(David Low, "Aldous Huxley," Kariketur für den New Statesman and Nation. Die Zeichnung ist auf den 25. Novemmber 1933 datiert.)
Die Möbelwagen hatten ihre Fracht in unserem neuen Heim ausgeladen. Wir waren jetzt eingezogen – oder mußten uns zumindest so gut wie möglich in den Chaos, dem Schmutz und der Unordnung behelfen, so gut es ging. Einer der präraffaelitischen Maler (dessen Name mir gerade nicht einfällt), hat einmal ein Bild mit dem Titel „Der letzte Tag im alten Heim“ gemalt. Es bedürfte eines gröberen, härter geführten Pinsels, um die Schrecken des „Ersten Tags im neuen Heim“ zu schildern. Als ich mich voller Verzweiflung zwischen dem zusammengewürfelten Mobiliar hingesetzt hatte, fiel mir in einer offenstehenden Bücherkiste ein kleines ledergebundenes Büchlein ins Auge, der unter einer Menge größerer Bände hervorstach. Es war der „Candide“ – meine heißgeliebte Erstausgabe von 1759 mit seiner dezent albernen Titelseite: „Candide ou L‘Optimisme, Traduit de L‘Allemand de Mr le Docteur Ralph.“
Ein wenig Optimismus hatte ich dringend nötig – und da der gute Doktor Ralph bekanntlich einer der besten Lehrer in dieser Disziplin ist, nahm ich das Buch her und fing an zu lesen: „Il y avait en Westphalie, dans le Château de Mr la Baron de Thunder-ten-tronkh….“ Und legte den Band nicht aus der Hand, bis ich zum Schlußsatz „Il faut cultiver notre jardin“ gekommen war. Ich fühlte mich durch den Zuspruch von Dr. Ralph angeregt und aufgeheiert.
Aber das Besondere an einer Neulektüre des „Candide“ liegt nicht daran, daß einen das Buch unterhält, und den Leser mit seinem Witz und Geistesschärfe überrascht. Das ist nicht anders zu erwarten. Nein: es löst ein neues Gefühl aus, das ich zumindest so nicht erwartet hatte. „Früher,“ bevor die Sintflut der Geschichte über uns hereinbrach, waren Candides Abenteuer für uns, die wir als Mittelklasse ein geborgenes, ruhiges Dasein führten, nur eine phantasievolle Abenteuergeschichte, oder höchstens eine satirisch zugespitzte Schilderung von Zeitumständen, die wir nur vom Hörensagen kannten und von denen wir nur wußten, daß es sie einmal, vor langer Zeit und weit entfernt, gegeben hatte. Aber heute fühlt es sich wie eine Beschreibung der Gegenwart an, man findet dort die Einstellungen und Zustände von 1922. Es gibt kein Buch, das aktueller sein könnte. Wir leben heute in der Welt von Candide und Cunegonde, von Martin und der alten Frau, die die Tochter eines Papstes ist und einmal mit den Prinzen von Massa-Carrara verlobt war. Der einzige Unterschied, daß die Greuel ungleich massierter daherkommen als in der Welt Candides. Die Schlachten zwischen den Bulgaren und den Abaren, der Aufstand in Marokko, das Erdbeben von Lissabon und die Bücherverbrennungen der Inquisition verblassen, verglichen mit dem Großen Krieg, der Hungersnot in Russland, den Black and Tans im Irischen Bürgerkrieg und all den anderen Schrecken, die unsere Zeit prägen. „Quand Sa Hautesse envoye un vaisseau en Egypte,“ bemerkte der Derwisch, „s’em-barrasse-t-elle si les souris qui sont dans le vaisseau sont à leur aise ou non?“ Die Antwort lautet „nein“ – aber es gibt Zeiten, wenn Seine Hoheit, sicher ohne böse Absicht, ein Dutzend ausgehungerter Katzen im Laderaum dieses Schiffs losläßt; die Gegenwart scheint dazuzugehören.
Katzen im Frachtraum? Das ist nichts, was uns heute überraschen sollte. Die Lebensweisheit von Martin und der alten Frau, die einmal mit den Prinzen von Massa-Carrara verlobt war, sind uns allen seit 1914 geläufig. In den glücklichen Tagen von König Viktoria und König Edward war Westeuropa wie Candide über das Chaos früherer Zeitalter entsetzt und so vornehm wie einst Edward Gibbon. Heute wissen wir es besser. Wenn man ein Zeitalter voller Chaos und Unfähigkeit erschafft, bekommt man Unfähigkeit und Chaos. Schafft man eine Epoche wie die von Gibbon, dann werden sich gesittet und vornehm betragen. Das scheint uns heute selbstverständlich. Und weil wir heute in der Welt voller Chaos und Gewalt leben, das wir Martin Lehre so gut gelernt, daß uns heute die furchtbarsten Naturkatastrophen und die Zurschaustellungen der Dummheit und der Gewalt der Menschheit fast gleichgültig lassen, die uns früher aufgewühlt und um den Schlaf gebracht hätten. In der Hinsicht haben wir Martin längst hinter uns gelassen und gleichen eher dem Edelmann Pococurante.
Welches Heilmittel bietet sich an? Der gute Doktor Ralph möchte uns glauben machen, es bestehe im sorgfältigen Bestellen unseres Gartens. Vielleicht hat er recht. Das Problem ist nur, daß manche unsere Gärten es kaum wert scheinen, bestellt zu werden. Der Garten des Schalterbeamten, der Fabrikarbeiters, des Ladenmädchens, der Verwaltungsbeamten und des Politikers – kann dafür irgendjemand Begeisterung aufbringen? Oder etwa mein Garten – der Garten der Literatur und der Berichterstattung, wo ich das ganze Jahr über mein kleines Beet umgrabe, pflanze, jäte, zurechtstutze und schließlich ernte – und das wenig genug. Und zu welchem Zweck? „Wem zum Vorteil?“ – wie der Lateiner sagen würde. Da liegt der Hase im Pfeffer.
In Tschechows Briefen gibt es einen Absatz, den sich alle Literaten mit goldener Tinte auf dem Schreibtisch festhalten sollten. „Ich schicke Ihnen,“ schreibt Tschechow an seinen Briefpartner, „MIchailowskis Artikel über Tolstoi … Es ist ein guter Artikel, und trotzdem seltsam. Man könnte tausend solche Artikel schreiben und wäre kein bißchen weitergekommen – und man würde immer noch genausowenig wissen, warum solche Artikel geschrieben werden.“
“If faut cultiver notre jardin.“ Schon recht – aber die Frage ist: wozu?
* * *
(Aldous Huxley und Dick Sheppard. Zeichnung von David Low. Illustration für den Artikel "Peace - not Pacifism" von Rebecca West in Nash's Pall Mall Magazine vom September 1936. Sheppard und Huxley gehörten zu den namhaftesten britischen Intellektuellen, die ab 1935 angesichts der Forderungen des deutschen Regierung und Aufrüstung und die Kontrolle über das Saarland und das Sudetenland für Appeasement und "Zähmung durch Einbindung" eintraten.)
Im Kolophon zu seinem kleinen Essayband „On the Margin“ schreibt Aldous Huxley: „Die meisten dieser Texte erschienen im ‚Athenaeum‘ unter dem Titel ‚Marginalia‘ und warne mit ‚Autolycus‘ gezeichnet. Der Rest wurde zuerst in der Weekly Westminster Gazette, The London Mercury und Vanity Fair (New York) gedruckt.“ Für „Re-Reading Candide,“ den zweiten kleinen Essay des Bändchens, scheint das nicht zuzutreffen; weder die Bibliographien von Claire John Eschenbach und Joyce Lee Schober („Aldous Huxley: A Bibliography,“ University of California Press, 1961) noch die ein halbes Jahrhundert später erschienene von David Bromer und Shannon Strube („Aun Aprendo: A Comprehensive Bibliography of the Writings of Aldous Leonard Huxley,“ Bromer Booksellers, 2011) wiesen eine separate Veröffentlichung aus – und unter den 48 Beiträgen in der Kolumne „Marginalia,“ die zwischen dem 20. Februar 1920 und dem 4. Februar 1921 im „Athenaeum“ erschienen sind, meist in wöchentlicher Abfolge (in den Nummern 4686 bis 4736), findet es sich nicht – ebensowenig wie in den Kolumnen in der New Westminster Gazette, die ab 1922 erschienen sind (was kein Wunder ist, denn dabei handelt es sich um Theaterkritiken. Es ist durchaus möglich, daß der kleine Text ohne Angabe des Verfassers an anderem Ort vorabgedruckt worden und bisher von den Fliegenbeinzählern übersehen worden ist – aber bis auf Weiteres gehe ich davon aus, daß es sich bei der Buchfassung um den Erstdruck handelt und er deshalb genau vor einem Jahrhundert, im Mai 1923 zuerst publiziert worden ist. Oder in der zweiten Hälfte des April, mit entsprechender Vordatierung, denn bereits am 4. Mai schreibt Huxley an seinen Autorenkollegen E. S. P. Haynes: „Ich freue mich sehr, daß Ihnen meine Randnotizen gefallen haben. Es hat Spaß gemacht, sie zu schreiben – und wenn ich sie durchblättere, scheinen sie mir einiges an Lesespaß zu bieten.“
„Ein Maler (dessen Name mir nicht einfällt)...“: Der Ritter von der traurigen Gestalt ist bekanntlich in einem Flecken in den Mancha geboren, dessen Name seinem Schöpfer gerade nicht einfallen will („de cuyo nombre no quiero acordarme“); bei Robert Braithwaite Martineau (1825-1869) handelt es sich in der Tat um einer der unbekanntesten Künstler aus der Bruderschaft der Präraffaeliten. „The Last Day in the Old Home“ (1862), das heute in der Tat Gallery hängt, ist eines jener hochmoralischen Sujets, wie es die Ära des Viktorianismus innig liebte: Der Blick in den üppig möblierten Salon zeigt die Familie Pulleyne an Abend vor der Zwangsversteigerung das Familiensitzes Hardham Court. Sir Charles Senior stützt sich auf den Versteigerungskatalog des Auktionshauses Christie’s, datiert auf November 1850, an den zahlreichen Ahnenporträts sind die Schildern mit der Nummer für den Aufruf bei der Auktion zu sehen; sein Sohn, dessen Spielsucht den Wohlstand der Familie vernichtet hat (und der eine frappante Ähnlichkeit mit Robert Louis Stevenson aufweist), hebt unbekümmert sein Champagnerglas; sein rechter Arm, der auf den Schultern seines kleinen Sohnes ruht, zeigt an, daß er seinen Lebenswandel an ihn weitergeben wird. Nur die Frauen der Familie schauen betrübt und zusammengesunken in die spätherbstliche Parklandschaft vor den Fenstern hinaus.
„…Erstausgabe des ‚Candide‘ aus dem Jahr 1759“: Lieber Herr Huxley, Sie müssen an dieser Stelle ganz stark sein. Ich bin als Übersetzer Ihrem Original verpflichtet, und dort steht „my treasured little first edition of 1759,“ aber wahrscheinlich handelt es sich nicht um die Editio princeps, die im Januar in Genf vom Buchdrucker Cramer herausgebracht worden ist, und für die heute auf Auktionen Preise zwischen 20.000 und 40.000 Euro erzielt werden. Voltaire hatte eine weitere Fassung des Manuskripts an den Londoner Verleger John Nourse geschickt, der seinerseits weitere Abschriften an andere Verleger weitergegeben hat, so daß es innerhalb weniger Monate nach der Genfer Erstausgabe zu sechzehn (!) weiteren Ausgaben gekommen ist, mit Verlagsort Paris, London und Amsterdam. Hinzu kommt noch, daß Voltaire nach dem Erscheinen weitere Veränderungen am Text vorgenommen hat, die in die späteren Genfer Drucke aufgenommen wurden. Kurz und gut: die Bibliographie der verschiedenen Ausgaben des „Candide“ ist ein veritabler Albtraum, und ohne sorgfältige Kollationierung ist auch ein Spezialist hier rettungslos verloren.
„In Tschechows Briefen gibt es …": es handelt sich um einen Brief, den Anton Tschechov am 28. August 1891 an seinen Freund A. S. Suworin schreibt, und in dem es über den Kritiker Michail Michailowskij heißt:
Посылаю Вам фельетон Михайловского о Толстом. Читайте и совершенствуйтесь. Фельетон хорош, но странно, напиши таких фельетонов хоть тысячу и все-таки дело не подвинется ни на шаг и все-таки непонятным остается, для чего все эти фельетоны пишутся.
Ich sende Ihnen einen Artikel von Michailowski über Tolstoi, zur Lektüre und damit Sie ihn korrigieren können. Der Artikel ist gut, aber es ist seltsam, man kann mindestens tausend solcher Aufsätze schreiben und trotzdem geht es keinen Schritt weiter, und dennoch bleibt es unverständlich, warum alle diese Texte geschrieben werden.
Bei dem fraglichen Aufsatz von Nikolai Konstantinowitsch Michailowskij (1842-1904) handelt es sich um die Folge 35 der Serie „Письма о разных разностях“ („Briefe über verschiedene Unterschiede“), die am 23 August 1891 in der Zeitschrift „Russkije Wedomosti“ (Русские ведомости) erschienen ist.
"...wie der Lateiner sagen würde": er würde natürlich "cui bono?" sagen.
U.E
© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.