Und das bereits zum dritten Mal.
I.
… und wenn man die Wendung „sich auf den Weg machen“ wortwörtlich nehmen will, so kann für die Reise der indischen Mondsonde Chandrayaan-3 die Schlagzahl sogar noch erhöht werden, wenn man jede Zündung des Triebwerks des Antriebsmoduls als „einen Schritt auf dem Weg zum Erdtrabanten“ zählt. Als das Triebwerk vorgestern, am 5. August, 22 Tage nach dem Start der Sonde vom indischen Weltraumbahnhof Satish Dhawan Space Centre auf der Insel Sriharikota vor der südindischen Ostküste, um 15 Uhr 45 mitteleuropäischer Sommerzeit für 31 Minuten gezündet wurde, um sie in einer Entfernung von 369.000 Kilometern in eine langgestreckte Umlaufbahn um den Mond einschwenken zu lassen, war dies die insgesamt siebte Zündung. In fünf Etappen war zwischen dem 15 und dem 25. Juli der fernste Punkt der Erdumlaufbahn, das Apogäum, von zunächst 41.000 auf 127.000 Kilometer angehoben worden (also auf gut ein Drittel der durchschnittlichen Entfernung des Mondes mit 384.000 km) – und am 1. August war hatte ein 20 Minuten dauernder Schub den bisherigen Erdtrabanten vom erdnächsten Punkt seines Umlaufs in 288 km Entfernung auf Kurs zu seinem Ziel gebracht. Eine gewisse (freilich unbeabsichtigte) kalendarische Ironie besteht darin, daß man im Kontrollzentrum der Mission nach Indian Standard Time zu diesem Zeitpunkt seit einer Viertelstunde bereits den 1. August schrieb, während die „alte Welt“ im Geltungsbereich der Mitteleuropäischen Sommerzeit noch den letzten Juliabend verbrachte und die Uhren dort auf viertel vor zehn wiesen. Da auch die „korrigierte Weltzeit“ UTC, die das Eichmaß für Ereignisse außerhalb unseres Heimatplaneten darstellt, noch auf den Monat Juli wies, wird der „Abschied von der Erde“ in der offiziellen Chronik der Mission also unter „Juli“ registriert. (Der Unterschied zwischen 00:15 – IST – und 21:45 bzw. 23:45 rührt daher, daß die indische Zeitzone, anders als der Großteil, gegenüber der Greenwich-Zeit um eine halbe Stunde versetzt ist – die größte Zone dieser Art; solche Halbstundenzonen gelten ansonsten nur noch in Nepal, Afghanistan, in Burma, auf Neufundland und in der Mitte Australiens.) Diese etwas umständlich anmutende Anreise, die zur Folge hat, daß die Sonde vom Abheben bis zur vorgesehenen Landung in der Nähe des Mondsüdpols 40 Tage und 8 Stunden lang unterwegs sein wird, verdankt sich dem Umstand, daß die verantwortlichen Ingenieure sich für den Kurs entschieden haben, der den geringsten Treibstoffeinsatz ermöglicht. Bei den 5 Zündungen im Erdorbit ist der „spezifische Impuls“ – die Gesamt-Bewegungsimpuls – des Satelliten so gut wie gleichgeblieben, nur die Längsachse der Ellipse, auf der er sich bewegt, ist extrem gedehnt worden. Nach dem zweiten Keplerschen Gesetz (dem „Flächensatz,“ der besagt, „daß der ‚Fahrstrahl‘ eines umlaufenden Körpers“ - gleich, ob es sich hier um einen Planeten, einen Mond oder einen Satelliten handelt – „zur gleichen Zeit dieselbe Fläche bestreicht“) hat eine solche Dehnung zur Folge, daß der künstliche Erdbegleiter auf dem erdnächsten Punkt seiner Bahn eine so hohe Geschwindigkeit erreicht, wie sie auf durch direkte Beschleunigung durch eine Raketenstufe nur unter großem Treibstoffeinsatz zu erreichen gewesen wäre. Soweit ist bei einem solchen Manöver in Erdnähe, das zudem als ein sogenanntes „Swingby“-Manöver wirkt, der Aufwand für eine Änderung des Bewegungsvektors entsprechend geringer, um das Antriebmodul mitsamt dem über ihm montierten Lander mit einer Gesamtmasse von zusammen 3,9 Tonnen auf Kurs zu bringen.
(Absprengung der Feststoffbooster)
(Freisetzung von Lander und Antriebseinheit)
Das gleiche Verfahren wird, quasi in umgekehrter Reihenfolge, angewendet, um die Umlaufbahn der Sonde um den Mond in den nächsten Tagen auf eine fast kreisförmige Bahn 100 Kilometer über der Mondoberfläche abzusenken. Vor fünf Tagen, um 19 Uhr 30 (23:00 indischer Zeit), hat das erste von 5 solchen Bremsmanövern die Bahn von 18.000 Kilometern im Aposelen (dem mondfernsten Punkt) auf 4300 Kilometer verringert. Die nächste Zündung fand einen Tag später, am 6. August, zwischen 13:00 und 14:00 Uhr (indischer Zeit) angesetzt und senkte den mondfernsten Punkt der Bahn auf 1437 km ab; die beiden nächsten folgen am 14 und 20. August. Wenn alles gut verläuft, werden sich kurz danach die Antriebseinheit mit seiner Masse von 2,1 Tonnen und der mit seinen vier Landebeinen gut zwei Meter hohe Lander mit einer Masse von 1,7 Tonnen voneinander trennen. Während die Aufgabe der ersten Einheit damit erledigt ist, beginnt für die Landeeinheit jetzt die kritische Phase. Am Mittwoch in zwei Wochen, dem 23. August, soll um Punkt 14 Uhr 17 MESZ (17:47 IST) die Landung erfolgen (*), nicht unweit des Südpols des Mondes, auf 69,367621 Grad südlicher Breite und 32,348126Grad östliche Länge, zwischen den Kratern Manizius C und Simpelius N (die Hauptkrater Manizius und Simpelius weisen Durchmesser von 98 und 70 Kilometern auf; die mit den Buchstaben bezeichneten Nebenkrater messen 25 und 8 Kilometer). Der Zeitpunkt der Landung ist so gewählt, daß sie gut eine halbe Stunde nach dem Sonnenaufgang an der gewählten Landestelle erfolgt. Um die Komplexität – und die Kosten – der Mission möglichst niedrig zu halten, verfügen weder die Landeeinheit noch der kleine, auf Erden gut 26 kg schwere Rover Pragyan mit seinen sechs Rädern über Heizelemente, so daß die Steuerelektronik die Kälte der Mondnacht nicht überstehen wird, wenn die Sonne nach 14 Tagen hinter dem gut 2,5 Kilometer entfernten Horizont verschwindet. (Der Name „Chandrayaan“ setzt sich übrigens zusammen aus den Sanskritbegriffen für den Mond, Chandra, und Yaan, dem Fahrzeug. Dieses „yaan“ findet sich auch in der informellen Bezeichnung für die erste indische Marssonde von 2013, Mangalayaan, dem in Entwicklung begriffenen bemannten Raumfahrtprogramm, Gaganyaan, und der ebenfalls geplanten Venus-Mission, Shukrayaan.)
(* An dieser Stelle bleibt mir nur, einen kleinen internen Widerspruch zu registrieren: Der Landezeitpunkt 14:17 (MESZ) ist vom Leiter der ISRO, Sreedhara Panicker Somanath, in seiner Pressekonferenz am 14. Juli sogenannt worden; nach dem offiziellen Countdown, den die Uhren auf den Netzseiten der IRSO zur Mission herunterzählen, soll die Landung um 19:59 MESZ erfolgen.)
(Schematische Darstellung von Antriebsmodul und Lander)
(Erstes Bahanabsenkungsmanöver)
Überhaupt ist die Landesonde, wenn man sich ihre Instrumentierung anschaut, für ein solches Unternehmen – es geht immerhin um eine Landung auf einem anderen Himmelskörper! – erstaunlich spartanisch ausgestattet. Außer einer Kamera zur Erfassung der Bodenkonturen (und für Panoramaaufnahmen der Landestelle) und einem Laser-Doppleranemometer, der zur Ermittlung der Höhe und der Sinkgeschwindigkeit bei der Landung dient, befinden sich an Bord nur ein Seismometer mit dem schönen Akronym ILSA („Instrument for Lunar Seismic Activity“), einem Infrarot-Meßgerät, das die Temperatur und Wärmeleitfähigkeit des Mondbodens ermitteln soll sowie eine Langmuir-Sonde, mit der die elektrischen Leifähigkeiten und Elektronendichte der Mondatmosphäre gemessen werden soll. (Auch wenn unser Trabant nach allen menschlichen Maßstäben jeder Lufthülle entbehrt, verfügt er doch über eine äußerst geringe Atmosphäre, die sich zum größten Ausgasungsvorgängen im Mondinnern verdankt – ihr Druck beträgt gut 3 Nanopascal, das entspricht dem 3 mal 10 hoch MINUS 15-fachen der irdischen Atmosphäre. Ihre Gesamtmasse wird auf gut 10 Tonnen taxiert. Während ein Kubikzentimeter Erdenluft auf Meereshöhe rund 10 hoch 19 oder 10 Trillionen Moleküle - 10 000 000 000 000 000 000 – enthält, sind es auf Levania nur gut 100.000 – und sie besteht hauptsächlich aus Natrium und Kalium.)
Der Rover, von dem die Einsatzleitung hofft, daß er während der zwei Wochen seines Einsatzes eine Strecke von einem halben Kilometer zurücklegen kann, hat zwei Spektrometer an Bord, mit denen die chemische Zusammensetzung des Mondstaubs und der Felsbrocken an der Landestelle ermitelt werden soll.
Und das war es auch schon.
(Die vorgesehene Landestelle)
Denn die eigentliche Aufgabe dieser Sondenmission, ihr maßgebliches Ziel, besteht darin, eine sichere, weiche Landung überhaupt durchzuführen. Es handelt sich bei der Mission Chandrayaan-3 im wesentlichen um eine Wiederholung der Mission Chandrayaan-2, die fast auf den Tag genau drei Jahre zuvor, am 22. Juli 2019, gestartet worden war und deren Lander, fast baugleich mit dem aktuellen, bei der Landung ebenfalls in der Nähe des Mondsüdpols, am 6 September zerschellte, als die Flugbahn gut 2 Kilometer über der Oberfläche von der geplanten Trajektorie abzuweichen begann. Das Triebwerk des Landers war so eingestellt, daß sich der erzeugte Schub nur in Stufen von jeweils 20 Prozent des Höchstschubs hochfahren ließ, und als die Elektronik nach einem Abstieg aus 30 km Höhe auf eine Höhe von 7,4 km registrierte, daß die Bewegung relativ zum Mondboden noch 146 Meter pro Sekunde betrug (also gut 520 km/h), reichte die verbliebene Zeit nicht aus, um genügend Vollschub zu erzeugen. Die Ingenieure hoffen, daß die Änderungen, die sie an Soft- und Hardware vorgenommen haben, diesmal zu einem glücklicheren Ausgang führen. In meinem letzten Beitrag zu diesem Thema an dieser Stelle („Hakuto-R. Coda“ Zettels Raum vom 3. Mai 2023) habe ich darauf hingewiesen, daß von den insgesamt sechs versuchten weichen Sondenlandungen auf dem Mond, die während des letzten Jahrzehnts unternommen worden sind, nur die drei chinesischen Chang’e-Lander erfolgreich gewesen sind (Chang’e 3 im Dezember 2013, Chang’e 4 im Dezember 2018, und Chang’e 5 im November 2020 – es war, wie sich vielleicht noch manche Leser erinnern, die Mission, mit der insgesamt 1700 Gramm Mondgestein und -staub zurück zur Erde gebracht worden sind) – während nicht nur die Chandrayaan-2-Mission, sondern auch der israelische Lander Beresheet im Februar 2019 und Ende April dieses Jahres der japanische Lander Hakuto-R aus just dem gleichen Grund auf der Oberfläche zerschellt sind: weil es zu Problemen bei der Reduzierung der Sinkgeschwindigkeit gekommen ist und der Treibstoff noch in hunderten von Metern Höhe zur Neige ging.
(Da ich nicht der jüngste Zeitgenosse bin, erlaube ich mir an dieser Stelle eine kleine Reminiszenz: ich erinnere mich noch gut an meine Zeit in der gymnasialen Mittelstufe, Mitte der 1970er Jahre. Und dort gab es nicht nur die ersten Taschenrechner, die im Mathematikuntericht eingesetzt werden konnten, mit zumeist höchst bescheidener Ausstattung, die zumeist über Sinus- und Kosinusberechnungen sowie Prozentrechnungen nicht hinausging, sondern ab 1974 auch die ersten tatsächlichen programmierbaren Handkalkulatoren in Gestalt des Modells HP-65 von Hewlett Packard. Und der Clou dieses „Computerleins“ – so Arno Schmidt 1979 in seinem Fragment gebliebenen Typoskriptroman „Julia oder Die Gemälde“ - war ein „Mondlandeprogramm“, das als Schmankerl in der Programmausstattung bei gefügt war. Bei diesem für die meisten „User“ allerersten Computerspiel begann der Durchgang 500 Fuß über der Mondoberfläche, mit einer Sinkgeschwindigkeit von 50 Fuß pro Sekunde. Der Spieler verfügte über 60 Einheiten Treibstoff; nach der Eingabe der zu verfeuernden Zahl an Einheiten zeigte der Rechner die verbliebene Geschwindigkeit und die aktuelle Höhe an. Das Ziel war, die Geschwindigkeit auf „0“ zu reduzieren, aber nicht in den freien Fall überzugehen. Daß das sogenannte „wirkliche Leben“ ein halbes Jahrhundert später genau diesen allerersten Ausflug in den virtuellen Cyberspace, mit wirklichen Mondlandern und einem wirklichen Mond, neu auflegen würde, spricht für die an dieser Stelle schon so oft vertretene Hypothese: nämlich, daß die Programmierer unserer Matrix einen etwas ausgefallenen Sinn für Humor verfügen. Übrigens hat der HP-65 an Bord der Apollokapsel der Apollo-Sojus-Mission im Juli 1975 den drei Astronauten mit seinen bis zu 1000 programmierbaren Programmschritten es möglich gemacht, die notwendigen Kurskorrekturen zum Rendezvous mit ihren sowjetischen Kollegen an Bord auszurechnen, ohne auf die Elektronengehirne der Bodenstation in Houston angewiesen zu sein.)
(PS: Da der Ladenpreis des Modells HP-65 1974 gute 2000 D-Mark betrug, den selbst die größten Angeber ihren Erziehungsberechtigten nicht abschwatzen konnten, dürfte es sich bei dem Rechner, an dem meine Mitschüler stundenlang gescheitert sind, um das zwei Jahre später auf den Markt gekommene Nachfolgermodell HP-67 gehandelt haben, das ebenfalls dieses vertrackte Spiel enthielt und mit gut 700 DM „etwas“ erschwinglicher war. Wer sich selbst als mondfahrender Bruchpilot versuchen möchte, kann dies ganz in der Optik von vor 47 Jahren hier unternehmen.)
(Programmiermagnetstreifen für das Mondlandeprogramm des HP-67)
Zurück zum indischen Mondlandeprogramm: Sollte die aktuelle Mission von Erfolg gekrönt sein, ist für die nächste Landung, die zurzeit für das Jahr 2025 geplant ist, vorgesehen, Mondgestein mit einem Roboterarm einzusammeln und es an Bord des Landers zu analysieren; für Chandrayaan-5 (zwischen 2025 und 2030) ist geplant, Bohrproben zu entnehmen (und ebenfalls an Bord einer chemischen Analyse zu unterziehen) und für Chandrayaan-6 (im Zeitraum 2030 bis 2035), solche Bodenproben zur Erde zurückzubringen.
Der vorausgegangenen Chandrayaan-2-Mission verdankt sich auch der Umstand, daß dieses Mal kein Mondorbiter mit von der Partei ist, der als Relais zur Datenverbindung zwischen dem Lander und dem Kontrollzentrum der ISRO in Bangalore fungiert. Diese Aufgabe übernimmt der Orbiter des Vorgängers, der sich seit dem 20. August in einer Umlaufbahn im 100 km Höhe über dem Mond befindet, die über beide Pole führt. Ursprünglich war mit einer Lebenszeit der Sonde von einem Jahr gerechnet worden; angesichts ihres robusten Zustands wird sie aber mindestens bis zum Jahr 2026 ihren Dienst versehen können.
(Der Vikram-Lander von Chandrayaan-3)
(Einschwenken der Sonde in die Mondumlaufbahn am 5. August)
II.
An dieser Stelle stellt sich vielleicht manchem die Frage – und die ist auch vor drei Wochen, zu Beginn der Mission, in den verschiedenen sozialen Medien von westlichen Beobachtern des öfteren gestellt worden: hat es nicht etwas Frivoles, etwas nachgerade Unanständiges an sich, wenn sich ein Land wie Indien, mit all seinen Problemen, seiner immer noch immensen Armut, seiner Rückständigkeit nicht nur ein Raumfahrtprogramm, sondern auch noch ein Mondlandeprogramm leistet? Ein Land, dem das deutsche Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung im vergangenen Jahr eine Summe von fast einer Milliarden Euro (genau: 987 Millionen €) als Entwicklungshilfe zugesagt hat? Ein Land, das mit seinem Bruttosozialprodukt je Einwohner an Stelle 145 aller Länder der Erde steht (auch wenn man die geringeren Preise in Betracht zieht und allein nach der Kaufkraft der Rupie geht, erreicht Indien nur Platz 126)? Zwar liegt Indien im Gesamtvolumen seiner Wirtschaftsleistungen weltweit an fünfter Stelle, aber diese Leistung gilt für das bevölkerungsreichste Land der Erde, als das Indien nach dem offiziellen Statistiken der Vereinten Nationen China in diesem Jahr abgelöst hat? Sollte Indien nicht lieber „zuerst seine massiven sozialen Probleme lösen“, ehe es sich den Luxus leistet, „nach den Sternen zu greifen“?
(Entwicklung des indischen BIP von 1978 bis 2020)
Diese Art von Fragen ist nicht neu: sie wurden schon vor einen halben Jahrhundert, während des „Wettlaufs zum Mond“ in zahllosen Medienberichten und Zeitungsartikeln gestellt – in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts natürlich an die Adresse der USA gerichtet: sollten nicht lieber die Bürgerrechte gefördert werden, Sozialprogramme aufgelegt werden, anstatt, wie es der satirische Liedermacher Tom Lehrer 1965 in seinem Song „Wernher von Braun“ sarkastisch ausdrückte „zwanzig Millionen von eurem Steuergeld dafür aus dem Fenster zu werfen, um einen Kasper auf den Mond zu schießen“ (im Original: „…to spend twenty million dollars of your taxes to put some clown on the moon“)?
Auf die Frage: “ist so etwas (moralisch oder pragmatisch) akzeptabel“? gibt es eine sehr eindeutige Antwort: Sie lautet „allemal.“
Diesem (scheinbaren) Widerspruch liegt nämlich ein Mißverständnis zugrunde – und zwar in mehrfacher Hinsicht. Zum einen gehen solche Programme in keiner Weise zu Lasten von tatsächlichen ökonomischen Investitionen, von Entwicklungsprogrammen und der Etablierung heimischer Industriezweige. Im Gegenteil: daß solche Programme den Effekt nach sich ziehen können, genau solche Entwicklungen zu hemmen, ist für den Sektor „Entwicklungshilfe“ für zahleiche Beispiele aus Lateinamerika, Asien und Lateinamerika gut belegt. (Dieser Aspekt ist hier nicht mein Thema. Wer sich dafür interessiert, kann etwa Brigitte Erlers „Tödliche Hilfe“ (Hayit Diskurs: Köln 1985) oder Siegfried Kohlhammers „Auf Kosten der Dritten Welt?“ (Steidl: Göttingen 1993) einen ersten Einblick in die Problemstellung erhalten.) Die Entwicklung von Trägerraketen, die Satelliten in den Weltraum befördern, verschlingt gegenüber den Summen, die in sozialen Förderungsprogrammen oft spurlos versickern, nur die sprichwörtlichen „Peanuts“ – es ist kein Wunder, daß die privaten Firmen, die sich in den letzten 10, 15 Jahren auf diesem Gebiet etabliert haben, oft von ihrer Finanz- und Kopfstärke nur als kleine mittelständische Unternehmen in Erscheinung treten – wie die deutschen Firmen Bavaria Aerospace und Rocket Factory Augsburg, wie Peter Becks Rocket Lab oder, als Pionier in dieser Branche, Elon Musks SpaceX – vor allem bevor mit dem ersten erfolgreichen Start einer Falcon 9 im Juni 2010 die beispiellose Erfolgssträhne begann.
(Besonders frappant wird der Gegensatz, wenn man sich einmal die offiziellen Ziele anschaut, an denen die deutsche Entwicklungshilfe für Indien ausgerichtet ist: da geht es um „Indiens Energiewende fördern,“ „klimafreundliche Mobilität fördern,“ „Ökosystemleistungen erhalten,“ „an Klimawandel anpassen“ und, es ist kein Witz: „Ernährung sichern.“ Daß angesichts des nachgerade unerträglichen Klimas – das sich NICHT dem „Klimawandel“ verdankt - in Südindien eine gesicherte Stromversorgung das A und O jeder Entwicklung darstellt, die mit Sonne und Wind nicht zu erbringen ist, scheint sich in deutschen Ministerien so wenig herumgesprochen zu haben. Genausowenig wie die Tatsache, daß die „grüne Revolution“ Norman Borlaughs in den 1970s Jahren dazu geführt hat, daß Indien seit 2019 als Lebensmittelexporteur weltweit an neunter Stelle unter den Staaten der Erde rangiert. 2019 war Indien der drittgrößte Reis-Exporteur der Welt, der drittgrößte Exporteur von Baumwolle; und im vorigen Jahr war Indien der drittgrößte Exporteur von Rindfleisch weltweit. Wer sich noch an die Schreckensszenarien aus den 60er und 70er Jahren erinnern kann, als „Indien“ als Synonym für „Hungersnöte“ galt - was auch schon vor einem halben Jahrhundert mehr ein westliches Medienmärchen war als die Wahrheit – und etwa Paul Ehrlich als Folie für die grausigen Schreckensszenarien in seinem Buch „Die Bevölkerungsbombe“ (1968) diente, kann sich kaum einen größeren Kontrast vorstellen.)
Vor allem übersieht der wohlfeile „moralische Tadel,“ daß es sich bei dem indischen Raumfahrtprogramm – wie bei allen solchen technologischen Projekten – um ein langfristiges Projekt handelt, dessen Entwicklung über Jahrzehnte, über Generationen hinweg angelegt ist. Das indische Raumfahrtprogramm existiert seit 1969, die ersten beiden Starts von Satelliten aus eigener Fertigung erfolgten 1975 und 1979 – damals noch mangels eigener Möglichkeiten von sowjetischen Raumflugzentrum Kapustin Jar. Der bislang einzige Weltraumbahnhof des Landes, das eingangs erwähnte Satish Dhawan Space Centre auf der Insel Sriharikota im Bundestaat Andrha Pradesch an der Bucht von Bengalen, nahm seine Arbeit 1980 auf; ein Jahr später gelang von dort der erste erfolgreiche Raketenstart; der erste Satellit, SCROSS C2, wurde 1994 in die Erdumlaufbahn geschossen. Der Start von Chandrayaan-3 am 14 Juli stellte den 149. Start der SRO dar (der 150., der 7. Im laufenden Jahr, folgte mit der Mission DS SAR am 30. Juli).
Zwei Aspekte sollte man nicht außer Acht lassen: wenn Indien im einundzwanzigsten Jahrhundert entsprechend seiner Bevölkerung, den heutigen technischen Möglichkeiten zu einer wirtschaftlich bedeutenden Macht werden soll, dann wird es nicht dazu werden, wenn es sich allein auf die Aspekte beschränkt, die schon die kolonialen Zeiten seine Ökonomie bestimmten: den Export von Rohstoffen und Agrarerzeugnissen, sondern indem es sich Sektoren der Hochtechnologie erschließt. So haben es alle Länder, die dem ewigen Armutskreislauf entkommen sind, gehalten: wie etwa Südkorea, das zur Zeit der japanischen Besetzung bis 1945 eine reine Agrarkolonie war, deren Infrastruktur, von Eisenbahnenlinien bis zu Häfen, nur zu diesem Zweck gebaut wurden – und das heute eine der führenden Hightech-Nationen der Welt darstellt – und deren Satellit Danuri seit dem letzten Dezember hochauflösende Bilder von den im ewigen Schatten liegenden Regionen am Nord- und Südpol liefert… Und dazu gehört eben auch die Möglichkeit, im Zeitalter der künstlichen Erdtrabanten die Möglichkeit zum Start in den Weltraum anbieten zu können.
Als die ISRO vor fast 15 Jahren, im Oktober 2008, die erste Sonde des Chandrayaan-Programms auf Kurs zum Mond brachte, hat der damalige Projektleiter der Mission, Mylswamy Annadurnai, in Medieninterviews nach dem Start klar Stellung bezogen: es könne (sh. oben) zwar manchem Frivol erscheinen, wenn sich ein Land wie Indien den Luxus einer Mondreise gönne - aber er sehe dies auch als einen technische Leistungsschau – und nicht zuletzt als eine Werbeaktion. Wenn es einem Land wie Indien, mit seinen vergleichsweise bescheidenen technischen und finanziellen Möglichkeiten, möglich sei, den Mond zu erreichen, dann könne es auch als kostengünstiger Transportdienstleister für andere, finanziell eben nicht gut aufgestellte Länder der „dritten Welt“ zum Aufbau eigener Satellitennetze auftreten. Um diesen „bescheidenen Finanzrahmen“ einmal zu beziffern: jener erste Mondflug hat einen Beitrag von ₹ 386 Crore gekostet. (Eine „crore“ ist die in Indien übliche Maßeinheit, die die bei uns gebräuchlichen Millionen und Milliarden – oder im Englischen „million“ & „billion“ – ersetzt; eine Crore beläuft sich auf 10 Millionen); diese 3,9 Milliarden Rupien entsprechen etwa 43 Millionen Euro. Die oben erwähnte Mars Orbiter Mission verursachte Kosten in Höhe von ₹ 454 Crore; wobei 153 Crore davon auf die Sonde selbst entfielen (umgerechnet 52 Millionen bzw. 17 Millionen €) – zum Vergleich: die Gesamtkosten der „Mars-2020“-Mission der NASA, mit dem Rover Ingenuity, der seit jetzt 878 Marstagen den Jezero-Krater auf der Nordhalbkugel des roten Planeten unsicher macht, und dem kleinen Helikopter Ingenuity, der vor sechs Tagen seinen 54. Flug absolviert hat, belaufen sich insgesamt auf mehr als 2,7 Milliarden US-Dollar. Für Chandrayaan-3 belaufen sich die Gesamtkosten auf umgerechnet 68 Millionen € (₹ 978 Crore), von denen gut zwei Drittel auf den Bau des Landers, der Antriebseinheit und der Montagephase entfielen und ein Drittel auf die zweistufige Trägerrakete vom Typ LVM3 (das Kürzel steht, reichlich pragmatisch, für „Launch Vehicle Mark 3“).
(Ein kleines ironisches Beiseit: die hohen Kosten besonders der NASA-Sondenmissionen können ungeplante Folgen nach sich ziehen. Perseverance, bzw. die „Mars 2020“-Mission, am 30. Juli 2020 von der Startrampe 41 in Cape Canaveral in Florida auf den Weg gebracht, dient ja nicht nur als Flugbegleiter und macht fleißig Aufnahmen seiner Umgebung – bis heute waren es mehr als 275.000, die allesamt auf dieser Webseite betrachtet und heruntergeladen werden können – sondern sammelt auch zahlreiche Steine und Bohrproben ein und deponiert sie auf einem zentral gelegenen Sammelplatz. (Eine vollständige Liste der bislang 20 Proben findet sich hier.) Von dort sollen sie, nach bisherigen Planungen im Jahr 2028, von weiter weiteren Landesonde an Bordgenommen und zur akribischen chemischen und physikalischen Untersuchung zurück zur Erde gebracht werden. Im Juni ist eine Rechenschaftskommission der NASA zu dem Schluß gekommen, daß die Kosten für diese Folgemission aller Wahrscheinlichkeit nach die Marge von zehn Milliarden Dollar übersteigen wird und diese Vorhaben auf unbestimmte Zeit verschoben oder gar aufgegeben werden sollte.)
Auch wenn die Entwicklung der Falcon 9 von SpaceX das Kalkül von 2008 auf den kostengünstigsten Zugang zum All kräftig durcheinandergewirbelt hat (mittlerweile haben diese Startstufen insgesamt 186 erfolgreiche Landungen absolviert, zwei von ihnen seit dem letzten Monat sogar zum 16. Mal), so war es doch durchaus zukunftsweisend: Indiens erste Schwerlastrakete PSLV („Polar Satellite Launch Vehicle“) hat seit 1993 mehr als 340 Kunstmonde anderer Nationen in eine sonnensynchrone Umlaufbahn befördert, zuletzt im April und Juni insgesamt neun Satelliten für Singapur. Bei einem „heliosynchronen“ Orbit überquert ein Satellit exakt alle 24 Stunden dieselben Orte an der Erdoberfläche, was für tagesaktuelle Aufnahmereihen von Bedeutung ist. Vor 1993 hatte nur die sowjetische bzw. russische staatliche Raumfahrtorganisation diesen Service im Angebot. Für die Rakete vom Typ LVM3 gilt dasselbe wie für die PSLV: der Start vor drei Wochen war der insgesamt siebte der dreistufigen Trägerrakete, die eine Nutzlast von 4 Tonnen in eine geostationäre Umlaufbahn und zehn Tonnen in einen niedrigen Erdorbit befördern kann. Aber bei den ersten beiden vorangegangenen Starts hat die LVM3 im Oktober und März insgesamt 72 Satelliten DES Kommunikationsunternehmens OneWeb mit Firmensitz in London gestartet. OneWeb ist seit vier Jahren, seit Februar 2019, im Begriff, Elon Musks Starlink direkte Konkurrenz zu machen und ein satellitengestütztes Breitbandnetz aufzubauen, das am Ende 6300 Satelliten umfassen soll. Ein gutes Zehntel davon sind bei den bislang 19 Starts in Umlaufbahnen in 450 km Höhe verbracht worden. Und hier zeigt sich, warum es eine gute Idee des indischen Staatsunternehmens war, sich auf diesem Markt zu positionieren: Bis Anfang März 2022 wurden diese Starts fast ausschließlich durch die russische Raumfahrtorganisation Roskosmos durchgeführt: jeweils sechs davon erfolgten von Baikonur in Kasachstan und vom Kosmodrom Wostotschny ganz im Osten des Landes, in der Region Amur auf dem 127. Längengrad, gute 5500 Kilometer von Moskau entfernt gelegen. Nachdem die Möglichkeit, auf russische Trägerraketen zurückzugreifen, durch die Invasion in der Ukraine bis auf weiteres erst einmal entfällt (und es zudem zweifelhaft scheint, ob es jemals wieder dazu kommen wird), sind die sechs seit dem Oktober 2022 erfolgten Starts je zur Hälfte von den USA aus und vom Satish Dhawan Space Centre gestartet.
III.
Stichwort „Kosmodrom Wostotschny,“ Region Amur, 100 Kilometer nördlich der chinesischen Grenze gelegen, mit einer Zeitzone, die neun Stunden vor unserer liegt (Wladiwostok liegt noch einmal gute 1000 km weiter östlich): wenn alles so geht, wie es sich die Planer bei der russischen Raumfahrtagentur Roskosmos vorgestellt haben, dann beginnt von dort aus heute nacht, in wenigen Stunden, der merkwürdigste „Wettlauf zum Mond,“ zu dem es in der Geschichte der (in diesem Fall unbemannten) Raumfahrt je gekommen ist, seit die sowjetische Mondsonde Luna E1 im September 1958 scheiterte, als die Trägerrakete R-7 kurz nach dem Start von Baikonur aus explodierte. Hute nacht, um genau 1:10 und 17 Sekunden nach mitteleuropäischer Sommerzeit, soll von der einzigen Startrampe in Wostotschny der Mondlander „Luna-25“ gestartet werden, der anders als Chandrayaan-3, auf den direkten Weg zum Erdtrabanten gebracht werden soll – die erste russische Mondmission, seit ihr Vorgänger Luna 24 im August 1976, vor fast exakt 47 Jahren, 170 Gramm Mondstaub aus dem Mare Crisium zurück zur Erde gebracht hat – und die erste „Planetenmission“ der russischen Raumfahrt, seit die Sonde Fobos-Grunt, die solche Bodenproben vom Marsmond Phobos zurückbringen sollte, im November 2011 scheiterte, die Erdumlaufbahn zu verlassen und stattdessen im Januar 2012 bei Widereintritt in die Erdatmosphäre über den Pazifik verglühte. Wenn alles nach den Plänen der Einsatzleitung verläuft, könnte Luna-25 nach einer Flugdauer von 10 bis 11 Tagen einen guten Tag vor der Konkurrenz auf dem Mond landen – nicht weit vom geplanten Landeort der indischen Mission entfernt, im Krater Boguslawski auf 74 Grad südlicher Breite und 60°61‘ östlicher Länge.
Daß es in den nächsten zwei Wochen zu einem wortwörtlichen „Wettlauf zum Mond“ kommen könnte, nimmt der kleine Zyniker, der mir beim Schreiben stets über die Schulter schaut, natürlich ebenfalls als einen Hinweis darauf, daß die Programmierer der „Matrix, die wir leichtfertig für die Wirklichkeit halten“ einen gewissen Sinn für Humor besitzen. Zumindest darf man davon ausgehen, daß hinter dieser Koinzidenz keinerlei Absicht zu vermuten ist. Und hier liegt auch der Grund, warum der Protagonist Zweifel hegt, daß es tatsächlich dazu kommen wird – gewissermaßen einer kosmischen Version des Wettlaufs tüssen de Has un den Swinigel, den die Gebrüder Grimm 1843 in die fünfte Auflage ihrer „Kinder- und Hausmärchen“ aufnahmen. Ein kleiner Blick auf die bislang in Aussicht gestellten Starttermine für den Neustart des russischen Mondprogramms macht das augenfällig.
Die erste Bekanntgabe dieser Mission stammt aus dem Jahr 2005; seitdem ist es zu einer endlosen Reihe von Verzögerungen, Vertagungen, Verschiebungen gekommen, die dem deutschen Konkurrenzunternehmen Hauptstadtflughafen/BER locker das Wasser reichen können. Die offizielle Terminliste, die Roskosmos für den Start sieht so aus:
2008 wurde als Starttermin 2010 genannt (da Wostotschny erst 2016 in Betrieb genommen worden ist, war als Startort Baikonur vorgesehen)
2009: „2012“
2010: „2013“
2011: „2014“
November 2011: „nicht vor 2015“
Oktober 2013: „nicht vor 2016“
August 2017: „2019“
Mai 2018: „zwischen Juni und Oktober 2021“
März 2020: 1. Oktober 2021“
August 2021: „Mai 2022“
Oktober 2021: „Juli 2022“
April 2022: „22. August 2022“
Mai 2022: „Ende September 2022“
Einige dieser Verzögerungen ergeben sich aus äußeren Umständen. So wurde der Bordrechner, der weitgehend dem an Bord er gescheiterten Marsmission entsprach, nach deren Havarie völlig neu konstruiert; auch infolge der Corona-Pandemie kam es 2020 und 2021 zu massiven Verzögerungen. In diesem Zusammenhang ist die Entwicklung der Instrumentierung und Elektronik auch im Januar 2013 an das Konstruktionsbüro Lawotschkin-NPO übergeben worden, das ab 1937 Flugzeugprototypen entwickelte (unter anderem der Düsenjäger Lawotschkin-168, der im April 1948 als erstes sowjetisches Flugzeug die Schallmauer durchbrach), sich aber sich gut 60 Jahren auf die Entwicklung von Satelliten konzentriert. Auch die Fregat-Oberstufe, die Luna-25 heute nacht auf Kurs bringen soll, wird dort gefertigt. Bei dieser Übergabe wurde auch der bisherige Name der Mission von „Luna-Glob“ und „Luna-24“ geändert, um ein Anknüpfen an der Sondenprogramm der 1960er Jahre herauszustreichen.
Besondere Verzögerungen ergaben sich mit dem Trägheitsnavigationssystem BIUS-L, das im Mai 2018 die Startverzögerung auf dem Sommer 2021 nötig machte, das im März 2021 immer noch ausstand und von der Produktionsfirma Wega erst am 8. August 2021 an Lawotschkin ausgeliefert wurde. Und es ergaben sich erhebliche Probleme mit dem System DISD-LR. Das Kürzel ДИСД-ЛР steht für „Доплеровский измеритель скорости и дальности“ (Doplerowskij ismeritel' skorosti i dal'nosti); zu deutsch: „Geschwindigkeitsmesser mittels Dopplereffekt und Entfernungsmesser“ – eben jener neuralgische Punkt, der auch den drei weiter oben aufgeführten Landeversuchen zum Verhängnis wurde. Der Generaldirektor von Lawotschkin, Wladimir Kolmilkow, gab im Oktober 2022 bekannt, daß die Tests der Meßvorrichtung ergeben hätten, daß die falsche Entfernungs- und Geschwindigkeitswerte anzeigen würde, und daß die Algorithmen der Bordcomputer entsprechend umgeändert werden sollten, um dies zu kompensieren. Am 14. Dezember 2022 hieß es von Lawotschkin-NPO, die geforderten Sollvorgaben würden jetzt erreicht; aber am 33. März 2023 hieß es, der bis dahin geplante Start am 13. Juli müsse auf den August verschoben werden, um weitere Meßreihen durchzuführen, um „eine korrekte Durchführung von Lagekorrektur und Landung der Sonde“ sicherzustellen.
Immerhin ist Luna-25 am 11. Juli in Wostotschny angeliefert, am 26. Juli mit Hydrazin betankt worden, am 1. August auf die Fregat-Raketenstufe montiert und die Raketen ist vor zwei Tagen von der Montagehalle zur Startrampe gefahren worden. Sollte der Start gelingen, kommt es auch hier zu der "terminlichen Diskrepanz," da der Startzeitpunkt nach korrigierter Weltzeit noch auf den 10. August fällt; für uns allerdings schon auf den 11.
Es ist also nicht auszuschließen, daß in wenigen Stunden tatsächlich eine „Aufholjagd am Himmel“ stattfinden wird (der kleine Pedant merkt an, daß es zwar das Sternbild Hase - Lepus – gibt, das unauffällig zu Füßen des Himmelsjägers Orion knapp über dem himmlischen Äquator aufzufinden ist, der Igel es aber nicht unter die Gestirne geschafft hat - allerdings der Pfeil, Sagitta, der in dem bekannten Paradoxon des griechischen Philosophen Zenon von Elea dieselbe Rolle spielt - "Zénon! Cruel Zénon! Zénon d’Élée! / M’as-tu percé de cette flèche ailée / Qui vibre, vole, et qui ne vole pas!" heißt es in Paul Valérys "Cimetière martin"). Aber erst, wenn es wirklich so weit kommen sollte, werde ich ein Auge darauf werfen, ob nicht auch diese Ausflüge nur mit zwei weiteren Trümmerfeldern am Südpol des Mondes enden – das es sich nun einmal nicht um chinesische Missionen handelt.
(Ausrollen von Luna-25 zur Startrampe)
Ich habe in meinen letzen Beitrag an dieser Stelle zu diesem Thema ("Danuri," Zettels Raum vom 6. Mai 2023) das Sonett des russischen Dichters des Symbolismus, Konstantin Balmont, über den "Südpol des Mondes" aus dem Jahr 1899 in deutscher Übersetzung gebracht. Dieser "Südpol des Mondes" schreibt sich im Original "Южный полюс Луны." Vor drei Monaten war die Mission Luna-25 keineswegs ein "aktuelles Thema" - aus Gründen, die oben weitschweifig nachzulesen sind. Und was bekam ich zu lesen, als ich vor drei Tagen zum ersten Mal ein Bild der Schanzverkleidung sah, die die Sonde beim Start von der Gealten der Atmosphäre schützt?
Vielleicht ist es doch eher so, daß wir uns hier in der Matrix befinden - und deren Programmierer einen ausgefallenen Sinn für Humor besitzen.
U.E.
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