24. September 2023

OSIRIS-REx





(Künstlerische Darstellung der Probenentnahme von OSIRIS-Rex am. 20. Oktober 2020)

Während der ersten Jahrzehnte des Raumfahrtzeitalters, die mit dem Höhepunkt der Popularität der Psychoanalyse nach Sigmund Freud in den Vereinigten Staaten zusammenfielen, gab es nicht nur dort, sondern im gesamten Westen unter „kritischen Köpfen,“ denen der „Aufbruch ins All“ als eine weitere, fatale Manifestation von „männlichem Dominanz- und Eroberungsstreben“ galt, neben der Mahnung, man möchte sich doch lieber der irdischen Probleme annehmen, auch stets die durchaus nicht satirisch gemeinte Sicht auf die Raketen, die auf einer Feuersäule in den Himmel stiegen, ganz im Sinn der freud’schen Symbolik aufzufassen. Poul Anderson (1926-2001), einer der langgedienten Veteranen unter den amerikanischen Science-Fiction-Autoren, beklagte sich in Brian Ashs „Visual Encyclopedia of Science Fiction“ (1977), dem ersten Kompendium, das die Darstellungen und Illustrationen der Themen des Genres zusammenfaßte, in seiner Übersicht zu „Starships and Space Drives“ über „die Mode unter den Intellektuellen, jedes Raumschiff als Phallussymbol zu verhöhnen“: die Raketenstufen als künstliche Erektionen und die Nutzlast an Satelliten oder bemannten Raumkapseln als der (männliche) Samen, der die toten Weiten des Als befruchten soll. Am grellsten ist diese bewußt vulgäre Travestie in der letzten Kurzgeschichte von Kurt Vonnegut, „The Big Space F**k,“ gehalten, die er für Harlan Ellisons ebenso bewußt provokanter Anthologie „Again, Dangerous Visions“ (1972) verfaßt hat, und in Thomas Pynchons auf 800 Seiten aufgeblasenem Pennälerulk „Gravity’s Rainbow“ ( vor einem halben Jahrhundert, im Februar 1973, bei The Viking Press erschienen), dessen Antiheld Slothrop im London des „Blitz“ im Herbst 1944 genau an jenen Orten zum Orgasmus gelangt, an denen wenige Stunden später eine deutsche V2 einschlagen und explodieren wird. (In Vonneguts Titel steht ein „four-letter word,“ dessen Verwendung sich seinerzeit noch auf hektographierte Untergrundpostillen beschränkte.) ­



(Titelbild der ersten englischen Taschenbuchausgabe von 1975 bei Picador Books)

Natürlich liegt diesem bemühten Ulk nach dem Motto „eine Zigarre ist NIEMALS eine Zigarre“ ein funktionales Mißverständnis zugrunde. Die den geistig Pubertierenden so verdächtige Form der Raketenstufen verdankt sich der Notwendigkeit, Millionen von Litern von Treibstoff in einem Tank zu lagern, der vom Vortrieb, der am unteren Ende erzeugt wird, intakt durch die Atmosphäre und schließlich auf Fluchtgeschwindigkeit beschleunigt werden kann; dieser Schub wird nicht in den Brennkammern erzeugt, sondern durch die konische Form der Düsen, durch die das heiße Gas ausströmt. Es handelt sich nicht um Symbolik, ob gewollt oder durch die Triebe eines perfiden Unterbewußtseins eingeflüstert, sondern um ein schlichtes „Form follows function,“ das von den Gesetzen der Physik vorgegeben ist (der kleine Zyniker merkt an dieser Stelle an, daß dies bei Geschlechtsorganen, und nicht nur den menschlichen, ebenfalls der Fall ist *). Und statt daß die Sonden, die in die Erdumlaufbahn oder zu fernen Planeten und Asteroiden geschickt werden, der „Landnahme des männlichen Machtprinzips“ dienen, vermitteln sie Daten, geben Auskunft über die Verhältnisse dort, dienen der Vorhersagen von Unwettern und ermöglichen kommunikativen Austausch. (* Der Kl.Zyn. muß sich an dieser Stelle als passionierter Arno-Schmidt-Leser sehr zusammenreißen, um nicht „Phall“ zu schreiben.)

Tatsächlich hat sich in dem letzten halben Jahrhundert seit Vonnegut und Pynchon eins herauskristallisiert: daß es sich bei diesen Missionen, soweit sie über die Erdumlaufbahn hinausgehen, um ein anderen Projekt handelt: um die Wiederaufnahme und Weiterführung eines Unterfangens, das die westliche Zivilisation seit der Renaissance betrieben hat: die Erkundung und Beschreibung der Erde, von den Ländern jenseits des Horizonts am anderen Ufer des Ozeans über die Vermessung der Inselketten und Gebirge – bis zur Tilgung der letzten „weißen Flecken“ auf der Landkarte. Bis zum tatsächlichen beginn des Raumfahrtzeitalters am 4. Oktober 1957 mit dem Start von Sputnik 1 galt der Satz, daß diese Erkundung der Erde mit dem Durchqueren der letzten großen Wüsten und dem Erreichen von Nord- und Südpol in den Jahren 1908 und 1911 ihr Ende gefunden hätte. Es liegt eine nette Ironie darin, daß das tatsächliche Ende dieser Katasteraufnahme durch einen Weltraumflug erfolgt ist, die „Shuttle Topography Mission“ vom Februar 2000, die Mission STS-99, während der vom Space Shuttle Endeavour die gesamte Erdoberfläche zwischen dem 60. Grad nördlicher wie südlicher Breite mit Hilfe eines 30 m Langen Radar-Auslegers mit einer Auslösung von 2 Metern erfolgte. Seit die russische Raumsonde Luna 2 am 18. Oktober 1959 17 schlecht aufgelöste Bilder der bis dahin unbekannten Mondrückseite zur Erde gefunkt hatte, die sie 11 Tage zuvor aus einer Entfernung von 65.000 Kilometern aufgenommen hatte, ist seitdem die Kataster-Aufnahme unserer unmittelbaren kosmischen Umgebung, des Sonnensystems, an dessen Stelle getreten. Und so wie die Erkundung der Erdoberfläche (und vor allem: um die systematische Sammlung und Weitergabe dieses Wissens), deren Beginn man mit dem Auftrag Heinrich des Seefahrers ansetzen kann, den Seeweg um Afrika nach Indien zu finden (wenn er denn vorhanden sein sollte) mehr als ein halbes Jahrtausend in Anspruch genommen hat, so wird die vollständige Inaugenscheinnahme des Sonnensystems, bis hinaus zu den Asteroiden des Kuipergürtels jenseits der Neptunbahn und der Vermessung der Oort‘schen Wolke, aus der die meisten der langfristigen Kometen stammen und die sich möglicherweise über mehr als ein Lichtjahr Entfernung erstreckt, ein Projekt, das auch in Jahrhunderten, wenn nicht Jahrtausenden nicht zum Abschluß gebracht werden wird.

Dieselben Kritiker, die im „Aufbruch ins All“ nichts als Hybris, westliches Herrschaftsbedürfnis und männliches Imponiergehabe sehen möchten (ihre Zahl dürfte proportional zur Menge der genutzten Navigationssysteme in jedem Auto und jedem Smartphone zurückgegangen sein), neigen auch dazu, schon beim ersten Großunternehmen von vornherein unlautere Motive zu wittern: die Kartierung der Erde, die Erkundung von Verbindungswegen über Land und Meer hat in ihren Augen allein der Vorbereitung und Durchführung der Eroberung von Kolonien gedient, der Unterwerfung anderer Länder. Daß dies historisch bei der Entstehung der großen Kolonialreiche Portugals, Spaniens, Frankreichs und England eine wichtige Rolle gespielt hat, ist nicht von der Hand zu weisen. Aber es war niemals der einzige Zweck solcher Fahrten: die Suche nach der Nordost- und der Nordwestpassage diente niemals der Landnahme am Rand des Packeises, sondern sollte den Handel mit China ermöglichen. Ein Unternehmen wie Alexander von Humboldts „Kosmos,“ dessen fünf Bände zwischen 1845 und 1852 erschienen unter solch einer Perspektive zu sehen, ist nichts weniger als grotesk: hier wurde das gesamte verfügbare Wissen über den Aufbau der Erde und des Universums gebündelt, um auf dieser Grundlage zu einem Verständnis der dort beschriebenen Erscheinungen einen Schlüssel zu ihrem Verständnis zu erlangen. Das Kolonialzeitalter ist zuende gegangen, und es wird nie mehr wiederkehren. Auch wenn eine gehörige historische Ironie darin liegt, daß dieses Ende, wie bei der Kartierung der Erde, zwei Generationen später erfolgt ist als es das üblicherweise genannte Datum will. Das letzte Kolonialreich hat vor 19 Monaten mit dem letzten Kolonialkrieg der Geschichte den Beginn des eigenen Endes – als Imperium wohlbemerkt! – besiegelt. Und selbst wenn man die vergangenen fünf Jahrhunderte unter diesem Blickwinkel sehen möchte, dürfte es doch einigermaßen schwerfallen, in der Kartierung der Krater des Merkur oder den Fahrten der Rover Curiosity und Perseverance über die Geröllhalden des Mars dergleichen zu sehen. Eine weitere hübsche Ironie liegt in der Tatsache, daß von den vier Sondenmissionen zum Erdmond während der letzten 12 Monate bei beiden Erfolgreichen von ehemaligen „großen“ ehemals kolonisierten Ländern gestartet worden sind: der Orbiter Danuri aus Südkorea (seit 1895 Agrarkolonie des kaiserlichen Japan) und der Lander Chandrayaan-3 aus Indien (seit 1794 Agrarkolonie Englands), während die Lander Hakuto-R und Luna-25 der (ehemaligen) Kolonialmächte Russland und Japan beim Landeanflug zerschellt sind.

II.



(Die OSIRIS-REx-Sonde. Unterhalb des Satellitengehäuses der TAGSAM und die daneben angebrachte Probenkapsel)

Als Symbol (oder Bild) für solche Flüge bietet sich statt des oben beschriebenen Sexuell-Anzüglichen ein anderes an, das zudem noch den Vorteil hat, gänzlich unmetaphorisch gemeint zu sein, sondern im Wortsinn paßt: das des Billardspiels. Um ihr Ziel zu erreichen, verwenden Raumsonden auf ihrem Kurs zu anderen Planeten oder Asteroiden sehr nahe Begleitflüge an anderen Himmelkörpern, sogenannte Swingbymanöver, auch „gravity assist“ genannt, um ihre Bahngeschwindigkeit zu erhöhen und ihrem Flug eine andere Richtung zu geben. Die genauen physikalischen Grundlagen sollen hier einmal außen vor bleiben, da man dazu einigermaßen tief in die zugrunde liegende Mathematik einsteigen muß. Der „normale Menschenverstand“ in puncto Physik sagt einem, daß ein solcher An- und Abflug an einen Planeten energetisch ein Nullsummenspiel darstellen sollte: die Beschleunigung bei der Annäherung sollte durch die Abbremsung nach der Passage vollständig aufgehoben werden. In der durchgeführten Praxis ist das nicht der Fall: Mars, Erde, Jupiter rotieren nämlich auch noch um die eigene Achse, und ein verschwindend geringer Teil dieser Rotationsenergie wird bei einem solchen Manöver dem energetischen Konto der Raumsonden gutgeschrieben. So werden wiederholte Vorbeiflüge, deren Wirkungen sich addieren, dazu verwendet, um solche Roboter mit einem möglichst geringen Aufwand an Treibstoff über Millionen und Milliarden Kilometer hinweg punktgenau auf die Bahn zu ihrem Ziel zu befördern. Die amerikanische Sonde Messenger etwa, 2004 zum innersten Planeten des Sonnensystems, dem Merkur, gestartet, vollführte in den nächsten 5 Jahren insgesamt ein halbes Dutzend solcher Manöver: eines an der Erde, zwei bei der Venus und schließlich drei am Merkur – in diesem Fall allerdings, um ihre in der Entfernung von 58 Millionen km von der Sonne viel zu hohe Geschwindigkeit zu reduzieren und in eine Umlauflaufbahn einschwenken zu können. Allerdings bleibt das zugrundeliegende Prinzip dasselbe. In solchen Fällen wird also nicht nur bildlich, sondern buchstäblich Billard gespielt, mit der Rakete, die die Sonde startet, als Queue, mit der Sonde als Billardkugel, und mit den Planeten und großen Monden des Sonnensystems als sich bewegenden Banden – um schließlich, am Ende der Mission, diese Kugel in einer Gravitationssenke zu versenken (wie die Atmosphärensonde der Mission Galileo im Juli 1995 und Galileo selbst 2003 oder die Saturnsonde Cassini 2017).



(Bennu. Kompositaufnahme aus 12 Bilder der NAVCAM von OSIRIS-REx vom Dezember 2018)



(Darstellung der Probenentnahme)

Und heute, am späten Nachmittag des 24. September 2023, können wir wieder einmal Zeuge bei dem Finale einer solchen komischen Billardpartie werden – wenn alles so verläuft, wie es die Planer vorgesehen haben – wenn die Landekapsel der OSIRIS-REx-Mission nach fast 7 Jahren Flug um 16:42 Mitteleuropäischer Sommerzeit mit einer Geschwindigkeit von gut 44.500 Stundenkilometern einige hundert Kilometer vor der amerikanischen Westküste in einem sehr flachen Winkel in die Erdatmosphäre eintritt und 13 Minuten später, vom Hauptfallschirm auf eine Geschwindigkeit von gut 18 km/h abgebremst, in einem elliptischen Areal mit den Ausmaßen von 14 mal 58 Kilometern niedergehen soll. Die Landung erfolgt auf einem militärischen Übungsgelände mitten in der Wüste des Bundestaats Utah; nach der Ortszeit MDT (das Kürzel steht für Mountain Daylight Time) um kurz vor 9 Uhr morgens. Zuvor wird die etwa 47 kg wiegende Kapsel einen freien, umgesteuerten Fall vor exakt vier Stunden zurückgelegt haben. Um zwei Uhr morgens Ortszeit entscheiden die Bergungsteams vor Ort, ob die Wetter- und vor allem die Windverhältnisse vor Ort eine risikofreie Landung zulassen; etwa weniger als drei Stunden später erfolgt dann ein Funksignal zur Sonde, die sich zu diesem Zeitpunkt gut 102.000 km von der Erde am erdnächsten Punkt ihrer Bahn befindet – etwas mehr als ein Viertel der Mondentfernung, die zurzeit 374.000 km beträgt. Sie bewegt sich dabei mit einer Geschwindigkeit von 23.000 km/h. Die Kapsel beginnt damit ihren freien Fall. Die entstehende Reibungshitze beim Eintritt in die Erdatmosphäre reicht aus, um die kegelförmige Kapsel in einen glühenden Feuerball zu hüllen. Zwei Minuten nach dem Eintritt entfaltet sich ein Bremsfallschirm, um den Kurs zu stabilisieren, und weitere 6 Minuten darauf soll sich in 1,6 km Höhe der Hauptfallschirm öffnen.



(Darstellung der Landestelle und der Ausweichmanöver)









(Der Moment der Probenentnahme)





An Bord der Landekapsel befindet sich ein Probenbehälter, der mit Steinen, Staub und Gas des kleinen Asteroiden Bennu gefüllt ist. Wieviel Material bei der Nahbegegnung am 20. Oktober 2020, an Bord genommen worden ist, als der der 3,3 m lange ausfaltbare Arm von OSIRIS-RE x, TAGSAM genannt (für „Touch and Go Sample Mission“) den runden, unten mit Öffnungen versehenen Probehälter sanft gegen die nachgiebige Oberfläche des Asteroiden stupste (gewissermaßen ein kosmisches „High-Five“), ist bis zur Auswertung nach der Landung nicht bekannt: da in der unmittelbaren Nähe von Bennu aufgrund dessen geringer Masse keine nennenswerte Schwerkraft herrscht und die Menge der aufgenommenen Proben gegenüber den gut 2,5 Tonnen keine Auswirkung auf die Beschleunigung beim Zünden des Haupttriebwerks hat. Bei der Planung der Mission war vorgesehen, daß es mindestens 60 Gramm werden sollten, maximal faßt der ringförmige Probenbehälter 250 Gramm. Bei der nur gut 5 Sekunden dauernden Begegnung wurde durch Düsen am äußersten Rand des Probenbehälters Stickstoff unter hohen Druck freigesetzt, der Material unter dem nach innen gewölbten Boden in die Höhe gewirbelt hat. Gleich darauf zündete das Haupttriebwerk der Sonde, um ein weiteres langsames Zutreiben auf den Asteroiden zu verhindern und den bisherigen Abstand von 630 Metern wieder zu erreichen.



(Bergungstest mit einer identischen Kapsel am 18. Juli 2023 in der Wüste von Utah)







(Weiterer Bergunstest mit Fallschirmabwurf der Kapsel am 30. August 2023)

Die größte Sorge der Bergungsteams am Boden ist, daß die Fallschirme versagen könnten – was natürlich katastrophal wäre – oder daß infolge der Hitze und/oder der entstehenden Erschütterungen der Probenbehälter undicht werden könnte. Genau das war von 13 Jahren beim ersten Unternehmen dieser Art der Fall, als die Probenkapsel der japanischen Mission Hayabusa-1, 2003 zum Asteroiden Itokawa gestartet (hier wurde 375 Tage nach dem Start vom Raumfahrtzentrum Uchinoura die Erde als Billiardbande verwendet) im Juni 2010 über Australien landete. Dem mit der Mission betrautem Team gelang es, aus der Kapsel einige Mikrogramm Asteroidenstaub zu bergen, aber durch den Kontakt mit der korrosiven Erdatmosphäre konnten keine sinnvollen Analysen vorgenommen werden. Bei der Nachfolgemission Hayabusa-2 kamen am 5. Dezember 2020 insgesamt 5,4 Gramm von Asteroiden Ryugu zur Erde zurück, in denen mehr als 10 verschiedene Aminosäuren nachgewiesen werden konnten (Fun fact: beim Eintritt bewegte sich die Landekapsel mit fast exakt derselben Geschwindigkeit wie bei OSIRIS-REx: mit 12,7 km/s).



(Umladen des Probebehälters vom TAGSAM in die Landekapsel am 27. Oktober 2022)

III.

Nun kann man sich als astronomischer Laie durchaus fragen: wozu der ganze Aufwand? Warum eine solche Mission (die Kosten für OSIRIS-REx belaufen sich auf gut 700 Millionen US-Dollar; dazu kommen noch einmal 138 Millionen für die Trägerrakete vom Typ Atlas der United Launch Alliance)? Es ist ja nicht so, daß sich hier auf der Erde nicht genug Gestein aus den Außenbezirken des Sonnensystems findet: Meteoriten, die den Sturz durch die Atmosphäre überstanden haben, und durch deren Analyse erstmals schon Ende des 19. Jahrhunderts nachgewiesen werden konnten, daß die Asteroiden und ihre Bruchstücke hauptsächlich in zwei Kategorien fallen: zum einen etwa 14% als Steinmeteoriten mit einem Hauptanteil von Silizium; und zu 86% sogenannte Chondriten, mit starken Metallanteilen und Beimengungen anderer chemischer Elemente. Allerdings sind diese Aerolithe (wie sie im 19. Jahrhundert genannt wurden) nicht mehr im „Originalzustand“ – zum einen, wie oben erwähnt, durch den Kontakt mit der korrosiven Erdatmosphäre; zum anderen aber, weil sie während der mehr als 4 Milliarden Jahre selbst Veränderungen unterworfen worden sind. Bei den Meteoriten der S-Klasse handelt es sich zumeist um Bruchstücke aus größeren Asteroiden, die durch Einschläge emporgeschleudert worden sind und die (nicht eben hohe) Fluchtgeschwindigkeit erreicht haben, also nicht wieder auf ihren Mutterkörper zurückgefallen sind. Asteroiden, die aber mehr als 100 km Durchmesser aufweisen, haben beim Entstehen innere Schmelzprozesse durchgemacht, wodurch die schwereren Elemente nach innen gewandert sind (diesem Vorgang verdanken wir auf der Erde es, daß sich mehr als 90% des hiesigen Eisens im glühenden Erdkern gesammelt hat und uns so einen kräftigen natürlichen Dynamo beschert hat, dessen Magnetfeld uns vor der energiereichen kurzwelligen Sonnenstrahlung schützt.) Während der Frühzeit der Entstehung hat die Sonne eine höchst unruhige Phase als sogenannter T-Tauri-Stern durchgemacht, mit gewaltigen Strahlungsausbrüchen: infolgedessen sind Gas und Staub aus den inneren Bereichen des Sonnensytems „fortgeblasen“ worden. Die inneren Felsplaneten Venus, Mars und Erde haben in ihrer Geschichte heftige geologische Veränderungen durchlaufen; die Erde ist mit ihrer Plattentektonik und ihrem Vulkanismus bis heute noch überaus aktiv. All diese Vorgänge haben zur Folge, daß Wissenschaftler aus dem, was sie mit ihren Instrumenten heute nachweisen könnten, kaum Rückschlüsse über die Verhältnisse ziehen können, die zur Zeit der Entstehung des Sonnensystems geherrscht haben. Wie war es mit der Verteilung der Elemente in der Wolke, aus der Sonne und Planeten kondensiert sind, bestellt? Haben ein oder mehrere benachbarte Supernovaausbrüche dazu geführt, daß diese Wolke zu kollabieren begann? (Isotopenverteilungen in tatsächlich hier aufgefundenen Meteoriten legen diesen Schluß nahe.)



Es gibt aber eine Ausnahme: und das sind die Asteroiden der C-Klasse, der Chondriten, und zwar der „kleineren Gebührenklasse,“ wie sie etwa Bennu mit seinen knapp 490 Metern Durchmesser darstellt. Im Grund stellt Bennu so etwa wie einen fliegenden Sand- und Kieselhaufen dar, gerade eben durch die eigene minimale Schwerkraft zusammengehalten. Das bedeutet auch, daß dieser Sand, diese Steine seit den letzten 4,4 Milliarden Jahren keinerlei Veränderungen unterworfen worden sind. Bennu gehört zu den aktiven Asteroiden: Auch auf Aufnahmen von OSIRIS-Rex ist zu sehen, wie mitunter Staubpartikel und Gase sich als Ausbrüche von der Oberfläche lösen, ausgelöst wahrscheinlich durch Freisetzungen von Gas tief im Inneren. Da der Asteroid aufgrund seiner geringen Masse keine Gaspartikel, etwa aus dem Sonnenwind (dem etwa der Erdmond seinen winzigen Hauch einer „Lufthülle“ aus Wasserstoff und Helium verdankt) an sich binden kann, sollte dessen Zusammensetzung eben jener Gaswolke entsprechen, die in der Frühzeit des Sonnensystems vorhanden war.

Das ist auch der Grund, warum die Landekapsel von OSIRIS-RE x, wenn heute Nachmittag (bzw. heute morgen) die Landung wie geplant gelingt erst einmal mit Planen versiegelt wird, in die chemisch inerter Stickstoff geblasen wird. Das Kürzel steht übrigens für „Origins, Spectral Interpretation, Resource Identification, Security, Regolith Explorer,“ ist aber natürlich so gewählt, daß es dem Thema „altägyptische Mythologie“ entspricht. „Bennu,“ älteren Lesern noch in der Schreibweise Benu geläufig, war einer der Namen des ägyptischen Totengottes, und Apophis, der Asteroid, auf den die Muttersonde nach Freisetzung der Probenkapsel Kurs nehmen wird, trägt den Namen der göttlichen Verkörperung des Chaos, der Auflösung. (Allerdings ist diese Taufe in diesem Fall ebenfalls „über Bande gespielt“ – da die Entdecker Roy Tucker und David Tholen bei der Benennung 2004 an den Bösewicht aus der Fernsehserie Stargate SG-1 dachten (der freilich eben jener ägyptischen Gottheit den Namen verdankt). Ältere Leser der deutschen Endlos-Weltraumoper Perry Rhodan werden sich an die „Mächtigkeitsballung Seth-Apophis“ erinnern, die Gegenspielerin von ES, die um 1980 herum das dortige Universum unsicher machte. Allerdings scheint hier für die Ankunft beim Herrn des Chaos und der Vernichtung, dem komischen Master-of-Desaster, im April 2029 für reichlich mediale Aufmerksamkeit vorgesorgt zu sein. Bei den ersten Bahnberechnungen im Dezember 2004 ergab sich, daß am 13. April 2029 eine Wahrscheinlichkeit von etwa 3 Prozent bestand, daß der gut 300 Meter messende Bolide mit der Erde zusammenstoßen würde. Weitere Beobachtungen, und die Einbeziehungen des Jarkowski-Effekts (den Einfluß des Lichtdrucks auf Rotation und Umlaufbahn eines solchen kleinen Körpers) haben 2021 zu der Berechnung geführt, daß uns 99942 Apophis am 13 April 2029 um 21:46 Weltzeit bis auf 31.600 km nahe kommen wird – und daß die Chance, daß er im Lauf der nächsten 100 Jahre einschlagen wird, bei Null liegt. OSIRIS-APEX (der Name, unter dem die Mission ab morgen laufen wird; der Zusatz steht für APophis EXplorer), soll ab dem 8. April 2029 mit der Datenübertragung von seinem Ziel beginnen und am 21. April in eine Umlaufbahn für die nächsten 18 Monate einschwenken.



(Überbelichtete Aufnahme von Bennu mit der NAVCAM vom 19. Januar 2019; die Belichtungszeit betrug 5 Sekunden. Der Gurnd dafür war, die beiden Sterne links unten sichtbar werden zu lassen - bei denen es sich nicht um Sterne handelt, sondern um Erde und Mond, gesehen aus einer Entfernung von 100 Millionen Kilometern.)



(Zum Vergleich: dieselbe Sicht, nur rechts bei normaler Belichtungszeit)

PS.

Noch zur „phallischen Form der Raumschiffe“ (ältere Leser dürfen hier gerne an das Raumschiff von Professor Zarkov aus dem Film „Flesh Gordon“ von 1974 denken): eine dritte „nette Ironie“ liegt darin, daß das Raumfahrzeug, daß am heftigsten derartige Assoziationen ausgelöst hat, Jeff Bezos‘ New Shepard gewesen ist, das in den vergangenen Jahren von interessierter feministische Seite wiederholt mit dem männlichen Geschlechtsorgan verglichen worden ist. Die Ironie liegt darin, daß die New Shepard, anders als etwa die X-15 vor 60 Jahren oder aktuell das SpaceShipTwo des Konkurrenzunternehmens Virgin Galactic nicht einmal kurzzeitig auf einer parabelförmigen Bahn die Von-Kármán-Linie überschreitet, die in 100 km Höhe nach allgemeiner Konvention die Grenze zum Weltraum darstellt, sondern „einfach nur“ einen senkrechten Hüpfer in die Höhe vollführt, um dann keine 10 Minuten darauf 3 oder 4 Kilometer wieder zu landen. (Nach sechs Passagierflügen ist die New Shepard übrigens seit einem Jahr ohne Starterlaubnis, als am 12. September 2022 die Startstufe versagt hat.) Davon, eine Umlaufbahn zu erreichen, mit einer Geschwindigkeit von 7,8 km/s, kann in keiner Weise die Rede sein. Um darin ein „bedrohliches Potenzsymbol“ zu erkennen, braucht es schon einiges an Unkenntnis und/oder feministischen Mutwillen.

Dieses „Form follows function“ ist auch der Grund dafür, daß das „vulva-förmige Raumschiff,“ das die „deutsche Künstlerinnengruppe“ „Wer braucht Feminismus?“ im vergangenen Jahr als Startmodell der Zukunft bei der Europäischen Raumfahrtagentur ESA als Projektvorschlag eingebracht hat, mit dem erklärten Ziel, „Geschlechtergerechtigkeit im Weltraum herzustellen,“ indem es „der Präsenz der Menschheit im Weltraum eine neue Dimension hinzufügt und der Welt mitteilt, daß jedem ein Platz im Universum zusteht, ungeachtet ihrer Genitalien“ genau solch ein lahmer Witz ist wie die eingangs erwähnten Texte von Vonnegut und Pynchon.



(Der Entwurf von "WBF?" vom März 2022)



(Wenn eine Zigarre einmal keine Zigarre ist: das bewußte Spiel mit der Assoziation: Worlds of Tomorrow, Ausgabe vom Oktober 1963. Das Titelbild stammt von Virgil Finlay (1914-1971)

U.E.

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