allen Versuchen, aus der Zeit, bevor Chesley Bonestell (1884-1986) sich um einen akribisch photorealistischen Stil für solche Bildmotive bemühte hat, ist das allen solchen Darstellungen gemeinsam. Zu wenig wurde berücksichtigt, daß das fehlen jeder Abschwächung durch eine Atmosphäre selbst sanfte Hänge wie rasiermesserscharf gezackte Grate und Schründe erscheinen läßt. (Lediglich auf den Darstellungen von Lucien Rudeaux, 1874-1947, ebenfalls ein früher Pionier in diesem Metier, finden sich hier „realistische“ Ansätze, weil Rudeaux, ebenfalls Amateurastronom, sich an den Konturen orientierte, die die Kraterwälle und Gebirge am Rand der Mondscheibe zeigen – und selbst bei ihm ragen die Berghänge noch in abenteuerlichen Winkeln in die Schwärze des Himmels.) Ab 1914 zählte Bolton zur Redaktion der „Illustrated London News,“ für die er viele Meldungen aus dem Gebiet der Sternkunde mit ganzseitigen Illustrationen versah. Am ersten Weihnachtstag 1929 starb Bolton völlig unerwartet an einer Lungenentzündung.





* * *



(Konstantin Balmont, Farbkreidezeichnung von Walentin Serow, 1905)

Konstantin Dmitijewitsch Balmont (ich lasse wie üblich in der Schreibweise der westlichen Sprachen das Erweichungszeichen im Nachnamen beiseite), 1867 bei Wladimir gute 200 Kilometer östlich von Moskau geboren und im Dezember 1942 in Noisy-le-Grand nahe Paris im französischen Exil gestorben, gehört als Lyriker zu den bedeutendsten Vertretern des russischen Symbolismus während der „silbernen Zeitalters,“ dessen Dauer recht genau dem Jugendstil entspricht. Andere Dichter, deren Namen in diesem Zusammenhang zu nennen wären, sind etwa Andrej Bely, Maximilian Woloschin, Waleri Brjussow, Alexej Remisow, Alexej Krusenich, Igor Sewerjanin, und die frühen Gedichte von Marina Zwetajewa, Alexander Blok und Anna Achmatowa. „Der Südpol des Mondes“ ist das vierte Gedicht von elf aus dem Zyklus „Безветрие“ („Schweigen“), der 1899 im dichterischen Wettstreit mit Andrej Bely entstanden ist und zuerst im folgenden Jahr in der Sammlung „Горящие здания“ (Brennende Gebäude) im Moskauer Verlag Skorpion erschien und Balmonts Ruhm als Lyriker begründete. Ich habe diese Verse an dieser Stelle schon einmal übertragen (Zettels Raum vom 24. Juni 2018) – allerdings habe ich mich vor vier Jahren eng an Inhalt orientiert und dafür auf die Schlußreime vezichtet. Die einzige mir bekannte andere Übersetzung ist eine Paraphrase in Prosa durch Alexis de Holstein, die 1916 in Paris in dem Band „Quelques poémes“ bei C. Crès & Cie erschienen ist. Dort lautet der erste Vierzeiler:

Le pôle austral de la Lune s'assoupit, il s'endormit entre les monts merveilleux Qui consternent par leurs formes régulières. C'est la pensée enclose en octaves harmonieuses. Ces sommets vivent sans eau, dans une zone de rayons immobiles.





Zum Vergleich die erste Version aus „Zettels Raum“:

Der Südpol des Monds. er schläft zwischen majestätischen Bergen
Besiegt von ihren starren kristallenen Formen.
Er ist ein Gedanke - in schlanke Oktaven gebannt..
Diese Berge leben wasserlos, in einem Streifen ewigen Lichts.





U.E

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