So wie kalte Tränen ist der Regen
So wie außer Atem ist der Wind
So wie nasse Augen sind die Sterne
Wenn das überhaupt noch Sterne sind
Und so als ab dein Herz ein alter Seemann wär
Der das Fernrohr falsch rum hält und alles ist so sehr
Weit weg, dass es die müden Augen schont
So blass und kalt hängt über dir der Mond
- Element of Crime, „Über dir der Mond“ (2008)
I.
Daß die erste „Mondlandung“ eines Privatunternehmens, die Mission Hakuto-R M1, am vorigen Dienstag, den 25. April 2023, um 20:40 Mitteleuropäischer Sommerzeit mit einem Fehlschlag geendet ist, weil dem Lander gut zwei Minuten vor dem Aufsetzen im Meer der Kälte der Treibstoff ausging, hat keinen Nachrichtenwert mehr. Daß die japanische Firma ispace bereits an der Umsetzung für eine zweite Mission arbeitet, der „Serie 2,“ die im nächsten Jahr gestartet werden soll und mit 4,2 Metern Höhe doppelt so hoch ist wie der havarierte Lander, kann als Fußnote vermerkt werden, aber hier gilt der neudeutsche Satz „we’ll cross that bridge when we come to it“ – zumal noch unklar ist, welche Konstruktionsänderungen sich aus der Auswertung der gescheiterten Mission ergeben werden.
Natürlich ist es bitter, wenn man als Raumfahrtbegeisterter sehen muß, wie ein solches Unternehmen nach einer Dauer von 4 Monaten und einer zurückgelegten Flugstrecke von fast 2,5 Millionen Kilometern buchstäblich auf den letzten Metern scheitert – zumal keine Woche vorher in Florida der langerwartete erste Start des Starships von SpaceX in einem Feuerball geendet war. Aber unerwartet ist es nicht – vor allem dann nicht, wenn man diesen Flug in den Kontext der bisherigen unbemannten Sondenmissionen setzt, die seit mittlerweile 65 Jahren in Richtung des Erdtrabanten gestartet worden sind.
Im Allgemeinen gilt für die Satelliten, die zur Naherkundung des Sonnensystems eingesetzt werden werden, daß die Systeme ausreichend getestet und redundant genug ausgelegt sind, um zu einem vollen Erfolg zu führen. Das gilt für alle Flüge, die bislang zum Merkur, zur Venus, zu den Asteroiden und den vier äußeren Gasplaneten stattgefunden haben – einschließlich der Sonde New Horizons, die 2015 am französischen Nationalfeiertag, dem 14. Juli, den zum „Zwergplaneten“ degradierten Pluto in einer Entfernung von 13.000 Kilometern passiert hat. Die beiden Ausnahmen auf dieser Liste sind der Mars und eben der Mond – wobei im Fall des Mars die Erfolge recht ungleich verteilt sind. Während die 20 Missionen der NASA, seit der ersten durch Mariner 1 im November 1964 alle bis auf eine erfolgreich waren (der Mars Climate Orbiter stürzte im September 1999 ab, weil bei der Bremszündung für das Einschwenken in die Umlaufbahn das von Rolls-Royce gebaute Hauptriebwerk auf die britische Maßeinheit Fuß pro Pfund und Sekunde ausgelegt worden war, während die Planer der NASA für die Zündung in den Einheiten Newtonsekunden berechnet hatten – ein Unterschied um fast das Fünffache) – endeten die insgesamt 19 Missionen, die die Sowjetunion (und ihr Nachfolger, die Russische Föderation) bislang gestartet hat, ausnahmslos als Fehlschläge – einschließlich der ersten weichen Landung von Mars 3 im Dezember 1971, als 110 Sekunden nach dem erfolgreichen Aufsetzen im Krater Ptolemäus und 20 Sekunden nach dem Beginn der Übertragung des ersten Fernsehbildes der Funkkontakt abbrach. Da an der Landstelle zu dieser zeit auch noch ein Staubsturm herrschte war, auf den 70 B gesendeten Bildzeilen auch nichts als ein konturloser Nebel zu erkennen.
Mit dem Mond verhält es sich ähnlich. Als nächster Nachbar der Erde ist er das bislang am häufigsten von Sonden (und bemannten Raumschiffen) angeflogene Ziel – aus drei Gründen: ganz zu Beginn des „Raumfahrtzeitalters,“ um zu demonstrieren, daß solche Flüge überhaupt durchführbar waren (und um in der Systemkonkurrenz beim „Wettlauf ins All“ die Nase vorn zu haben), in der Folge als Vorbereitung auf die bemannten Flüge des Apolloprogramms und des als Antwort darauf konzipierten russischen LK-Programms (das Kürzel steht für Лунный корабль, Lunii korabl,“ „Mondschiff“) und bei den „neueren Missionen“ seit dem Ende der „Systemkonkurrenz“ um die genaue Kartographierung der gesamten Mondoberfläche sowie die Demonstration neuer Mitglieder im Klub der Raumfahrtnationen, daß sie solche Unternehmen durchführen können. Das gilt für Japan – angefangen mit der Sonde Hiten 1990, für China, Indien und Südkorea.
Insgesamt hat es seit dem Fehlstart der allerersten Sonde Luna-E, Nr. 1 durch die Sowjetunion im September 1958 116 Versuche gegeben, den Mond zu erreichen, an ihm vorbeizufliegen oder in eine Umlaufbahn einzuschwenken. Gerade in den ersten Jahren der Raumfahrt hat ein Großteil dieser Sonden nicht einmal die Erdumlaufbahn erreicht. Von diesen 116 Missionen haben 54 das gesetzte Ziel erreicht – angefangen mit Luna 2, die am 14. September 1959 in der Regenbogenbucht, dem Sinus Iridum westlich des Mare Imbrium aufschlug und damit als erstes Produkt aus Menschenhand einen anderen Himmelskörper erreichte, und Luna 3, die drei Wochen später die ersten Bilder von der bis dahin völlig unbekannten Mondrückseite zur Erde funkte. Weil das russische Ingenieursteam sich nicht völlig auf die direkte Abtastung der Bilder aus der Teleskopoptik verlassen wollte, wurden die Filme mit den Aufnahmen an Bord der Sonde automatisch entwickelt und anschließend von der Fernsehkamera gescannt. Der dafür verwendete Spezialfilm, der gegen die starke ionisierende Strahlung des Van-Allen-Gürtels gehörtet war und den extremen Temperaturbedungen angepaßt war, stammte übrigens nicht aus dem Mutterland des Sozialismus oder einem der Satellitenstaaten des Ostblocks, sondern vom imperialistischen Klassenfeind im Westen. Er war Beute aus einem der Spionageballons des Project Genetrix, bei dem zwischen dem 10. Januar und dem 6. Februar 1956 insgesamt 512 Höhenballons zum Überflug des östlichen Territorium in einer Flughöhe von 15 bis 30 Kilometern gestartet worden waren – unter anderem von Oberpfaffenhofen und Giebelstadt. 54 dieser Ballons wurden erfolgreich geborgen; ein Großteil des Rests wurde im östlichen Luftraum abgeschossen.
Ich lasse einmal die Mondsonden beiseite, die wie Luna 2 oder Ranger 6 bis 9 als „Impaktoren“ den Mond von vornherein nur als Zielscheibe hatten oder die als Orbiter nach dem Ende ihrer Mission gezielt zum Absturz gebracht worden sind, angefangen mit Lunar Orbiter im Oktober 1966. Für 34 Sonden, zwischen Januar 1963 und der letzten sowjetischen Mission Luna 24 im August 1976, war eine weiche Landung vorgesehen. 12 davon, gerade ein Drittel, hatte damit Erfolg. 5 Surveyor-Sonden hat die NASA im Vorfeld der bemannten Landungen erfolgreich auf dem Mond abgesetzt; 7 russische Luna-Missionen, die 1970 und 1973 die Rover Lunochod 1 und 2 absetzten die 10 bzw. 42 km auf der Mondoberfläche zurücklegten. (In der Sowjetunion kam übrigens nach den Veröffentlichungen der Bilder von Lunochod im November 1970 das Gerücht auf, der Rover – der wie eine geschlossene große Badewanne auf 8 Rädern aussah, mit einer Höhe von 1,30 m und einer Breite von 1,60 m, habe einen „Zwerg in Diensten des KGB“ als Piloten an Bord – nicht unähnlich R2D2 sieben Jahre später in George Lucas‘ „Stars Wars,“ dessen Pilot Kenny Baker in wirklichen Leben auch nur 1,12 m groß war.)
Luna 16, 20 und 24 brachten 1970, 1972 und wie erwähnt 1976 insgesamt gut 300 Gramm Mondgestein und -staub zur Erde zurück (zum Vergleich: die sechs bemannten Apollo-Missionen brachten insgesamt 382 kg mit nach Hause). Unter den 101 Gramm, mit denen Luna 16 am 24. September 1970 im Kasachstan landete, waren auch drei winzige Splitter, die heute offiziell das einzige Mondgestein darstellt, das sich offiziell in Privatbesitz befindet. Die sowjetische Akademie der Wissenschaften hat sie nach der Bergung der Sonde der Witwe des „großen Ingenieurs,“ des „Chefkonstrukteurs“ des russischen Raunfahrtprogramms, Sergej Koroljow, als Anerkennung für die Verdienste ihres Mannes, der 1966 bei einer Blinddarmoperation gestorben ist, überlassen. Und diese drei Bruchstücke mit einem Gesamtgewicht von 0.2 Gramm sind im Dezember 1993 von englischen Auktionshaus Sotheby’s für eine Summe von 442.000 US-Dollar von einem nicht namentlich genannten Sammler versteigert worden und erzielten bei einem weiteren Besitzerwechsel, ebenfalls bei Sotheby’s, im November 2018 einen Preis von 855.000 Dollar. Eins dieser Körnchen besteht aus Basalt, die beiden anderen sind der Regolith des Mondbodens, bei dem die äußere Schicht infolge der Hitze eines Meteoriteneinschlags zu Glas geschmolzen ist. Allerdings dürften sich – unter der Hand, natürlich – wesentlich größere Anteile dieses kosmischen Beuteguts in den Händen von Sammlern befinden. Bei den Proben, die zu Analysezwecken an Labors abgegeben worden sind, besteht eine solche Gefahr naturgemäß kaum, weil hier penibel Buch geführt wird. So hat das Institut für Planetologie an meiner Alma Mater, der Universität Münster (die Benennung als Westfälische Wilhelms-Universität nach ihrem Neugründer, dem deutschen Kaiser Wilhelm II., hat sie vor 4 Wochen offiziell ad acta gelegt, obwohl auf jedem offiziellen Schriftsatz und Netzauftritt weiterhin „WWU“ zu lesen ist) seit 2009 mehr als 70 Proben zur Altersbestimmung anhand des Isotopenverhältnisses erhalten. Aber von den 379 Bodenproben, die im Nachgang der Apollo-17-Mission im März 1973 als „Goodwill Moon Rocks“ an ausländische Regierungen, Museen und die amerikanischen Bundesstatten verschenkt worden sind, fehlt mittlerweile von 169 von ihnen jede Spur.
(Die 1993 und 2008 versteigerten Brückhen Mondgestein von Luna 16)
(So fehlen etwa die Steine, die den Regierungen von Argentinien, dem Libanon, Haiti, Equador, Saudiarabien und den Philippinen überreicht worden sind. Das Präsent an den US-Bundessatt West Virgjnia fand sich 2010 im Besitz eines ehemaligen Zahnarztes, der den Brocken von seinem Bruder geerbt hatte, mit dessen Kanzlei der Gouverneur John A. Moore, der den Empfang quittiert hatte, verbandelt war.)
II.
Aber zurück zum Thema. Die Flüge der russischen Luna- und Zond-Missionen waren der Versuch des Entwicklungsteams, zumindest noch einige „konkrete Resultate“ anhand der bewährten Technik vorweisen zu können, nachdem zum einen die amerikanische Landung auf dem Mond im Juli 1969 das Wettrennen entschieden hatte und es bei den vier Starts der dafür vorgesehenen Großrakete N1 zwischen Februar 1969 und November 1972 zu vier Fehlschlägen gekommen war. Beim ersten Start kam er 68 Sekunden nach dem Abheben zur Explosion der ersten Stufe, als eine Treibstoffleitung für Kerosin brach. Am 3. Juli 1969, zwei Wochen vor der Landung von Apollo 11 im Meer der Stille, fing die Startstufe beim zweiten Start in Baikonur nach zehn Sekunden Feuer, als eine Treibstoffpumpe explodierte, die Notautomatik schaltete die Triebwerke ab und die Explosion der 2300 Tonnen Treibstoff sorgte für eine der größten Explosionen, die Menschen ohne Zuhilfenahme von nuklearen Sprengköpfen je zustande gebracht haben. Als Resultat wurde die automatische Steuerung für den äußeren Triebwerksring so modifiziert, daß sie während der ersten 50 Sekunden des Flugs arretiert blieb, damit die Rakete auf jeden Fall die Startrampe weit hinter sich ließ – und als beim dritten Start im Juni 1971 die Rakete in eine unvorhergesehene Rollbewegung geriet, war dieser Winkel nach 50 Sekunden mit 40 Grad so groß, daß die entsprechende automatische Schubänderung der Triebwerke die Rakete buchstäblich in Stücke riß. Immerhin schlug die Startstufe 4 km von der Startrampe einen Krater in die Steppe. Im November 1972 brachen dann während der größten Druckbelastung durch die Atmosphäre in 14 Kilometern Höhe gleich sechs Treibstoffleitungen (über „MaxQ“ habe ich in meinem Beitrag „Starship,“ Zettels Raum vom 21. April 2023, geschrieben). Apropos „Starship“: die N1 war bis zum (Fehl)start des Super-Heavy-Boosters vor 10 Tagen die stärkste je gestartete Rakete mit 45 Millionen Newton (Starship bringt es auf 75,9 MN; die Saturn V auf 34,5 MN); während die Saturn V eine Nutzlast von 50 Tonnen in den niedrigen Erdorbit befördern sollte, waren beim russischen bemannten Mondprogramm 100 Tonnen vorgesehen.
Nach dem Ende des Luna-Programms 1976 fanden die nächsten Flüge zum Mond erst wieder 1990 und 1994 statt, angefangen mit der japanischen Sonde Hiten, die zwischen März 1990 und Oktober 1991 zehn Vorbeiflüge absolvierte und ihn vom Februar 1992 bis zum April 1993 umkreiste, und der amerikanischen Sonde Clementine, die von Februar bis Juni 1944 Trabant des Trabanten war. Aber auch die folgenden 14 Missionen bis zur Doppelmission GRAIL 1 und 2 der NASA zum Jahreswechsel 2011/12 beschränkten sich auf Umrundungen. Erst mit der chinesischen Sonde Chang’e 3 kam es im Dezember 2013 zu einer neuen Landung – und in den vergangenen 53 Monaten zu fünf weiteren Versuchen, von denen, wie eingangs erwähnt, nur die beiden chinesischen Folgemissionen erfolgreich waren – Chang’e 4, die am 7. Dezember 2018 als erste Sonde auf der erdabgewandten Seite des Mondes landete, und Chang’e 5, die im Dezember 2021 insgesamt 1781 Gramm relativ jungen Mondgesteins (1,9 Milliarden Jahre) aus dem Gebiet des Vulkans Mons Rümker im Norden des Oceanus Procellarum zur Erde brachte.
Die anderen drei Versuche einer weichen Landung, die der israelische und der indische im Jahr 2019 sowie der japanische in der vorigen Woche, endeten dagegen auf eine Weise, die sich frappant ähnelt.
Der Lander Beresheet des israelischen Startups SpaceIL machte hier den Auftakt. Die Firma mit Sitz in Tel Aviv ist 2009 nach der Ausschreibung des Google Lunar X Prize gegründet worden, der dem privatem Unternehmen, dem es als erstem gelingen würde, mit einem Fahrzeug oder einer sonstigen Vorrichtung eine Strecke von einem halben Kilometer zurückzulegen, einen Preis von 30 Millionen US-Dollar ausschrieb. Zu Anfang galt das Jahr 2014 als Auslaufdatum; 2012, als sich abzeichnete, daß keine Firma diese Vorgabe einhalten konnte, ist der Wettbewerb noch einmal vier Jahre verlängert worden. Anders als bei anderen vorgestellten Projekten – es gab insgesamt 33 Bewerber, darunter zwei aus Deutschland, von denen es fünf in die nähere Auswahl geschafft haben – sollte hier die Strecke nicht mit einem Wägelchen zurückgelegt werden, sondern der Lander sollte durch kurze Zündungen des Bremstriebwerks „hüpfen.“ Der Lander mit einer Höhe von 1,50 m und einem Durchmesser von gut 2 m sollte nur 48 Stunden funktionsfähig bleiben und verfügte deshalb über keine Systeme zur Temperaturkontrolle.
Beim Verlassen des Mondorbits, in dem der Lander seit einer Woche gekreist hatte, kam es am 11. April 2019, um 21:10 Uhr Mitteleuropäischer Sommerzeit, 14 Kilometer über dem Mondboden im Mare Serenitatis, zum Ausfall eines der beiden Beschleunigungsmesser, der LMU, woraufhin die Bodenkontrolle ein Signal zum Neustart funkte – das aber zur Folge hatte, daß sich die gesamte Bordelektronik ausschaltete und erneut hochfuhr – und dabei eben auch das Bremstriebwerk ausschaltete. Anschließend gelang es, das Treibwerk erneut zu starten, aber in der Zwischenzeit war zuviel Zeit verstrichen, um den Aufprall abzufangen. Die letzten Telemetriedaten, aus einer Höhe von 150 Metern gesendet, zeigten eine Sinkgeschwindigkeit von 480 km/h und eine Vorwärtsbewegung von 3500 km/h.
Fünf Monate später, am 6. September 2019, scheiterte die Landung des Landemoduls Vikram, den der Orbiter Chandrayaan-2 der Indian Space Research Organization (ISRO) ausgesetzt hatte. Chandrayaan2 war (und ist – der Orbiter ist bis heute aktiv) die Nachfolgemission von Chandrayaan-1, der von November 2008 bis zum August den Mond umkreist hat. Anders als Beresheet erfolgte die Steuerung allein durch die Bordautomatik. Etwa 2 Kilometer über der Oberfläche begann die Sonde von der vorgesehenen Flugbahn abzuweichen. Die letzten übertragenen Daten aus einer Höhe von 330 Metern wiesen noch eine Geschwindigkeit von 210 km/h aus. Die anschließende Fehleranalyse der ISRO ergab, daß die Ursache die Auslegung der Triebwerksteuerung war, die in Raten von je einem Fünftel des Höchstschubs gesteigert werden konnte, so daß der Lander mit eine Geschwindigkeit von 180 km/h statt der vorgesehenen 2 niederging.
Und wie bei Chadrayaan-2 (oder besser Vikram, mit seinem Rover Pragyan) hat auch bei Hakuto-R M1 die Landung in der vorigen Woche durchgeführt worden, ohne daß die Bodenkontrolle die Möglichkeit hatte, einzugreifen. An dieser Stelle muß ich einräumen, daß mir die genaue Ursache für das Scheitern der Mission (noch) nicht klar ist – es kommen mehrere Möglichkeiten in Frage. Das Abstiegsmanöver aus der Umlaufbahn in 100 km Höhe ist um 00:40 Tokyoter Ortszeit (JST; 17:40 MESZ) eingeleitet worden. Takeshi Hakamada, der Direktor von ispace (neudeutsch: CEO) sprach in einer ersten Erklärung eine halbe Stunde nach dem Absturz davon, es habe Probleme mit dem Höhenradar der Sonde gegeben. Die „offizielle“ Version lautet bislang, daß die Sonde beim Abbremsen zuviel Treibstoff verbraucht hat und deshalb kurz vor dem Aufsetzen in freien Fall übergegangen ist. Die letzten Telemetriedaten, die am vergangenen Dienstag auf dem Bildschirm der Bodenkontrolle angezeigt wurden, zeigten eine Höhe von 90 Metern und eine Sinkgeschwindigkeit von 33 km/h. Das war gut 30 Sekunden vor dem geplanten Aufsetzen.
Es ist aber möglich, daß es sich hierbei nicht um die tatsächlichen Daten gehandelt hat, sondern um die Daten für die Geschwindigkeit, die für den Lander vorausberechnet worden ist. Denn eine Analyse der Frequenz der Trägerwelle des gesendeten Signals zeigt etwa anderes: diese Frequenz bleibt, nachdem die Sonde hinter dem Mondhorizont aufgetaucht ist und das Signal wieder empfangen wurde, stabil, und beginnt sich 90 Minuten vor dem Signalverlust, also gut 2 Minuten vor dem Aufsetzen, rapide zu verringen. Von der Erde ausgesehen, befand sich die Landestelle im Krater Atlas im Norden der Mondscheibe in einem Winkel von 25 Grad. Und ab dem Zeitpunkt der Veränderung verringert sich die Frequenz der Trägerwelle in den 70 Sekunden bis zum Aussetzen um insgesamt 1250 Hertz, also 17,86 Hertz pro Sekunden. Um dieser Wert entspricht exakt (mit einer Marge von 2,5 Prozent) der Veränderung, die zu sehen sein sollte, wenn die Sonde in freien Fall übergeht. Und dazu paßt auch ein anderes Detail. Der Lander verfügte über ein Haupttriebwerk mit einer Schubleistung von 400 Newton und sechs kleineren Brennkammern, die ringförmig darum angeordnet waren und jeweils 200 N Schub lieferten. Das Hauottriebwerk wurde in 25 km Höhe gezündet und verringerte die Geschwindigkeit von 380 km/h in einer Höhe von 2 Kilometern. Und danach wurde es abgeschaltet und die sechs 200-N-Triebwerke sollten den Rest des Abbremsung übernehmen. Es ist also auch durchaus denkbar, daß diese Zündung nicht erfolgt ist – ob durch einen technischen Defekt oder weil der Lander infolge einer falschen Abstandsmessung seinen Treibstoffvorrat vorzeitig erschöpft hat.
Die Firma ispace hat mittlerweile bekanntgegeben, daß sie sich von diesem Fehlschlag nicht entmutigen lassen will. Einer der Gründe dafür ist sicherlich, daß die Hakuto-R-Mission als erstes Unterfangen dieser Art versichert war – durch einen besonderen Kontrakt, den ispace mit der japanischen Versicherung Mitsui Sumitomo Insurance abgeschlossen hat. Die nächste Mission, Hakuto-R M2 (japanisch HAKUTO-R ミッション2) soll im nächsten Jahr starten. Wie ispace am vorigen Dienstag bei Gelegenheit des Landeversuchs mitgeteilt hat, sind die letzten Änderüngen am Design für den Lander vor jetzt drei Wochen beendet worden (hier dürfte jetzt noch einigen an Nacharbeit anfallen) und die Fertigung der ersten Komponenten habe eine Woche zuvor in Luxemburg begonnen. Der Lander soll unter anderem Elektrolyseversuche durchführen. Mittlerweile ist es gesichert daß der Regolith, das Gestein an den Polregionen des Mondes, groß Mengen an Wassereis enthält – aus diesem Grund sollen auch die bemannten Landungen im Rahmen des Artemis-Programm am Mondsüdpol erfolgen. Wenn es gelingt, das Wasser dort mittels Elektrolyse in Wasserstoff und Sauerstoff aufzuspalten, dann ergeben sich daraus nicht nur neue Perspektiven für die Versorgung künftiger bemannter Stationen, sondern auch die Möglichkeit, aus den lokalen Ressourcen Raketentreibstoff zu gewinnen. Allerdings soll diese zweiten Mission dafür erst noch auf einen von der Erde mitgeführten Wasservorrat zurückgreifen.
III.
Und beim Stichwort “in Luxemburg gefertigt“ gibt es gleich zwei Gelegenheiten, zusammenzuzucken, oder wie Enno Littmann es in seiner Übertragung des „Buchs der tausend Nächte und der einen Nacht“ vom Sultan Schahrijar so oft sagt: „er verwunderte sich über die Grenzen seiner Verwunderung hinaus.“
Ich habe in meinem letzten Beitrag – auch zum Thema Hakuto-R – auf Johanes Keplers „Somnium“ aus dem Jahr 1608 bezogen, der ersten literarischen Mondreise überhaupt, die einigen Anspruch auf die Berücksichtigung der Wirklichkeit erheben kann (auch wenn Kepler, um seinen Erzähler auf den Mond zu versetzen, seine Zuflucht zu Hexenwerk und Dämonie nehmen muß) und staunend darauf, wie sehr die Bedingungen, die Kepler vor 415 Jahren formuliert hat, im Jahr 2023 eingehalten worden sind. Und zum Schluß habe ich, nichts Böses ahnend, noch die Stellle zitiert, in der Meister Johannes – bzw.. sein Dämon aus Levania – daß niemand „von den Männern aus Deutschland“ imstande sei, diese Reise anzutreten („Nulli e Germania viri apti sunt“). Und Hakuto-R M1 war nun zwar kein Mann aus Germanien – aber die Antriebseinheit – die bei der Landung versagt hat, ist in Deutschland gefertigt, montiert und getestet worden. In der „Augsburger Allgemeinen“ hieß es dazu vor einer Woche:
Bei der Entwicklung und Produktion des Mondlanders Hakuto-R wurde auf Know-how aus Deutschland zurückgegriffen. Für das Antriebssystem wurden Technologien der ArianeGroup verwendet. In Lampoldshausen in Baden-Württemberg wurde der Antrieb gebaut und in das Landegerät integriert. In Ottobrunn bei München wurde Hakuto-R M1 getestet. („Mondmission: Hakuto-R M1 mit Technologie aus Deutschland ausgestattet“)
Es kommt aber noch besser: daß ausgerechnet Luxemburg jetzt zu einer Mondfahrtnation werden soll, jedenfalls zum Klub der Staaten stoßen soll, deren Technik den Trabanten erreicht hat, ist schon eine charmante Vorstellung. Nur stellt sichbei näherem Hinsehen heraus, daß das Großherzogtum dies schon geschafft hat – und zwar ganz, ohne das zu beabsichtigen. Und das kam so: Im Oktober 2014 startete die Manfred Memorial Moon Mission, eine Amateurfunksatellit der Firma LuxSpace (eine Tochterfirma des Bremer Luft- und Raumfahrtunternehmens OHB mit Sitz eben in Luxemburg, als sogenanntes Rideshare an Bord der dritten Stufe einer Trägerrakete von Typ Langer Marsch 3 vom chinesischen Weltraumbahnhof Xichang. Die Rakete brachte den Satelliten Chang’e T1 auf Mondkurs, der die Kommunikations-Technologie für die künftigen chinesischen Sondenmissionen testen sollte. Nach der Umrundung des Mondes im 13000 km Entfernung führte der Kurs der dritten Stufe zur Erde zurück. Zunächst waren westliche Beobachter davon ausgegangen, daß sowohl die dritte Stufe wie auch die 4-M-Sonbde am 6. Oktober in der Erdatmosphäre verglüht sind – aber genauere Berechnungen der Bahndaten ergaben, daß beide in einem weitgestreckten Orbit mit einer größten Erdentfernung von 404.000 km kreisten. Vor knapp einem Jahr, am 4. März 2022, sind die Stufe und der Satellit dann auf den Mond gestützt – und damit wurde Luxemburg das achte Land, „das den Mond erreicht hat.“
Es kommt aber NOCH besser: daß Ausflüge in die unendlichen Weiten an ungeplanter Stelle enden, gab es angelegentlich zu den Zeiten der Science Fiction, als das Genre noch jung, das Publikum anspruchslos und das Budget der Portokasse entnommen war. So etwa im allerersten Film, den Hollywood nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in diesem Genre produziert hat – bevor dann ab Mitte der 1950er Jahre Monster und Mutanten aller Couleur die Leinwand unsicher machten. „Rocketship XM,“ eine Billigproduktion des Studios Lippert Pictures, war eine Reaktion auf George Pals seit 1948 groß in den Branchenjournalen angekündigtes Vorhaben, einen Film über den ersten Flug zum Mond zu drehen. Schwierigkeiten mit der Tricktechnik, den Studiokulissen und der Finanzierung durch das Studio verzögerten die Fertigstellung von „Destination Moon“ nach der Vorlage von Robert A. Heinlein bis zum Sommer 1950 (und das in einer Zeit, in der vom ersten Kontrakt für einen Film bis zum Kinostart in der Regel ein halbes Jahr verging. Regisseur Robert Neumann drehte seinen Streifen innerhalb von drei Wochen ab; mit zehn Tagen für die Außenaufnahmen im Death Valley, das mit Farbfiltern zum roten Planeten Mars wurde. „Rocketship XM“ kam am 25. Mai 1950 in die amerikanischen Kinos, 25 Tage von „Destination Moon“ und wurde zum ersten Beispiel jener „dueling summer movies,“ bei denen zwei ähnlich gelagerte Themen um die Publikumsgunst während der Sommerferien buhlen. (Wie etwa 1998 „Deep Impact“ und „Armageddon.“) Auch die Mannschaft in „Rocketship XM“ hatte als Reiseziel den Erdtrabanten, mußte aber aufgrund eines in der Frühzeit der Weltraumabenteuer so beliebten Meteoritenschwarms den Kurs ändern und wurde auf den Mars verschlagen.
Aber in diesem Metier: im billigen SF-Kintopp, wo die Kulissen aus Pappe sichtbar wackeln, ist Luxemburg bereits 59Jahre vor den Fait accompli zur Mondreisenation geworden: in Richard Lesters Filmkomödie „The Mouse on the Moon,“ der bei uns unter dem Titel „Auch die Kleinen wollen nach oben“ und - gut festhalten! – HEUTE vor 60 Jahren, am 3. Mai 1963 in London seine Uraufführung hatte. Der Film, gedreht nach dem Roman von Leonard Wibberley, der Fortsetzung von „The Mouse That Roared“ kann wahrlich keine Meriten für sich beanspruchen: die Fabel ist zu dürftig, die Schauspieler agieren zu lieblos und zu überzogen, und nicht einmal Margaret Rutherford, uns eher als lebende Inkarnation von Miss Marple im Gedächtnis geblieben, kann der Groteske ein wenig Glanz verleihen. Während das Großherzogtum Grand Fenwick im ersten Teil noch den USA den Krieg erklärte, um sich von den Wiederaufbaugeldern nach der erklärten Kapitulation endlich eine Zentralheizung im herzoglichen Schloß leisten zu können, entpuppt sich in der Fortsetzung der Wein, das einzige Produkt des Ländchens, als hervorragender Raketentreibstoff, der dem Krähwinkel, das Ambitionen auf den Wettlauf zum Mond angemeldet hatte, tatsächlich als Sieger aus diesem Wettbewerb hervorgehen läßt. Und für das Grand Duchy, das Großherzogtum Grand Fenwick, das Leonard Wibberley (1915-1983) zum Schauplatz seiner fünf Romane darüber gemacht hat, hat eindeutig das Großherzogtum Luxemburg Pate gestanden.
* * *
Coda
Und zuletzt noch einer jener Zufälle, die mir immer wieder Anlaß sind, an dieser Stelle die These zu vertreten, daß sie nur dadurch zu erklären sind, daß es sich bei dem, was wir als die „schnöde Realität“ auffassen, um eine Simulation handelt – so unwahrscheinlich scheinen sie.
Ich habe meinen vorigen Beitrag an diese Stelle, zum Thema Hakuto-R, mit einem Gedicht des italienischen Dichters Sergio Solmi beendet, in dem er sich im Geist eine mentale Versetzung auf den Mond vorstellt und deren Schulverse (in meiner Übertragung lauten:
Und oft betrachte ich von den höchsten
Wällen Levanias den grünen
Planeten, die undeutlichen Schatten
der Meere und Wälder, die schimmernden
Quellen des stürmischen, flüchtigen Lebens
wenn ich die Wälle der aufgeworfenen Krater besteige
und lange am Strand ihrer toten Meere wandere.
Das habe ich am 25. April geschrieben, am vergangenen Dienstag. Am nächsten Tag fiel mir beim Durchgehen der anstehenden Jubiläen ein, daß dieses Jahr der niederländische Autor Cees Nooteboom seinen 90. Geburtstag feiert. (Kurzes Nachschlagen ergibt: am 31. Juli.) Ich habe Nooteboom als ungefähr zu der Zeit aus den Augen verloren, als er durch das Lob Marcel Reich-Ranickis bei uns zu einem vielverkauften Autor geworden ist. Gut ein halbes Dutzend seiner Bücher habe ich vor 30 und mehr Jahren gelesen – sämtlich im niederländischen Original (im Gegensatz zu seinem Landsmann Harry Mulisch, von dem ich so gut wie keine Seite auf Niederländisch gelesen habe.) Aber seit „Allerseelen“ (1998) hatte ich ihn recht definitiv aus den Augen verloren – wie ich überrascht und nicht wenig zerknirscht feststellen mußte. Und um diesen Makel wenigstens ansatzweise wettzumachen, habe ich mich beim Anlauf, einer erneuten Kenntnisnahme beschlossen, mit seinem letzten Prosaband, „533 Tage. Bericht von der Insel“ zu beginnen, einer Art kursorischem Tagebuch, entstanden von Juni 2014 bis Januar 2016 auf seinem Winterzweitwohnsitz auf Menorca und in deutscher Übersetzung bei Suhrkamp erschienen.
Ich schlage das Buch aufs Geratewohl auf, ziemlich weit hinten – und stelle fest, daß nicht nur die Kapitel 65 bis 70, auf den Seiten 213 bis 223, der Raumfahrt gewidmet sind, dem Vorbeiflug der Sonde New Horizons am Pluto und sich auf den Seiten 216 und 217 eine genaue Schilderung der Flüge von Voyager 1 und 2 findet, die ich an dieser Stelle in meinem Beitrag „Uranus“ am 12. April zum Thema gemacht habe – mit den Daten der Passagen an Jupiter, Saturn und Uranus samt Entfernungsangaben – sondern in diesem Zusammenhang auch ein längeres Eigenzitat Nootebooms aus seinem Roman „Die folgende Geschichte“ von 1991, das ich einmal hierhersetze:
Jedesmal, wenn ich etwas über sie (die Voyager-Sonden) hörte, mußte ich an Herman Mussert denken, die Hauptfigur meines Buches, der, wie ich, im Smithsonian Institute gewesen war. Ob er ihre Reise weiter verfolgt hat, weiß ich nicht. Das Buch, ‚ie folgende Geschichte,‘ erschien 1991, auf der letzten Seite starb mein Held, und Tote erzählen nun einmal nicht viel.
Und dann zitiert er aus eben diesem Text von 1991:
„Ich bin einer aus der Zeit von früher, aus der Zeit vor Armstrongs großem, geriffelten Fußabdruck auf der Haut des Mondes. Den bekam ich an diesem Nachmittag auch noch zu sehen, denn ohne groß nachzudenken war ich in eine Art Theater gegangen, in dem Filme übe Raumfahrt gezeigt wurden (…) Ergriffenheit sollte durch Kunst ausgelöst werden, und hier wurde ich mit der Wirklichkeit betrogen, irgendein technischer Hochstapler hatte es mit Hilfe optischer Tricks geschafft, dass der Mondstaub zu unseren Füßen lag, als stünden wir selbst auf dem Mond und könnten auf ihm herumspazieren. In de Ferne schien (!) die unwirkliche Erde, auf dieser dünnen, versilberten, schwebenden Scheibe konnten unmöglich ein Homer oder ein Ovid vom Schicksal der Götter und Menschen berichtet haben. Ich roch den toten Staub zu meinen Füßen. Ich sah die Wölkchen Mondpulver, die aufwirbelten und sich wieder legten, meine Existenz wurde mir genommen, ohne dass ich eine andere an ihrer Statt erhielt. Ob es den menschlichen Wesen rings um mich auch so erging, weiß ich nicht. Es war totenstill, wir waren auf dem Mond und würden nie dorthin gelangen können.“ („544 Tage,“ S. 218-19)
Hannah Arendt hat einmal, in einem völlig anderen Zusammenhang, von dem „Engel der Bibliotheken“ gesprochen, der einem dergleichen gerade zu solchen Zeitpunkten in die Hände gibt. Vielleicht aber, nur vielleicht, handelt es sich auch um einen Dämon aus Levania.
U.E
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