30. Mai 2023

Aldous Huxley, "Jahrhundertfeiern" (1923)





(Zigarettensammelbild der Firma Will's auf dem Jahr 1937, aus der Serie "40 Famous British Authors." Das Formet der Bilder betrug 7,9 x 6,2 cm.)



Vom Bocca di Magra bis zur Bocca d‘Arno, der Mündung des Arno, erstreckt sich der Sandstrand ohne Unterbrechung. Weiter im Land, von einem Gürtel aus Kiefern geschützt, liegt ein ebener Streifen Küstenland, flach wie die Niederlande und von träge fließenden Bächen durchzogen. Hier wachsen Getreide und Wein, getrennt durch Pappelreihen und Feuchtwiesen. Da und dort münden die Bäche in flache Teiche, deren Ufer geflutete Reisfelder bilden. Und hinter diesem Streifen Küste, vier oder fünf Meilen vom Meer entfernt, steigen die Berge auf, unerwartet und steil: die Apuanischen Alpen. Ihre Gipfel bestehen auf nacktem Kalkstein, der stellenweise von dem weißen Marmor durchzogen ist, der den Kleinstädten an ihrem Fuß Wohlstand gebracht hat: Massa und Carrara, Serravazza, Pietrasanta. Die Hälfte der Grabsteine der ganzen Welt sind aus diesem edlen Gestein gehauen worden. Ihre unteren Hänge zeigen das Grau der Olivenbäume und das Grün der Kastanienwälder. Auf ihren Gipfeln ruhen die wie gemeißelt wirkenden Wolkenmassen:

Von Kap zu Kap schlage die Brück‘ ich und rage
gewölbt über strömendem Meer.
Bin fest vor den Pfeilen der Sonn' und zu Säulen
Nehm ich die Gebirge umher.

Die Landschaft zitiert geradezu Shelley. Dieses Meer, mit seiner schimmernden Windstille und plötzlichen Sturmböen, diese blassen blauen Inseln am Horizont, diese Berge mit ihren phantastischen Wolkengebilden, die Flüsse und Wälder – das ist die Essenz seiner Dichtung. Sobald man einige Zeit an dieser Küste verbracht hat, wird man beständig an diese wunderbare und merkwürdig kindliche Poesie, an diesen wunderbaren und kindlich-unschuldigen Mann erinnert. Vielleicht geht sein Geist an diesen Ufern um. Auf diesem Meer hat er mit seiner Nußschale von einem Boot gesegelt, in einer Hand das Ruder und in der anderen den kleinen Aischylos-Band. So stellen wir ihn uns bei schönem Wetter vor. Und wenn der Sturm unverhofft losbricht, fällt er uns ebenfalls ein. Die Blitze fahren über den Himmel, die Donnerschläge sind wie schreckliche Explosionen, die Böen toben. Und was ist mit dem kleinen Boot? Niemand weiß es – nur daß ein paar Tage später die Leiche eines jungen Mannes an den Strand getrieben wird, entstellt, nicht mehr wiederzuerkennen; nur der kleine Band Aischylos in der Westentasche verrät uns, daß dies einmal Shelley war.

Ich habe den letzten Sommer an dieser verwunschenen Küste verbracht. Das möchte ich als Entschuldigung anführen, daß ich in dieser Zeit, die so sehr mit sich selbst beschäftigt ist, hier einen Dichter erwähne, der seit hundert Jahren tot ist. Aber keine Bange: ich habe nicht vor, hier etwas über den machtlosen Engel, der in der Leere vergeblich mit seinen was-auch-auch-immer-Flügel schlägt. Ich werde mich hier nicht mit Gekrächze dem süßen Chor der übrigen Lobredner zu diesem Zentenar anschließen. Nein, der Geist von Shelley, der in Versilia und der Luniga wandelt, am Golf von La Spezia und bei Pisa an der Mündung des Arno, dieser Geist, dem ich die Hand geschüttelt und mit dem ich mich unterhalten habe, spornt mich nicht zu einer überheblichen und dummdreisten Laudatio an, sondern zu einem Protest gegen die Ergüsse dieser honigsüßen Lobhudler. ­

Das Gesäusel dieser Leute, sonst ein wirksames Mittel gegen Schlaflosigkeit, ist in diesem Fall ein Reizmittel – es putscht auf, es macht die Sache schlimmer. Es ist ärgerlich und abstoßend, dieses Schauspiel: ein junger Rebell, der hundert Jahre nach seinem Ton in höchsten Tönen gelobt wird - von Leuten, die ihn zutiefst hassen und ablehnen würden, wenn er heute leben würde, so wie damals die schottischen Kritiker Shelley gehasst und verabscheut haben. Wie würden sie heute auf einen jungen Dichter reagieren, der sich nicht damit begnügen würde, die Literatur zu revolutionieren, sondern sein Talent dazu nutzen würde, um die Religion und die bestehende Gesellschaftsordnung anzugreifen, der über die Plutokratie und den Patriotismus lästern würde, der erklären würde: er sei ein Bolschewik, ein Internationalist, ein Pazifist, der den Krieg rundheraus ablehnen würde? Sie würden ihn zu einer Gefahr erklären, zu einem unreifen Geist, dem seine Grenzen aufgezeigt werden müssen, und sie würden sein Talent verunglimpfen oder – etwas geschickter – nie zulassen, daß sein Name in den Blättern, die sie kontrollieren, erwähnt würde.

Aber weil Shelley nun mal vor hundert Jahren am Strand von Viareggio verbrannt wurde und kein gefährlicher Zeitgenosse mehr, sondern nur noch ein toter Klassiker ist, singen diese geachteten Fürsprecher der anerkannten Literatur und der bestehenden Gesellschaftsordnung im Chor Loblieder auf ihn, preisen ihn, erklären sein Werk und predigen es. Begleitet wird das süße Gegurre von Geschnaufe, und über solchen Hundertjahrfeiern macht sich ein Brodem von Heuchelei und Unaufrichtigkeit breit. In England besteht die Wirkung solcher Gedenkfeiern nicht etwa darin, den großen Toten neues Leben einzuhauchen – sie sind stattdessen ein zweites Begräbnis, eine Bestätigung, daß sie tot sind. Ein Geist, der einstmals lebendig war, erstarrt zu einem Fossil, und mit solchen finsteren, pathetischen Zeremonien wird einem solchen Petrefakt seine Nische im Tempel der Achtbarkeit zugewiesen.

Um wieviel besser werden solche Angelegenheiten in Italien erledigt! In diesem Land – das man immer mehr bewundert, je mehr man es kennenlernt – feiern sie ihre großen Männer gebührend, aber sie feiern sie nicht in verschnupfter Weise, in Trauerkleidung, mit den Gesangbuch in der Hand, Trauerflor am Hut und im Herzen nur Haß auf alles, was mit Leben und Vitalität zu tun hat. Oh nein: dort dienen die Toten als Anlaß, um das Leben zu feiern, solche Hundertjahrfeiern sind ein Anlaß zur Freude.

Im vergangenen Jahr haben die Italiener den sechshundertsten Todestag von Dante gefeiert. Stellen wir uns kurz vor, wie solche ein Anlaß in England begangen worden wäre. Alle betagten Kritiker und alle angehenden Jungen, die betagt werden wollen, hätten lange Artikel in allen Literaturjournalen gebracht. Damit wäre der Tonfall vorgegeben worden. Anschließend hätte irgendein hoher Lord, oder sogar ein Mitglied des Königshauses, ein Standbild aus der Hand von Frampton oder einem Riesensteinmetz aus der königlichen Akademie enthüllt. Blödsinnige Reden, in denen kein Wort mit mehr als zwei Silben vorkommt, wären über der Asche des klügsten Dichters der Welt gehalten worden. Natürlich würde diese Klugheit erwähnt werden – aber sein Charakter erst! Die Gazetten seinen Charakter in den höchsten Tönen loben, und der härteste und verbittertste aller Sterblichen würde als leuchtendes Beispiel für alle Sonntagsschüler hingestellt.

Nach dieser Darbietung der Ehrerweisung wäre uns ein eine nettes historisches Kostumtreiben im Regen erwartet. Ein junge Dame mit Wimpelhaube hätte die Beatrice gegeben, für den Dichter selbst hätte man einen Schauspieler mit entsprechender Stimmlage und markanten Profil gefunden, Guelfen und Ghibbellinen wären in den Kostümen jener Zeit durch den Matsch gestolpert, und es wären viele Gedichte von Louis Napoleon Parker rezitiert worden. Und am Ende wären wir mit einer Erkältung nach Haus gegangen, tödlich gelangweilt, aber trotzdem mit einem guten, rechtschaffenen Gefühl, als wären wir einen Gottesdient besucht.

Und jetzt vergleichen Sie das mit dem, was in Italien passiert. Das wichtigste Ereignisse der Dante-Feiern ist eine gewaltige Militärparade. Hunderttausende sehnige, kleine, braun uniformierte Männer marschieren durch die Straßen von Florenz. Junge Offiziere paradieren mit maßgeschneiderten Reithosen und klirrenden Sporen und blitzenden Stiefeln. Die ganze weibliche Bevölkerung droht in Ohnmacht zu fallen. Ein prachtvoller Auftakt. Dann werden Reden gehalten, wie sie nur in Italien gehalten werden können – geschliffene, sonore, klangvolle Reden, über Dante, den Dichter, der Italien liebte, Dante, den Irredentisten, Dante, den Propheten der geeinten Italiens, Dante, die Geißel der Jugo-Slawen und der Serben. Lodernde Begeisterung. Selbst wenn wir keine Zeile von ihm gelesen haben, haben wir das Gefühl, daß Dante unser persönliche Freund ist, ein brüderlicher Faschist.

Danach beginnt der eigentliche Spaß: es folgen die *manifestazioni sportive* der Jahrhundertfeier. Unzählige Radrennen finden statt. Grimmige junge Fascisti mit den Gesichtern römischer Helden erweisen dem Dichter die Ehre, indem sie mit 180 Stundenkilometern ihre Runden auf der Rennpiste von Mailand drehen. Fiats, Ansaldos und Lancias verfolgen einander über die Apenninen und über die Alpenpässe. Tauben werden geschossen, Pferde galoppieren, unter der sengenden Sonne wird Fußball gespielt. Lang lebe Dante!

Wie unendlich besser ist so etwas doch als die Muffigkeit und Verschnupftheit einer englischen Jubiläumsfeier! Die Dichtung feiert schließlich das Leben, nicht den Tod. Radrennen mögen nicht viel mit Dante zu tun haben – ich kann ihn mir allerdings gut vorstellen, wie er mit einem schmalen Gesicht, wie aus Erz gehauen, auf einem blitzenden Rad die Serpentinen der Höllenkreise hinabsaust oder mit sich seinem Sunbeam die dreißigprozentige Steigung des Purgatoriums hinaufkämpft. Nein, so etwas hat nicht viel mit Dante zu tun – aber Prozessionen in anglikanischen Kathedralen, langweilige Aufsätze alter Kritiker, die ihn hassen und fürchten würden, wenn es noch leben würde, Ansprachen Reden von Adligen vor Standbildern aus der Hand von Bildhauern der Königlichen Akademie – all das hat ganz bestimmt noch weniger mit dem Dichter des „Inferno“ zu schaffen.

Die Italiener feiern nicht nur ihre großen Toten auf diese herrlich lebendige Art und Weise. Auch ihre geistlichen Feiern zeigen diesen heiteren, lebensfrohen Zug. In diesem Sommer gab es in Loreto eine große Feier aus Anlaß der Ankunft eines neuen Madonnenbildes, das als alte ersetzt, das vor einiger Zeit bei einem Brand zerstört worden ist. Die Festivität begann in Rom, als das Bild, nachdem es vom Papst gesegnet worden war, im Auto zum Bahnhof gefahren wurde, wobei die Straßen von einer jubelnden Menge gesäumt waren, die in „Evviva Maria!“ ausbrachen, als der Fiat mit seiner heiligen Fracht vorbeikam. Die Ankunft der heiligen Jungfrau in Loreto war der Startschuß zu einen gewaltigen Volksfest. Es fanden Radrennen statt, es gab Fußballspiele, Wettbewerbe mit Tontaubenschießen und sportliche Wettkämpfe. Das ging mehrere Tage lang so. Am Ende stiegen zwei Kardinäle in ein Flugzeug und segneten die Menge aus der Höhe – ein Ereignis, zum dem der Papst gesagt haben soll: in diesem Fall wäre der Segen tatsächlich vom Himmel gekommen.

Ein außergewöhnliches Volk! Wie schön wäre es, wenn wir Angelsachsen uns etwas von dem handfesten Sinn für das Leben der Italiener aneignen könnten, von ihrer Lebenslust, von ihrer Liebe zu handfesten, soliden, greifbaren Sachen. In unserem düsteren Land sind wir zu sehr daran gewähnt, erfundenen Werten Respekt zu zollen; wir verehren das, was unsichtbar ist und lassen uns durch erfundene Tabus am Genuß der tatsächlichen Freuden des Lebens hindern. Wir denken zu viel an die Vergangenheit, an das Jenseitige, an die ideale Zukunft, an Anstand und die Wahrung guter Formen – und zu wenig an das Leben und den leuchtenden, chaotischen Augenblick. Die Italiener sind geborene Futuristen. Sie brauchten nicht auf Marinetti zu warten, um sie davon zu überzeugen, daß man Dante mit Radrennen ehren kann. Sie hätten es auch von sich aus getan, wenn es keine futuristischen Manifeste gegeben hätte. Marinetti ist das Resultat des modernen Italiens, nicht umgekehrt. Sie diesem glühend lebendigen Italien sind sie alle Futuristen, während wir aus dem Norden nur eine Zuflucht in der Vergangenheit suchen. Oder besser: sie sind keine Futuristen. Marinettis Bezeichnung war schlecht gewählt. Sie sind Gegenwärtler – Präsentisten. Wenn man so will, dann waren die frühen Christen, die sich mit nichts anderem beschäftigten als mit dem Heil ihrer Seele im künftigen Leben, Futuristen.

Es würde uns gut anstehen, von ihrem munteren Präsentismus zu lernen. Hoffen wir, daß unsere Urenkel den nächsten hundertsten Todestag von Shelley mit Luftregatten und Wasserflugzeugrennen begehen werden. Den Lebenden wird es Freude bereiten und das Andenken an die Toten wird würdig begangen. Der Geist des Mannes, der sich zu Lebzeiten an Wind und Wolken, an hohen Bergen und fließendem Wasser, am Flug der Vögel und dem Segeln der Schiffe erfreut hat, wird seine Freude daran haben, wenn junge Menschen das Gedenken an ihn dadurch feiern, daß sie Flüge unternehmen oder wie ein Zug von Schwänen über das Wasser gleiten.

Die Felsen sind gespalten! – durch den Purpur
Der Nacht seh' ich Gefährte, die gezogen
Von Pferden sind mit Regenbogenschwingen,
Die mit dem Huf die trägen Winde stampfen.
In jedem steht mit wildem Blick ein Lenker,
Zu rascher Flucht antreibend sein Gespann.
Nach rückwärts schauen Einige, als wären
Verfolgt von bösen Feinden sie, und doch,
Ich seh' dort nichts als funkelnde Gestirne. –
Mit glüh'nden Augen blicken Andere
Nach vorn und trinken mit den gier'gen Lippen
Den Wind, den ihre Eile selbst erregt,
Als flög' ein heißgeliebtes Ding vor ihnen
Und jetzt und jetzt nur müßten sie's erhaschen!

Der Mann, der das geschrieben hat, wird durch Flugzeugrennen – und sogar Radrennen! – sicher angemessener geehrt als durch seitenlange Artikel aus der Feder der Herren – ich nenne an dieser Stelle lieber keine Namen. Wir sollten uns bei den Italienern eine Scheibe abschneiden.

* * *



(Aldous Huxley, Zeichnung von Philip Dietrich aus dem Jahr 1921)

Wie bei meinem Posting über den englischen Zeichner Scriven Bolton und den „Planeten X“ (Zettels Raum vom 14. Mai 2023) verdankt sich auch mein heutiger Ausflug in die nicht ganz so röhrenden Zwanziger Jahre nicht einem aktuellen Anlaß, sondern einem Zufall – in diesem Fall einem ungezielten Griff ins Bücherregal. Hannah Arendt hat in einem ähnlichen Zusammenhang einmal von dem „Engel der Bibliotheken“ geschrieben. Nachdem ich Aldous Huxleys erste Essaysammlung, „On the Margin“ aufgeschlagen hatte und feststellte, daß das schmale Bändchen nicht nur vor 100 Jahren zuerst erschienen ist, sondern auch im Mai jenes Jahres, und daß sich der erste Text darin mit Zentenarien, Hundertjahresfeiern, befaßt, bin ich so frivol, darin einen Wink mit dem Zaunpfahl zu sehen (oder, um bei meiner üblichen Formulierung zu bleiben: einen hübschen Webfehler in der Programmierung der Matrix).



(Hannah Arendt hat ihren Begriff in etwas ernsthafteren Zusammenhang gewählt: als sie auf einer ihrer ersten Reisen in die gerade gegründete Bundesrepublik im Jahr 1951 oder 1952 Einblick in die Gerichtsakten der Nürnberger Prozesse nehmen wollte, mußte sie feststellen, daß der Inhalt der Schriftsätze und Protokolle nicht verschlagwortet war, daß es keine Kartei mit den Namen der Angeklagten bei den jeweiligen Sitzungen des Gerichts gab. Da sie nach einem bestimmten Namen suchte, zog sie aufs Geratewohl einen Ordner heraus und fragte den Archivar, ob sie jetzt tausenden von Akten durchgehen müsse, um den EINEN Gesuchten zu finden – und es stellte sich heraus, daß sie dessen Prozeßakte erwischt hatte. Georg Hensel, langjähriger Theaterkritiker der FAZ, erzählt die Anekdote in seinen Erinnerungen, „Glück gehabt,: Szenen aus einem Leben“ Insel Verlag, 1994.)



Als das schmale Bändchen im Kleinoktavformat mit seinen gut 200 Seiten vor genau einem Jahrhundert an den Buchhandel ausgeliefert wurde, zählte sein Autor noch nicht zu den namhaften Schriftstellern seiner Zeit – sein literarischer Durchbruch gelang ihm erst fünf Jahre später mit seinem vierten Roman „Point Counter Point“ (die deutsche Übersetzung trägt den Titel „Kontrapunkt des Lebens“) – einem impressionistisch-satirischen Schilderung des Zeitgeistklimas im London der Zeit nach dem „Großen Krieg,“ in dessen Personal die damaligen Leser unschwer die VIPs, die ihnen aus den Berichten der Zeitungen geläufig waren, wiedererkennen konnten, wie Katherine Mansfield, den damaligen englischen Kritikerpapst John Middleton Murry oder des Faschistenführer Oswald Mosley. – und nicht zuletzt den Autor selbst in der Figur des Schriftstellers Philip Quarles, der gerade wie sein Schöpfer von einer Weltreise aus Indien zurückgekehrt ist.

Huxleys Oeuvre ist bei uns – bis auf seine Antiutopie „Schöne neue Welt“ (1932) weitgehend in Vergessenheit geraten (und auch „Brave New World“ ist wohl nur deshalb noch „ein Begriff,“ weil das Buch neben George Orwells „Nineteen Eighty-Five“ in englischen Leistungskursen als Pflichtlektüre aufscheint). Das gilt sowohl für sein eher philosophisch-weltanschaulich ausgerichtetes Spätwerk, in dem sich Friedensaktivismus und die Propagierung halluzinogener Drogenerfahrungen mit Peyote, Meskalin und LSD zum Zweck der „Bewußtseinserweiterung“ vermischen als auch für das Frühwerk. Seine ersten vier Romane widmen sich ausschließlich der satirischen Überzeichnung der Kabalen, Parties und Diskussionen einer entwurzelten, desillusionierten jungen intellektuellen Elite aus kreativen Köpfen und wohlsituierten Rebellen, bei denen schon vor 100 Jahren zwischen ideologischer Blauäugigkeit und „radical chic“ kaum zu unterscheiden war.

Genau diese Klientel bildete auch das Milieu, dem die Presse alsbald den Namen der „Bright Young Things“ beilegte, und zu denen Huxley selbst nolens volens zählte – Künstler und Autoren wie Noel Coward, die Schwestern Mitford, Cecil Beaton, Evelyn Waugh (als er noch ein junger Satiriker war und kein verbitterter aller Herr), Tallulah Bankhead oder Henry Acton zählten, die dem gesellschaftlich doch recht farblos-tristen Klima Londons im Jahrzehnt nach dem „Großen Krieg“ einen Hauch von „roaring Twenties“ verliehen – und deren Auftritte, Selbstinszenierungen und durch Alkohol oder sonstige Drogen beflügelte Ausfälle die Gazetten wie die „Daily Mail“ weit mehr interessierten als die Bilder, die sie malten oder die Bücher, die sie schreiben. Der am meisten verkaufte Roman dieser Jahre in England war der völlig vergessene „The Green Hat“ (1956) des ebenso verschollenen Michael Arlen (1895-1956) – nicht einmal Anglisten wissen heute noch etwas mit diesem Namen anzufangen oder hätten Anlaß oder Lust, sich diesen damaligen Bestseller anzutun. Arlen, der als Dikran Kouyoumdjian als Kind armenischer Eltern in Bulgarien geboren wurde, aber schon als Kind nach England kam und mit jedem Zoll gern ein englischer Gentleman“ geworden wäre, war übrigens mit Aldous Huxley befreundet. (Seine Karriere als Autor beschloß er übrigens als Fernsehkritiker für den „New Yorker.“) Als Evelyn Waugh 1928 die Tochter des ersten Baron of Burghclere, Evelyn Gardner, heiratete, wurde das Paar in dem Spalten der Klatschpresse umgehend zu „He-Evelyn“ und „She-Evelyn“ – bis sie ihn nach einem Jahr für dessen Freund John Heygate verließ.



(Ein kleiner Exkurs: es wäre einmal eine reizvolle Aufgabe, Huxleys dritten Roman, „Those Barren Leaves“ und den dritten Roman seiner amerikanischen Kollegen F. Scott Fitzgerald, „The Great Gatsby,“ vergleichend nebeneinander zu halten. Beider Bücher sind fast zeitgleich erschienen – „Leaves“ im Januar 1925 bei Chatto & Windus in London, der „Gatsby“ Anfang April 1925 in New York in Verlag Charles Scribner’s Sons. Beide beschreiben sie einen neureichen Zirkel aus sich intellektuell gebenden Parvenus, Sykophanten und Schnorrern, die aus den Niederungen von Alltag und Broterwerb entflohen sind – bei Fitzgerald nach Long Island bei New York, im Buch „Great Neck“ genannt, bei Huxley in einem alten italienischen Palazzo, wo Mrs. Aldwinkle und ihr Troß den Glanz der Renaissance neu aufleben lassen will. Beide Vorhaben erweisen sich nach dem Versiegen des Geldes als Talmi. Die Unterschiede sind bezeichnend: während sich Gatsbys Berichte über seine Abenteuer in fernen Ländern und als Soldat im „Großen Krieg“ als Lügen erweisen und er zu Geld gekommen ist, weil er für die Mafia die Geldwäsche besorgt, verdankt Frau Aldwinkles Wohlstand immerhin ihrem Status als reiche Witwe. Und während sie und ihr Kreis sich immerhin noch für die Werke eines Michelangelo, Leonardo da Vinci und Tizian begeistern können – oder dies zumindest heucheln – interessiert sich Gatsby nur für Maxwell Grants berüchtigte Schrift „The Passing of the Great Race“ (1916), der die Vorherrschaft der „nordischen weißen Rasse“ durch „niedere Menschenschläge“ – zu denen er die Mittelmeeranrainer zählt – akut bedroht fühlt und deshalb für scharfe Rassengesetze und ein Verbot jeglicher Einwanderung außer aus dem Norden Europas eintritt. Huxley konnte seine Prägung durch die europäische Tradition und die Antike nicht verleugnen, so sehr er sich darüber auch lustig machte. Und beide Bücher sind im Exil entstanden „auf dem alten Kontinent“ entstanden: der „Gatsby“ zu großen Teilen in der Schweiz, zwischen April und Oktober 1924, „Those Barren Leaves“ in just einem solchen alten Gemäuer, in dem die Handlung spielt: dem Castel Montici in Florenz, zwischen April und August 1924)

Als „On the Margin: Notes and Essays“ im Mai 1923 herauskam, befand sich sein Verfasser zwei Monate vor seinem 29. Geburtstag. Das Buch war das Resultat eines auf drei Jahre Laufzeit angelegten Autorenvertrags, den Huxley im Januar mit dem Londoner Verlag Chatto & Windus geschlossen hate, der im November 1921 schon seinen ersten Roman „Crome Yellow“ publiziert hatte. Ansonsten konnte der angehende Autor als „richtige“ Bücher zwei kleine Sammlungen mit Kurzgeschichten vor weisen: „Limbo“ (1920) und „Mortal Coils“ (1922) – bei ebenfalls bei Chatto & Windus verlegt. Die drei Bändchen mit Lyrik, die ihnen vorausgingen, mag man kaum als solche bezeichnen: „The Burning Wheel,“ 1916 in Oxford bei B. H. Blackwell gedruckt, umfaßt gerade einmal 28 Seiten; „Jonah,“ zu Weihnachten 1917 als Privatdruck in einer Auflage von50 Exemplaren von C. W. Beaumont gedruckt, umfaßt auf seinen 14 Seiten 12 Gedichte; und „The Defeat of Youth,“ 1918 ebenfalls bei Blackwell gedruckt, enthält auf seinen 48 Seiten 34 Sonette.

„On the Margin“ verdankt seinen Inhalt dem Wunsch seines Autors, seinem Verleger möglichst rasch Material für ein weiteres Buch zur Verfügung zu stellen; sein nächster Roman, „Antic Hay,“ entstand erst im Sommer, im Juni und Juli 1923, in der Villa Tacchala in der Kleinstadt Forte dei Marmi bei Lucca in der Toskana. Huxley hatte zwei Jahre zuvor damit begonnen, den Großteil des Jahres dort zu verbringen, um sich ganz der Schriftstellerei widmen zu können – zunächst in der Viale Morin 29, und nach einem Intermezzo in London vom November 1921 bis zum Juli 1922 an der neuen Adresse; bis er im August 1923 nach Florenz umzog.

Der größte Teil der kleinen Texte in „On the Margin“ sind der Kolumne „Marginalia“ entnommen, die Huxley unter ab dem 20. Februar 1919 in der altehrwürdigen Zeitschrift „The Athenaeum“ unter dem Pseudonym „Autolycus“ im Wochentakt publiziert hatte. Das „Athenaeum“ erschien seit 1828 und war im späten 19. Jahrhundert eines der bedeutendsten literarischen Journale in England. Huxleys Aufnahme in die Redaktion des Blattes überlebte das Magazin nicht lange: infolge der sinkenden Auflagezahlen fusionierte das „Athenaeum“ 1921 mit dem jüngeren Konkurrenzblatt „The Nation“ zu „The Nation and Athenaeum“ - der seinerseits 10 Jahre später vom „New Statesman“ übernommen wurde. (Dem Kleinen Zyniker fällt an dieser Stelle das Schicksal der ebenso ehrwürdigen „Westermanns Monatshefte“ ein. Dieser Leuchtturm der bürgerlichen Kultur und Tradition - nie wirklich herausfordernd und anspruchsvoll, und zu keinem Zeitpunkt avantgardistisch, aber doch von einer wenn auch schlichten Solidität –, der seit dem Oktober 1856 bieder sein Publikum versorgte, erlaubte es Ende 1982, im Alter von 130 Jahren, dem angehenden Schriftsteller und Lästerer Joseph von Westfalen, mit seinen zynischen und bösen Glossen die satirische Schärfe linker Postillen wie „konkret“ und „Titanic“ weit hinter sich zu lassen und sich wie eine Mischung aus Eckhart Henscheid und Herbert L. Gremliza auszumähren. Vier Jahre später kam das Aus für die Zeitschrift.)

„Centenaries,“ der erste Text in „On the Margin,” zählt allerdings nicht dazu. Der kleine Aufsatz erschien zuerst anonym im Oktober 1922 in der Londoner Ausgabe des amerikanischen Magazins „Vogue“ unter dem Titel „Concerning Centenaries“ und wurde dann, diesmal mit der korrekten Verfasserangabe in New York im Februar 1923 unter dem gleichen Titel in der Zeitschrift „Vanity Fair“ des Verlags Condé Nast nachgedruckt.



(Forte dei Marmi, 27 Viale Morin)

* * *

Aldous Huxley, am 26 Juli 1894 in Surrey in England geboren, brachte von seiner Herkunft her die besten Voraussetzungen mit, einer der intellektuellen Wortführer dieser „jungen Generation“ zu werden. Sein Vater Leonard war der älteste Sohn von Thomas Henry Huxley, auch bekannt als „Darwins Bulldogge,“ dem präsentesten (und polemischsten) Popularisator der Evolutionstheorie. Huxley sen. begründete das, was man eine Biologen-Dynastie nennen könnte: Aldous‘ älteren Bruder Julian wurde in den 1920er und 30er Jahren neben J.B.S. Haldane, Theodosius Dobzhansky und Erbst Mayr einer der Mitbegründer der „neuen Synthese“ der Evolutionstheorie, die Aspekte der Genetik und Populationsbiologie mitberücksichtigte (während Darwins Theorie sich allein auf den Nutzen für das einzelne Individuum konzentriert hatte. Aldous‘ und Julians Halbbruder Andrew Huxley (1917-1992), die aus seiner Ehe mit Rosalind Bruce, die er nach dem Tod seiner ersten Frau Julia 1908 geheiratet hatte, erhielt 1963 den Nobelpreis für Medizin, für die Erforschung des Mechanismus der Signalleitung und -unterdrückung in Nervenfasern

Allerdings erwies sich Aldous in dieser Hinsicht als etwas „aus der Art geschlagen.“ Die biologischen Kenntnisse, die die Grundlage für die pränatalen Manipulationstechniken und die Kontrolle in seinem Roman „Brave New World“ abgeben, wurden bei den Treffen im Londoner Cafe Royale diskutiert, wo sich Julian Huxley mit H. G. Wells und dessen Sohn George Philip („G.P.“) regelmäßig am Ende der 1920er Jahre traf, um die Arbeit an den drei Bänden des Lehrbuchs über alle Gebiete der Biologie zu diskutieren, die dann in den Jahren 1929 und 1930 im Londoner Verlag unter dem Titel „The Science of Life“ erschienen sind und durch die die „neue Synthese“ zuerst einem breiten Publikum dargestellt wurde. Zu diesen Treffen waren auch J.B.S. Haldane und seine Schwester Naomi Mitchison und eben auch Julian jüngerer Bruder eingeladen. Im zweiten Band von Naomi Mitchisons Erinnerungen, „You May Well Ask: A Memoir 1920-1940“ (1979) kann man einiges über diesen Cénacle und diese Gespräche nachlesen (ein weiterer Gast bei diesen Brainstormings war der Philosoph Olaf Stapledon (1886-1930), der damals noch an seiner Zukunftsgeschichte über die nächsten 2 Milliarden Jahre der Menschheit, „Last and First Men“ (erschienen 1930 arbeitete).

Haldanes Version von Zukunft und Ende von Genus Homo, „Das jüngste Gericht“ (1927), kann hier in deutscher Übersetzung nachgelesen werden (Zettels Raum vom 19. Juni 2021), Wells‘ allererster Blick in diese ferne Zukunft, „Der Mensch im Jahr eine Million“ (1893) ebenfalls (Zettels Raum vom 16. Mai 2021). Daß sowohl Huxley mit Romanen wie „Brave New World“ und „Island“ (1962) und Naomi Mitchison mit „Memoirs of a Spacewoman“ (1962) zum „klassischen Bestand der modernen Science Fiction“ gehören, und der einzige kurze erzählende Text von Julian Huxley, „The Tissue-Culture King,“ in dem es ebenfalls um das geht, was wir heute „Biotechnologie“ nennen, erschienen im August 1926 im „Cornhill Magazine,“ zu den frühen Texten gehörte, die Hugo Gernsback im ersten ganz aufs das Genre spezialisierten Magazin, Amazing Stories, nachdruckte (August 1927) sei nur am Rande vermerkt.

Aldous Huxley hatte sich für das eher „klassische“ Studium der englischen Literatur entscheiden, nachdem ihn einer Hornhautentzündung im Alter von 17 Jahren für die nächsten zwei Jahre fast erblinden ließ und ihm für den Rest seines Lebens mit stark verminderter Sehfähigkeit zurückließ. Im Januar 1916 wurde er als kriegsuntauglich (aus)gemustert; nach dem Abschluß seines Studiums versuchte er sich als Französischlehrer am Eton College – was er nach einem Jahr zu Ende des Wintersemesters 1919 entnervt aufgab. Zu seiner Schülerschar gehörte ein gewisser Eric Blair, der sich später daran erinnerte, Huxley sei als Lehrer schon mit der Aufgabe heillos überfordert gewesen, in der Klasse Disziplin zu waren. (Falls dem Leser der Name Eric Blair ungeläufig sein sollte -Als Autor hat er alle seine Bücher unter dem Pseudonym „George Orwell“ veröffentlicht – und welcher Gattung sein bekanntester Roman „Nineteen Eighty-Four“ angehört, sei an dieser Stelle nicht verraten.

Allerdings hat Aldous Huxley dieser pädagogische Impetus nicht verlassen – vielleicht gerade aufgrund der Erfahrung dieses Scheiterns. In seinem öffentlichen Eintreten für die „Abrüstungsinitiativen“ in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre wie in der Propagierung einer „ewigen Weltweisheit“ („The Perennial Philosophy,“ 1946) oder die „Bewußtseinserweiterung“ durch Rauschdrogen, um so durch einen Einblick in vermeintlich „höhere Perspektiven“ aus den Mißlichkeiten der Tagespolitik hinauszugelangen („The Doors of Perception,“ 1954 und „Heaven and Hell,“ 1956) zeigt sich das deutlich: hier ist jemand zum Weltlehrer mutiert – nicht unähnlich seinem Vorläufer H. G. Wells. Aber während Wells zeit seines Lebens an den vermeintlichen Segnungen des Sozialismus (zumindest so, wie er ihn verstand – und das deckte sich kaum mit den Vorstellungen der Dritten Internationale) festhielt, speist sich Huxleys Gegenentwurf zu den Mühseligkeiten der Ebene zum einen aus einem Idealismus, der zu weit über den Dingen steht, um sie klar in den Blick zu nehmen, zum anderen aus einem Hang für das Entlegene, Esoterische, das „Zugang zu höheren Sphären“ ermöglicht, hinter den „Schleier der Maia.“ Das zeigt sich auch in seinem zeitweiligen Interesse an der „General Semantics“ eines Alfred Korzysbki, die der polnische Graf nach seiner Emigration in die Vereinigten Staaten in seinem Buch „Science and Sanity“ (1933) dargelegt hatte und die nichts mehr mit dem gemein hat, was Sprachwissenschaftler unter „Semantik,“ also der Lehre vom Bedeutungsgehalt von Sprachpartikeln, verstehen. Korzybski versprach, durch den „richtigen“ Sprachgebrauch die Irrtümer und Illusionen, die der gewohnte schriftliche oder mündliche Redefluß erzeugt, zu durchschauen und „unverstellten“ Zugang zur Wirklichkeit der Dinge erhalten zu können. (Es liegt eine nette Ironie darin daß „Science and Sanity“ in einem derart verworrenen, verquasten Stil abgefaßt ist, daß sich beim Leser schon nach wenigen Seiten Schwindelgefühle einstellen.) Und es zeigt sich an seinem Interesse für die Theorien von J. B. Rhine, der in seinen psychologischen Reihenexperimenten die Existenz von „paranormalen“ Fähigkeiten“ wie Gedankenlesen oder Präkognition nachgewiesen haben wollte. Mit Rhine wie Korzybski führte Huxley in den Jahren nach 1937 eine ausführliche Korrespondenz.



(DaPorträtphoto aus dem Jahr 1934 von Howard Coster, daß Wills' als Vorlage für sein Sammelbild gegdient hat)







(Zwei weitere Sammebildreihen von Will's: "Beauties in Picture Hats" aus dem Jahr 1914, und "Rosen" aus den zwanziger Jahren.)

* * *

Und diese Naivität, dieses Desinteresse, erklärt auch das, was auf einen Leser aus heutiger Sicht an einem Text die „Centenaries“ besonders irritierend wirkt: die nonchalante bis burschikose Behandlung des Faschismus, den der Autor nicht wirklich ernstzunehmen vermag und in dem er eher eine Störung des Alltagslebens der Nachkriegszeit als eine fundamentale Absage an die Freiheit der offenen Gesellschaften und Demokratien erkennt. Ein Blick in die Briefe Huxleys zeigt, daß hier jemand schreibt, dem alles Denken in politischen Kategorien zutiefst fremd ist, den höchstens die Schwierigkeiten irritieren, die solche Manifestationen im Alltagsleben mit sich bringen. (Oder um es in den Worten von Arno Schmidt zu sagen, der in politicis mit gleicher Blindheit geschlagen war: „Es ist doch egal, ob einer zu Stalin oder zur Muttergottes betet!“)



(Titelseite der amerikanischen Ausgabe von "On the Margin")

Am 28. Juni 1921, während Italien unter der wirtschaftlichen Notlage der unmittelbaren Nachkriegszeit litt (die geringen Gebietszusprüche nach dem Ende des Kriegs im November 1918 hatten keinerlei wirtschaftliche Auswirkungen, und die immensen Kredite zur Finanzierung der Rüstungsausgaben hatten eine hohe Inflation ausgelöst), schreibt Aldous Huxley aus der Viale Morin Nr. 29 in Forte die Marmi an seinen Vater Leonard:

„Hier vor Ort fallen die Preise wieder. Die allgegenwärtigen Fascisti sind im Dorf eingefallen und haben willkürlich Höchstpreise festgelegt, die niemand überschreiten darf. Man ist ihnen für den Versuch ja dankbar, aber es wäre besser gewesen, wenn sie abgewartet hätten, daß die Preise von selbst wieder fallen, wie das schon der Fall war. Der einzige Effekt des Preisdiktats ist, daß es auf dem Markt keine Waren mehr zu kaufen gibt. Was die Fascisti hier im Land veranstalten, ist fast nicht zu glauben. Man weiß nicht, warum die Italiener es hinnehmen, daß sich eine private Organisation so völlig unverantwortlich benimmt wie die Fascisti – die sich mitunter Machtbefugnisse anmaßen, die nur dem Staat zustehen sollten und die mitunter in unglaubliche Szenen an Gewalt und Brutalität ausarten. Die Menschen nehmen das resigniert hin. Das ist dieselbe Haltung, die überall auf der Welt zu sehen ist – schieres Ertragen von dummer und schlechter Herrschaft – durch jeden, der Macht ausüben kann. Die geistige Haltung der Nachkriegszeit hat etwa zutiefst Merkwürdiges an sich.“


„Hier bei uns in der Nachbarschaft ist es vor kurzem zu einem Zusammenstoß zwischen den Fascisti und der Obrigkeit gekommen, die sich zum ersten getraut hat, ihnen Widerstand entgegenzusetzen. Ein Haufen von nicht weniger als 700 Fascisti, die aus den ganzen Toskana zusammengekommen waren, hatten sich ein paar Meilen weiter oben an der Küste versammelt, um in einem Ort weiter im Landesinnern, der anscheinend für seine sozialistische Einstellung bekannt ist, ‚ein Zeichen zu setzen.‘ Das Vorhaben hatte sich herumgesprochen, und als die fascistische Truppe am frühen Morgen eintraf, nachdem sie die ganze Nacht hindurch marschiert waren, wurden sie von der Armee erwartet. Es kam zu einem Handgemenge, und die Soldaten eröffneten das Feuer. Etwa ein Dutzend wurden durch die Gewehrsalve getötet und etwa sechs weitere von den aufgebrachten Bauern gelyncht. Ein furchtbarer Vorfall. Mittlerweile haben die Fascisti und die Sozialisten aber einen Friedensvertrag unterzeichnet; wir müssen abwarten, ob sie ihn einhalten werden.“ (Brief an Leonard Huxley, 4. August 1921)


(Huxley (Aldous) bezieht sich hier die sogenannten „Fatti di Sarzana,“ die Vorfälle von Sarzana, bei denen am Morgen des 21. Juli eine Gruppe von etwa 30 italienischen Soldaten das Feuer auf eine irreguläre Kampfeinheit der Schwarzhemden eröffnet hatte, nachdem diese der Aufforderung, stehenzubleiben und die Waffen niederzulegen, nicht nachgekommen war. Das Ziel des Marsches war nicht nur die Verwüstung der Geschäfte in der Kleinstadt Sarzana, die in der Tat eine Hochburg der Kommunisten war, sondern auch, den dortigen faschistischen Parteivorsitzenden Renato Ricci aus der Haft zu befreien, der vom Bürgermeister von Sarzana eine Woche zuvor verhaftet worden war, nachdem ein Dutzend Schwarzhemdträger das Parteibüro der sozialistischen Gewerkschaft verwüstet hatten. Zu den anschließenden Lynchmorden unter den fliehenden Faschisten (Huxley nennt sechs; die damaligen Zeitungsberichte sprechen von drei) kam es, weil die Faschisten kurz vor dem Erreichen von Sarzana ihrerseits am frühen Morgen zwei Feldarbeiter im Alter von 16 und 18 Jahren getötet hatten. Nach dem „March auf Rom“ im Oktober 1922 stiftete die Partei um „ihre Märtyrer“ einen Gedenkkult, vergleichbar dem, den ihre Gesinnungsgenossen im Norden um Leo Schlageter veranstalteten, der während der „Ruhrkampfs“ im Mai 1923 von den französischen Besatzungstruppen im Ruhrgebiet hingerichtet wurde. Der „Patto de pacificazione“ zwischen den Faschisten und den Sozialisten wurde am 21. Juli 1921 auf Drängen von Benito Mussolini unterzeichnet, der seine Chancen auf eine Mehrheit bei künftigen Wahlen nicht gefährden wollte. Die radikalen Kampfverbände der Partei, besonders in den ländlichen Gebieten lehnten diesen Vertrag grundsätzlich ab, woraufhin Mussolini am 11. August seinen Rücktritt von der Führung der Partei erklärte, den ihm der Dritten Nationalkongreß der Faschisten am 18. August verweigerte.)

Fünf Jahre später, nach seiner Rückkehr von seiner Weltreise zwischen September 1925 und Juni 1926, schreibt Huxley am 9. September 1926, ebenfalls an seinen Vater, diesmal aus der Villa Minucchi bei Florenz:

„Wir waren vorige Woche in Florenz, um unser Auto abzuholen. Damit war alles in Ordnung, aber wir hatten große Schwierigkeiten, fahren zu dürfen, weil seit kurzem ein Gesetz gilt, nach dem ausländische Führerscheininhaber eine zweite Fahrprüfung abzulegen haben. Bevor man sich für die Prüfung anmelden kann, muß man dokumentarisch belegen, daß man noch nie im Gefängnis war und dergleichen – der Vorgang dauert Wochen. Zum Glück hat der Faschismus der Korruption der Beamten nichts anhaben können, und ein wenig Freigiebigkeit hat uns eine vorläufige Erlaubnis verschafft, bis alle nötigen Papiere vorliegen.“


„Unter dem neuen Regime wird das Leben in Italien nicht nur teuer, sondern auch ärgerlich. Mit ihrer Vorliebe für und Recht und Ordnung erlassen die faschistischen Behörden jede Menge von läppischen Vorschriften und führen eine Art Polizeistaat ein. Hier bei uns etwa kann man so gut wie keine Autofahrt mehr unternehmen, ohne ein Strafmandat zu kassieren, egal wie langsam man fährt. Und das Ärgerliche daran ist, daß die Polizei nicht einmal die Geschwindigkeit feststellt – wie lange man zwischen zwei festgelegten Stellen unterwegs ist – und einen nicht einmal anhält. Das geht hier so: ein einzelner Polizist sitzt am Straßenrand, oft genug in einem Straßencafé bei einem Glas Wein, achtet auf die vorbeifahrenden Autos und schreibt sich die Nummern auf. Wenn sein Zettel voll ist, bringt er ihn zu seiner Dienststelle; dort erkundigt man sich, und ein paar Tage später kommt ein Beamter vorbei und erklärt, man schulde dem Staat soundsoviele Lire. Das Ganze ist reine Wegelagerei – umso mehr, weil die Polizisten ein Drittel von den Bußgeldern, die sie verhängen, einbehalten können. Die Gendarmen hier in Forte geben öffentlich damit an, daß sie sich von den Bußgeldern, die sie im Sommer von den Autofahrern erpreßt haben, Villen gebaut haben. Der einzige Trost ist, daß der Skandal mittlerweile so groß ist, daß die höheren Staatsstellen das nicht mehr ignorieren können. Im Nachbarort dürfen seit der vorigen Woche keine Bußgelder mehr an Autofahrer verhängt werden, die nicht angehalten worden sind; und ich hoffe, daß es auch bei uns demnächst verboten wird. Uns haben sie bislang vier Mal drangekriegt. Der neueste Streich in Florenz ist eine Vorschrift, wie man an der Hauptstraße parken darf. An den ungeraden Tagen des Monats darf man das Auto nur auf der linken Straßenseite abstellen, vom Fluß aus gesehen; an den geraden Tagen nur rechts. Wenn man sich im Datum irrt, kostet das 25 Lire. Wenn das so weitergeht, wird Italien bald unbewohnbar sein.“ (Brief an Leonard Huxley vom April 1927)


Daß sich Aldous Huxley bei der Landschaftsbeschreibung in „Centenaries“ an dem Anblick orientiert hat, der sich ihm direkt vor der eigenen Haustür bot, kann man in den Brief nachlesen, den Huxley am 31. Mai 1921, gleich nach seiner Ankunft in der Toskana, an seinen Vater geschrieben hat:

„Forte ist ein herrlicher Ort. Auf der Karte findest du es etwa zwanzig Meilen nördlich von Pisa an der Küste – das Dorf, das gleich nach dem angesagten Seebad Viareggio kommt, das sieben oder acht Meilen von hier entfernt liegt zu dem es eine Straßenbahnverbindung gibt. Leider ist der Ort populär und wird seit ein paar Jahren immer überfüllter, weil die Italiener in den letzten Jahren nicht mehr zum Urlaub ins Ausland fahren konnten. Allerdings ist er jetzt noch nicht überlaufen, sondern noch fast völlig verlassen, weil wir beinahe die ersten Besucher sind. Der Strand ist flach und sandig und erstreckt sich eben und sandig in beide Richtungen – bis nach Massa im Norden und zur Arnomündung im Süden. Hinter dem Dorf liegt ein ebener Küstenstreifen, vier bis fünf Meilen breit, und dahinter erheben sich die Marmorberge von Carrara. Der Anblick der Hügel hinter dem flachen Land ist großartig und man kann dort schöne Spaziergänge unternehmen, wenn das Wetter im Herbst wieder kühler wird. Der Marmor ist das wichtigste Produkt dieser Gegend. Man sieht Platten davon, die von Gespannen von riesigen weißen Ochsen mit langen Hörner und traurigen braunen Augen gezogen werden, und ein paar Meilen von hier am Fuß der Hügel gibt es einen kleinen Ort, der seinen ganzen Wohlstand damit verdient, Grabsteine und Skulpturen für die USA anzufertigen. Auf diesem Küstenstreifen kann man nette Wanderungen unternehmen. Er ist voller Bäche und Gräben – ich vermute, daß es sich um einen früheren Sumpf handelt – und aufgrund der Feuchtigkeit wächst es dort üppig. Es gibt dort Ecken, die absolut englisch aussehen – Feuchtwiesen und tiefgrüne Wäldchen und schöne Pappelbestände, aus denen Holzkohle gebrannt wird.“


In seiner distanzierten, fast uninteressierten Haltung zur politischen Entwicklung steht Huxley in diesen Jahren nicht allein. Diese Einstellung (die man zusammenfassen könnte mit „sollen sie tun, was sie wollen – solange sie uns nicht damit behelligen“) findet sich fast durchgehend unter den Besuchern aus England, die damals noch nicht Expats hießen (der Ausdruck hat sich erst in den fünfziger Jahren eingebürgert) – auch unter der kleinen Gemeinde der Inglesi in Florenz – „die englische Kolonie ist ein merkwürdiger Haufen,“ heißt es in Huxleys oben zitiertem Brief vom 4. August 1921 – „eine Art heruntergekommener Provinz-Intelligenzia“ („The English colony is a queer collection: a sort of decayed provincial intelligentsia”). Das verdankt sich nicht zuletzt dem Umstand, daß der Faschismus in diesen Jahren noch wie heute automatisch aus der Perspektive seiner späteren Genozide und Eroberungskriege gesehen wird; darin zeigt sich auch ein durchaus snobistisches Elitenbewußtsein gegenüber Land und Leuten – um den Spruch abzuwandeln, der Charles de Gaulle zugeschrieben wird – „le Brésil n'est pas un pays sérieux“ – hätten sicher nicht wenige dieser Zaungäste dem Satz „Italy is not a serious country“ beigepflichtet. Auch Chaplins Film „Der große Diktator“ läßt seinen Benzino Napoloni ja noch als Operettendiktator auftreten.

Soweit man das als Nachgeborener und Ortsfremder beurteilen kann, hat Franco Zeffirelli diese Mischung aus Distanziertheit, Desinteresse und leichtem Spott in seinem späten Film „Tee mit Mussolini“ aus dem Jahr 1999 hervorragend getroffen – nach den Zeugnissen wie den Berichten der englischen Zeitschriften, den Memoiren und eben solchen Briefpassagen zu urteilen. Die „unkritische“ Haltung ist dem Regisseur als unangemessen, ja als apologetisch angekreidet worden – sie dürfte aber weit eher den tatsächlichen damaligen Verhältnissen entsprechen als die dezidierte Empörungshaltung so vieler anderer dramatischer Verarbeitungen – jedenfalls, soweit es dieses spezielle soziale Biotop angeht.

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Anmerkungen:

„Von Kap zu Kap schlage / die Brück‘ ich und rage…“: aus Shelleys Gedicht „The Cloud“ (1920). Im Original lauten die Verse:

From cape to cape, with a bridge-like shape,
Over a torrent sea,
Sunbeam-proof, I hang like a roof,
The mountains its columns be.

Ich habe hier die Nachdichtung genommen, die 1856 in dem Band „English Poets. A Selection oft he Works of the English Poets from Chaucer to Tennyson, with a German Translation” im Verlag Georg Wiegand in Leipzig erschienen ist und wo der Name des Übersetzers nur als „O.L. H…..r“ auf den Titelblatt angegeben wird. Diese Verlarvung ist kein Wunder -es handelt sich um den (ehemaligen) Rechtsanwalt aus Sachsen Otto Leonhard Heubner (1812-1893) Heubner hatte sich in der Augen der Obrigkeit schon im Vormärz verdächtig gemacht, weil er sich in der Turnerbewegung engagiert hatte; 1848 gehörte er der Nationalversammlung in Frankfurt an – zunächst der gemäßigten Linken, von wo er schnell zur der radikalen Umsturzfraktion um Robert Blum wechselte. Zum Verhängnis wurde ihm, daß er Während des Maiaufstands im folgenden Jahr eine gute Woche lang Mitglied der provisorischen Regierung war. Nach dem Scheitern dieses versuchten Staatsstreichs wurde er im Oktober zusammen mit Michail Bakunin verhaftet und zum Tode verurteilt; im Mai 1850 wurde das Urteil in eine lebenslange Haftstrafe umgewandelt; durch einen Gnadenerlaß anläßlich der Hochzeit des sächsischen Prinzen erhielt er 1859 zwar seine Freiheit, aber nicht seine bürgerlichen Ehrenrechte zurück – erst nachdem dies 1865 erfolgt war, konnte er wieder als Anwalt arbeiten und Mitglied des sächsischen Landtags werden.

Beim ersten Nachdichter von Shelleys Versen, Julis Seybt, lauten diese Zeilen 1844

Von Kap zu Kap eine schwindelnde Brücke
Bau ich über den Ozean -
Einen Dom, durchdrungen vom Sonnenblicke
Als Säulen: Berg und Vulkan.

Und in Rudolf Borchardts Fassung aus dem Jahr 1934 lauten sie:

Von Kap zu Kap, brückenhinab
über haushoch tobende Seen
Mein Gewölb aushängt, das Sonne nicht sprengt
Gebirge zu Säulen ihm stehn.

"...den machtlosen Engel, der in der Leere vergeblich mit seinen was-auch-auch-immer-Flügel schlägt..." Ein Zitat aus Matthew Arnolds Aufsatz über Shelley, zuerst 1880 als Einleitung zu T. H. Wards Anthologie "The English Poets" erschienen. Im Original lautet die Passage: "...a beautiful and ineffectual angel, beating in the void his luminous wings in vain."

„Die Felsen sind gespalten…“ – aus Shelleys viereiligem „lyrischen Drama“ „Prometheus Unbound,“ ebenfalls im Jahr 1820 erschienen, aber schon im April 1819 weitgehend abgeschlossen. Im Original lauten die Verse:

The rocks are cloven, and through the purple night
I see cars drawn by rainbow-winged steeds
Which trample the dim winds: in each there stands
A wild-eyed charioteer urging their flight.
Some look behind, as fiends pursued them there,
And yet I see no shapes but the keen stars:
Others, with burning eyes, lean forth, and drink
With eager lips the wind of their own speed,
As if the thing they loved fled on before,
And now, even now, they clasped it.

(Die deutsche Nachdichtung entnehme ich der Fassung von Albrecht Graf Wickenburg, die 1876 in Wien bei Rosner erschienen ist.)

Der sechshundertste Todestag Dante Alighieris fiel auf den 14. September 1921; der 100. Todestag Percy Bysshe Shelleys auf den 8. Juli 1922. Die Schwarze Madonna von Loreto, aus Zedernholz gefertigt, wurde 1921 bei einem Brand der Votivkapelle vernichtet; und 192 durch eine Kopie, die Leopoldo Celani nach der Kopie, die sich in der Kapelle Santa Maria Loretto im österreichischen Burgenland angefertigt hatte, ersetzt.



Die Briefzitate sind der von Grover Smith besorgten Ausgabe "Letters of Aldous Huxley" (New York: Harper & Row, 1969) entnommen.



U.E.

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