10. März 2023

"Der Mann, der Fliegen haßte" - Zum 150 Geburtstag von J. D. Beresford



Seine Frau macht sich über seine einzige Schwäche lustig. Alle seine geduldigen, streng wissenschaftlichen Erklärungen über den Schaden, den Fliegen anrichten und die Krankheiten, die sie verbreiten, konnte sie nicht davon überzeugen, daß es sich hier um mehr als nur seiner Exzentrizitäten handelte. Sie gehörte zu denen Frauen, die nichts von der Wissenschaft halten, obwohl ihr Gatte von Beruf Wissenschaftler war und es in einigen Jahren mit Sicherheit zu einer Berühmtheit bringen würde, denn er konnte ganz und gar in seiner Arbeit aufgehen. Sein ansehnliches Vermögen erlaubte es ihm, sich ganz dieser Arbeit zu widmen, was er auch zwölf Stunden am Tag tat.

„Du bist viel zu sehr darauf aus, die Welt zu verbessern,“ sagte Madame Aumonier oft zu ihrem Mann. „Mir gefällt sie so, wie sie ist. Und was die Fliegen betrifft, die dich so stören, kannst du sicher sein, daß die Versehung bestimmt aus einem guten Grund geschaffen hat. Kümmere dich einfach nicht mehr darum.“

„Das kann ich nicht,“ sagte Professor Aumonier in solchen Fällen. „Ich kann sie nicht ertragen.“

In seinem Labor war er vor ihnen sicher; er sorgte mit geradezu wissenschaftliche Akribie dafür, daß sie keinen Zugang fanden. Aber sieben oder acht Monate im Jahr vergällten sie ihm den Rest seiner Tage, und er beklagte sich, daß es seiner Gesundheit abträglich war und seine Arbeit darunter litt.

Wenn er zum Mittagessen kam, immer noch ganz auf seine Arbeit konzentriert, wurde ihm die Anwesenheit seiner Peiniger bewußt. Oft war die Mütze, die er die meiste Zeit im Haus trug, verlegt (er hatte seit zehn Jahren eine Glatze, obwohl er erst siebenunddreißig war), und sein weißer runder Schädel schien die Fliegen unwiderstehlich anzuziehen. Selbst wenn er ihn bedeckte, fand er keine Ruhe. Die Viecher setzten sich auf Gesicht und Hände, oder begannen dicht vor seinen Ohren unter lautem Brummen mit wilden Luftkämpfen. Ihre Dummheit konnte einen zur Verzweiflung treiben, sie ließen sich vom wilden Gefuchtel mit dem Taschentuch in keiner Weise beeindrucken, sie mißachteten seine Würde, sie waren frech und schienen seine Wut nicht einmal wahrzunehmen.

­ Er ließ sich Fliegengitterrahmen für die Fenster schreinern, aber Mme. Aumonier hing sie dauernd ab, um die Zimmer zu lüften. Sie wohnten in der Nähe von Avignon, und im Sommer war es sehr heiß. Es war auch eine hervorragende Gegen für Fliegen – für alle Arten von Fliegen.

Ihr einziges Kind, Bertrand, ein ruhiger, aufgeweckter Sohn von sieben Jahren, der in der Schule gute Leistungen zeigte, verfolgte die vergeblichen Kämpfe seines Vaters mit gelassenem Blick. Und er war es, der eines Tages den scharfen Verstand von Professor Albert Aumonier zu jenen Forschungen anregte, die solche gewaltigen und unvorhergesehenen Folgen für die Zukunft der Welt haben sollten.

„Vater, wenn du meinst, daß sie so schädlich sind,“ bemerkte das Kind eines Tages, nachdem es aufmerksam zugehört hatte, wie der Professor seiner nachlässigen Frau einen geharnischten Vortrag gehalten hatte, die am jenem Morgen alle Fliegengitter abgehängt hatte, in dem merkwürdigen Wahn, „Hausputz machen zu müssen“ - „warum erfindest du nicht etwas, das sie alle umbringt?“

In seiner Unschuld stellte er sich wahrscheinlich wie eine riesige Fliegenfalle vor, aber die kindische Bemerkung brachte den scharfen Verstand des Professors auf eine neue Idee.

Jetzt zuckte er erst einmal die Achseln uns sagte: „Wenn ich das nur könnte, mein Kleiner;“ und erging sich danach in Betrachtungen und die Trägheit und Gleichgültigkeit der Welt. Er erklärte – er hatte es schon so oft gesagt, daß seine Frau nicht einmal mehr so tat, als ob sie ihm zuhören würde – wenn man die Menschheit zu einem gemeinsamen Aktion anregen könnte, dann wäre die Aufgabe lösbar. Man müßte nur einige Jahre lang akribisch alle Abfälle beseitigen und Fäulnis vermeiden, Pfützen und stehende Gewässer beseitigen und das Wasser aufzubereiten, und wenn die meisten Leute sich dabei nur ein wenig Mühe geben würden, könnten Fliegen- und Mückenplagen erheblich verringert oder vielleicht sogar völlig beseitigt werden. „Aber die Masse der Menschen ist gleichgültig, sogar gegenüber dem eigenen Wohlergehen,“ schloß er mit einem Seitenblick auf seine frau.

Trotzdem fiel ihm an jenem Nachmittag diese Bemerkung seines kleinen Sohns wieder ein, setzte sich hartnäckig fest und lenkte fast so sehr von der Arbeit ab wie der Fliegen selbst.

In jenem Jahr war der Sommer besonders unerträglich. Mit dem Juni begann eine regelrechte Insektenplage, und das Wetter, die Fliegen und die so entstehende Notwendigkeit, sich dieses Problems anzunehmen, drängten sich Aumonier immer stärker auf.

Als sie im August die Ferien in der Normandie verbrachten, wurde es nicht besser, sondern schlimmer, denn er konnte sich nicht in sein Labor flüchten und ihm fehlte die Ablenkung durch seine Arbeit. Er versuchte, das Problem beiseitezuschieben, weil es eindeutig nicht zu seinem Fachgebiet gehörte Er war praktischer Chemiker und beschäftigte sich mit Molekularphysik. Und obwohl er gerne zugab, daß die Welt von der Beseitigung der Fliegen erheblich mehr Nutzen hätte als von allen Erkenntnissen, die er je über die Natur der Materie gewinnen würde, sah er darin keine Aufgabe für sich.

Aber als sie sich Anfang September auf dem Rückweg nach Avignon befanden, übernachtete er in Paris, um einen Bekannten zu besuchen, der dabei war, sich einen Namen als Biologe zu machen. Dieser Freund hörte sich mit einem Lächeln an, was Aumonier ihm vortrug, lehnte den Auftrag aber ab. Dennoch ließ er ein paar Bemerkungen fallen, die für die Zukunft der Welt entscheidend waren.

„Man müßte,“ sagte er, „eine hochinfektiöse Krankheit entdecken, von der Fliegen betroffen sind – und ihre Wirkung verstärken. Wir wissen übrigens, daß Fliegen in feuchten Sommern unter Pilzbefall leiden. Sie werden ausgezehrt und fast durchsichtig. Und mitunter werden sie von Gleichgewichtsstörungen befallen. Vielleicht ist Ihnen das schon einmal aufgefallen, Aumonier. Das wäre zumindest ein denkbarer Ansatz. Aber - “ er lächelte wieder - „das ist nichts für mich.“

Und damit wurde Aumonier klar, daß sich niemand zuständig fühlen würde, wenn er sich nicht selbst darum kümmern würde.

Er machte sich nicht sofort ans Werk. In diesem Sommer widmete er sich noch seinen eigenen Forschungen. Aber er fing an, sich auf zwei Fachgebieten einzulesen: Entomologie und Bakteriologie. Er besaß ein ausgezeichnetes Gedächtnis, er beherrschte die wichtigen europäischen Sprachen, und er las schnell.

Seine Frau lachte nur, als er ihr erklärte, was er vorhatte – schließlich betraf es ihr Vermögen nicht. „Du willst die Welt zu sehr verbessern,“ sagte sie. „Zweifellos hat die Vorsehung die Fliegen aus einem gutem Grund erschaffen.“

Es kostete Professor Aumonier fast zwanzig Jahre harter Arbeit, um sein Problem zu lösen, und die entscheidende Entdeckung verdankte er dem Zufall. Wissenschaftlich versierte Leser können seiner Forschung in allen Einzelheiten in seiner umfangreichen Arbeit mit dem bescheidenen Titel „Musca Vulgaris“ nachlesen. Auch in seinen Erinnerungen findet sich dazu viel Material. Hier sei nur ganz kurz umrissen, welche Experimente er durchführte, und daran erinnert, was er selbst nie erwähnt: die selbstlose Hingabe des Forschers – die so viele auszeichnet, die sich der Wissenschaft widmen.

Denn das erste große Opfer, das Aumonier brachte, waren die Stunden der Ruhe, die ihm sein Labor bislang geboten hatte. Diese Zuflucht, aus der jede Fliege sorgsam fortgehalten worden war, wurde ihnen jetzt zur Heimat und zur Brutstätte, in die sie eingeladen wurden, in die sogar durch jeden Köder gelockt wurden, der sich denken ließ. Kurzum, in Aumoniers Labor wimmelte es jetzt das ganz Jahr über so von Fliegen, daß es sogar seine Frau unerträglich fand.

Und dort studierte der gewissenhafte Forscher das Verhalten der Art in jeder Hinsicht und trug nebenbei einen Wissensschatz zusammen, von dem ein Henri Fabre nicht einmal träumen konnte. Um nur ein Beispiel zu nennen: er entdeckte, daß man einzelne Fliegen innerhalb enger Grenzen durchaus dazu gebracht werden können, daß sie auf bestimmte Nahrungssignale reagieren und daß sie soweit konditioniert werden können, daß sie leichte Berührungen hinnehmen.

Aber im Zentrum seiner Studien standen die Erforschung von Insektenkrankheiten, von denen er nicht weniger als neunzehn diagnostiziert und beschrieben hat. Kein Leiden entging seiner Aufmerksamkeit; die Betroffenen wurden eingefangen, markiert, in Gläsern unter Mull isoliert, ihr Zustand protokolliert und ihre Körpersekrete auf Nährböden kultiviert. Anschließend wurden gesunder Fliegen mit dem Erkrankten in Kontakt gebracht oder mit den Kulturen geimpft, bis man mit Fug und Recht sagen konnte, daß Aumonier mehr über die Krankheiten der gemeinen Stubenfliege wußte als der erfahrenste Arzt über die Leiden der Menschheit. Gibt es überhaupt ein Tor der Erkenntnis, das nicht durch die lebenslange Hingabe eines solchen Geistes aufgestoßen werden kann?

Aber bevor wir uns dem größten Erfolg des Professors zuwenden, erlauben wir uns noch eine Bemerkung. Aumonier hatte, ganz ohne das zu wollen, selber kuriert. Wo er vorher durch die Fliegen zur Verzweiflung und fast zur Raserei getrieben worden war, wurde sie ihnen gegenüber in weniger als zwölf Monaten, fast gleichgültig. Sie störten ihn nicht mehr; sie wurden auf einzigen Objekt seines Interesses. Wie man in seinen Memoiren nachlesen kann, begann er sie in den späten Jahren seiner Forschungen beinahe zu lieben. In den Wintermonaten, in denen, wie er schreibt, die Fliegen dem Menschen gegenüber zugänglicher werden, hatte er so etwas wie Lieblingsfliegen, die ihn begrüßte, wenn er das Labor betrat, Zucker von seinen Fingerkuppen aufsaugten und in seine Nähe blieben, während er arbeitete.

In seinen Erinnerungen spürt man an der Stelle, an der von der Entdeckung der langgesuchten Kultur die Rede ist, sogar so etwas wie ein leichtes Bedauern – ein fast unmerkliches Zögern, ehe er der Welt seine Entdeckung mitteilte. Vielleicht verdankt sich das nur der Gewißheit, daß ein Werk dem man zwanzig Jahre seines Lebens gewidmet hat, nun vollendet ist du der tägliche Ansporn ausbleibt, aber einige Stellen erwecken durchaus den Eindruck, daß er kurze Skrupel empfand, bevor der das Todesurteil über jede Fliege auf der Welt aussprach.

Dann um nichts weniger handelte es sich dabei. Der Bazillus, auf den er, wie er schreibt, fast zufällig gestoßen war, war für Fliegen tödlich. Keine war immun. Hinzu kam, daß die Krankheit geradezu unglaublich ansteckend wirkte. Die Inkubationszeit betrug 48 Stunden, und während diese Zeit konnten die infizierten Fliegen, die aktiv und allem Anschein nach gesund blieben, der Erreger weit verbreiten.

Drei Monate nach seiner ersten Freisetzung war die Wirksamkeit des „AA“-Erregers, wie er nach den Anfangsbuchstaben seines Entdeckers genannt wurde, ohne jeden Zweifel nachgewiesen. Auch dieser Sommer war in Südfrankreich ungewöhnlich heiß, aber im Juli gab es im Rhonetal von Lyon bis Marseille keine Fliege oder Schmeißfliege mehr zu finden.

Und Madame Aumonier, deren Gelassenheit nicht unter der Zunahme ihres Körpergewichts gelitten hatte, gehörte zu den ersten, die den Dankchoral anstimmten, der sich bald aus jedem Winkel der bewohnten Welt erhob.

“Ich muß zugeben, Albert,“ sagte sie zufrieden, „es ist doch gut, daß wir sie los sind. Das Fleisch hält sich viel länger.“

Professor Aumonier strich sich geistesabwesend über seine jetzt fliegenfreie Glatze und sah sich mit einem wehmütigen Blick um.

„Ich bin froh, daß ich Erfolg hatte, Anastasie,“ sagte er. „Aber wenn ich ehrlich bin, fehlt mir doch etwas.“

In der Biographie, die sein Sohn über seinen Vater verfaßt hat, findet sich die beiläufige Bemerkung, daß er im Alter eine Vorliebe dafür entwickelte, mit einer Feder auf der Glatze gekitzelt zu werden.

* * *

Wenn es allein die Arbeit war, die er vermißte, dann muß er in den Einladungen zu Vorträgen, die er aus der ganzen Welt erhielt, einen gewissen Ausgleich dafür gefunden haben. Die Züchtung und Verbesserung der „AA“-Kultur lag jetzt nicht mehr in seinen Händen. In jedem zivilisierten Land der Erde waren dafür Labore eingerichtet eröffnet worden, und er konnte ganz nach Belieben über seine eigene Zeit verfügen. Das tat er. Er hatte sonst nichts zu tun, und der Gedanke, die Welt zu bereisen, sagte ihm zu.

Es befand sich in Chicago, als ihn die ersten beunruhigenden Hinweise auf Probleme aus Europa erreichten. Es war nur ein einziger Absatz in einem Bericht der Londoner „Times,“ in dem die Symptome einer neuen Krankheit beschrieben wurden, die sich unter den Bienen in England und Frankreich ausbreitete. Aumonier ahnte sofort, daß diese Bienen nicht gegen eine Form des „AA“-Erregers immun waren.

Er dachte ein paar Minuten darüber nach und zuckte dann die Achseln. Schließlich hatte jede bahnbrechende Entdeckung stets ein paar Nebenwirkungen. Und in dem Vortrag, den er am Abend hielt, erwähnte er diese neue Entwicklung mit keinem Wort. Er genoß den begeisterten Empfang, den Amerika ihm bereitete, eine Begeisterung, die sich noch weiter steigerte, als bekannt wurde, daß die Asoniersche Krankheit auch Moskitos befiel. Wie der New York Herald berichtete, waren in den Südstaaten die Frauen damit beschäftigt, Moskitovorhänge zu anderen Zwecken umzuschneidern.

Er hielt sich in Japan auf, als er fast ein Jahr später von der merkwürdigen Mißernte bei Obst und Gemüse in der westlichen Welt las. Die Blütezeit war gut ausgefallen und das Wetter den Sommer über günstig gewesen, aber auf den Bäumen waren keine Früchte gewachsen und die Schoten blieben leer. Ein einem Zeitungsbericht, der wahrscheinlich übertrieb, hieß es, daß in ganz Südfrankreich kein einziges Kilogramm Erbsen geerntet worden war.

Und dann, fast schlagartig, schien jedem klarzuwerden, was hier passierte – verstand jeder, daß die Ausonier’sche Krankheit weit größere Folgen hatte, als man angenommen hatte, und daß zehntausende Insektenarten, unabhängig von der Spezies, in schneller Folge ausstarben. Keine schien immun zu sein: Schmetterlinge, Motten, Käfer, Ameisen, Spinnen und (zum Glück!) Flöhe verschwanden aus dem Naturhaushalt. Und obwohl außer bei den Insektenforschern kein allzugroßes bedauern auslöste, sah die die Menschheit jetzt mit der Erkenntnis konfrontiert, die seit den Tagen Charles Darwins Allgemeinwissen gewesen waren: daß nämlich die meisten Obstsorten, Gemüsearten und Blütenpflanzen ihr Bestehen der Arbeit der schwärmenden Insektenwelt verdanken.

Glücklicherweise gab es einige gewichtige Ausnahmen bei der Abhängigkeit der Pflanzenwelt von den Insekten. Weizen und andere Getreidesorten und die meisten Gräser werden durch den Wind bestäubt. Kartoffeln, die unterirdische Knollen bilden, werden nicht beeinträchtigt, wenn ihre Blüten unbestäubt bleiben. Aber Erbsen und Bohnen gediehen nicht mehr, sämtliche Kohlsorten konnten sich nicht mehr fortpflanzen, und die meisten Obstsorten waren so selten, daß Äpfel, Birnen, Pfirsische und so fort in New York drei Jahre, nachdem der Welt Aumonier Entdeckung geschenkt worden war, Preise zwischen zehn und zwanzig Dollar pro Pfund erzielten. Hätte die Krankheit nur Fliegen betroffen, hätte das keine Folgen gehabt. Als Pollenüberbringer spielen sie kaum eine Rolle. Aber niemand hatte vorausgesehen, daß sämtliche Arten von Insekten davon betroffen sein würden.

Es stand außer Frage, daß die Menschheit vor einer beispiellosen Katastrophe stand. In den ärmeren Bevölkerungsschichten breiteten sich Mangelkrankheiten aus und zu Muskelschwäche, die beiden die Folge der Mangels an frischen Vitaminen durch das Fehlen von Obst und frischem Gemüse waren. Es wurden Anstrengungen unternommen, dagegen etwas zu tun, und in den Jahren darauf waren Männer, Frauen und Kinder ein alltäglicher Anblick, die damit beschäftigt waren, mit großen feinen Kamelhaarbürsten mit langem Stielen Pollen von Blume zu Blume, Obstbäumen zu Gemüsebeeten zu transportieren, Aber was eine Unzahl winziger geflügelter Wesen im Lauf von Stunden vollbracht hatten, erforderte jetzt viele Wochenstunden. Obst und Gemüse waren nicht länger Grundnahrungsmittel für jedermann, sondern waren zu einem Luxus für wenige geworden.

Es war in diesen Tagen wirklich eine völlig andere Welt geworden. Die meisten der Wildblumen, die den Frühling im Norden verschönert hatten, waren verschwunden, und zahlreiche Vogelarten, die sich entweder von Insekten oder deren Larven ernährt hatten. Und mit dem Verlust der Blumen und der Vögel war auch die Musik von der Erde verschwunden. Es war eine stillere Welt als früher, weniger schön und merklich dem Untergang geweiht. Es gab weniger Farbe, weniger Vielfalt, weniger Lebenskraft.

* * *

Professor Aumonier führte im Alter ein zurückgezogenes Leben. Er war mit Preisen und Ehrendoktorwürden überhäuft worden, sein ohnehin schon üppiges Einkommen war noch größer geworden, aber er war nicht mehr beliebt, und er wußte das nur allzu gut.

In den meisten entwickelten Ländern der Welt bestanden AA-Gesellschaften (wobei die Buchstaben für „Anti-Aumonier“ standen), die sich neben dem anscheinend hoffnungslosen Ziel, das Insektenleben wiederherzustellen, vor allem de Aufgabe widmeten, das Andenken des bekanntesten Wissenschaftlers seiner Zeit mit giftiger Propaganda zu schmähen.

So hielt sich Aumonier von der Welt fern. In seiner Vorstellung schien es ihm, als wenn die Anti-AA-Gesellschaften eine ähnliche Plage darstellten, wie es einst die Fliegen für ihn gewesen waren. Er kam allmählich ins hohe Alter, und er erinnerte sich gerne an die Zeit seiner Jugend, wobei er die Jahre, die dazwischen lagen, gerne überging. Es berührte ihn wenig, als ihn sein Sohn Bertrand eines Tages nach einer Abwesenheit von drei Jahren besuchte.

Bertrand Aumonier, dessen Name heute gleich neben dem seines Vaters steht, war damals noch nicht berühmt, obwohl auch er sich seit 20 Jahren mit aller Kraft und Hingabe der Wissenschaft gewidmet hatte. Aber an diesem Tag, als er seinen alten Vater besuchte, brachte er die Neuigkeit mit, die ihm einen neben den anderen großen Namen seiner Zeit sichern sollte.

Als Bertrand eintraf, saß Aumonier im Halbschlaf auf dem Stuhl im Garten neben seiner Frau, die jetzt unglaublich dick, aber noch immer so gemütlich wie immer war.

„Ich habe eine große Entdeckung gemacht,“ sagte er, nachdem er seine Eltern begrüßt hatte. „Ich habe am Oberlauf des Amazons eine Fliegenart entdeckt. Sie sticht. Aber sie nährt sich von Honig und überträgt Pollen. Und sie ist mit hoher Wahrscheinlichkeit gegen die Aumonier- Krankheit immun. Ich hoffe, daß ich sie in wenigen Jahren an alle Klimazonen der Welt akklimatisieren kann. Sie vermehrt sich schnell, und ich hoffe sehr, daß sie bald so weit verbreitet sein wird wie früher die Stubenfliege!“

Professor Aumonier setzte sich auf, schüttelte den Kopf und fing an, mit dem Taschentuch um sich zu wedeln.

Seine Frau lachte leise. „Ach, kleiner Bertrand,“ sagte sie. „Du willst einfach zu sehr die Welt verbessern. Die Vorsehung hatte bestimmt einen guten Grund, als sie es zugelassen hat, daß alle Fliegen auf der Welt gestorben sind. Und wir haben hier soviel Gemüse, wie wir brauchen.“

* * *

I.



Bei den meisten Schriftstellern, deren Werke ich hier im Rahmen meiner Ausflüge in längst verschollene, staubige Rumpelkammern des Archivs der Weltliteratur präsentiere, kann ich gutem Gewissens hinzusetzen, daß es sich bei ihnen schon deshalb nicht um „vergessene Autoren“ handelt, weil sie schon zu ihren Lebzeiten so unbekannt und ungelesen waren wie sie es jetzt, zum Beginn des 21. Jahrhundert sind.

Für John Davys Beresford, dessen 150. Geburtstag vor zwei Tagen stattfand, und der zu seinen Lebzeiten nur unter seinen Initialen „J. D.“ publiziert hat, gilt dies nicht – oder nur teilweise. Zwar sind von den 62 Titeln, die er im Lauf seiner Karriere als Autor zwischen 1911 und seinem Tod im Februar 1947 herausgebracht hat, alle bis auf seinen zweiten Roman, „The Hampdenshire Wonder“ von der „Furie des Verschwindens“ ereilt worden – aber während der ersten beiden Jahrzehnte seiner Laufbahn war er ein durchaus bekannter und besprochener, wenn auch kaum populärer Autor.

Beresford, am 7. März 1873 im Dorf Castor in Northamptonshire als Sohn des Dorfpfarrers geboren (bei der letzten Volkszählung vor 11 Jahren hatte der Sprengel eine Bevölkerung von 850 Seelen), begann seine Flucht aus der geistigen und kulturellen Enge seiner Herkunft, als er mit 16 Jahren eine Anstellung als Bürobote in einem Londoner Architekturbote fand. Im Alter von 4 Jahren war er an Kinderlähmung erkrankt und blieb zeitlebens körperlich behindert; sein Sohn Tristram schrieb später über seinen Vater, der Antrieb zu seinem ganzen Werk sei aus dem Bedürfnis erwachsen, zu bewiesen, daß er kein „hilfloser Krüppel“ sei.

Mit 30 Jahren wechselte er ins Versicherungsgeschäft und drei Jahre später wiederum zur Verlagsbranche zum Buchvertrieb W.H.Smith, für den er ab 1906 ein Jahrbuch herausgab. Ab 1908 veröffentlichte er seine ersten Erzählungen, und schrieb Rezensionen, zuerst für die Zeitschrift „The Literary World“ und wenig später für die „Westminster Gazette,“ die er als „die gebildetste und literarischste alle Londoner Abendzeitungen“ beschrieb. Zu dieser zeit begann er auch seine ersten Romane zu schreiben, die beide 1911 erschienen. In seinen frühen Büchern orientierte er sich ganz am seinem Idol H. G. Wells, sowohl was seine „realistischen“ als auch die „spekulativen“ Texte betrifft.

Beresfords Erstling, „The Early History of Jacob Stahl” (1911 bei Sidgwick & Jackson verlegt) ist ein Bildungsroman ganz nach dem Muster der Bücher, auf die sich Wells nach seinen ersten Erfolgen mit seinen „Scientific Romances“ konzentriert hatte („Kipps“, 1905, „Tono-Bungay“, 1909, und „Ann Veronica“, ebenfalls 1909): 500 Seiten über die Kindheit, die Jugend und das geistige Erwachen eines Protagonisten, der seinem Schöpfer zum Verwechseln ähnlich sieht.



„The Hampdenshire Wonder,“ ein halbes Jahr später ebenfalls bei Sidgwick & Jackson verlegt, dessen Titel für die erste amerikanische Ausgabe bei Doran 6 Jahre später auf „The Wonder“ verkürzt wurde, begründete eine kleine Tradition von Romanen, die ebenfalls den tragischen kurzen Lebenslauf von genialen Wunderkindern nachzeichnen, die in ihrer geistigen Entwicklung der Gegenwart hoffnungslos überlegen sind und an ihrer Isolation zugrunde gehen. Olaf Stapledons „Odd John“ von 1935 und Stanley G. Weinbaums “The New Adam” (postum 1939 veröffentlicht), haben dieses Muster aufgegriffen. Nach dem Ende der Zweiten Weltkriegs änderte es sich, in doppelter Hinsicht: in Büchern wie Wilmar H. Shiras‘ „Children of the Atom“ (als Erzählungen 1948-1950 in Astounding Science Fiction erschienen und als Buchfassung 1953) und Theodore Sturgeons „More Than Human“ (ebenfalls 1953), finden sich die „Übermenschen im Wartestand“ zu Gruppen zusammen, die ihre Existenz vor ihrer feindseligen Umwelt geheim halten – und unter dem Einfluß der Forschungen von J. B. Rhine (1895-1980) waren sie in der Regel „Mutanten,“ ausgestattet mit „Psi-Kräften“ wie Telepathie, Telekinese oder Teleportation, die sie als die nächste Stufe in der Evolution von Homo Sapiens auszeichneten. John W. Campbell, Herausgeber von „Astounding,“ hatte Rhines „Entdeckungen“ von Anfang an mit großer Emphase unterstützt, und ab Ende der vierziger Jahre wurde das Thema für ihn zu einer Obsession. Auch seine anfängliche Begeisterung für L. Ron Hubbards „Dianetik“ – die versprach, daß jedermann in sich solche „verborgenen“ Fähigkeiten freisetzen konnte – verdankte sich diese Idée fixe. Campbells Anfälligkeit für jede Art von Pseudowissenschaft (solange sie nur gegen die „offizielle Wissenschaftsmafia“ gerichtet war), hat seinem Magazin – und dem Ruf des Genres – nachhaltig geschadet.



"The Hampdenshire Wonder" war übrigens der zweite SF-Roman überhaupt, der einen Nachdruck in Form eines Taschenbuchs erfeahren hat - im Juni 1937 bei Penuin Books (der erste war 1935 Samuel Butlers "Erewhon, or Over the Range" im gleichen Haus gewesen.)


Ganz wie Wells wohnten auch bei Beresford zwei Seelen, ach, in seiner Brust: der Fabulirer, der die neuen Entdeckungen der Wissenschaft als Katalysator aufgriff, und der Gardinenprediger, der, ebenso obsessiv wie Campbell, seine Romane einzig als Schaubühne zur Proklamation seiner Ansichten von Gott und der Welt nutzen wollte. Anders als bei Wells, über den Beresford die erste Monographie verfaßt hat (H. G. Wells, 1915) erstreckte sich das bei Beresford nicht aufs Terrain des Politischen (und nicht auf den Sozialismus Fabian Society), sondern auf eine Sehnsucht nach einer mystischen, mythischen Aufladung der gottlos-materialistischen modernen Welt. Hier zeigt sich eine Parallele zu seinem Zeitgenossen Arthur Conan Doyle: während er zum einen (oder seine bekannteste Gestalt, der „beratende Detektiv“ mit Wohnsitz in der Baker Street 221B), einen knochentrockenen und durch nichts zu erschütternden Rationalismus an den Tag legt, wurde sein Schöpfer nach dem Ende des „Großen Kriegs“ zum Opfer der schlichtesten Täuschungen, die ihn an Feen glauben ließen oder daran, daß Harry Houdini seine spektakuläre Entfesselungskünste nur dem Einsatz von übernatürlichen Fähigkeiten verdankte. Während Houdini sin öffentlichen Vorträgen gegen alle Arten von „übernatürlichem Mumpitz“ zu Felde zog, bestand Doyle in Büchern wie „The Edge of the Unknown“ (1930) darauf, daß Houdini in einer überrationalistischen Art seine tatsächlichen Kräfte ganz im Sinne Sigmund Freuds einfach verdrängt habe.

In Beresfords Roman „The Camberwell Miracle” (1933; eine deutliche Anspielung auf das „Wunder von Hampdenshire“) erweist sich die Wunderheilung der Protagonistin (daß sie an Kinderlähmung leidet, ist wohl kein Zufall) als genuin; ihr Vater, ein angesehener „Schulmediziner,“ versucht den vermeintlichen Scharlatan vor Gericht zu ruinieren, und beendet damit die eigene Karriere. Solche holzschnitthafte Didaktik macht klar, warum die englische Kritik ab dem Ende der zwanziger Jahre das Interesse an diesem Autor verlor.

Hinzu kommt, daß tatsächliche Ausführung die Thematik, die Kern der Romane ist, oft auf merkwürdige Art verfehlen. In Beresfords zweitem SF-Roman, „Goslings“ (Heinemann, 1913), dessen amerikanischer Titel „A World of Women“ (1913, Macaulay) den Inhalt andeutet, geht es darum, daß fast die gesamte männliche Bevölkerung England einer Seuche, die sich von China her ausbreitet und nur Träger des Y-Chromosoms befällt, zum Opfer fällt. Das Thema einer „Welt ohne Männer“ ist immer wieder einmal von Autor_EN und Autor_INNEN aufgegriffen worden (hier bekommt die Modewendung „weiblich gelesen“ eine leichten „Beigeschmack von Wahrheit“) – etwa in Philip Wylies „The Disappearance“ von 1951 und zuletzt von Sandra Newman in „The Men“ (2022). (Die erste filmische Behandlung des Themas scheint die deutsche Komödie „Die Welt ohne Männer“ aus dem Jahr 1914 zu sein, die unter der Regie von Max Mack entstand.

Aber statt daß Beresford sich der Inganghaltung der technologischen Zivilisation durch eine Frauenschar, die bislang nie etwas mit Dampfmaschinen und Gaslicht zu schaffen hatte, mit den sozialen Verwerfungen und neuen Regeln, konzentriert er sich ganz auf die Familie des einzigen männlichen Überlebenden, Mr. Gosling, der Frau und Töchter angesichts der Verlockung durch einen landesweiten Harem verläßt, und Mrs. Gosling, die ohne die gewohnte männliche Führung hoffnungslos verloren ist und dahinsiecht.

All das hat dazu geführt, daß schon der Nachruf, den ihm die Londoner „Times“ nach seinem Tod am 2. Februar 1947 widmete, einzig „The Hampdenshire Wonder“ und die drei Romane um Jacob Stahl auflistete und den Rest des Werks mit Schweigen überging. Auch gutbeschlagenen Kennern der Genregeschichte ist er heute nur noch als ein „Autor unius libri,“ das zudem in aller Regel nie gelesen worden ist, geläufig.

Zu einem (in diesem Fall ungewollten) Mißverständnis könnte es für heutige Rezipienten kommen, wenn sie erfahren, daß die meisten der zahlreichen Aufsätze, die Beresford ab 1930 veröffentlicht hat, in einer Zeitschrift mit dem Titel „Aryan Path“ erschienen sind: insgesamt 87 Texte; vom Januar 1930 bis Ende 1935 verfaßte er dort eine monatliche Kolumne. Dennoch wäre es falsch, hier instinktiv einen Zussammenhang mit der völkischen Ideologie der Nationalsozialisten zu vermuten: das Magazin, das in Bombay verlegt wurde und vom Januar 1930 bis 1960 erschien, widmete sich esoterischen Themen, oft aus dem Umfeld der Theosophie und des Buddhismus; nach 1933 und der Machtergreifung der Nazis sprach sich die Redaktion oft gegen jeden Rassismus aus, besonders in einem Artikel des englischen Historikers G. D. H. Cole im September 1938, der der der deutsche Nationalsozialismus und der italienische Faschismus in jeder Form scharf verurteilt wurden.



Beresfords Erzählung „The Man Who Hated Flies” erschien zuerst in seinem dritten Sammlung von Erzählungen, „The Meeting Place, and Other Stories“ (London: Faber & Faber, 1929). (Bevor ich mit diesem Beitrag begonnen habe, hätte ich schwören können, daß dies der erste Text des Autors ist, der ins Deutsche übersetzt worden ist, aber eine Durchsicht der entsprechenden Bibliographien zeigt, daß dies in den letzten 50 Jahren schon bei drei anderen kleinen Stories der Fall war: „The Late Occupier“ und „Lost in the Fog“ aus „Nineteen Impressions“ (1918), als „Der letzte Besitzer“ in „16 Grusel-Stories,“ hg von Hugh Lamb (Heyne, 1974) und „Nebel“ in der von Joachim Körber edierten Anthologie „Die Gewerkschaft der Gespenster“ (2014), sowie „A Neglegible Experiment“ aus „Signs and Wonders“ (1921) in der deutschen Ausgabe des 5. Teils von James Gunns Anthologienreihe „The Way to Science Fiction” mit dem Thema “The British Way” (1998) in Oktober 2000 im Heyne-Verlag als vorletzter Band der „Bibliothek der Science Fiction“ erschienen: “Ein unbedeutendes Experiment.“

* * *

Eine Biene! Eine Biene! Sie können sich gar nicht vorstellen, wie aufregend es für mich war, eine zu sehen. Ich erinnere mich, wie ich als Kind zugesehen habe, wie wie am Hafen um die Jacarandabäume schwirrten oder in der Mittagssonne die Pflaumenbäum neben dem Postamt umschwärmten. Eien unserer ersten Lehrerinnen, Mrs Ames aus Connecticut, eine gelangweilte Hausfrau im Dienst der UNESCO, hatte uns alles über Bienen erzählt und uns beigebracht, sie nicht als Feinde, sondern als Freunde zu betrachten – eine kluge Entscheidung, scheint mir. Man könnte das Gleiche auch über Würmer sagen. Wenn man nicht von klein auf lernt, sie zu schätzen und zu lieben, wirken sie ziemlich eklig, wenn man sie zu Gesicht bekommt. Sogar ein Teller mit Spaghetti Bolognese wirkt beim ersten Mal abstoßend. Ich könnte noch weitere Beispiele nennen, aber ich verzichte darauf.

Niemand im Callcenter hatte gesehen, wie mich die Biene gestochen hatte. Ich schaute sie an, und es war, als würde ich einen lang vermißten Freund wiedertreffen – so glücklich machte sie mich!


(Douglas Coupland, „Generation A,“ 2009)

Aber was ist denn nun mit dem „Bienensterben“? Nicht mit dem im virtuellen Raum des bedruckten Papiers, sondern in der Biosphäre, „auf dem Grunde des Luftozeans“? Wobei auch hier, wie sich zeigen wird, ein kleines Vexierspiel vorliegt.

Mittlerweile ist es ziemlich still um diese spezielle Apokalypse geworden, aber vor 15 oder 10 Jahren wäre im Anschluß an eine Erzählung, die vom Aussterben der Bienen handelt, der Hinweis obligatorisch gewesen, daß uns eine solche Zukunft womöglich in wenigen Jahren tatsächlich ins Haus stehen würde. Auch an dieser Stelle verweise ich natürlich auf diese Vision – freilich nicht, um ebenfalls in diese Posaune des Jüngsten Gerichts zu stoßen, sondern als historische Fußnote. Und mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit wäre vor einigen Jahren ein solcher Hinweis mit einem Albert Einstein zugeschriebenen Zitat unterlegt worden – oft verkürzt zu „Wnen die Bienen aussterben, stirbt vier Jahre später auch der Mensch,“ oder vollständig:

"Wenn die Biene einmal von der Erde verschwindet, hat der Mensch nur noch vier Jahre zu leben. Keine Bienen mehr, keine Bestäubung mehr, keine Pflanzen mehr, keine Tiere mehr, kein Mensch mehr."


Etwa kritischere Geistern dürften in den letzten Jahren gehört haben, daß sich dieses Zitat nirgendwo beim Erfinder der Relativitätstheorie findet (zumindest nicht im Hinblick auf die Bienen; dazu unten mehr) und somit neben das dem Häuptling der Cree, Seattle, beigelegte Ur-Mantra der Umweltbewegung zu stellen ist („Erst wenn der letzte Baum gerodet, der letzte Fluss vergiftet, der letzte Fisch gefangen ist, werdet ihr merken, dass man Geld nicht essen kann“). Damit ergeben sich zwei anschließende Fragen – eigentlich sogar drei: 1,0) Gab es das medial groß begleitete „Bienensterben“ überhaupt? 1,5) Und falls es aufgetreten sein sollte: war das eine tatsächlich Gefahr für den Bestand von 1.5.1) Apis melliflora oder 1.5.5) Homo sapiens? Und 2) Was hat es mit dem vorgeblichen Satz von Einstein auf sich? Aber der Reihe nach.

II.

Das „Bienensterben“ bezeichnete das Phänomen, daß zahlreiche Imker, zuerst in den Vereinigten Staaten, dann aber aus vielen Teilen der Welt, ab dem Frühjahr 2006 und vermehrt im folgenden Jahr, einen Rückgang ihrer Bienenvölker um bis zu 40 Prozent registrierten. Eins der Rätsel dieser Entwicklung war, daß nie nachgewiesen werden konnte, worauf dieser Rückgang wirklich zurückzuführen war. Die Immen fanden sich nicht etwa tot im den Stücken oder der Umgebung, sondern blieben einfach aus – was die Festlegung der Ursache für den Schwund nicht eben leichter machte. Vielfach wurden Pflanzenzuchtmittel als Auslöser dafür vermutet; genetisch veränderte Pflanzen im Feldanbau, befall durch Varromilben oder Buckelfliegen, die im Westen der USA bei Honigbienen Brutparasitismus betreiben, in dem sie ihre Eier in deren Unterleib ablegen (und wem an dieser Stelle „Alien“ einfällt, hat recht: Ridley Scott hat sich die unappetitliche Vermehrungsweise seiner Kreatur von der höchst irdischen Insektenwelt abgeschaut) – Zersiedlungen von Anbau- und Freiflächen, Nahrungsmangel oder Virenkrankheiten. In Lauf der letzten 15 hat sich mangels eines eindeutigen Befundes die Ansicht durchgesetzt, daß ein Bündel solcher Einflüsse mit unterschiedlicher Gewichtung dafür verantwortlich sein dürfte.

Zwei Aspekte gingen zwischen 2007, als „CCD“ benannt wurde (das Kürzel steht für „Colony collapse disorder“) und 2012, dem letzten Höhepunkt des medialen Interesses, in der medialen Aufbereitung ziemlich unter: zum einen ist es im Verlauf der letzten 130 Jahre immer wieder zu ähnlichen Rückgängen gekommen – und dies im gleichen Umfang, zuletzt 1998 in Mitteleuropa. Dokumentiert sind sie seit 1869; 1908 und 1909 war ganz England davon betroffen; die USA in den Jahren der „spanischen Grippe,“ 1918 und 1919. Und in all diesen Fällen bestand nie eine Gefahr für den Erhalt der Honigbienen als Spezies oder als Bestäuber. Paradoxerweise (jedenfalls aus Sicht des biologischen Laien) ist das die Folge der kurzen Lebensdauer der einzelnen Bienen. Während die Königin in der Regel zwei ganze Jahre lang lebt und ein Alter von 5 Jahren erreichen kann, beträgt die Lebensspanne bei den nektarsammelnden Arbeiterinnen während der Ruhezeit im Winter 150 bis 200 Tage und während des Sommers 15 bis 38 Tage. (Anders als man es mitunter lesen kann, schlafen Bienen, anders als viele andere Wirbellose, tatsächlich zwischen 5 und 8 Stunden am Tag.) Um den Bestand des einzelnen Bienenvolks aufrechtzuerhalten, ist die Königin während der Hauptblütezeit im Frühjahr damit beschäftigt, bis zu 3000 Eier am Tag zu legen – mehr als ihr eigenes Körpergewicht von 0,18 bis 0,2 Gramm beträgt. Die Größe eines Bienenvolks beträgt zwischen 20.000 und 80.000 einzelne Bienen. Selbst wenn bei einem kleinen Stock 40 Prozent verschwinden, verbleiben von 12.000 davon. Und diese Verluste werden sehr schnell durch die Fruchtbarkeit der Königin ausgeglichen. Oder, wie es formuliert worden ist: solange es Imker gibt, die sich um ihre Stücke kümmern, besteht keinerlei Gefahr, daß wir uns in einer „Welt ohne Bienen“ wiederfinden. Und wie man an der Entwicklung des Bestandes an Völkern und den produzierten Mengen an Honig sehen kann, ist das glatte Gegenteil der Fall.



Paradoxerweise (wer sich mit Populationsbiologie befaßt, sollte ein Abonnement auf dieses Wort abschließen) ist es gerade die zunehmende Verbreitung der Bestäubung durch Honigbienen, die für den der Gattung ein Risiko darstellt. Die Bestäubung von Feldern mit Blütenpflanzen oder Obstbäumen erfolgt seit Jahren durch den Einsatz mobiler Bienenstöcke, so daß Landwirte in solchen Fällen keinen Imker in ihrer Nähe haben müssen; auf diese Weise können auch solche unterschiedlichen Honigsorten wie Lavendelhonig oder Sonnenblumenhonig gewonnen werden. Diese nachgerade industriell aufgezogene Kulturtechnik hat aber zur Folge, daß andere Spezies der Gattung ins Hintertreffen geraten. Die Honigbiene stellt nur eine von gut 20.000 Arten der Apidae dar; Wildbienen bilden wesentlich kleinere Völker, sind standorttreu – und wenn die Nahrungskonkurrenz von Maja & Co. ihnen zuvorgekommen ist, haben sie keinen Chauffeur, der sie zum nächsten Büffet fährt.

Das hat den kanadischen Autor Douglas Couplan (natürlich) nicht davon abgehalten, eine solche „Welt ohne Bienen“ zum Schauplatz seines elften Romans, „Generation A“ (2009) zu machen, dessen Titel eindeutig das Thema des Buches, mit dem er sich einen Namen gemacht hat, aufgreift. „Generation X“ verlieh der Kohorte der zwischen 1965 und 1979 Geborenen den Namen (bei uns hat ein paar Jahre später Florian Illies mit „Generation Golf“ dasselbe geleistet). Aber während die Anomie und geistige Leere seiner ersten Protagonisten noch mit gutem Willen als Zeitgeistporträt von Wohlstandskindern im Zeichen der Nachrüstung und einer sinnlos gewordenen Welt lesen konnte, bei der es nicht einmal mehr zum Punkertum gereicht hatte, wirkt der spätere Titel auf seine Weise so entgleist wie Beresfords „Goslings.“ Das Buch spielt „um einer nahen Zukunft“, um das Jahr 2020 herum, in der die Bienen von der Welt verschwunden sind und damit auch (eine typische Coupland-Volte), auch die Heroinsüchtigen („Schlafmohn braucht Bienen“) – aber die Grundsituation des Buches, bei der auf jedem Kontinent eine Person von einer Biene, die es eigentlich gar nicht geben dürfte, gestochen wird, die Betreffenden isoliert und von Geheimdienstleuten in schlechtsitzenden Anzügen verhört werden, findet keine dramatische Auflösung. Stattdessen verbringen die Fünf den Rest des Buches damit, sich einander von der Leere und Sinnlosigkeit ihres Daseins zu erzählen. Entre nous: eine solche innere Verkarstung ist nicht das Privileg der Nachgeborenen, Auch viele Texte der Beat Generation sind davon durchtränkt, wie etwa Kerouacs „On the Road.“ Aber für den Leser goutierbar wird dergleichen nur, wenn es als groteske Komödie gespielt wird, wie in „Warten auf Godot.“ Ansonsten gibt es wenig Veranlassung, 300 Seiten im Kopf solcher Langweiler verbringen zu müssen.

III.

Und das Zitat von Einstein?

Zu einem populären „Mem“ ist die Sentenz erst mit der bisher letzten „Bee-pocalypse“ ab 2007 geworden; aber die Zuschreibung einer solchen Prophezeiung an Einstein findet sich schon zwei Generationen vorher. Im Januar 1941 schrieb Ernest A. Fortin in „Canadian Bee Journal“:

Ja, jede Tierart, jedes Insekt ist ein Teil der endlosen Kette der Natur, und wenn ein Glied daraus entfernt wird, dauert es lange, bis die Kette wieder ganz ihren Zweck erfüllt. Wenn ich mich richtig erinnere, dann war es Einstein, der gesagt hat: ‚Entfernen Sie die Bienen von der Erde und Sie werden damit auch sofort 100.000 Pflanzen entfernen, die nicht überleben werden.“‘ (S. 13)


Allerdings hat sich der Autor in der Zuschreibung des Satzes getäuscht. Die verräterische Zahlenangabe findet sich nämlich nicht bei Einstein, sondern in einem Werk des belgischen Literatur-Nobelpreisträgers des Jahrs 1911. Maurice Maeterlinck. Maeterlinck war zwar im Jahrzehnt vor der Jahrhundertwende durch Dramen wie „Pellas et Melisande“ und „Der blaue Vogel“ zu einem der namhaftesten Vertreter des Symbolis geworden, wirklich populär wurden aber seiner hochromantisch aufgeladenen Darstellungen der „Wunder der Natur“ – „La vie des abeilles“ (1901), „Le double jardin“ (1904) und „L’intelligence des fleurs“ (1907). Und im „Leben der Ameisen,“ noch im Erscheinungsjahr in deutscher Übersetzung bei Eugen Diedrichs in Jena (dem Stammverleger dieser Stilrichtung) heißt es im Kapitel VII, „Der Fortschritt der Art“:.

Vous l'aurez probablement vu plus d'une fois voleter dans les buissons, dans un coin désert de votre jardin, sans vous rendre compte que vous observiez négligemment le vénérable ancêtre à qui nous devons probablement la plupart de nos fleurs et de nos fruits (car on estime que plus de cent mille variétés de plantes disparaîtraient si les abeilles ne les visitaient pas), et peut-être même notre civilisation, car dans ces mystères tout s'entrelace.


Vielleicht hat jeder von uns, ohne darauf zu achten, und ohne zu ahnen, dass er hier die ehrwürdige Urmutter vor sich hat, der wir vielleicht die Mehrzahl unserer Blumen und Früchte verdanken – denn man glaubt thatsächlich, dass über hunderttausend Pflanzenarten nicht mehr sein würden, wenn die Bienen sie nicht beflögen und dadurch befruchteten – und wer weiss? vielleicht auch unsere Zivilisation, denn alles greift bei diesen Mysterien in einander über – vielleicht hat jeder von uns sie schon öfter in einem entlegenen Winkel seines Gartens um Gestrüpp herumfliegen sehen. (Ü. Friedrich von Oppeln-Bronikowski)


Die „Zeitspanne von vier Jahren“ taucht zum ersten Mal in diesem Zusammenhang 1965 auf, als Pierre Pascaud in der Pariser Zeitschrift „La Vie des Bêtes et l’Ami des Bêtes“ im Zusammenhang der Gefahr der biologischen Schädlingsbekämpfung von Moskitos (!) schrieb:

On a tendance à oublier que les fleurs sont fécondées à 90 % par ces précieux insectes, le vent faisant le reste. Einstein a calculé que si toutes les abeilles du monde étaient exterminées il ne faudrait pas plus de quatre ans à l’homme pour disparaître du globe. („La démoustication mortelle”)


Man neigt dazu, zu vergessen, daß 90 Prozent aller Blumen durch diese wertvollen Insekten bestäubt werden. Einstein hat ausgerechnet, daß, wenn alle auf der Welt Bienen aussterben würden, es nur vier Jahre dauern würde, bis der Mensch von der Erde verschwinden würde.


Beresford hingegen erinnert sich korrekt, daß es Darwin war, das Wissen um diesen Zusammenhang im Gedächtnis seiner Leser zu verankern. In der dritten Ausgabe seiner Hauptwerks, „On the Origin of Spezies by Means of Natural Selection” von 1861 heißt es:

Hence, we may infer as highly probable that if the whole genus of humble-bees became extinct or very rare in England, the heartsease and red clover would become very rare, or wholly disappear. (S. 77)


Daher dürfen wir es als sehr wahrscheinlich annehmen, daß wenn die gesamte Spezies der Hummeln (Darwin meint hier die Bienen mit) in England aussterben oder sehr selten würde, auch die Stiefmütterchen und der Klee selten oder ganz verschwinden würde.


III.



Mit den Bienen hat es Einstein also nicht gehabt. Aber frappanterweise gibt es in anderem Zusammenhang von ihm ein tatsächliches, ein genuines, ein echtes Zitat, daß dem ihm zugelegten Satz so nahe kommt, daß man darin die direkte Quelle für die Reihung „Bienen – Bestäubung – Pflanzen – Nahrung“ sehen darf. Und bekannt ist dieses Zitat erst seit 2002, als Alice Calaprice bei Prometheus Books die Sammlung „Dear Professor Einstein: Albert Einstein’s Letters to and from Children“ herausgab. 1951 hatte sich eine Gruppe von Schülern in der sechsten Klasse aus Morgan City in Louisiana, die sich „Six Little Scientists“ nannten schriftlich an ihn gewendet, um die Streitfrage zu entscheiden, ob das Leben auf der Erde zum Untergang verdammt wäre, wenn die Sonne verlöschen würden:

From Six Little Scientists, Morgan City, Louisiana

Dear Professer,

We are six children who took an interest in Science. We are in sixth grade. in our class we are having an argument. The class took sides. We six are on one side and 21 on the other side. Our teacher is also on the side so that makes 22. The argument is whether there would be living beings on earth if the sun burnt out or if human beings would die. We are not going to say anything we don't believe. We are going to keep what we believe in until it is proved different. We believe there would be living things on earth if the sun burnt out. Will you tell us what you think. We have some other questions we have been wondering about. They are: Does the sun give off hydrogen? Are the stars bigger than the sun? Do we have a chance to become scientists? We are:

Linda, age 11
Brennda, age 11
Ubain, age 11
Richard, age 11
Rosalie, age 11
Glenn, age 11

We would like you to join our Six Little Scientists, only now it would be Six Little Scientists and One Big Scientist. Please give us each your autograph so we can use them for club badges and also to help us remember how you helped us and shows us something if we are wrong. Probably there are many things misspelled or done wrong on here because we are not showing this to the teacher. Our teacher's name is Mrs. Smythe.

If you would join our club you must not tell any of our secrets and you would be our special friend and not a professer.

Love and lollipops,
Six Little Scientists

P.S. Linda wrote the letter.


Am 12. Dezember antwortete Professer Einstein:

To Six Little Scientists
December 12, 1951
dear Children:
The minority is sometimes right - but not in your case. Without sunlight there is:
no wheat, no bread, no grass, no cattle, no meat, no milk, and everything would be frozen. No LIFE.
A. Einstein




„… kein Weizen, kein Brot, kein Gras, keine Rinder, keine Milch …“

Und an dieser Stelle hat der Kenner der Genregeschichte mal wieder eins jener Déjà vus, die in meinen Beiträgen der letzten Monate ein hartnäckiges Leitmotiv darstellen: das der versteckten Fingerzeige, mit denen die Programmierer der Matrix aufmerksame Beobachter dezent auf ihr Wirken verweisen. Genau in diesem Monat, im Dezember 1951, erschien in dem damals neuen SF-Magazin, das „Astounding Science Fiction“ bald den Rang als Flaggschiff des Genres ablaufen sollte, „Galaxy,“ eine kleine Erzählung, die exakt diese Versuchsanordnung zum Thema machte. In Fritz Leibers Kurzgeschichte „A Pail of Air“ ist die Sonne zwar nicht verloschen, aber ein „dunkler Stern,“ der das Sonnensystem durchquert hat, hat Terra aus ihrer Umlaufbahn geworfen und in die Kälte des interstellaren Weltraums katapultiert. Dem zehnjährigen Ich-Erzähler, seiner Schwester und seinen Eltern ist das Überleben nur dadurch möglich gewesen, daß sein Vater, ein Wissenschaftler, den Keller des Hauses, der als Bunker für den Fall eines Atomkriegs dienen sollte, noch rechtzeitig luftdicht abschließen konnte und in seinem Institut Brennstoff- und Lebensmittel für Jahre eingelagert hatte. Jeden Tag muß einer der Überlebenden in einem Schutzanzug durch die Luftschleuse nach draußen gehen, um einen Eimer der zu Schnee gefrorenen Atmosphäre hereinzuholen. Nichts sonst scheint überlebt zu haben – bis sich im Lauf des Textes herausstellt, daß auch noch andere „Nester“ den Untergang überlebt haben. Allerdings gestaltet sich die Suche nach anderen Überlebenden langwierig, da durch das Fehlen einer Ionosphäre die Funkreichweite durch die Erdkrümmung begrenzt wird. (Leiber schrieb seine Story sechs Jahre vor dem Start des ersten Sputniks.)



(Bei „Ed Alexander,“ der die Illustration zu „A Pail of Air“ in „Galaxy“ beigesteuert hat, handelt es sich um ein Pseudonym für Ed Emshwiller (1925-1988), der in den fünfziger Jahren Titelbilder für buchstäblich hunderte von SF-Magazinen geliefert hat; unter seinem eigenen Namen ist er als Illustrator für Damon Knights Kurzroman „World Without Children“ in der gleichen Ausgabe vertreten.)



(Umschlagbild von Stuart Hughes für Malcom Edwards' Anthologie "Constellations," Gollancz 1980)

U.E

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