Das Vorhaben selbst hatte Fein ausgeheckt, aber die Details, die zur Umsetzung nötig waren, und die gesamte Ausführung gingen auf mein Konto. Ich weiß nicht, wie lange er schon daran getüftelt hatte, aber im Frühjahr 1954 teilte er mir seinen Plan in groben Umrissen mit. Ich machte ihn auf ein paar Fehler aufmerksam, besserte nach, machte die Chose rund und erklärte ihm, daß ich mit der ganzen Sache nichts zu tun haben wollte. Dann änderte ich meine Meinung, als er damit drohte, gewisse Unregelmäßigkeiten, die ich mir vor Jahren erlaubt hatte, weiterzuerzählen.
Dafür war es notwendig, daß ich für einige Monate nach Europa reiste, um Nachforschungen anzustellen, die sich auf unser Projekt bezogen. Ich kam mit einer Menge schriftlicher Notizen, alten Zeitungsberichten und Kopien von wichtigen Dokumenten zurück, sowie mit einem kurzen Interview mit diesem alten Wiener Professor, der von den Zeitungslesern wie ein Gott verehrt wird. Meine Unterlagen hatten ihn davon überzeugt, daß es in seinem Interesse war, unsere Sache zu unterstützen.
Sie wissen alle, was als nächstes passierte: die Rede des Professors, die ihm Radio gesendet wurde. Fein hatte den ersten Entwurf dafür gemacht, ich hatte sie umgeschrieben und dem Professor erklärt, er möchte bitte beim Vorlesen mit betont deutschem Akzent sprechen. Ein paar Wendungen waren herrlich: „…die Vorherrschaft Amerikas über die Planetenwelt! – der Schleier der Geheimnisse endlich gelüftet – der Sieg über die Schwerkraft – die Eroberung des Alls – das ruhmreiche Banner in Rot, Weiß und Blau auf dem Mars aufgepflanzt …“
Die erbetenen Spenden strömten herein; Zeitungen und Illustrierte stellten Schecks über tausende von Dollars in Quadratmetergröße aus; die Regierung legte netterweise eine halbe Million drauf, eine „Raketenförderwoche,“ die an den Schulen abgehalten wurde, brachte mächtig Zaster ein, aber der Löwenanteil entfiel auf Einzelspenden. Wir sackten sieben Millionen ein, und machten uns ans Werk, das Raumschiff zu bauen.
Beim Virginium, das das meiste Geld verschlang, handelte es sich um Weißblech, das „einatomige Flour,“ mit dem wir unsere wahnwitzige Beschleunigung erzielten, war Wasserstoff. Der Start war eine zünftige Show, die wir für die Wochenschauen abzogen: das große, schimmernde Geschoss mit seinen Tragflächen und den Heckflossen, mit der Ansprache des Professors und Farley, der sie zum Mars fliegen sollte und in die Kameras winkte. Er kletterte an der Außenleiter zur Spitze und stieg durch die Luke in die Pilotenkanzel. Ich schraubte die dicke, schalldichte Tür zu und mußte grinsen, als er anfing, von innen dagegen zu hämmern, als er feststellte, daß dort keine Instrumente vorhanden waren wie bei dem Simulator, in dem er die letzten Wochen geübt hatte.
Ich wies die Herren von der Presse an, unter das Schutzdach zurückzutreten und übergab dem Professor den Trennschalter, der die Rakete starten würde. Er zögerte, zu lange. „Denken Sie an Anna Pareloff aus Krakau, Herr Professor!“ zischte ihm Fein zu.
Die drei Kontakte rasteten ein. Das Projektil schoß in einer wackligen Flugbahn ein paar hundert Meter in die Luft – und explodierte.
Ein Photograph, der auf einen besonders eindrucksvollen Schnappschuß gehofft hatte, kam ums Leben, ebenso ein paar Jungen aus der Nachbarschaft. Der Rest von uns wurde durch das Stahldach geschützt. Fein und ich schüttelten uns die Hände, während die Pressefritzen in die Telephone brüllten, die wir für sie besorgt hatten.
Aber der Professor war angewidert von der Rolle, die er dabei gespielt hatte; er betrank sich, erzählte der Presse alles und nahm eine Überdosis Rattengift. Fein und ich verzichteten auf die Knete und machten uns mit dem nächsten Güterzug aus dem Staub. Gestellt wurden wir von einer Bürgerwehr, die von einem Kerl angeführt wurde, der fünfzig Cent bei der Sache verloren hatte. Fein hatte zuviel Bammel, als daß er noch einen Satz reden oder aufschreiben konnte – also haben sie ihn zuerst gehängt und mir Stift und Papier gegeben, damit ich das hier aufschreibe, so gut ich kann.
Da kommen sie – und der Strick, den sie dabeihaben, ist so dick, daß es eine Beleidigung ist.
I.
Seit dem Anfang der fünfziger Jahre, als die Science Fiction das Stadium der „Pulp-Magazine“ hinter sich ließ und mit den neuen Magazinen im Readers-Digest-Format wie „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“ (ab Herbst 1949) und „Galaxy Science Fiction“ (ab dem Oktober 1950) eine neue, gewissermaßen selbstreflektierte Qualität erreichte, diente das Medium einer ganzen Reihe von Autoren nicht nur wie bislang zum Erzählen von Abenteuergeschichten in den Weiten von Raum und Zeit und zum Spiel mit den Versatzstücken des Genres, sondern auch als Medium der Zeitsatire und der Kritik an (wirklichen oder vermeintlichen) Mißständen, von mildem Klamauk über „militärischen Kadavergehorsam und bürokratischem Irrsinn,“ die etwa Eric Frank Russell (1904-1978) zu seinem Spezialgebiet gemacht hatte, den absurden Komödien, wie sie Robert Scheckley (1928-2006) und Philip K. Dick (1928-1982) in seinem Frühwerk pflegten, bis hin zur grell übersteigerten Groteske, wie sie die frühen (und nicht nur die frühen) Texte von Kurt Vonnegut auszeichnet, in der der absurde Klamauk nicht selten zum Selbstzweck wird. (Douglas Adams hat eine Autorengeneration später diese Technik in den vier oder fünf Bänden der Trilogie „Per Anhalter durch die Galaxis“ auf die Spitze getrieben). Frederik Pohl hat sich später, in den 60er und 70er Jahren, sogar zu der Aussage verstiegen, in jenen „muffigen Zeiten,“ im Zeichen der „Kommunistenjagd“ einer Joe McCarthy und der „schwarzen Listen“ in Hollywood, sei die Science Fiction der einzige Bereich gewesen, in dem solche radikale, subversive Kritik überhaupt möglich gewesen sei. (Pohls Urteil zeugt von einem bemerkenswerten Blindheit gegenüber dem, was im „Mainstream,“ im „Hauptstrom“ der US-amerikanischen Literatur zwischen den späten 1940er Jahren und dem Beginn der Beatnik-Ära veröffentlicht und beachtet wurde – angefangen von Norman Mailers „Die Nackten und die Toten“ über „Der Hirschpark“ bis hin zu Arthur Millers „Hexenjagd“ – aber eine solche Blindheit ist bis heute überaus typisch für Genreautoren geblieben.)
Aber es gab auch Vorläufer. Dazu gehörte der literarische Klüngel aus jungen, begeisterten SF-Lesern, die sich Ende der dreißiger Jahre in der Szene in New York zu sammeln begannen und sich den Namen „Futurians“ gaben – und von denen nicht wenige ab Anfang der 50er Jahre zu den ausschlaggebenden Autoren, Herausgebern und Kritikern in diesem Metier aufstiegen: Donald A. Wollheim, der schon genannte Fred Pohl (ab 1959 Herausgeber von „Galaxy“), James Blish, Damon Knight, der eher unbekannt geblieben Richard Wilson und der gänzlich namenlos gebliebene John Michel, sowie Judith Merril, die ab Ende der fünfziger Jahre die erste weit verbreitete jährliche Blütenlese aus den Magazinveröffentlichungen des vorigen Jahres herausgab. (Die Jahresbände der „Best S.F. of the Year,“ die Ted Dikty und Everett Bleiler ab 1949 bei Verlag Frederick Fell herausbrachten, waren in ihrer Verbreitung hauptsächlich auf den „harten Kern“ der sowieso schon angefixten Genreleserschaft beschränkt). Auch Isaac Asimov zählte in seinen ersten Jahren als Autor zum Umkreis dieser Gruppe.
Donald A. Wollheim, 1914 geboren, war der Älteste dieses Cercles. Gemeinsam war ihnen allen, daß sie, vom Zeitgeist der dreißiger Jahre und von den Jahren der Weltwirtschaftskrise geprägt und von den Lebensumständen zutiefst enttäuscht, zum politischen Radikalismus neigten – bei Wollheim und Michel reichte es für eine Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei. Zusammen mit der notorischen Streitsucht, die SF-Fans bis heute an den Tag legen und die in unschöner Regelmäßigkeit sektenhafte Züge anzunehmen droht, haben die Händel und Zerwürfnisse in der kleinen New Yorker Szene jener Jahre für böses Blut gesorgt, das noch auf Jahre hinaus wirkte.
Bei Cyril M. Kornbluth, am 2. Juli 1923 in der Bronx geboren und der Jüngste des Zirkels, führte die radikale Ablehnung alles Bürgerlichen, Wohlhäbigen, „Spießigen“ zu einem zutiefst sardonischen Zynismus, der sich in vielen seiner Texte niedergeschlagen hat (man tut ihm nicht Unrecht mit der Vermutung, daß es dieser grundsätzliche Zynismus war, der verhinderte, den Sirenentönen der sozialistischen heilsversprechen auch nur eine Sekunde lang Glauben zu schenken.) Kornbluths Erzählung „The Marching Morons“ aus dem Jahr 1951 stellte für die SF jener Jahre das dar, was der Film „Idiocracy“ von 2006 für das Publikum nach der Jahrtausendwende darstellt. Und wenn man Kornbluths Zukunftsentwurf, in der die Menschheit über Jahrhunderte zum Zweck planmäßiger Käfighaltung mit Vorbehalt auf das Niveau „geistig Herausgeforderter“ herabgedimmt worden ist, dann beschleicht einen der Verdacht, daß Regisseur Mike Judge und sein Koautor Etan Cohen sich recht gut mit Kornbluths Vorlage befaßt haben.
Die „große Stunde“ für die Futurians kam 1940, als der Verlag Popular Publications Anfang des Jahres 1940, noch zu den Boomzeiten nach dem endgültigen Ende der Weltwirtschaftskrise 1937, als sich der Kriegseintritt der Vereinigten Staaten noch nicht abzeichnete, beschloß an dem boomenden Markt für phantastische Leserstoffe einzusteigen. Magazine wie „Unknown Worlds“ und „Famous Fantastic Mysteries,” bei zuerst 1939 auf den Markt gekommen, hatten neben „Planet Stories“ (ebenfalls ab 1939) und „Thrilling Wonder Stories“ gezeigt, daß es hier eine – möglicherweise lukrative – Marktlücke gab. Auch die ersten Superheldencomics – mit Superman (erstes Auftreten in „Action Comics“ im April 1938) und dem Fledermausmann aus Gotham City (Debüt im März 1939 in „Detective Comics“) – wiesen in diese Richtung. Popular Publications brachten zu ihren Hochzeiten gut 40 Magazine auf den Markt und waren damit eins der größten Pulp-Verlagshäuser, aber ihre Spektrum beschränkte sich auf „das Übliche“: Liebesschmonzetten, Western, Kriminalgeschichten. Um das Wasser zu testen, wurden die neuen Magazine „Astonishing Stories,“ Super Science Stories,“ Stirring Science Stories,“ und „Cosmic Stories“ mit einem minimalen Budget lanciert, von denen „Super Science Stories“ noch am „üppigsten“ dotiert war. Herausgeber Pohl war immerhin in der Lage, seinen Beiträgern einen Viertel Cent pro Wort zu zahlen (die übliche Rate bei solchen Groschenheften belief sich in jenen Jahren auf einen Cent), und für Titelgeschichten sogar einen halben Cent. Auch die optische Aufmachung fiel entsprechend dürftig und amateurhaft aus. Eine der Folgen war, daß der Inhalt dieser Hefte zumeist von den Mitgliedern der „Futurians“ selbst in Akkordarbeit verfaßt wurden, ohne großen Anspruch und unter einer Vielzahl von Pseudonymen. (Die Erzählungen „Lost Legacy“ und „Let There Be Light,“ die in „Super Science Stories” erschienen, waren von John. W. Campbell, dem Herausgeber von „Astounding“ und „Unknown,“ abgelehnt worden, weil Campbell genug Material seines neuen Starautors Robert A. Heinlein angekauft hatte, um auf 18 Monate einen neuen Text von ihm drucken zu können.) Die Papierrationierung nach dem Kriegsantritt machte den Magazinen bald den Garaus, am längsten hielten sich „Super Science Stories,“ dessen 16. Ausgabe im Mai 1943 erschien, und „Astonishing Stories,“ das es bis zum April des gleichen Jahren auf ebenfalls 16 Ausgaben brachte.
„The Rocket of 1955” war die erste Erzählung, die Kornbluth überhaupt veröffentlicht hat; zuerst erschien sie in der zweiten Nummer von Richard Wilsons hektographiertem Fanzine „Escape“ im August 1939, einen Monat nach Kornbluths 16. Geburtag, die erste „professionelle“ Veröffentlichung erfolgte in April 1941 in „Stirring Science Stories“; die erste Buchveröffentlichung erfolgte 1954 in der Sammlung „The Explorers“ als Taschenbuch im Verlag Ballantine Books.
Anders als einigen seiner Kollegen aus dem Zirkel der Futurians ist es Kornbluth nicht beschieden gewesen, ein hohes Alter zu erreichen (Fred Pohl starb 2013 im Alter von 93 Jahren; Damon Knight 2002 mit 79). Von schwerer, massiger Statur mit einem angeborenen Herzfehler, war er zeitlebens ein starker Trinker und Raucher. Ähnliche wie Boris Vian, der ihm in vieler Hinsicht glich, schlug er die Warnungen seines Arztes, konsequent auf die Genüsse des Lebens zu verzichten, in den Wind und erlitt im Februar 1958, als er seine Garageneinfahrt freischaufeln wollte, einen Herzinfarkt. (Ironischerweise war im in der Woche zuvor der Posten des Herausgebers von „The Magazine of Fantasy and Science Fiction“ angeboten worden, nachdem der Co-Herausgeber Robert P. Mills seinen Abschied genommen hatte.)
II.
Es ist ein müßiges Spiel, solche in die Zukunft fabulierten Texte aus der Distanz von 70, 80 oder mehr Jahren mit der aktuellen Wirklichkeit des 21. Jahrhunderts abgleichen zu wollen – nach der Devise „Read It Today – Live It Tomorrow!“ - wie der Untertitel für die letzten sechs Ausgaben von „Super Science Stories“ lautete, nachdem sich Popular Publications 1948 entschlossen hatten, das Magazin nach fünf Jahren Pause fortzusetzen – diesmal unter der Herausgeberschaft von Eijler P. Jacobson (der literarische Agent, der die meisten Titel seiner Klienten an das Magazin verkaufte, war ein gewisser Frederik Pohl). Eine gewisse gespenstische Ironie findet sich hier auf dem Titelbild der vorletzten Ausgabe von Juni 1951, das H. R. Van Dongen für Poul Andersons Novelle „Earthman, Beware!“ gemalt hat. Über den Straßenschluchten einer Metropole, die aufgrund des Empire State Buildings sofort als Manhattan zu erkennen ist, schweben futuristisch anmutende Flugmaschinen, die offenkundig mit einer Art von Todesstrahlen (das Wort „Laser“ war zur dieser Zeit noch nicht gebildet) Tod und Vernichtung sähen; Rauch und Flammen hüllen die Wolkenkratzerfassaden ein und steigen als flammendes Fanal in die Höhe. Ein halbes Jahrhundert später, im Herbst 2001, bekam das darüberstehende Motto eine höchst bedenkliche Einfärbung (oder hätte sie erhalten, wenn sich jemand noch daran erinnert hätte.)
Insofern hat es auch nichts mit Kornbluths kleiner Erzählung zu tun, daß gestern Virgin Orbit, das private Raumfahrtunternehmen des englischen Milliardärs Richard Branson, ein Zweiunternehmen der 2004 geründeten Firma Virgin Galactic, offiziell Bankrott angemeldet hat. Virgin Orbit, 2017 gegründet, war in Zahlungsschwierigkeiten geraten, nachdem am 9. Januar 2023 über der irischen See der Start der Rakete Launcher One von einer umgebauten Boeing-747 mit dem Namen „Cosmic Girl“ fehlgeschlagen ist. Seit Mai 2020 hat Virgin Orbit insgesamt 6 Starts der gut 21 Meter langen zweistufigen Rakete durchgeführt; vom Januar 2021 bis zum Juli 2022 sind bei 4 erfolgreichen Starts insgesamt 28 Kleinere Satelliten in die erdnahe Umlaufbahn befördert worden. Die Startmethode glich dabei dem Vorgehen bei Flug der Bell X-1, dem raketengetriebenen Flugzeug, mit dem Chuck Yeager im Juli 1947 als erster Pilot die Schallmauer durchbrach, oder der X-15, ebenfalls raketengetrieben, mit der Piloten der US Air Force zwischen 1958 und 1968 Höhen bis zu 104 Kilometern erreicht haben: in beiden Fällen hingen die Flugzeuge unter der Tragfläche einer B-17 „Flying Fortress“ und wurden in mehreren Kilometern Höhe ausgeklinkt. Im Fall von „Start Me Up“ (dem „offiziellen Namen,“ der der Mission im Januar gegeben worden ist) erfolgte der Abwurf der Rakete in gut 12 Kilometern Höhe. Der Brennverlauf der ersten Stufe verlief einwandfrei; erst einige Zeit nach der Stufentrennung kam es bei der zweiten Stufe kam es zu einem „Zwischenfall,“ als eine zu einem vorzeitigen Brennschluß kam, während die Stufe mit ihrer Nutzlast von neun Kleinsatelliten in gut 180 km eine Geschwindigkeit von 17.000 km/h erreicht hatte – nicht genug zum Erreichen der Kreisbahngeschwindigkeit. 40 Minuten später verglühten die Satelliten bei Wiedereintritt in die Atmosphäre über Teneriffa.
Zwei Dinge bleiben dem kleinen Zyniker – der in Kornbluth eine gewisse Wesensgleichheit wahrnimmt – anzumerken: vielleicht wäre es ratsamer von der Begleitung der Medien – insbesondere der BBC – gewesen, den Ball „etwas flacher zu halten“ und nicht in einem fort vom „ersten Weltraumstart in Europa“ zu schwärmen und dazu gefühlt mehr als ein Dutzend Mal den Hit der Rolling Stones aus dem Jahr 1981 zu spielen, der der Mission den Namen gegeben hat – eine Refrainzeile wie „If you start me up – I’ll never stop!“ könnte Höheren Mächten leicht Anlaß zu einem „Topp: die Wette gilt!“ sein. Und wenn Mick Jagger weiter singt. "I've been running hot /You got me wrecking - gonna blow my top" – dann ist das schon eine dreiste Herausforderung an das Kismet.
Zum zweiten scheint „Ärger mit der zweiten Stufe“ der gemeinsame Nenner bei den fehlgeschlagenen Startversuchen der letzten vier Monate zu sein. Es begann am 14. Dezember 2022 mit dem Erststart der Zhuque-2-Rakete des privaten chinesischen Raumfahrtunternehmens LandSpace. (2015 in Beijing als 蓝箭航天空间科技有限公司 gegründet – die als erste Rakete als Treibstoff statt des üblichen Wasserstoffs oder eines speziellen Kerosingemisches Methan verwendete. Nachdem auch hier die erste Stufe einwandfrei funktioniert hatte, kam es in 400 km Höhe beim Abschalten des Hauptriebwerks zu einem Druckstoß, der die Auslegung der Wandstärke der Hauptpumpe in der Zuleitung für flüssigen Sauerstoff führte, was einen Burch des Pumpengehäuses zur Folge hatte. Am 7. März kam es nach dem Erststart der japanischen H3-Trägerrakete vom Raumfahrtzentrum Tanegashima ebenfalls nach einem einwandfreien Verlauf von Zündung und Brennschluß der Startstufe zu einem Versagen der zweiten Stufe, als deren Treibwerk nach der Stufentrennung fünfeinhalb Minuten nach dem Start nicht zündete. Die H3 wird seit 2013 von der japanischen Raumfahrtbehörde JAXA entwickelt, um die seit 1994 im Einsatz befindliche H-II zu ersetzen, die bislang mehr als 50 Satelliten in die Umlaufbahn gebracht hat. Das Leistungsprofil der H-3 ist dem der H-II vergleichbar, daber die Kosten für einen Start sinken beim neuen Modell von umgerechnet 100 Millionen US-Dollar auf 50 Millionen. Und vor zwei Wochen, am 23. März, scheiterte der Erstflug der größtenteils im 3-D-Druckverfahren gefertigten zweistufigen Terran 1-Rakete des amerikanischen Unternehmens Relativity Space von der Startrampe 16 in Cape Canaveral ebenfalls, als das Triebwerk der zweiten Stufe 2 Minuten und 45 Sekunden nach dem Abheben und der Stufentrennung nicht zündete. (im Fall von Relativity Space war aber das erfolgreiche Erreichen der Umlaufbahn nicht das Ziel gewesen – vielmehr ging es darum, zu zeigen, daß eine Rakete, deren Tanks und Leitungen im Schweißverfahren auf schmalen Drähten einer speziellen Aluminiumlegierung gefertigt sind, nicht aus massiven Werkstücken, die höchsten Belastungen, die bei Beschleunigen durch die unteren Schichten der Atmosphäre auftreten (dem sogenannten MaxQ in 12 bis 14 Kilometern Höhe) gewachsen ist. Entsprechend hat Relativity Space diesen Flug als vollen Erfolg gewertet.
Daß es bei Erststarts neu entwickelter Raketen zu Fehlschlägen kommt, ist nichts ungewöhnliches. Das Zusammenwirken aller Komponenten im Streßtest des Einsatzes „im Feld“ läßt sich nur unzureichend im Vorfeld, bei den Betankungen und dem Zünden der Triebwerke auf dem Testgelände durchspielen. Im Fall von Relativity Space hatten die Betreiber gehofft, ganz gegen die bisherigen Erfahrungen einen „Hattrick“ von vollen drei bislang nicht geknackte Marken, zu erzielen: den ersten erfolgreichen Start einer mit Methan betriebenen Rakete, den ersten Start einer gedruckten Rakete, und den ersten erfolgreichen Start eine Flüssigkeitsrakete im ersten Anlauf.
Daß zumindest das Prinzip so funktioniert, wie es sich Firmengründer Tim Ellis und seine Mitstreiter gedacht haben, ist nicht abzustreiten. Im Fall von Virgin Orbit liegt der Fall allerdings ein klein wenig anders. Die Launcher 1 ist für einen Preis von gut 40 Millionen Dollar pro Start kalkuliert (statt der 12 Millionen im Fall von Relativity Space) und spielt damit etwa unterhalb der Liga der Falcon 9 von SpaceX – allerdings transportiert die F9 bei jedem Abheben die zehnfache Nutzmenge in den Erdorbit. Von diesem Kalkül her – zu dem noch hinzu kommt, daß Space X mittlerweile weit mehr als 160 Starts ohne jeden Zwischenfall absolviert hat, liegt es auf der Hand, daß Bransons Geschäftsmodell auf dem hart umkämpften Mark für private Satellitenstarts schlicht schon seit Jahren ohne jede reelle Chance war. Es ist deshalb nur folgerichtig, daß er sich seit Ende Januar geweigert hat, seine Firma mit weiteren finanziellen Mitteln zu unterstützen – und daß sich in den vergangenen drei Monaten kein anderer Investor gefunden hat, der bereit ist, dieses Risiko zu übernehmen. Alledrings dürfte damit auch das Schicksal des "Raumflughafens von Cornwall" besiegelt sein; Virgin Orbit der der einzige prospektive Anbieter, der Pläne verfolgt hat, eine der Startbahnen für seine fliegende Sartplattorm zu nützen.
III.
Im Rückblick ist es frappierend, um wie viel leichtes genau dieses Schicksal auch die Firma von Elon Musk, SpaceX, das erfolgreichste Weltraumfahrtunternehmen überhaupt, hätte treffen können. Musk hat SpaceX vor 21 Jahren, im März 2002, als recht bescheidenes Hinterhofunternehmen gegründet. Die ersten fünf Starts der ersten Rakete, die das Unternehmen entwickelt hat, der zweistufigen Falcon 1,sind vom Atoll Kwajalein mitten im Pazifik, wo die US Air Force einen Luftstützpunkt unterhält, erfolgt. Die Entwicklungskosten der Falcon 1 betrugen rund 100 Millionen Dollar. Die drei ersten Starts, die 2005, 2006 und 2008 erfolgten, endeten sämtlich als Fehlschlag. Zudem geriet Musk in jenem letzten Jahr sowohl mit seiner Firma Tesla als auch dem zwei Jahre vorher lancierten Projekt SolarCity in massive finanzielle Schwierigkeiten, sodaß keine Bank mehr bereit war, ihm für weitere Abenteuer einen Kredit zu gewähren. Der vierte Start einer Falcon 1 im September 2008 war die letzte Karte, die der Weltraumpionier Musk ausspielen konnte. Wäre der Start des 160 kg schweren funktionsunfähigen Satelliten von der Startrampe auf der Insel Omelek vor 14 Jahren gescheitet, dann gäbe es heute kein Netz von Starlink-Satelliten, dann wäre vor 13 Monaten die gesamte militärische Kommunikation in der Ukraine von den russischen Invasionstruppen ausgeschaltet worden – und die USA hätten keinerlei Möglichkeit, aus eigener Kraft Raumfahrer aus der westlichen Welt zur Internationalen Raumstation zu bringen.
Es sind solche Perspektiven, die einem erst einmal wieder die Rolle des glücklichen Zufalls in solchen Angelegenheiten schlagend vor Augen führen.
Zum Schluß kann ich nur betonen, daß es natürlich nichts mit dem Ende von Virgin Orbit zu tun hat, daß mir heute spontan der kleine, 83 Jahre alte Text in den Sinn kann. Auf solch eine Idee könnte nur ein böser Zyniker vom Schlag eines Cyril Kornbluth verfallen.
U.E.
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