7. Juni 2023

Aldous Huxley, "Proust und die Bestseller" (1920)





(Aldous Huxley. Portrait von Roger Fry, 1931)

„Marginalien“ (1920)

„Die Verdienste der Literatur“ – der Ausdruck hat etwas Gesetztes, nachgerade Feierliches an sich. Mit einem solchen Ehrentitel versehen, nehmen die dürftigen Groschen, die sie einbringt, einen Anschein von Bedeutung an. Aber leider nur zum Schein – denn wenn es darangeht, sie in Essen und Kleidung umzusetzen, erhält man für diese Groschen keinen Deut mehr als vor dieser Aufwertung. So wie es ist – arm, aber ehrenhaft (oder besser: klug und deshalb arm) – verschlimmert es die Sache noch, wenn man die kargen Früchte unseres Schweißes als „Lohn“ bezeichnet. Aber die großen „Verdienste der Literatur,“ die tausende und zehntausende von Pfund, von denen uns erzählt wird: bleiben die uns für immer verwehrt?

Schließlich, so sagen wir uns, sind wir alles andere als dumm; wir verfügen über Humor. Warum sollte es uns nicht möglich sein, die Verfasser von Bestsellern bei ihrem eigenen Spiel zu schlagen? Es sollte doch nicht so schwer sein, ein paar „ergreifende Liebesgeschichten“ zu verfassen oder einen Band von Preziosen à la Wilcox. ­

Das Genie, dessen “begnadete” Werke auf Unverständnis und Ablehnung stoßen und das seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Bestsellern bestreitet, ist in Romanen häufig anzutreffen. Aber gibt es solche Leute im wirklichen Leben? Wir haben da einige Zweifel. Es gibt genügend Autoren, die drittklassigen Journalismus abliefern und gleichzeitig halbwegs anständige Romane; aber kaum solche, die gleichzeitig Werke von hohem Rang schaffen und solche, die schlecht genug sind, um populär zu werden. Hätte Henry James ein Vermögen verdienen können, wenn er in seinen schwachen Stunden die Romane von Nat Gold geschrieben hätte? Oder hätte Yeats die Tatsache, daß er ein Dichter ist, dadurch wettmachen können, daß er „Lache, und die Welt lacht mit dir!“ gedichtet hätte? Wir dürfen davon ausgehen, daß es ihm unmöglich sein dürfte, so sehr er sich auch anstrengen würde. Aber Genies sind Ausnahmeerscheinungen und stehen hier nicht zur Debatte. Hier geht es nur um hungerleidende Literaten, wie wir es sind: weder Genies noch Garvices, sondern schlichte Schreiber mit ein wenig Bildung, Verstand und vielleicht noch etwas Talent. Könnten wir, mit genügend Fleiß und Vorsatz, eine Gans hervorbringen, die ihrerseits ein paar goldene Eier legt? Nein. So wie es die Natur dem Genie verwehrt, Pompier zu sein, hat unser Bildungsweg bei Literaten das Gleiche bewirkt. Egal, was er anstellt: er wird niemals solche „ergreifenden Liebesgeschichten“ verfassen, seine Bühnenstücke werden nicht 1001 Nacht lang aufgeführt werden; seine Gedichte werden niemals in billigen Volksausgaben verlegt werden.

Leser von Prousts bezauberndem Roman werden sich an die vielleicht gelungenste Passage in diesem Buch erinnern, in der sich Swann infolge seiner unglücklichen Liebesaffäre in Kreise der Gesellschaft hineingezogen wird, in deren Mittelpunkt die Diners bei den Verdurins stehen. Die Verdurins – wir kennen ihre englischen Pendants zur Genüge! – verfügen über Geld, bewegen sich in Kreisen, die nicht die besten sind, und haben das Bedürfnis, zu renommieren. Als Löwenjäger bleiben ihnen die besten Jagdreviere verschlossen, und so besteht ihre Menagerie nur aus räudiger Beute: ein zweitklassiger Mann der Wissenschaften, der eine oder andere Professor, ein gleichgültiges Wunderkind, ein schlechter Maler, und ein paar Mitglieder des Bürgertums, die sich für die Intelligenzia halten. In diesen kläglichen Zirkel hat Swann eine bedauerliche Neigung zum schönen Geschlecht geführt – Swann, den übermäßig Kultvierten, den Aristokraten, Swann, dessen intellektuelles Raffinement so empfindlich ist wie bei jener Prinzessin, die auf ihrem Berg aus Daumenkissen keinen Schlaf finden konnte, weil darunter ein zerknittertes Rosenblatt lag. Monsieur Proust hat seine ganze delikate und ausgefeilte Kunstfertigkeit darangesetzt, die Unannehmlichkeiten der Situation zu beschreiben. Wir sehen Swann, wie er sich angesichts der Kalauer des Professors ein schwaches, gequältes Lächeln abringt, wie es sich bemüht, die Zurschaustellungen schlechten Geschmacks nicht allzu ironisch zu kommentieren und zusammenzuckt angesichts der Derbheiten (verglichen mit den Andeutungen und Anspielungen, mit denen man in seinen Kreisen seinen Gedanken Ausdruck zu verleihen pflegt) der Äußerungen, der Wiederholungen und dem Bestehen auf dem Offensichtlichen.

Angesichts dessen, was in der Literatur und auf der Bühne wirklich populär ist, kommen sich die meisten von uns vor wie Swann bei den Verdurins. Wir leiden unter der Erziehung, die zu genießen wir das Glück (oder das Unglück) hatten. Gewöhnt an alle mögliche Beschränkung und Dezenz, sind wir in einem fort von den Vulgaritäten der Bestseller und der Bühnenerfolge schockiert. Unsere empfindliche geistige Verfassung wird von den Gefühlsorgien abgestoßen; wir zucken zusammen, wenn man uns das Offensichtliche einreibt wie Salz in eine offene Wunde. Es kann sein (es ist beinahe mit Sicherheit so), daß unsere Empfindlichkeiten zu sensibel sind. Es trifft zu, was Wordsworth in seiner Vorrede zu den „Lyrical Ballads“ schreibt: daß „der menschliche Geist fähig ist, ohne die Zuhilfenahme grober und brutaler Stimulanzen angeregt werden kann – und daß jemand, der dies nicht weiß, eine sehr schwache Vorstellung von seiner Würde und Schönheit besitzt und zudem nichts davon weiß, daß diese Fähigkeit einen Menschen umso mehr erhebt, je größer sie ausgebildet ist.“ Andererseits trifft es zu, daß sich ein Mensch so sehr über seine Mitmenschen erheben kann, daß er nicht nur vor den groben und brutalen Gefühlen zurückschreckt, sondern vor allen Gefühlen überhaupt, ganz gleich welcher Art – und zu einem „Highbrow“ wird. Gegenwärtig sehen wir viel zu viele solcher Gestalten, die sich weit über das gewöhnliche Niveau der Menschen erhoben haben.

Aber wir sind von unserem Thema abgekommen. Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Kann ein Swann einen Verdurin so gut nachahmen, daß er nicht entdeckt wird? Kann ein Mensch von erlesenem oder auch nur durchschnittlichen Geschmack seine natürlichen Empfindsamkeiten, seinen Abscheu überwinden und einen Bestseller schreiben? Das scheint zweifelhaft. Denn selbst wenn er sich dieser Mühe unterzieht, wenn er sich so weit überwinden würde wie ein schüchterner Mann, der sich mitten auf der Straße nackt auszieht, könnte er dann verhindern, daß ihn nicht eine ironische Note wie ein Bocksfuß verrät? Nein: um zu wirken, müssen solche Werke mit Liebe zur Sache und in voller Überzeugung geschaffen werden. Und sie müssen nach den Maßstäben ihres Genres gut gemacht sein, denn sonst werden sie keinen Erfolg haben – was dem zahlenden Publikum zur Ehre gereicht. Liebe und Überzeugung müssen in ein solches Werk einfließen, und Liebe und Überzeugung sind genau das, was ein Intellektueller unter keinen Umständen an ein solches Werk wenden kann. Es sieht leider ganz so aus, als ob dieser glitzernde „Lohn der Literatur“ eine Fata Morgana bleiben wird: verführerisch und unerreichbar.

Autolycus

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„Mit den Mitteln des achtzehnten Jahrhunderts“ (1919)

A La Recherche des Temps Perdus – Tome II. A l’Ombre des Jeunes Filles en Fleurs. Par Marcel Proust. (Paris: Nouvelle Revue Française, 7 fr 50)

Wenn wir von Prousts Werk sagen, daß es „nach Art des achtzehnten Jahrhunderts“ gestaltet ist, dann meinen wir damit nicht nur, daß es jene exquisite Qualität wie erlesenes Porzellan besitzt (obwohl es sie tatsächlich aufweist), jene absurde und bezaubernde Formalität, die wir, vielleicht zu Unrecht, dieser zivilisiertesten Epoche der menschlichen Geschichte zuschreiben. Das achtzehnte Jahrhundertmit seinen Gewohnheiten, seinem vollendeten Zeremoniell ist größtenteils eine Erfindung unserer Tage; denn die Vergangenheit, wie wir sie uns verstellen, ist zum größten Teil ein gefälliger Mythos, den jede nachfolgende Generation nach ihren eigenen Vorstelllungen und Einstellungen von neuem erschafft. Die Romantiker sahen im achtzehnten Jahrhundert eine Epoche des moralischen und geistigen Verfalls. Unsere Vorstellung davon ist eine völlig andere: für manche wird es durch die exquisiten und phantasievollen „Fêtes Galantes“ verkörpert oder durch Mallarmés erlesene vergebliche Bitte „Princesse à jalouser le destin d’un Hébé“; andere, auf der Suche, auf der Suche nach einem geeigneten Knüppel, um auf Schwärmerei, Mytik, Sentimentalität und sittlichen Ernst einprügeln zu können, sehen in ihm das Zeitalter der höchsten Aufklärung und der reinen Vernunft. Wahrscheinlich steckt in allen diesen Ansichten, einschließlich der der Romantik, ein wahrer Kern. Aber wir befassen uns im Moment nicht mit dem Mythos der Vergangenheit allgemein, sondern nur mit der Frage: was ist genau damit gemeint, wenn wir sagen, daß „Du Côté de chez Swann“ und „A l’Ombre des Jeunes Filles en Fleurs“ nach „der Art des achtzehnten Jahrhunderts“ gestaltet sind?

Monsieur Proust ist „achtzehntes Jahrhundert“ in dem doppelten Sinn, den wir heute mit diesem Ausdruck verbinden. Seine Gesellschaftskomödie befaßt sich höchst ausführlich mit den charmanten Nichtigkeiten des sozialen und sogar des „gesellschaftlichen“ Lebens. Mr. Wells hat Henry James mit einem Nilpferd verglichen, das versucht, eine Erbse zu erhaschen. In diesem Sinne wäre Proust ein Diplodocus, denn in diesen ersten zwei Bänden von „A la Recherche du Temps Perdus“ hat er bereits zwölfhundert Seiten mit kleinem Druckbild gefüllt, ohne von Bildern oder Gesprächen aufgelockert zu sein (wie Alice im Wunderland bemängelt hätte), und es werden noch drei weitere Bände folgen, bevor die verlorenen Zeiten schließlich „retrouvés“ sind. Ein Diplodocus also, sowohl was die Masse betrifft, als auch am Aufwand an Geistesschärfe, der der winzigen Erbse des Gesellschaftslebens im Faubourg Saint Germain und seinen großbürgerlichen und halbweltlichen Rändern hinterherjagt.

Aber diese erlesene Trivialität dieses Themas – und wie schön ist es, wenn in diesen Tagen, in denen die Literatur von Tristesse dominiert wird, ein solches Thema von einem wirklichen Künstler in ernster Weise behandelt wird! – ist nicht die einzige Qualität aus dem achtzehnten Jahrhundert, die sich in Prousts Werk zeigt. Wenn wir uns sein Vorgehen anschauen, können wir feststellen, daß es sich um das Vorgehen des achtzehnten Jahrhunderts handelt, weiterentwickelt und verfeinert, aber ihm ansonsten entsprechend.

Im zweiten Band seiner Geschichte des französischen Romans merkt Saintsbury an, daß „psychologischer Realismus womöglich etwas anderes bedeutet als die psychologische Wahrheit, als unsere Geistesgrößen seit zwei Generationen zugeben wollten oder verstanden haben.“ Die psychologische Wahrheit, im Gegensatz zum psychologischen Realismus, war es, worauf die Charakterzeichner des achtzehnten Jahrhunderts hinauswollten. Viele ihrer Analysen haben etwa überaus Treffendes und Überzeugendes an sich. Man denkt mit Bewunderung an die klaren Umrisse, die Genauigkeit von Alfieris Selbstdarstellung, oder an Benjamin Constants Adolphe, der so subtil mit solchen einfachen und sparsam gesetzten Strichen gezeichnet wird. Sie haben diese Effekte durch eine Verallgemeinerung, eine Abstraktion und Reduzierung der chaotischen psychologischen Tatsachen erzielt. Die „Geistesgrößen der letzten beiden Generationen“ haben sich zum größten Teil damit befaßt, diese chaotischen Vorgänge getreu aufzuzeichnen, soweit man sie beobachten kann. Ihnen schien die Protokollierung dieser psychologischen Wirklichkeit der Wahrheit näher zu kommen als die früheren Abstraktionen und Verallgemeinerungen. Aber, um es mit Saintsbury zu sagen: es könnte sein, daß die künstlerische Wahrheit und das überzeugendere Charakterbild eher durch die ältere Weise zu erreichen sind. Die Erfindung und Entwicklung der modernen Wissenschaft der Psychologie hat dazu geführt, daß uns eine Unzahl von winzigen Details und Gedankensplittern, Gefühlen, Impulsen als bedeutend und interessant erscheint, die unsere Vorfahren für unwichtig erachteten. Sie zeichneten nicht winzige Facetten über die Empfindungen oder die flüchtigen Gedankengänge ihrer Helden auf; sie verdichteten und verallgemeinerten das Chaos des geistigen Lebens zur Einheit eines Charakters. Man kann sich ausmalen, daß James Joyce eines Tages ein Buch über das gleiche Thema wie „Adolphe“ verfassen könnte. Anstelle von Constants klar umrissenen Helden würde er uns ein buntes Sammelsurium aus Empfindungen, Erinnerungen, Wünschen, Gedanken und Gefühlen präsentieren und es uns überlassen, das alles zu einem einheitlichen Charakter zusammenzusetzen. „Adolphe“ oder „Ulysses“ – wer ist wahr? Beide, meinen wir – oder auch keiner von beiden. Auf jeden Fall bedarf es für beide von ihnen eine ganz bestimmen Blick auf die menschliche Seele, auf einen bestimmten Ausschnitt der Wirklichkeit.

Nach seiner Vorgehensweise gehört Proust zur älteren Schule. Es präsentiert uns keine Psychologie im Rohzustand. Er verdichtet, destilliert und peptonisiert seine Einzelheiten, und kredenzt seinen Lesern schließlich ein Gericht von erlesener Vollendung. Proust treibt diesen Vorgang der Zubereitung so weit, daß er sich allgemeine Betrachtungen über Leben und Charakter in jener weit ausholenden Manier, in jener entschiedenen und lehrhaften Manier erlaubt, die uns heute so suspekt ist. Hier ein Beispiel für seine Aphorismen, betreffs des Charakters des schriftstellernden Diplomaten, Monsieur de Norpois:

Ma mère s'émerveillait qu'il fût si exact quoique si occupé, si aimable quoique si répandu, sans songer que les « quoique » sont toujours des « parce que » méconnus, et que (de même que les vieillards sont étonnants pour leur âge, les rois pleins de simplicité, et les provinciaux au courant de tout) c'étaient les mêmes habitudes qui permettaient à M. de Norpois de satisfaire à tant d'occupations et d'être si ordonné dans ses réponses, de plaire dans le monde et d'être aimable avec nous.

Das ist vortrefflich, und man kann dergleichen – allgemeine Betrachtungen, wie sie dem sonderbaren und scharfen Verstand Prousts entsprechen - auf jeder Seite des Buches finden.

Um Proust so zu lesen, wie er es verdient, benötigt man eine fast unbegrenzte Zeit – leider mehr, als den meisten von uns zur Verfügung steht. Denn er kommt nur sehr, sehr langsam voran, und er mahlt außerordentlich fein. Im ersten Band „Du Côté de Chez Swann,“ wurde uns der Held als Kind vorgestellt, im Kreise seiner Familie, und danach erfahren wir im Verlauf einer erstaunlich scharfsinnigen und gewitzten Studie des Gesellschaftslebens, wie es dazu kam, daß Swann, Swann aus dem Jockey Club, der in den höchsten Kreisen der Gesellschaft Ansehen genießt, Odette geheiratet hat, die halbgebildete Halbweltdame. Jetzt, im zweiten Band, hat der Held das Jugendalter erreicht; seine Leidenschaft für Swanns junge Tochter blüht auf und erlischt wieder, und im zweiten Teil des Buchs verteilt sie sich auf ein ganzes Geschwader von „jeunes filles en fleurs,“ die ihm am Strand begegnen, und die er nur aus der Ferne sieht. Im üblichen, romanhaften Sinn passiert nichts: zahlreiche Personen treten auf, wir unternehmen Ausflüge aufs Land oder baden im Meer. Das ist alles – aber wir lesen gebannt weiter, fasziniert von Prousts klarer, durchdachter Behandlung seines Themas, von der Schärfe und der Gründlichkeit, mit der er es durchdringt, von seinem Witz und vor allem von seinem Sinn für Schönheit und seiner Fähigkeit, ihr in seinem vielleicht etwas preziösem, aber einzigartigen und schönen Stil Ausdruck zu verleihen.

Monsieur Proust ist eine der interessantesten Erscheinungen in der Literatur unserer Zeit – und sei es nur aus dem Grund, daß er von sich so überzeugt ist, so sicher in seiner glänzenden Behandlung und Ausarbeitung seines Themas im traditionellen Stil. Wir sehen dem Erscheinen von „Le Côte des Guermantes,“ den beiden Teilen von „Sodome et Gomorrha,“ und von „Le Temps Retrouvé,“ mit dem dieses gewaltige Werk abgeschlossen sein wird, mit freudiger Erwartung entgegen. Wir werden sie alle kaufen – und auch wenn wir vielleicht nicht die Zeit haben werden, sie bei ihrem Erscheinen lesen zu können, dann heben wir sie auf, für einen ruhigen, müßigen Lebensabend, an dem wir, wenn wir zwischen 70 und 80 Jahre zählen, vorhaben, uns in die warme Sonne oder an ein gemütliches Kaminfeuer zu setzen und ein ganzes glückliches Jahr lang „A la Recherche du Temps Perdus“ zubringen werden.

A. L. H.

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(Aldous Huxley. Porträt von Vanessa Bell, der Schwester von Virginia Woolf, ca. 1931)

Der erste der beiden Texte, die ich für meinen heutigen Beitrag ausgewählt habe, ist der vierte aus der Reihe der 48 „Marginalia,“ die Aldous Huxley zwischen dem 20. Februar 1920 und dem 4. Februar 1921 in der englischen Wochenzeitschrift „The Athenaeum“ unter dem Nom de plume „Autolycus“ veröffentlicht hat und von denen 15 in seine erste Essaysammlung „On the Margin“ von 1923 aufgenommen wurden. Er erschien am 12. März 1920 in der 4689. Ausgabe des Journals. Für englische Magazine, die im 19. Jahrhundert gegründet worden sind, war es nicht ungewöhnlich, eine fortlaufende Durchnummerierung sämtlicher Nummern auf dem Titelblatt zu führen; auf die „Times“ hat diesen Brauch viele Jahrzehnte lang gepflegt; von den noch erscheinenden Magazinen halten nur noch die beiden führenden Wissenschaftspublikationen, „Nature“ und „Science,“ daran fest; die aktuelle Ausgabe von „Nature“ vom 1. Juni 2023 weist die laufende Nummer 7963 auf; die von „Science“ vom 2. Juni 2023 die Nummer 6648. Die Besprechung des zweiten Teils von Prousts monumentalem Roman erschien am 7. November 1919 in der Nummer 4671 des „Athenaeum.“ Ich bin kein Spezialist für die frühe Rezeption von Prousts Werk außerhalb des französischen Sprachbereichs, aber es könnte gut sein, daß es sich hier um die erste Besprechung im englischen Sprachraum (oder einer anderen Sprache überhaupt) handelt. Huxley verwendet in seiner Rezension übrigens durchgehend den falschen Plural "perdus," was ich deshalb hier beigbehalten habe.

Erschienen war „Á l’Ombre des Jeunes Filles en Fleurs“ am 27. Juni 1919 im Verlag der Nouvelle Revue Française, deren Herausgeber André Gide den ersten Band, „Du Côté des Chez Swann“ sechs Jahre zuvor aufgrund eines negativen Lektorengutachtens abgelehnt hatte. Gide hat sich, nachdem der erste Band im November 1913 beim Verlag Grasset herausgekommen war, in einem Brief an den Autor sehr wortreich entschuldigt und die Ablehnung als größten Fehler bezeichnet, der ihm als Herausgeber je unterlaufen sei. Huxleys Rezension ist erschienen, noch bevor das Buch im Dezember 1919 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet worden ist. Das Buch ist knapp vier Monate zuvor mit einer Neuauflage des ersten Teils, und der Erstausgabe der Sammlung von Stilparodien „Mélanges et Pastiches“ ausgeliefert worden, die Auflagenhöhe der beiden Bände der „Recherche“ betrug jeweils 3300 Exemplare; von der Erstausgabe von „Swann“ waren 1913 1750 Exemplare gedruckt worden. Nach der Verleihung des Prix Goncourt druckte der Verlag im November noch einmal 6600 Exemplare nach, denen im Januar 1920 eine dritte Auflage mit 6600 Stück folgte. (Immerhin ist Proust mit seinem Werk nicht das wiederfahren, was zwei Generationen später ein anderer Verfasser eines ebenso umfangreichen – wenn auch literarisch wohl nicht ganz so anspruchsvollen Roman fleuve – erleben mußte: die Erstausgaben von Stephen Kings Romanzyklus „The Dark Tower,“ um den Gunslinger Roland, ebenfalls auf 7 Bände angelegt, sind – vor der „regulären“ Ausgabe - im auf SF und Fantasy spezialisierten Kleinverlag Donald M. Grant herausgekommen. Für den Aufpreis dieser limitierten Ausgaben erhielten die Käufer nicht nur eine mit Farbillustrationen versehen Ausgabe, sondern auch ein handsigniertes Exemplar. Da sich aber auch diese Ausgaben zur Zeit, als Stephen King einer der meistverkauften Autoren überhaupt war, entschloß sich Verleger Grant, vom dritten Teil, „The Drawing of the Three,“ im Mai 1987 ausgeliefert, 30.000 Exemplare drucken zu lassen – ohne dies vorher mit seinem Autor abzuklären. King hat öfters in Interview erzählt, daß es ihm keine ungetrübte Freude war, als eines Samstagsmorgens unangemeldet ein Möbelwagen vor seinem Haus vorfuhr, mit der Bitte, die kleine Nebenarbeit doch in Wochenfrist zu erledigen.)

Es ist aufschlußreich, daß die Redaktion des „Athenaeum“ vor einem Jahrhundert ihre Leserschaft für gebildet genug hielt, die von Huxley zitierte Passage im Original zu verstehen. Mittlerweile dürften auch in England – wie bei uns auch – die Maßstäbe etwas andere sein, zumal Französisch den Rang der am meisten gelernten Fremdsprache seit mindestens 80 Jahren an das Englische abgegeben hat. In der beim Suhrkamp Verlag erscheinenden Übersetzung der „Suche nach der vergangenen Zeit“ von Eva Rechel-Mertens lautet der Passus so:

„Meine Mutter staunte immer wieder, daß er so pünktlich, wiewohl so beschäftigt, so liebenswürdig, wiewohl gesellschaftlich so stark beansprucht war, ohne sich darüber im klaren zu sein, daß solche "wiewohl" immer verkannte "weil" sind und daß (ebenso wie Greise erstaunlich für ihr Alter, Könige ganz schlicht und Provinzbewohner über alles auf dem laufenden sind) es die gleichen Gewohnheiten waren, die es Norpois erlaubten, so vielen Anforderungen gerecht zu werden und so zuverlässig in der Beantwortung von Briefen zu ein, in der Gesellschaft zu gefallen und sich uns gegenüber so liebenswürdig zu erweisen.“


Bei den „Preziosen à la Wilcox“ (im Original „a few Wilcoxian gems“), die Huxley zu Beginn seiner „Randnotiz“ erwähnt, handelt es sich um die Gedichte der amerikanischen Dichterin Ella Wheeler Wilcox (1850-1919), deren schwülstig-banale Verse um die Jahrhundertwerke außerordentlich populär waren – wie etwa „Solitude,“ aus dem Huxley zitiert:

Laugh and the world laughs with you,
Weep, and you weep alone;
The good old earth must borrow its mirth,
But has trouble enough of its own.

Daß Huxley – angesichts der zahllosen Poetaster des viktorianischen Zeitalters – ausgerechnet dieser Name eingefallen ist, kann damit zusammenhängen, daß Frau Wheeler eine Woche zuvor, am 30. Oktober 1919, gestorben und damit in den Nachrufen der Gazetten präsent war.

“…weder Genies noch Garvices”: Charles Garvice (1850-1920), der heute völlig vergessen ist, zählte in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zu den am meisten verkaufen Autoren; seine mehr als 150 stets nach „Schema F“ verfaßten Liebesschmonzetten mit so verheißungsvollen Titeln wie „Sweet Cymbeline,“ „She Loved Him,“ „A Wounded Heart,“ „On Love’s Altar“ und „Her Heart’s Desire“ waren den Kritikern Paradebeispiele für den schlechten Geschmack des Massenpublikums.

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“…dann heben wir sie auf, für einen ruhigen, müßigen Lebensabend, an dem wir, wenn wir zwischen 70 und 80 Jahre zählen, vorhaben, uns in die warme Sonne oder an ein gemütliches Kaminfeuer zu setzen und ein ganzes glückliches Jahr lang „A la Recherche du Temps Perdus“ zubringen werden.”

Hier liegt ein schönes Beispiel dafür vor, daß es riskant ist, die Bewohner des Olymps, die Parzen oder die Programmierer der Matrix (bei denen es sich um dasselbe Personal handeln könnte) durch solche öffentlich getätigten Voraussagen in Versuchung zu führen. Als Huxley dies schrieb, lag sein 25. Geburtstag vier Monate zurück; als er am 22. November 1963 (am gleichen Tag wie sein englischer Autorenkollege Clive Staples Lewis übrigens) in Los Angeles an Kehlkopfkrebs starb, war er 69 Jahre alt. Beide Autoren hatten das Pech, daß ihr Abtritt von der irdischen Bühne in den Medien fast unbeachtet blieb, weil wenige Stunden zuvor am gleichen Tag der amerikanische Präsident John F. Kennedy in Dallas von zwei Gewehrschüssen tödlich getroffen worden war.

Die auf ein volles Kalenderjahr ausgedehnte Proust-Lektüre hat eine Generation nach Huxleys angekündigtem Zeitraum die amerikanische Literaturkritikerin (und Biographin von Virginia Woolf und Josephine Baker) Phyllis Rose unternommen und darüber in ihrem Buch „The Year of Reading Proust“ (1997) berichtet, ohne freilich auch nur ansatzweise des geradezu hypnotischen Sog zu erreichen, den die „Recherche“ auf einen Leser – hat er sich erst einmal auf den unendlichen Fluß der seitenlangen Satzgirlanden und uferlosen Assoziationsketten eingelassen – ausüben kann. Weder läßt die Autorin an der Ausfaltung und den Reflektionen, die die Lektüre in ihr auslöst, teilhaben, noch wird so recht deutlich, welches Interesse die Abschilderung eines ziemlich ereignislosen Akademikeralltags in der Upper Middle Class an der amerikanischen Ostküste Mitte der 1990er Jahre einen solchen Eigenwert gewinnen soll, wie ihn die geradezu bengalisch ausgeleuchtete Wiedererschaffung eines unwiederbringlich versunkenen Milieus in der „Recherche“ darstellt. Prousts ganzes Ziel ist es, eine Methode zu finden, diesen „Palast der Erinnerungen“ ein für allemal, immer wiederauffindbar, vor dem Zugriff der Zeit zu retten – und dieses Verfahren sind eben jene sieben Bände, die sein Protagonist Marcel im letzten Drittel des letzten Bandes fiederhaft niederzuschreiben beginnt.

Phyllis Rose beläßt es dabei, im ersten Kapitel ihres Buchs zu erklären, daß es ihr endlich gelungen ist, die als schmerzlich empfundene Bildungslücke, mit dem Oeuvre Prousts nicht anfangen zu können, hinter sich zu lassen – und im letzten Kapitel zu erklären, daß ihr Prousts Verfahren, das jede Metapher, jede Anspielung als Anlaß dienen kann,

„daß wie bei den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanflasche kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Figuren werden – ebenso steigen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorfe und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse.“ (Ich zitiere die Madeleine-Episode aus dem ersten Band hier ebenfalls in der Übertragung von Eva Rechel-Mertens)


- daß ihr dieses Verfahren unverständlich bleibt. Und während Proust die Mileus der Guermantes und der Verdurins wie mit einem Skalpell seziert, dient Frau Rose das, was sie glaubt, als das Proustsche Chirurgenbesteck ausgemacht zu haben, nur zur schlichten Schilderung ihres eigenen Umfeld, von dem sie distanzlos Teil ist: von der Schwierigkeit, sich zwischen Saab und Mercedes zu entscheiden oder die richtige Tischdekoration für eine Party auszuwählen. (Der Kleine Zyniker denkt hier eher an Mrs. Dalloways heldenhaften Entschluß in Virginia Woolfs Roman, selbst einen Blumenstrauß einzukaufen, statt einen Domestiken damit zu beauftragen.) Bei Phyllis Rose heißt es:

“Proust hatte mir die Gesetze aufgezeigt, die diesem Geschehen zugrundlagen. Wie ein Marxist, der sich einbildet, daß man den Verlauf der Geschichte vorhersagen kann, wenn man sie wirklich versteht, und sich über die anderen erhebt, weil sie diese Gesetze nicht kennen und sie deshalb dazu verdammt sind, sie zu wiederholen, wie der Freudianer, der über den menschlichen Verirrungen steht, weil er weiß, wie sie zustandekommen – so fühlte ich mich privilegiert, befreit, als Herr über das Leben, das ich beobachtete. Ich hatte einen Schlüssel erhalten, ein kostenloses Abonnement für einen Kabelfernsehkanal, der bislang verschlüsselt gewesen war und jetzt statt der verzerrten wogenden Schleier ein klares, deutliches Bild annahm.“


Der Kleine Zyniker (TM) gibt zu bedenken, daß die Lehrgebäude von Karl Marx und Sigmund Freud eines gemeinsam haben: es handelt sich bei ihnen um Irrlehren. Weder erklärt Marx den Gang der Geschichte, noch bildet die Freudsche Psychoanalyse die psychischen Vorgänge, die den menschlichen Geist ausmachen, nur ansatzweise korrekt ab. Es mag sein, daß Frau Rose diese Passage ironisch gemeint hat- aber das würde bedeuten, daß sie ihr ganzes Vorhaben entwertet.

„The Year of Reading Proust” ist wohl der erste Buchtitel in einer Reihe vergleichbarer Benennungen, die in den nächsten 15 bis 20 Jahren gefolgt sind – interessanterweise nur auf dem US-amerikanischen Buchmarkt: „Das Jahr des ….“, gefolgt von der Nennung einer Tätigkeit. Am bekanntesten (und gehaltvollsten) dürfte hier Joan Didions „The Year of Magical Thinking“ (2005) sein, in dem die Autorin versucht, mit Hilfe des Schreibens über den Tod ihres Mannes und ihrer Tochter hinwegzukommen). Ansonsten ist bei diesen Titeln eine seltsame und durchaus befremdend wirkende Melange aus narzisstischer Selbstsucht und schlicht-saloppem Lebensratgeber nicht zu übersehen – etwa bei Maria Dahvana Headleys „The Year of Yes“ (2006) und dem gleich betitelten „The Year of Yes“ (2015) von Shonda Rhimes (beide Autorinnen lassen sich auf das „Abenteuer“ ein, ein Jahr lang unbesehen jede Einladung zum Essen anzunehmen), „The Year of Living Danishly“ (Helen Russell, 2016), „The Year of Living Aimlessly“ (Steve Myhill, 2002), „A Year of Living Simply: The Joys of a Life Less Complicated“ (Kate Humble, 2020), „A Yaar of Inspired Living“ (Kelly Martinsen, 2017), „The Year of Living Danishly“ (Helen Russell, 2016*), „A Year of Doing Good“ (Judith O’Reilly, 2012), „The Year of Living Biblically“ (A. J. Jacob, 2007), „Climbing the Stairway to Heaven: A Year of Living Ecstastically” (Martin Avery, 2010) und “The Year of Living Like Jesus” (Edward G. Dobson, 2009). Sollte der Leser angesichts solcher „geistiger Sparappelle“ eine ähnliche Magenverstimmung verspüren wie Aldous Huxley angesichts der Bestseller seiner Zeit, so ist dies durchaus beabsichtigt. Sue Townsends „The Woman Who Went to Bed for a Year” (2012) darf durchaus als Parodie auf diesen Trend gewertet werden.

(* wem angesichts dieses Buchs, das den Untertitel „Uncovering the Secrets of the World’s Happiest Country“ trägt, „smørrebrød, smørrebrød, rømpømpømpøm…“ eingefallen ist, der sei daran erinnert, daß der dänische Koch in der Muppetshow im Original ein „alter Schwede“ ist.)







U.E.

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