Esaias, der vorsage, sprichet da unde sagt:
"Sirene unde tiuvale screchen in ir husen."
von der bilde Phisiologus zelt unde sprichet, daz si totfuorgiu tier sint.
Si sint von dem houbet unz den nabele also wip gescaffene,
danne unze an die fuozze nidene getan sam die vogele.
si singet ein sanch, heizzet Musica, da mit beswichent si die scefman.
So die vergen si gehorent, ir sinne si dar cherent.
von ir suozzem sange entslaffent si danne
iso varent si dei tier an, unde e si erwachen, so zerbrechent si si gar.
- Der Millstätter Physiologus (um 1200), „Von den tieren, die da heizzent Sirenen unde onocenthauren“)
Leopold Plaichinger, „Das Meer” (Der Orchideengarten, 1. Jg., 1919, Heft 16/17)
Ein grell-scharf abgeschnittener Lichtschacht dring aus dem Kaffeehaus und zergrieselt zu Lichtschaum auf den Wogenkämmen der eben ansteigenden Flut. Ein langer, welliggebrochener Schatten läuft über die Dünen. Lichtumglüht steht ein Mädchen im Rahmen der Türe. Musik quillt über und gibt dem Wogenschlagen den Gleichtakt eines Weltenschreitens. Da taucht im Schwunge einer Welle, weitgespreitet die Flügel, eine Möwe in den Lichtschacht. Das Mädchen wirft die Arme auf, als der Lichtschrei der weißen Möwe aus dem Dunkel aufgrellt. Wie ein Stein fällt der Vogel aufs Wasser und schraubt sich dann im großgezogenen Kreiselschwung wieder ins Dunkel auf. Langsam, gemessenen Schrittes geht das Mädchen an den Strand hinaus...
Waagerecht von ihrem Kopf weg weht der Schleier. Ein letztes Grüßen zu den Menschen zurück im licht- und musikschäumenden Raum.
Nun steht sie auf weichem Sande, als wär's ein Menschenleib, auf dem sie steht. Wasser leckt an ihren Füßen. Sie wirft die Schuhe ab und zieht die Strümpfe aus. Wei wohlig kitzelt das Waser die Beine hinauf! ... Laufeucht, wie der Atem eines Riesen weht sie der Wind an. Der schwüle Geruch von Tang und Muscheln, dieser erregende Geruch von Liebe und Tod steigt aus dem Grunde des Meeres auf ...
Sie läuft aus dem Lichtschacht heraus und taucht in die Finsternis einer entsternten Nacht. Nun streift sie die Kleider ab und fühlt sich durchschauert vom Glück des Nacktseins. Abtastend gleiten ihre Finger den Körper auf und nieder.
Wie plumpe Tiere hüpfen und rennen die Flutwellen heran. Schon springt eine herauf und küßt ihr die Knie. Zur Säule gebannt starrt sie auf die saugend herandrängende Flut.
Woge - Welle - Woge - Welle ... singt die Musik aus dem Strandkaffee.
Und plötzlich wirft sich eine Welle in ihren Schoß und streicht ihr streichelnd über die Schenkel nieder. Den Atem hat es ihr auf Augenblicke erstickt.
... und draußen winken die Wogen. Noch einmal, noch einmal das Meer empfangen! Sie beginnt zu schreiten dem Meere zu ...
Oh, dieses glückströmende Grauen! Berge wälzen sich heran, dort weit draußen bricht der Himmel ins Meer.
Und wieder stößt eine Welle in ihren Schoß und wirft sich schäumend an ihren Leib. Die Arme muß sie breiten, um nicht hinzutaumeln, die Arme muß sie breiten vor Lust. Hochauf wölbt sie die Brüste dem Drängen der Flut entgegen. Schon netzt Gischt ihren Mund und ein Lustschrei wie Möwenschrei schrillt in die Luft. Am Strande donnert der erste Wassersturz. Im Sturmlauf rasen Woge nach Woge heran. Plötzlich wimmelt es im Lichtschacht. Menschen laufen durcheinander und rufen und schreien einen Namen ins Donnern der Flut.
Draußen im Flügelschwunge einer Möwe schwingt und tanzt auf den Wogen ein heller Mädchenleib.
(Der Orchideengarten, Heft 16/17, 1919)
* * *
Ray Bradbury, “Die Frauen” (Famous Fantastic Mysteries, Oktober 1948)
Es war, als ob in einem grünen Zimmer ein Licht aufgeflammt wäre.
Das Meer brannte. Ein weißer Schimmer regte sich wie eine Dampfwolke in der Tiefe des herbstlichen Ozeans und stieg empor. Blasen sprudelten aus einem Spalt am Meeresboden.
Es war wie ein Blitz, der über den grünen Himmel des Meeres zuckte, der seine Umgebung wahrnahm. Alt war es, und schön. Es entstammte der Tiefe, es regte sich träge – wie eine Muschel, ein Wispern, wie Tang, wie Kiemen. In seinem Innern schwebten matte Korallenzweige wie die Windungen eines Gehirns, gelbe Knospen von Seetang wie Augen, Algen wie Haar. Es wuchs im Wechsel der Gezeiten, wurde größer, sammelte und hortete in sich den alten Staub, die Tinten der Tintenfische und alles Treibgut des Meeres.
Solange, bis es jetzt zu Bewußtsein erwacht war.
Es war ein schimmerndes, grünes Bewußtsein, das im herbstlichen Meer trieb. Ohne Augen – und doch sah es; ohne Ohren, und trotzdem hörte es, fühlte es ohne Körper. Es entstammte dem Meer. Und weil es aus dem Meer kam, war es weiblich.
Es war in keiner Weise einer Frau oder einem Mann ähnlich. Aber es hatte das Wesen einer Frau: weich, listig und heimlich. Es bewegte sich mit der Anmut einer Frau. Es vereinte in sich all die schlechten Seiten eitler Frauen.
Dunkel strömte das Wasser durch sie hindurch und an ihr vorbei auf seinem Weg zum Golfstrom. Im Wasser trieben Papierhütchen, Papierschlangen, Konfetti; sie wehten durch sie hindurch wie Wind durch einen morschen Baum. Orangenschalen, Servietten, Papierfetzen, Eierschalen und verkohlte Späne von Feuern, die nachts am Strand entzündet worden waren – all die Hinterlassenschaften der Menschen, die die Strände der Inseln am Saum des Kontinents unsicher machten, Menschen aus steinernen Städten, die in kreischenden eisernen Dämonen über Straßen aus Beton davonrasten.
Langsam stieg sie der kühlen Morgenluft entgegen, leuchtend, Blasen aushauchend. Lange ließ sie sich in der Dünung treiben.
Vor sich spürte sie das Ufer.
Der Mann war dort.
Er war ein sonnengebräunter Mann, mit kräftigen Beinen und einer breiten Brust.
Jeden Tag hätte er ins Wasser hinauswaten sollen – um zu baden, zu schwimmen, um in ihre Nähe zu kommen. Aber er hatte sich nie bewegt. Eine Frau war bei ihm, eine Frau in einem schwarzen Badeanzug, die neben ihm auf dem Sand lag. Sie redeten leise miteinander, lachten, und manchmal hörten sie einem kleinen Kästchen zu, an dem sie etwas einstellten und aus dem Musik drang.
Das Leuchten hing lautlos in den Wellen. Die Unruhe stellte sich wieder ein. Die Urlaubszeit ging zu Ende. September.
Und jeden Tag konnte er fortgehen und würde nie zurückkehren.
Heute MUSS er ins Wasser kommen.
Sie lagen auf dem Sand und ließen die Hitze auf sich wirken. Das Radio spielte leise und die Frau im schwarzen Badeanzug regte sich unruhig, hielt aber die Augen geschlossen.
Der Mann hob den Kopf nicht von seinem kräftigen Arm, auf den er ihn gestützt hatte, während er die Sonne mit dem Gesicht, mit dem offenen Mund in sich trank. „Was ist los?“ fragte er.
„Ein schlechter Traum,“ sagte die Frau im schwarzen Badeanzug.
„Am hellichten Tag?“ fragte er.
„Träumst du nachmittags nie?“
„Ich träume niemals,“ sagte er. „Ich habe in meinem Leben noch kein Mal geträumt.“
Sie lag da, ihre Finger zuckten. „Ich habe einen schrecklichen Traum gehabt.“
„Worüber?“
„Ich weiß nicht,“ sagte sie – als wenn sie es wirklich nicht wüßte. Es war so furchtbar gewesen, daß sie es vergessen hatte. Jetzt, mit geschlossenen Augen, versuchte sie sich daran zu erinnern.
„Es ging um mich,“ brummte er.
„Nein,“ sagte sie.
„Doch,“ sagte er. „Ich bin mit einer anderen durchgebrannt, das war’s.“
„Nein,“ sagte sie.
„Ich bin mir ganz sicher,“ sagte er. „Ich hatte etwas mit einer anderen Frau, und du bist uns auf die Schliche gekommen, und im Verlauf des Streits bin ich erschossen worden.“
Sie zuckte unwillkürlich zusammen. „Sag sowas bitte nicht!“
„Wollen mal sehen,“ sagte er. „Was für eine Frau kann das wohl gewesen sein? Blondinen bevorzugt, heißt es doch?“
„Mach keine Witze,“ sagte sie. „Ich fühl‘ mich nicht gut.“
Er öffnete die Augen. „Wars so schlimm?“
Sie nickte. „Immer wenn ich tagsüber solche Träume habe, fühle ich mich ganz niedergeschlagen.“
„Tut mir leid.“ Er ergriff ihre Hand. „Soll ich dir irgendetwas besorgen?“
„Nein.“
„Ein Eis? Cola?“
„Das ist lieb von dir. Aber jetzt nicht. Ich fühl mich schon besser. Es ist nur … irgendetwas stimmt seit den letzten vier Tagen nicht mehr. Es ist nicht mehr so wie am Sommeranfang. Irgendwas ist passiert.“
„Nicht zwischen uns,“ sagte er.
„Nein, natürlich nicht,“ sagte sie hastig. „Aber hast du nicht auch manchmal das Gefühl, daß manche Orte ändern? Sogar der Landungssteg hier, und die Karussells. Selbst die Hotdogs schmecken seit dieser Woche anders.“
“Was meinst du damit?“
„Sie schmecken ausgetrocknet und seltsam. Schwer zu beschreiben – aber ich habe jeden Appetit verloren. Und ich wünsche mir nur, daß der Urlaub zu Ende wäre. Am liebsten würde ich sofort nach Hause fahren.“
„Morgen ist unser letzter Tag. Kannst du es noch solange aushalten? Du weißt doch, wieviel mir diese eine Woche mehr bedeutet.“
„Ich versuch’s,“ sagte sie. „Wenn es sich hier nur nicht so merkwürdig, so anders anfühlen würde.““
„Ich glaub nicht, daß sich hier etwas verändert hat,“ sagte er. „Orte ändern sich nicht. Aber Menschen verändern sie. Viellicht haben wir nur diesen Strand leid und sollten uns einen anderen Platz suchen, an einem anderen Strand.“
„Ich weiß nicht. Ich hatte nur mit einem Mal das Bedürfnis, einfach wegzulaufen.“
„Aber warum? Wegen deinem Traum? Ich und meine Blondine und dann bin ich plötzlich nicht mehr am Leben…“
„Bitte!“ sagte sie. „Red‘ nicht so übers Sterben!“
Sie drängte sich näher an. „Wenn ich bloß wüßte, was los ist.“
„Keine Panik,“ Er tätschelte sie. „Ich beschütze dich.“
“Es geht nicht um mich, sondern um dich,“ flüsterte ihr Atem ihm ins Ohr. „Ich hatte den Eindruck, daß du mich leid bist und mich verlassen wollest.“
„Das würde ich nie tun. Ich liebe dich.“
„Wie dumm von mir.“ Sie rang sich ein Lachen ab. „Was bin ich doch für eine dumme Gans!“
Sie lagen still nebeneinander, Sonne und Himmel wie ein hingen über ihnen wie ein geschlossenes Augenlid.
„Weißt du,“ sagte er nachdenklich. „Allmählich verstehe ich, was du meinst. Irgendetwas hat sich hier verändert. Irgendetwas ist anders.“
„Schön, daß du das auch spürst.“
Er schüttelte schläfrig den Kopf, schloß die Augen, sog die Sonne ein.
„Alle beide verrückt. Alle beide.“ Flüstern. „Beide.“
Die Wellen schlugen drei Mal sachte ans Ufer.
Es wurde Nachmittag. Die Sonne schlug dröhnend auf den Gong des Himmels. Die Yachten.dümpelten heiß und blendendweiß auf den Wellen im Hafen. Die Fischer spuckten zur Seite und warfen ihre Angelleinen vor der Mole aus. Der Wind trug den Geruch von bratendem Fleisch und gerösteten Zwiebeln herüber. Der Sand flüsterte und floß wie ein Spiegelbild in einem heißen, zerfließenden Spiegel.
Das Radio neben ihnen flüsterte leise vor sich hin. Wie schwarze Pfeile lagen sie auf dem Sand, ohne sich zu regen. Nur unter den Lidern zuckte es aufmerksam, nur ihre Ohren lauschten. Ab und zu befeuchteten ihre Zungen die ausgetrockneten Lippen. Feuchte Perlen traten auf ihre Stirnen und wurden von der Sonne aufgeleckt.
Er hob den Kopf, lauschte in die Hitze hinein.
Das Radio seufzte.
Für eine Minute ließ er den Kopf wieder sinken.
Sie spürte, wie er sich aufsetzte. Sie öffnete ein Auge: er lehnte auf einem Ellenbogen und betrachtete die Mole, den Himmel, das Wasser, den Strand.
„Was ist los?“ fragte sie,
„Nichts,“ sagte er und legte sich wieder hin.
„Doch,“ sagte sie.
„Ich dachte, ich hätte etwas gehört.“
„Das Radio.“
„Nein, nicht das Radio. Etwas anderes.“
„Ein anderes Radio.“
Er gab keine Antwort. Sie spürte, wie sich sein Arm anspannte, einmal, zweimal. „Verdammt,“ sagte er. „Da ist es wieder.“
Sie lauschten beide.
„Ich höre nichts…“
„Psst!“ zischte er. „Bitte –“
Die Wellen brachen am Ufer, stumme Spiegel, Halden aus schmelzendem, flüsterndem Glas.
„Jemand singt.“
„Was?“
„Ich könnte schwören, daß da jemand singt.“
„Unsinn.“
„Nein. Hör genau hin.“
Sie taten es eine Weile.
“Ich höre gar nichts,“ sagte sie. Ihr wurde eiskalt.
Er war auf den Beinen. Nichts regte sich am Himmel, nichts auf der Mole, nichts auf dem Sand, nichts bei den Ständen der Hotdog-Verkäufer. Es herrschte eine Stille, die ihn anzustarren schien, der Wind wehte ihm um die Ohren, strich ihm über die Harre, über Arme und Beine.
Er machte einen Schritt in Richtung Meer.
„Nicht!“ sagte sie.
Er warf ihr einen Blick zu, als wenn sie gar nicht da wäre. Er lauschte immer noch.
Sie drehte das Kofferradio voll auf. Aus ihm explodierten Worte und Rhythmus und Melodie:
„… I found a million dollar baby …”
Er verzog das Gesicht und hob drohend die Hand. „Stell das aus!“
„Nein! Mir gefällt das!“ Sie stellte es lauter, begann mit dem Körper zu wippen, versuchte zu lächeln.
„.. in the five and ten cent store!”
Es war zwei Uhr.
In der Sonne verdunstete das Wasser. Mit einem lauten Stöhnen dehnte sich der alte Pier in der Sonne aus. Die Vögel hingen reglos an den heißen Himmel genagelt. Die Sonne blitzte durch die grüne Flüssigkeit, um die um Mole schwappte, sie blitzte und brannte den Wellen draußen vor dem Strand weiße Lichter auf.
Der weiße Schaum, das Korallenhirn, die Augen aus Tang. Der Staub der Gezeiten trieb im Wasser, breitete sich aus, beobachtete.
Der dunkle Mann lag immer noch auf dem Sand, neben sich die Frau im schwarzen Badeanzug.
Musik stieg wie Nebel aus dem Wasser auf. Es war eine Musik, die von tiefen Gezeiten und vergangenen Jahren flüsterte, vom Salz der Reise, vom Unbekannten, das vertraut und angenommen ist. Eine Musik, die wie die Wellen klang, die ans Ufer schlagen, wie der fallende Regen, wie etwas, das sich in der Tiefe bewegt. Sie war sehr sanft. Es war wie das Singen einer zeitlosen Stimme in einer leeren Muschel. Das Zischen und Seufzen der Gezeiten in den Laderäumen vergessener Schatzschiffe. Wie der Klang des Windes, der durch einen leeren Schädel pfeift, den jemand auf den Strandsand geworfen hat.
Aber das Radio auf dem Badetuch am Strand spielte lauter.
Das Leuchten, so leicht wie eine Frau, sank erschöpft in die Tiefe. Nur noch ein paar Stunden. Jeden Augenblick konnten sie gehen. Wenn er für einen Moment, nur einen einzigen Moment, ins Wasser kommen würde. Die Nebelschleier regten sich stumm, dachten an sein Gesicht, seinen Körper im Wasser, tief unten. Wie sie ihn einfangen würden, festhalten, wie sie zehn Faden tief sinken würden, in einer Strömung, die sie wild wirbelnd und strampelnd in die verborgenen Abgründe riß.
Die Wärme seines Körpers, das Wasser, das dieser Wärme das Feuer entzog, das Korallenhirn, der glitzernde Staub, der Nebel, die seinen heißen Atem von seinen geöffneten Lippen tranken. Der Gedanke daran ließ den Schaum erbeben.
Die Wellen trieben die sanften Gedanken in seichtes Wasser, das unter der Zwei-Uhr-Sonne warm die Badewasser dalag.
„Er darf nicht weggehen. Wenn er geht, kommt er nie zurück.“
Jetzt. Das kalte Korallenhirn driftete. Jetzt. Rief durch den heißen, windstillen frühen Nachmittag. Komm ins Wasser. Komm jetzt, sagte die Musik. Jetzt.
* * *
Die Frau im schwarzen Badeanzug drehte am Senderegler.
„Achtung!“ schrie das Radio. „Nur heute bekommen Sie ein neues Auto für …“
„Zum Kuckuck!“ sagte der Mann, beugte sich vor und stellte das Geschrei leiser. „Mußt du das so laut stellen?“
„Mir gefällt es laut!“ sagte die Frau im schwarzen Badeanzug und blickte über die Schulter aufs Meer.
Es war drei Uhr. Die Sonne füllte den ganzen Himmel.
Er stand schwitzend auf. „Ich gehe ins Wasser,“ sagte er.
„Holst du mir erst noch einen Hotdog?“ sagte sie.
« Kann das nicht warten, bis ich wieder hier bin? Muß das jetzt sein?“
„Bitte!“ Sie zog einen Schmollmund. „Jetzt.“
„Mit allem?“
„Ja. Und bitte drei Stück.“
„Drei? Großer Gott – was für ein Appetit.“ Er setzte sich im Laufschritt in der Richtung des kleinen Cafés in Bewegung.
Sie wartete, bis er fort war. Dann stellte sie das Radio aus. Lange Zeit lag sie da und lauschte. Sie hörte nichts. Sie blickte auf das Wasser hinaus, bis ihr das Glitzern und Glosen der Sonne ihr wie ins Hirn stachen wie spitze Nadeln.
Das Meer hatte sich beruhigt. Nur weit draußen spiegelte ein Netz von Wellenkämmen die Sonne in endloser Wiederholung. Blinzelnd spähte sie auf das Wasser hinaus.
Er kam zurückgelaufen. „Verflucht, ist der Sand heiß; das verbrennt mir glatt die Füße!“ Er ließ sich auf das Badetuch fallen. „Hier! Iß auf!“
Sie nahm die drei Hotdogs und machte sich über einen davon her. Als sie damit fertig war, gab sie ihm die beiden anderen. „Hier, für dich. Meine Augen waren größer als mein Magen.“
Er warf ihr einen gereizten Blick zu. „Na gut.“ Er aß sie schweigend auf. „Das nächste Mal bestell bitte nicht mehr, als du auch schaffst. Das ist unnötige Verschwendung.“
„Hier,“ sagte sie und schraubte eine Thermoskanne auf. „Du hast bestimmt Durst. Du kannst die Limonade austrinken.“
„Danke.“ Er trank. Dann klatschte er in die Hände und sagte: „Aber jetzt hüpfe ich ins Wasser.“ Er warf dem gleißenden Meer einen begehrlichen Blick zu.
„Nur noch eins,“ sagte sie, als wenn ihr gerade etwas eingefallen wäre. „Besorgst du mir eine Flasche Sonnencreme? Ich hab keine mehr.“
„Auch nicht in deiner Handtasche?“
„Ich hab alles aufgebraucht.“
„Warum hast du das nicht gesagt, bevor ich die Hotdogs geholt hab?“ sagte er gereizt. „Aber gut.“ Er trabte von neuem los.
Als er fort war, holte sie die Flasche mit Sonnencreme aus ihrer Tasche und goß die Flüssigkeit aus, bedeckte sie mit Sand, sah aufs Meer hinaus und lächelte. Sie stand auf und ging zum Strandsaum hinunter und blickte suchend über die zahllosen kleinen, unbedeutenden Wellen.
Du bekommst ihn nicht, dachte sie. Wer oder was du auch immer bist. Er gehört mir, und du bekommst ihn nicht. Ich weiß nicht, was hier vorgeht; ich weiß eigentlich überhaupt nichts. Ich weiß nur, daß wir heute Nacht mit dem Zug abreisen, und wenn ich ihn mit Gewalt dazu zwingen muß. Und morgen sind wir nicht mehr hier. Also bleib einfach hier und warte, du Meer, du Ozean oder was auch immer hier heute vorgeht.
Sie hätte es gerne laut gesagt; sie wußte, daß sie Recht hatte. Aber sie sagte nichts, damit nicht jemand auf den Gedanken kommen könnte, sie hätte einen Sonnenstich.
Mach was du willst – ich bin dir über, dachte sie. Sie hob einen Stein auf und warf ihn aufs Meer hinaus. „Da!“ rief sie. „Nimm das!“
* * *
Er stand neben ihr.
„Oh!“ Sie machte einen Satz rückwärts.
„Ich bin nur wer / der kommt vom Meer,“ sang er, „Barnacle Bill der Matrooose!“ Er biß ihr spielerisch in den Nacken und sie wand sich spielerisch in seinem Griff. „Was ist los? Führst du hier Selbstgespräche?“
„Hab ich das? Wo ist die Sonnenceme? Reibst du mir den Rücken ein?“
Er goß einen gelben Strang Öl aus und massierte damit ihren goldenen Rücken. Ab und zu schaute sie aufs Wasser hinaus und nickte, als ob sie sagen wollte: „Siehst Du wohl?“ Sie schnurrte wie ein Kätzchen.
„Hier.“ Er gab ihr die Flasche.
Er fast fast schon am Wasser, als sie schrie.
“Was machst du da? Komm zurück!“
Er drehte sich um und sah sie an, als ob er sie nicht kennen würde. „Was zum Teufel ist eigentlich mit dir los?“
„Du hast gerade deine Hotdogs gegessen und Limonade getrunken – wenn du jetzt ins Wasser gehst, bekommst du Krämpfe.“
„Das ist doch Aberglauben!“
„Trotzdem. Du kommst jetzt her und wartest eine Stunde, bevor du baden gehst, hörst du mich? Ich will nicht, daß du einen Krampf bekommst und ertrinkst.“
„Ach was,“ sagte er angewidert.
„Kommt mit,“ sagte sie und er folgte ihr und warf einen Blick zurück aufs Meer.
* * *
Drei Uhr. Vier.
Das Wetter schlug um zehn Minuten nach vier um. Die Frau im schwarzen Badeanzug lag auf dem Sand, sah das kommen, und entspannte sich. Seit drei Uhr hatte es sich bewölkt. Rasch kam Nebel aus der Bucht her auf. Die Wärme wich der Kälte; ein Wind blies aus dem Nichts. Dunkle Wolken zogen auf.
„Es wird regnen,“ sagte sie stolz.
„Du scheinst ja richtig begeistert zu sein,“ stellte er fest und verschränkte die Arme. „Unser letzter Tag, und du hast Spaß, weil es sich zuzieht.“
„Im Wetterbericht,“ vertraute sie ihm an, „haben sie gesagt, daß es heute Nacht und morgen den ganzen Tag Gewitterschauer geben soll.. Wir sollten am besten heute Nacht abreisen.“
„Wir bleiben, falls es doch noch aufklart. Ich will auf jeden Fall noch einen Tag schwimmen,“ sagte er. „Ich war heute noch gar nicht im Wasser.“
„Wir haben uns so gut mit Reden und Essen unterhalten, wir haben gar nicht gemerkt, wie die Zeit verstrichen ist.“
„Sicher,“ sagte er und blickte auf seine Hände.
Nebelstreifen wurden über den Sand geweht.
„Da!“ sagte sie. „Mir ist ein Regentropfen auf die Nase gefallen!“ Sie mußte darüber albern lachen. In ihren Augen blitzte wieder jugendliches Feuer. Sie triumphierte fast. „Herrlicher Regen!“
“Was gefällt dir daran so?“ wollte er wissen. „Du bist heute merkwürdig.“
“Regnen soll‘s!“ sagte sie. „Komm schon und hilf mir mit den Decken. Wir sollten uns beeilen!“
Er sammelte die Decken langsam ein, immer noch abgelenkt. „Nicht mal ein letztes Mal schwimmen, verdammt noch mal!“
„Ich hätte Lust, einmal noch reinzuspringen.“ Er lächelte sie an. „Nur ganz kurz!“
„Nein:“ Sie wurde bleich. „Du wirst dich erkälten, und dann muß ich dich gesundpflegen!“
„Schon gut, schon gut.“ Er wandte dem Meer den Rücken zu. Leichter Regen setzte ein.
Sie ging vorweg und schlug den Weg zum Hotel ein. Sie sang leise vor sich hin.
„Warte mal!“ sagte er.
Sie blieb stehen. Sie drehte sich nicht um. Sie hörte nur seine Stimme hinter sich.
„Da draußen im Wasser ist jemand!“ rief er. „Da ertrinkt jemand!“
Sie konnte kein Glied rühren. Sie hörte das Laufen seiner Füße.
„Warte hier!“ rief er. „Ich bin sofort wieder da! Da ist jemand im Wasser! Das scheint eine Frau zu sein!“
„Alamier die Rettungsschwimmer!“ rief die Frau im schwarzen Badeanzug und wirbelte herum.
„Von denen hat keiner mehr Dienst!“ Er lief hinab zum Ufer, zum Meer, den Wellen entgegen.
“Komm zurück!” schrie sie. “Da draußen ist niemand! Nicht, bitte nicht!“
“Keine Angst! Ich bin gleich zurück!“ rief er. „Sie ertrinkt da draußen, siehst du das nicht?“
Der Nebel zog sich zu, der Regen prasselte, ein weißes, blitzendes Licht wurde in en Wellen sichtbar. Er lief, und die Frau im schwarzen Badeanzug lief hinter ihm her, ließ Badesachen fallen, weinte, Tränen strömten ihr aus den Augen. „Nicht!“ sagte sie. Sie streckte die Hände aus.
Er sprang in eine heranrollende Welle.
Die Frau im schwarzen Badeanzug wartete am Strand.,
Um sechs Uhr ging die Sonne irgendwo hinter dunklen Wolken unter. Der Regen prasselte leise auf das Wasser, ein fernes Trommeln.
Unter dem Wasser bewegte sich ein schimmernder weißer Schemen.
Der weiche Umriß, der Schaum, der Tang trieb in den Untiefen. Tief unter dem wogenden Glitzern war der Mann.
Zerbrechlich. Der Schaum warf Blasen. Im Korallenhirn formte sich ein geheimer Gedanke wie ein Kiesel. Zerbrechliche Menschen. So empfindlich. Wie Püppchen. Nichts, nichts halten sie aus. Eine Minute unter Wasser, und sie werden krank, sie sind abgelenkt, und sie erbrechen sich und schlagen um sich und liegen dann einfach und tun nichts. Sie tun gar nichts mehr. Wie merkwürdig. Und was für eine Enttäuschung, nach all diesem Warten.
Was kann man jetzt mit ihm anfangen? Sein Kopf schwankt, sein Mund öffnet sich, seine Augen stieren, seine Haut wird bleich. Wach auf, dummer Mann! Wach auf!
Das Wasser rauschte um sie.
Der Mann hing schlaff, mit aufgerissenem Mund.
Das Meeresleuchten, das grüne Algenhaar entfernten sich.
Er wurde freigegeben. Eine Welle trug ihm zurück an das schweigende Ufer. Zurück zu seiner Frau, die dort im kalten Regen auf ihn wartete.
Der Regen ergoß sich auf das schwarze Wasser.
Fern, unter dem bleiernen Himmel, von der dämmernden Küste her, war der Schrei einer Frau zu hören.
Ahhh – der uralte Staub regte sich träge im Wasser – ist das nicht typisch für eine Frau? Jetzt will sie ihn auch nicht mehr!
Um sieben Uhr fiel der Regen in Strömen. Es war Nacht und sehr kalt, und in den Hotels entlang der Küste mußte man die Heizungen anstellen.
II.
Im Rahmen meines Beitrags zum hundertjährigen Bestehen des „ersten wirklichen Genremagazins,“ nämlich dem Erscheinen der ersten Ausgabe von „Weird Tales“ im März 1923, habe ich auch auf das deutsche Vorläufermagazin „Der Orchideengarten“ verwiesen, das vom Januar 1919 bis zum November 1921 in insgesamt 51 Heften im Münchner Dreiländerverlag herausgegeben wurde – und warum die beiden Journale meinem Dafürhalten nach mehr trennt als verbindet, ungeachtet der Ausrichtung auf die Literatur des Grotesken und des literarischen Schreckens. Da es sich lohnt, diesem Anlaß mehr als eine Adnote zu widmen, möchte ich diesen Unterschied anhand zweier kleiner Texte illustrieren.
Man kann man natürlich einwenden, eine solche Gegenüberstellung sei unfair, da einzelne kurze Skizzen ja nicht für den Gesamtgehalt solcher Magazine einstehen können. Das stimmt natürlich. Aber über das verbindende Thema „Tod in den Wellen“ zeigen sich in ihnen eben die Merkmale, die den Inhalt der beiden Magazine voneinander unterscheidet.
Leopold Plaichinger gehört zu den gar nicht so seltenen „No Names“ der deutschsprachigen Phantastik der vorigen Jahrhundertwende, grob gefaßt also der Zeit zwischen Mitte der 1880er Jahren und dem Beginn der Dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts, von denen man nicht sagen kann, „sie seien in Vergessenheit geraten,“ weil sie es selbst zu Lebzeiten niemals zu irgendeiner Bekanntheit gebracht haben. Ein ähnlicher Fall liegt bei Hermann Plahn vor, der 1927 eine kleine Sammlung von Grotesken mit dem Titel „Seltsame Geschichten: Grotesken und Phantasien aus dem Reiche der überirdischen Welt“ unter dem Pseudonym Pan-Appan beim nicht eben prominenten Verlag der Thüringer Verlagsanstalt H. Bartholomäus in Erfurt herausbrachte. Eine dieser Grotesken erschien in englischer Übersetzung von Roy Temple House im Juli 1935 in „Weird Tales.“ Außer der Tatsache, daß Plahn 1865 in Schweidnitz in Schlesien geboren worden ist und im Zivilstand als Werkschemiker gearbeitet hat, (wie aus Franz Brümmers „Lexikon der deutschen Dichter und Prosaisten vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart“ (Leipzig 1913) hervorgeht, ist nichts weiter über ihn bekannt. Von Plaichinger sind zumindest beide Lebensdaten aufzufinden: geboren wurde er am 14. August 1889 in Laibach, gestorben ist er mit 43 Jahren am 27. Februar 1933 in München. Zuerst taucht sein Name 1911 im Zussammenhang mit Literatur als Mitherausgeber der in Graz erschienenen Halbmonatsschreift „Der Herold“ auf. In den beiden ersten Nummern der von Heinz Goltz ebenfalls in München edierten Zeitschrift „Ararat“ (22 kleine Ausgaben bis 1922), die dem Expressionismus oder Dadaismus zugerechnet wird (beides läßt sich in diesen Jahren schwer auseinanderhalten, taucht sein Name in den ersten Ausgaben als Mitarbeiter auf. Ebenfalls 1919 erschien im Dreiländerverlag, in dem auch der „Orchideengarten“ verlegt wurde, ein kleiner Band mit 7 Novellen unter dem Titel „Dämonen des Schweigens.“ Bei Sammlern von Raritäten auf diesem Gebiet gilt dieser Titel als Preziose; nur 4 Bibliotheken weltweit verzeichnen ein Exemplar in ihren Beständen: die LMU München, die Deutsche Nationalbibliothek in Leipzig, die Bayerische Staatsbibliothek und die University of Massachusetts in Boston. (Bei den drei deutschen Nationalbibliotheken dürfte es sich um die obligatorischen Belegexemplare handeln.) Karl Hans Strobl, Herausgeber des „Orchideengarten,“ hat aus diesem Band drei Texte in ersten Jahrgang des Magazin nachgedruckt: „Das Baumgespenst“ (Heft 12), „Der Dreizehnte“ (Heft 13), und eben „Das Meer“ in der Doppelnummer 16/17. Als einziges Originalbeiträge Plaichingers erschienen dort die Erzählung „Sherlok Holmes letztes Abenteuer“ (in Heft 14, das „Detektivgeschichten“ gewidmet war – in denen der „beratende Detektiv“ – ohne „c“ im Vornamen – seinen Beruf an den Nagel hängt, weil er herausgefunden hat, daß es der Detektiv selbst ist, der erst die Verbrechen hervorruft), und „Die Lokomotive“ im Heft 4 des Jahrgangs 1920, das der „Phantastik der Technik“ gewidmet war und in der zweiten Februarhälfte erschien. („Sherlock Holmes' Last Adventure,“ – mit „c“ – ist übrigens der einzige Text Plaichingers, der übersetzt worden ist: auf Englisch erschien er 1991 in der Nummer 68 des Fanzines „Baker Street Miscellanea,“ dessen 76 Ausgaben zwischen 1975 und 1993 von Donald K. Pollock herausgegeben worden sind.)
Für einigermaßen wahrscheinlich halte ich es allerdings, daß für Plaichinger, wie etwa auch für seine Kollegen Hanns Heinz Ewers oder Strobl der aufkommende Nationalsozialismus zum Erweckungserlebnis wurde. In Eberbach wurde 1939 wurde die dortige Obere Badstraße nach dem Gründer der dortigen NSDAP-Ortsgruppe, eben Leopold Plaichinger, umbenannt; seine letzten namentlich nachzuweisenden Beiträge sind 1932 und Anfang 1933 in den Zeitschriften „Deutsche Agrarpolitik: Monatsschrift für Deutsches Bauerntum“ (zum Thema „Weltpolitik, Leihkapital und Boden“) und im Januar 1933 im 7. Heft der Zeitschrift „Odal“ (mit dem Untertitel „Monatsschrift für Blut und Boden“) aufzufinden. Dieser Leopold Plaichinger war im Beruf Werkstoffchemiker bei BMW und über Wilhelm Keppler Gründungsmitglied des „Freundeskreis Reichsführer SS Himmler,“ der nach der Neugründung der Partei 1925 Kontakte der Wirtschaftskonzerne zur aufstrebenden NSDAP knüpfen sollte. In Johnpeter Ernst Grills Arbeit „The Nazi Movement in Baden, 1920-1945“ (1983) erhellt, daß Plaichinger 1927 der Partei beigetreten ist. Da in Ulrich Christoph Knapps Buch „Wankel auf dem Prüfstand“ (Waxmann 2006, S. 39) angegeben wird, daß dieser Leopold Plaichinger am 27. Februar 1933 in München an Leukämie gestorben ist – bei der Beerdigung hat Heinrich Himmler persönlich einen Kranz am Grab niedergelegt -, scheint mir hier nicht nur eine Namensgleicheit, sondern eine Personalunion vorzuliegen. (Knapp zitiert hier aus der nur als Typoskript vorliegenden „Denkschrift gegen Melasch,“ die Felix Wankel 1952 verfaßt hat und in Mannheim in Felix-Wankel-Archiv im Landesmuseum für Technik und Arbeit unter der Signatur 01176 archiviert ist. In einer Fußnote heißt es in Knapps Buch: „Das Geburtsjahr Plaichingers ließ sich vom Verf. nicht mehr ermitteln.“) und wenn ich in Marcus Popplows Biographie „Felix Wankel: Mehr als ein Erfinderleben“ (2011 bei Sutton erschienen) lese:
Der Wankel zunächst näherstehende Mittelsmann für diese Bekanntschaft ( = mit Wilhelm Keppler) war der blad rückhaltslos vom ihm bewunderte, 1889 geborene Österreicher Leopold Plaichinger. Plaichinger gehörte seit den frühen 1920er-Jahren zum Kern der Münchener NSDAP und hatte zunächst als Werkschemiker bei BMW in München gearbeitet. 1927 war er mit dem Ziel in das Werk des einige Jahre älteren Keppler eingetreten, diesen für die Partei zu gewinnen, was ihn nach kurzer Zeit gelang. Wie Keppler interessierte sich auch Plaichinger für technische Innnovationen. ... Plaichinger bedrängte Wankel und seine Kumpane, sich ihre Entwürfe für Rotationskolbenmaschinen patentieren zu lassen. (S. 46, 48)
und:
Mehrfach hatte Wankel Plaichinger in München besucht und dabei einen Eindruck von den intensiven Bemühungen im Umfeld der Parteispitze erhalten, die die Machtübernahme vorbereiteten. Obwohl nur Zaungast, zeigte sich Wankel in Briefen an die Mutter von dem ständigen Ein und Aus entsprechender Prominenz bei Plaichinger stark beeindruckt. 'Bei LPI herrscht ja ein ganz toller Menschenwirbel. Reichsleitungstiere, Chinesen, Griechen, Grafen und Gräfinnen, Ostasienflieger, Hjalmar Schacht, Industriekönige, Zeitungsgroßbonzen, alle kam auf die Bühne während der drei Wochen," schreibt er am 29. Mai 1932, auf Stippvisite in der Heidelberger Werkstatt, an seine Mutter. (S. 52)
…dann sind sämtliche Unklarheiten ausgeräumt.
(Ich sollte an dieser Stelle betonen, daß ich dem Namen Plaichinger nur im Zusammenhang mit seinen literarischen Jugendsünden kannte, als ich den obigen Text ausgewählt und bevor ich mich auf eingehendere Spurensuche gemacht habe. Es ist immer wieder frappierend, welche Abgründe sich hier unverhofft auftun. Es erklärt allerdings auch zwanglos, warum Plaichinger solche Ambitionen nach seinen bescheidenen Anfängen nicht weiterverfolgt hat. Darüber hinaus dürfte er recht froh gewesen sein, wenn sich niemand daran erinnerte. Als Hanns Heinz Ewers sich 1932 anheischig machte sich mit einem biographischen Roman über das Leben des sozusagen offiziellen Märtyrers der Nazis, Horst Wessel, zu machen, erinnerte Will Vesper in der Zeitschrift „Die Neue Literatur“ an dessen frühere Romane, die ziemlich darstellten, was als „Asphaltliteratur“ verfemt war: „Wahrhaftig, wie hätten dem Kämpfer Horst Wessel gewünscht, daß es ihm erspart geblieben wäre, von Fingern angefaßt zu werden, die noch allzu deutlich nach Morphium, ‚Vampiren,‘ ‚Toten Augen‘ und ähnlich fauligen Dingen riechen.“ – Die Neue Literatur, April 1933)
Die Illustration zu „Das Meer“ stammt von Plaichingers Ehefrau Efriede Plaichinger-Coltelli (geboren 1883 in Graz und 1971 in Ebersberg bei München gestorben)
III.
(Ray Bradbury, 1950. Das Photo wurde vom Verlag Doubleday für die Umschlagrückseite von "the Martian Chronicles" verwendet.)
Im Gegensatz zu Plaichinger ist Ray Bradbury alles andere als ein literarischer „Nobody“ (oder jemand mit Hang zu totalitären Ideologien). Von den rund 110 Erzählungen, die Bradbury während seiner „literarischen Gesellenzeit“ zwischen 1941 und 1950 in den amerikanischen Pulp-Magazinen publiziert hat (darunter gut 25 Krimi-Geschichten in Magazinen wie „Detective Tales“ oder „Dime Mystery“ – die er später als reine Brotarbeiten ansah und von denen 15 erst 1984 in der Sammlung „A Memory of Murder“ nachgedruckt worden sind), sind 25 in „Weird Tales“ erschienen. Von „The Candle“ (November 1942) bis „Fever Dream“ (September 1948) ist er damit in zwei Dritteln der insgesamt 37 Ausgaben vertreten. Und besonders bei den späteren Beitragen wie „The October Game“ (März 1948), „The Black Ferris“ (Mai 1948 – die Keimzelle des Romans „Something Wicked This Way Comes“ von 1962) oder eben „Fever Dream“ handelt es sich um „klassischen Bradbury“- um Texte, die seinen Lesern unauslöschlich im Gedächtnis geblieben sind und unser Bild von diesem Autor nachhaltig geprägt haben – atmosphärische Evokationen des „Oktoberlands“ ohne die Strömung des Sentimental-Nostalgischen, die so viele Texte Bradbury seit „Dandelion Wine“ (1957) überwuchern.
„The Women“ gehört, wie oben nachzulesen ist, zu dieser Gruppe. Sie ist eine der beiden Erzählungen (neben „King oft he Grey Spaces,“ Dezember 1943), die seine Agenten (Julius Schwartz, der den Verkauf ihrer Produktion für viele Kollegen aus dem Bereich der SF 1941 übernommen hatte, und Don Congdon, der als Herausgeber beim Verlag Doubleday Bradbury um einen Roman gebeten hatte, nach die Veröffentlichung von „Homecoming“ im Magazin Mademoiselle im Oktober 1946 mit den Illustrationen von Chas Addams den Autor erstmals bei einer „allgemeinen“ Leserschaft bekannt gemacht hatten und der sich im folgenden Sommer als Literaturagent selbstständig gemacht hatte) an das Magazin„“Famous Fantastic Mysteries“ verkauft hatte. Aber von der Anlage des Textes, von seiner Stimmung, seinem Stil entspricht „The Women“ ganz den Texten im „Unique Magazine.“
„Famous Fantastic Mysteries,“ auch unter dem Kürzel FFM geläufig, war 1939 von dem altgedienten Pulpverleger Frank A. Munsey Company gegründet worden, um den Boom auf dem Markt der literarischen Phantastik auszunutzen. Munsey war mit den Magazinen „Argosy“ (gegründet 1882 als Wochenmagazin für Jungen unter dem Titel „The Golden Argosy“ gegründet und ab 1895 als Monatsmagazin für alle Arten von Unterhaltungsliteratur) und „The All-Story“ von gleichem Zuschnitt ab Januar 1905 zum größten Verlag für Publikationen dieser Art in den USA geworden. In „The All-Story“ erschien von Februar bis 1912 das erste Abenteuer John Carters von Edgar Rice Burroughs, „Under the Moons of Mars,“ und im Oktober des gleichen Jahres der erste Tarzan-Roman desselben Verfassers. Aber die Magazine präsentierten Lesestoff aus allen Bezirken der Unterhaltungsliteratur. FFM dagegen spezialisierte sich von der ersten Nummer vom September 1939 auf Nachdrucke längst vergriffener phantastischer oder spekulativer Sujets – dem, was wir heute unter „Fantasy“ kennen. Im zweiten Erscheinungsjahr varierte Mary Gnaedinger, die bis zum Juni 1953 alle 81 Ausgaben betreute, das Format. Waren bis dahin nur kurze Texte als Nachdruck gebracht worden, so folgte im Februar 1940 die erste neue Erzählung (Eando Binders „Son of the Stars“), ab Juni wurden die rein auf Text beschränkten Umschläge durch die üblichen bewaffneten Helden und leichtgeschürzten Damen des Genres ersetzt, und ab Oktober lag der Schwerpunkt jeder Aufgabe auf dem vollständigen Nachdruck eines Romans, mit einer oder zwei kurzen Erzählungen als Beilage. Insgesamt brachte das Magazin bis zu seinem Ende 25 neue Stories von Autoren wie Murray Leinster „The Night Before the End of the World“ (August 1948), C. L. Moore und A. Bertram Chandler, der bei diesen Gelegenheiten unter dem Pseudonym Goerge Whitley agierte. Aus Arthur C. Clarkes einzigem Beitrag, „Guardian Angel“ (April 1950) wurde die Keimzelle seines neben „2001: A Space Odyssey“ bekanntestem Roman: „Childhood’s End“ (1953). Besonderen Wert legte FFM stets auf die optische Aufbereitung seiner Stoffe. Viele der berühmtesten Illustrationen von Virgil Finlay oder Lawrence Stevens haben auf diesen Seiten die Werke von Abraham Merritt, G. K. Chesterton und Rider Haggard bebildert.
Bei der Durchsicht dieser alten Jahrgänge muß man sich auf handfeste Überraschungen gefaßt machen. Das Inhaltsverzeichnung der letzten Ausgabe vom Juni 1953 dürfte das erstaunlichste Potpourri darstellen, daß je in einem Magazin dieser Art dieser Couleur dargereicht worden ist. Nicht nur findet sich dort ein Nachdruck von Ayn Rands erstem Roman „Anthem“ aus dem Jahr 1938, sondern auch Franz Kafkas „The Metamorphosis“ in der Übersetzung von Edwin und Willa Muir, sondern auch ein Nachdruck von Robert E. Howard „Worms of the Earth“ (ursprünglich in Weird Tales im November 1932 erschienen), um Howards Barbarenhelden King Kull, den unmittelbaren Vorläufer von Conan dem Barbaren, sowie Bradburys Story „Pendulum,“ dem ersten Text, den er 1941 an ein professionell zahlendes Medium verkauft hatte, und an dessen Zustandekommen sein Ko-Autor Henry L. Hasse wesentlich beteiligt gewesen war.
Das Titelbild für die Ausgabe FFM vom Oktober 1948 stammt von Lawrence Stevens, en für das Magazin seit 1943 und die 20 Ausgaben des Schwestermagazins „Fantastic Novels“ insgesamt 51 Titelbilder beigesteuert hat. Die Innenillustration stammt von Virgil Finlay (1914-1971).
IV.
„The Women“ verdankt sich hauptsächlich einen recht desaströsen Ausflug Bradburys nach Mexiko, den er mit seinem Freund Grant Beach im Oktober und November1945 unternommen hatte. Beach, den Bradbury 1939 im Fanklub der Science Fiction Society in Los Angeles kennengelernt hatte, hatte Bradbury dazu gedrängt, seine Texte „richtigen“ – und vor allem respektablen – Magazinen einzureichen, und im Lauf einer Woche im August waren „Invisible Boy“ von Mademoiselle, „The Miracles of Jamie“ bei Charm und „One Timeless Spring“ von Collier’s Magazine zur Veröffentlichung worden. Bradbury, der sich Beach wegen dieses Durchbruchs verpflichtet fühlte, ließ sich von ihm zu dieser Reise überreden. Bradbury konnte kein Auto fahren, verstand kein Wort Spanisch, und das Reisen war ihm fast so verhaßt wie sämtliche Ausgeburten der modernen Technik. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – brannten sich ihm die Erlebnisse ein und dienten ihm noch Jahrzehnte später als Inspirationen für die Bilder und Metaphern seiner Texte – besonders die Mumien von Guanajuato in Zentralmexiko – bei denen 180 mumifizierte Tote, die hauptsächlich in den 1830er Jahren der Cholera zum Opfer gefallen waren, ausgegraben worden waren – ein Brauch, der dazu dienen sollte, von noch Lebenden Angehörigen Schutzgelder für eine neue Bestattung abzupressen, und die dem Beginn des 20. Jahrhunderts gegen ein kleines Entgelt des Yanguis und zum wohligen Schauer präsentiert wurden. (Älteren Cineasten sind sie vielleicht aus Werner Herzogs Neuverfilmung von „Nosferatu“ aus dem Jahr 1979 bekannt.) Für Bradbury war diese Konfrontation en traumatisches Erlebnis, das er in seiner Erzählung „The Next in Line“ (zuerst 1947 in seiner ersten Sammlung „Dark Carnival“ erschienen) verarbeitet hat. In „The Stories of Ray Bradbury“ (1980) schreibt er dazu:
„Die Erfahrung erschreckte und verletzte mich zutiefst. Ich konnte es kaum abwarten, das Land fliehen zu können. Ich hatte Albträume, daß ich sterben müßte und mich in diesem Gang in Gesellschaft mit diesen festgezurrten Leichen wiederfinden würde. Um mir das Grauen von der Selle zu schreiben, schrieb ich unverzüglich ‚The Next in Line.‘ Es war eines der wenigen Male, in denen eine Erfahrung sofort zu einem Werk geführt hat.“
Zwei Fußnoten: In Bradburys Erzählung spielt ein Kofferradio mit. Aber Moment einmal: der erste Transistor, Kernstück aller handlichen Elektronik, wurde doch von William Schockley erst 1947 gebaut? Der erste grobe, noch überaus klobige Punkkontakt-Transistor, dessen Versuchsaufbau run 8 Zentimeter Seitenlänge aufwies, wurde in den Bell Labs am 16. Dezember 1947 ausprobiert; die erste Veröffentlichung dazu erschien am 25. Juni 1948 in der Fachzeitschrift „Physical Letters“ und die ersten Medienberichte wurde am 30. Juni 1948 von der Presse gebracht. Das erste tatsächlich mit Halbleitern bestückte Taschenradio, das Modell Regency TR-1, kam zum Weihnachtsgeschäft 1954 in den Handel. Zu den ersten der etwa 150.000 Käufer, die bereit waren, den Ladenpreis von 50 Dollar (oder dem Äquivalent in der jeweiligen Landeswährung; nach heutiger Kaufkraft etwas dem Zehnfachen entsprechend) anzulegen, gehört Arthur C. Clarke, in diesem Netztagebuch kein Unbekannter, der sich freute, auf seinen Urlaubswanderungen nicht mehr vom Nachrichtenstrom aus aller Welt abgeschnitten zu sein. „It ate batteries at an alarming rate,“ schrieb er später dazu.
Der TR-1 war der erste Empfänger für die Westentasche 8und hat als solcher einen kleinen Platz in der Ahnenreihe der heutigen Smartphones); aber auch schon vorher wurden röhrenbestückte Radios in transportabler Größe angeboten, eben auch für den Urlaubseinsatz am Strand, wie man an dieser Reklame der Firma Motorola aus unserem fraglichen Jahr 1948 sehen kann.
V.
„Traddutore – traditore“: Daß ich von den beiden Liedzeilen in Bradburys Erzählung nur eine ins Deutsche verschifft habe, stellt eine Inkonsistenz dar. Es ist nicht üblich, solche Zitate anzugleichen und etwa die Piaf „nein, ich bereue nichts!“ singen zu lassen. Andererseits macht es sich nicht gut, jemandem, der seine Liebste überrascht, in ein anderes Idiom verfallen zu lassen, was er im Original nicht tut – auch wenn beide Schlager den Lesern heute gleichermaßen unbekannt sein dürften, wenn sie nicht gerade Liebhaber der Jazzstandards der 1930er und 30er sind.
„Barnacle Bill the Sailor“ ist ein amerikanisches Seemannslied, das zuerst in der Liedersammlung „Immortalia“ aus dem Jahr 1927 veröffentlicht worden ist. Frank Luther und Carson Robinson haben ein Jahr später eine Textversion angefertigt, die auch in gesitteter Umgebung vorgetragen werden konnte – un die die Grundlage für die späteren Tonaufnahmen gebildet hat, ab der ersten Einspielung von Bix Beiderbecke und Hoagy Carmichael von 1930. So etwa auch in dem 8 Minuten langen Betty-Boop-Zeichentrickstreifen „Barnacle Bill,“ den ab August 1930 im Kino-Vorprogramm lief. Im Original ist die verschiedenen Textfassungen, die in der Gordon „Inferno“ Colleciotn der amerikanischen dokumentiert sind, um es auf gut Hamburgisch zu sagen, „aarch un-an-sständich“ – nicht ganz so massiert wie „The Good Ship Venus“ (auch bekannt unter dem Titel „Friggin‘ in the Riggin‘“), aber eindeutig unzweideutig.
Who's that knocking at my door?
Said the fair young maiden.
It's only me from over the sea,
Says Barnacle Bill the Sailor.
My ass is tight, my temper's raw,
Says Barnacle Bill the Sailor.
I've newly come upon the shore,
And this is what I'm looking for,
A jade, a maid, or even a whore,
Says Barnacle Bill the Sailor.
I'm dirty and lousy and full of fleas,
Says Barnacle Bill the Sailor
I'll stick my mast in whom I please,
Says Barnacle Bill the Sailor
My flowing whiskers give me class,
The sea horses ate them instead of grass,
If they hurt your cheeks, they'll tickle your ass,
Says Barnacle Bill the Sailor.
(Ich erlaube mir an dieser Stelle den Hinweis, daß es sich hier noch um eine der dezenteren Fassungen handelt.)
„I Found a Million-Dollar Baby“ war einer populärsten amerikanischen Schlager aus dem darauffolgenden Jahr, 1931, und teilt die Herkunft mit zahlreichen anderen Klassikern des „Great American Songbook.“ Komponiert von Harry Warren für das Broadwaymusical „Billy Rose’s Crazy Quilt,“ mit Text von Mort Dixon und Billy Rose, kam es im Mai 1931 auf die Bühne und erlebte zahlreiche Einspielungen durch eine Reihe von Jazzbands – wobei sich die Fassung von Fred Warings Pennsylvanians am erfolgreichsten verkaufte, gefolgt von der Version von Bing Crosby. Während die Nummernrevue, eine von hunderten jener Jahre, schnell und völlig in Vergessenheit geriet, wurde das Lied selbst in den nächsten Jahrzehnten immer wieder aufgenommen – etwa 1941 von Benny Goodman oder 1958 von Nat King Cole.
(Aufnahme des Frank Auburn Orchestra, 1931)
(The Boswell Sisters, 1931)
VI.
Oben habe ich geschrieben, daß es für Ray Bradbury keine Verbindung – welch indirekter Art auch immer – zu den politischen Extremismen des 20. Jahrhunderts gibt. Etwas anderes ist für den Autor von „Fahrenheit 451“ auch gar nicht zu erwarten. (Aus dem Rückblick mutet es auf den ersten Blick etwas seltsam an, daß Bradbury in der Sowjetunion der Chruschtschow-Zeit einer der am häufigsten übersetzten und in größter Auflage gedruckten westlichen Autoren war. „Fahrenheit 451“ wurde bereits 1956, vor dem Einsetzen des „Tauwetters“ zwei Jahre später, als „451 градус по Фаренгейту“ in der Übersetzung von Tatjana N. Schinkar herausgebracht.)
Aber für „Million Dollar Baby“ gibt es, wie ich ebenfalls erst bei der Recherche für diesen Beitrag feststellen mußte, eine solche Verbindung – und eine, die ebenso in Vergessenheit geraten ist wie Leopold Plaichingers Lebensweg.
Wie es sich herausstellt, hat es in der 1940er Jahren auch zwei deutsche Einspielungen dieses Titels gegeben. Zum einen eine textlose Bounce-Version, die Kurt Widmann am 3. Mai 1947 in Berlin eingespielt hat und die von der Firma Radiophon unter dem Titel „Ich habe kein Vermögen“ mit der Katalognummer R7478B/47 auf den Markt gebracht wurde.
Und zum anderen … (und hier muß ich dieser Leser im Vorab schon einmal um Entschuldigung bitten, daß ich dergleichen in diesem Blog bringe – aber es gehört nun einmal in die Wirkungsgeschichte dieses Stücks mit hinein) … und zum anderen eine mit einem neuen englischen Text versehene Fassung aufgenommen von Charlie and His Orchestra für die Deutsche Grammophon in Berlin im Mai 1942.
Ich nehme an, daß der Name dieser Kapelle den meisten Leser ebenso unbekannt ist wie er es mir bis vor drei Tagen war. Wie es sich herausstellt, hatte das RMVP, das Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, das seit Mitte September 1939 die Sendereihe „Germany Calling“ beginnen hatte, in der der irische Faschist William Joyce (besser bekannt unter seinem Spitznamen „Lord Haw-Haw“ – aufgrund seiner belfernden Intonation), der Mitte August nach Berlin gekommen war, um einer Internierung durch die englischen Behörden zu entgehen, vor dem Mikrophon stand. Joyce wurde nach Kriegsende wegen seiner Sendungen in England hingerichtet. Hinzuzufügen wäre noch, daß diesen Sendungen – wie auf denen der Japaner, die zumeist, und wesentlich weniger aggressiv, von Iva D’Aquino, bekannt als „Tokyo Rose“ – oder des italienischen Rundfunk, in dem Ezra Pound auftrat – keinerlei Erfolg beschieden gewesen ist. Obwohl sie von den Soldaten der Gegenseite bei jeder Gelegenheit gehört wurden, diente ihnen dies einzig zur Unterhaltung und zum Amüsemang.
Um den englischen Hörern die deutsche Propaganda etwas schmackhafter zu machen, hatte das Ministerium den aus Düsseldorf stammenden Saxophonisten Lutz Templin damit beauftragt, eine Swingband zusammenzustellen, deren Einspielungen nicht die abgespeckten „Slowfox“-Versionen bringen sollten, die im Reich rudimentär den Swing-Gestus anklingen ließen, sondern sich wie die Originale von Tommy Dorsey & Co. anhören sollten. Zu diesem Zweck war es Templin (1901-1973) sogar gestattet, die verbotenen „Feindsender“ abzuhören, um seine Arrangements danach auszurichten.
Dabei wurden die gängigen Standards jener Jahre mit einem neuen Text versehen, der den Vorgaben der Reichspropaganda entsprach. Meistens entsprach die erste Strophe dem Original und ging erst danach in medias res über; aber es gab, wie eben bei „Million Dollar Baby“ auch Ausnahmen. Eingespielt wurden die Aufnahmen bis 1943 im Deutschlandhaus des Deutschen Rundfunks in Berlin, danach in Stuttgart. Ausgestrahlt wurden sie auf Kurzwelle, so daß sie – theoretisch – im Reich selbst nicht gehört werden konnten. (Der Empfang des „Volksempfängers,“ aus Goebbelsschnauze genannt, beschränkte sich auf Lang- und Mittelwelle.) Den Gesangspart übernahm in diesem Fall, wie bei den meisten Aufnahmen, Kurt Schwedler (1902-1970). Es wird geschätzt, daß während der Kriegsjahre ungefähr 200 solcher Aufnahmen entstanden sind.
The day that Churchill came to power
was just the most convenient hour
he came as million dollar baby
in the ten cent English war.
The war continued for an hour
he lost some battled - three or four -
because his million dollar baby
ran a ten cent English war
He's so proud of China
while Roosevelt made him eyes
he kept backing China
until the Japs got wise.
Incidentally … if Churchill keeps himself in power
and carries on with his own war
you'll pay a million dollar forfeit
with the Empire on the floor!
(Beide Versionen; die Aufnahme von „Charlie and His Orchestra“ beginnt bei Minute 3:16)
VII.
Die Abiogenese, mit der Bradbury die Entstehung seines Seegespensts umreißt dürfte sich ganz direkt der Anregung durch einen anderen Text verdanken – der Kurzgeschichte „It“ von Theodore Sturgeon (1918-1985), die im August 1940 im Magazin „Unknown Worlds“ erschienen war, mit dem der Herausgeber von „Astounding Science Fiction,“ ab dem März 1939, ein halbes Jahr vor der ersten Ausgabe von FFM, ebenfalls diese Marktlücke erschließen wollte – mit einem Journal für phantastische Sujets, dem das reißerische Ambiente von „Weird Tales“ abgehen sollte. Neben der Novelle „Microcosmic God“ (Astounding, April 1941) war es diese Geschichte um die spontane Entstehung eines monströsen, aber unschuldigen Wesens aus Mulm und Mulch, das Sturgeons eines Ruf als einer der Begabtesten in der neuen Autorenriege verschaffte, mit denen Campbell das Genre einer gründlichen Runderneuerung unterziehen wollte – eine Garde, in der sich neben ihm Autoren wie Isaac Asimov, Robert A. Heinlein, Lester del Rey, L. Sprague de Camp, Eric Frank Russel und Clifford D. Simak finden (Bradbury selbst hat es in seiner Frühzeit als Autor nie geschafft, eine Geschichte an Campbell zu verkaufen – sein gesamter Habitus war mit der Ausrichtung von Astounding unverträglich.)
Sturgeons Geschichte beginnt:
It walked in the woods.
It was never born. It existed. Under the pine needles the fires burn, deep and smokeless in the mold. In heat and darkness and decay there is growth. There is life and there is growth. It grew, but it was not alive. It walked unbreathing through the woods. and thought and saw and was hideous and strong and it was not born and it did not live. It grew and moved about without living.
It crawled out of the darkness and hot damp mold into the cool of a morning. It was huge. It was lumped and crusted with its own hateful substances, and pieces of it dropped off as it went its way, dropped off and lay writhing and stilled, and sank putrescent into the forest loam.
Es bewegte sich im Wald.
Es wurde nie geboren. Es bestand. Unter den Tannennadeln brennen die Feuer, tief und rauchlos im Moder. In der Wärme, in Dunkel, im Verfall findet sich Wachstum. Es gibt Leben, es gibt Wachstum. Es wuchs – aber es lebte nicht. Es bewegte sich durch die Wälder, ohne Atem zu schöpfen, und es dachte und sah und war häßlich und stark und war nicht geboren und lebte nicht. Es wuchs und bewegte sich, ohne zu leben.
Es kroch aus der Dunkelheit und dem warmen, feuchten Moder in die Kühle des Morgens. Es war groß. Es war verklumpt und überzogen von den haßerfüllten Dingen, aus denen es bestand, und Stücke fielen von ihm ab, während es vorwärts tappte, fielen zu Boden und wanden sich, erstarrten und versanken verwest im Waldboden.
(Unknown Worlds, August 1040. Ill.: Edd Cartier)
Älteren Comiclesern dürfte an dieser Stelle klar werden, welcher Vorlage sich die Entstehung ähnlicher „Wesen aus dem Sumpf“ wie etwa „Swamp Thing“ verdankt.
Und ältere deutsche Leser, die sich noch an Zeiten erinnern, in denen man noch Gedichte auswendig lernen mußte, dürften sofort diese Verse von Christian Morgenstern einfallen, zuerst erschienen zwei Jahre nach seinem Tod in der Sammlung „Palma Kunkel,“ 1916 in Berlin bei Bruno Cassirer
Das Butterbrotpapier
Ein Butterbrotpapier im Wald, –
da es beschneit wird, fühlt sich kalt ...
In seiner Angst, wiewohl es nie
an Denken vorher irgendwie
gedacht, natürlich, als ein Ding
aus Lumpen usw., fing,
aus Angst, so sagte ich, fing an
zu denken, fing, hob an, begann,
zu denken, denkt euch, was das heißt,
bekam (aus Angst, so sagt ich) – Geist,
und zwar, versteht sich, nicht bloß so
vom Himmel droben irgendwo,
vielmehr infolge einer ganz
exakt entstandnen Hirnsubstanz –
die aus Holz, Eiweiß, Mehl und Schmer,
(durch Angst) mit Überspringen der
sonst üblichen Weltalter, an
ihm Boden und Gefäß gewann –
[(mit Überspringung) in und an
ihm Boden und Gefäß gewann].
Mit Hilfe dieser Hilfe nun
entschloß sich das Papier zum Tun, –
zum Leben, zum – gleichviel, es fing
zu gehn an – wie ein Schmetterling...
zu kriechen erst, zu fliegen drauf,
bis übers Unterholz hinauf,
dann über die Chaussee und quer
und kreuz und links und hin und her –
wie eben solch ein Tier zur Welt
(je nach dem Wind) (und sonst) sich stellt.
Doch, Freunde! werdet bleich gleich mir! –:
Ein Vogel, dick und ganz voll Gier,
erblickts (wir sind im Januar...) –
und schickt sich an, mit Haut und Haar –
und schickt sich an, mit Haar und Haut –
(wer mag da endigen!) (mir graut) –
(Bedenkt, was alles nötig war!) –
und schickt sich an, mit Haut und Haar –
Ein Butterbrotpapier im Wald
gewinnt – aus Angst – Naturgestalt ...
Genug!! Der wilde Specht verschluckt
das unersetzliche Produkt ...
(Erstausgabe von „Palma Kunkel,“ 1916. Die Umschlagzeichnung stammt von Karl Walser. Ja – es handelt sich dabei um den älteren Bruder des schweizer Prosaminaturisten Robert Walser. Ja: die Welt IST klein.)
VIII.
Daß das Meeresufer und der Tidenbereich als „liminale Zone,“ als Grenzbereich, über viele Jahrhunderte der europäischen Phantasie nicht geheuer waren und keinesfalls dem Bereich der unbeschwerten Freizeitgestaltung angehörten, hat der der École des Annales nahestehende französische Historiker vor 35 Jahren in seinem Buch „Le territoire du vide. L’Occident et le plaisir du rivage 1750-1840“ (1988; auf deutsch 1990 als „Meereslust: Das Abendland und die Entdeckung der Küste“) im Detail nachgezeichnet – und Leser, die das lieber im hochromantisch aufgeladenen Stil à la Victor Hugo lesen möchten, können in Jules Michelets „La mer“ (zuerst 1861 erschienen) schon fündig werden. Und für die Bewohner dieses Saums, die Nixen, Nereiden und Tritonen galt dies gleichfalls – bevor sie in drei Schritten im Verlauf der Kulturentwicklung im Westen „ästhetisch entgiftet“ wurden: zunächst als heraldische Wasserspeier auf den großen Wasserkünsten und Brunnen der Barockzeit, als nächstes als tragische Mädchenfiguren in dem Kunstmärchen des 19. Jahrhunderts – zuerst in Friedrich de la Motte Fouques „Undine“ (1811) und am nachwirkendsten in Hans Christian Andersens „Den lille Havfrue“ (1837) – ein Schicksal, daß sie mit den Elfen teilen, die das viktorianische Zeitalter ebenfalls zu unsäglichem Kitsch degradierte, das nur noch als Sujet von Balletten erträglich war. Und zum Schluß durch die Nippes-Verkitschung von Lorelei bis Arielle, die eine Ehrenrettung, wie sie den Elben von Tolkien über Sylvia Townsend Warner („Kingdoms of Elfin,“ 1978) bis zu Susanna Clarke („Jonathan Strange and Mr Norrell,“ 2004) zumindest teilweise zuteil geworden ist, unmöglich machen.
Immerhin wußte noch Goethe, daß dieser „Janhagel der Hochsee“ (Arno Schmidt) etwas ist, mit dem man(n) sich besser nicht einläßt („Sie sprach zu ihm, sie sang zu ihm; / Da war's um ihn geschehn; / Halb zog sie ihn, halb sank er hin./ Und ward nicht mehr gesehn“) und daß in diesen Gestalten Ἔρως und θάνατος, das handfest sexuelle Begehren und der Tod, in eins fallen. Auch im brasilianischen Film „Macunaíma“ von Joaqim Pedro de Andrade aus dem Jahr 1969 wird der „Held ohne jeden Charakter“ am Ende das Opfer der Iara, als er zu ihr in den Quellteich springt, weil er angesichts ihrer verführerischen Nacktheit übersehen hat, daß sie nur durch ein schwarzes Loch im Hinterkopf atmet. (In Mario de Andrades Romanvorlage von 1928 bleibt der Held Sieger und beschließt angesichts mangelnder irdischer Herausforderungen, aus eigener Kraft in den Himmel aufzusteigen.)
Und so sahen das auch die Autoren der christlichen Bestiarien, die die Erscheinungen der Natur allegorisch im Sinn biblischer Exempel auslegten und deren Vorbild der „Physiologus“ war, dessen griechische Urfassung im 3. Jahrhundert entstanden ist – ein Text, der ab der karolingischen Zeit in lateinischer Übersetzung Grundbestand der Klosterbibliotheken war. Beim Milllstätter Physiologus handelt es sich um eine frühmittelochdeutsche Übersetzung, die um das Jahr 1200 im Südbayern oder Kärnten entstanden ist und von deren 167 erhaltenen Seiten 29 der 51 im „Physiologus“ enthaltenen Tierarten behandeln. Ins Hochdeutsche geschmuggelt.
Über die Tiere, die Sirenen und Onokentauren heißen, berichtet der Prophet Jesaja und sagt darüber: "Sieren und Teufel tanzen in ihren Behausungen." Von ihrer Gestalt berichtet der Physiologus und sagt, daß sie totbringende Tiere sind. Vom Kopf bis an den Nabel sind sie wie Frauen geformt und dann bis zu den Füßen wie die Vögel gestaltet. Sie singen einen Gesang, der Musica heißt, damit sie sie die Seeleute betören. Wenn die Seeleute sie hören, richten sie ihre Aufmerksamkeit darauf. Durch den süßen Gesang schlafen sie gleich ein. Gleich stürzen sich die Bestien auf sie, und bevor sie aufwachen, zerreißen sie sie völlig.
(„ein sanch, heizzet Musica“ bedeutet also nicht, wie unsereins unwillkürlich anzunehmen bereit ist, „eine sanfte heiße Musik.“)
(Abb. aus der "Physiologus"-Handschrift der British Library, Sloane Collection MS278, Mitte des 13. Jhs.)
Oder, um ein letztes Beispiel zu geben, die schauervolle Moritat, die der amerikanische Humorist Charles Godfrey Leland (1824-1903) geliefert hat. Leland ist, wie so viele meiner Gewährsmänner an dieser Stelle, heute fast völlig vergessen. Wen überhaupt, dann erinnert sich die Ideengeschichte daran, daß er mit seinem späten Werk „Aradia, or The Gospel of Witches“ (1899) entscheidend zu dem Ideenfundus beigetragen hat, aus denen sich seit den 70er Jahren die Wicca-Bewegung oder der Neopaganismus bedient: daß es sich bei den „Hexen“ des Frühmittelalters um Relikte heidnischer Kulte gehandelt habe, die uraltes Wissen, besonders in der Heilkunde, bewahrt hätten und deshalb von den kirchlichen Autoritäten verfolgt worden seien. Die quellenhistorische Forschung hat kein gutes Haar an dieser These gelassen, bei der es sich um einen „modernen Mythos“ handelt, besonders bei den Ausschmückungen, die Gerald Brosseau Gardner (1884-1964) in „Witchcraft Today“ (1954) und Robert Graves (1895-1984) in „The White Goddess“ (1945) darum gestrickt haben.
Seinen zeitgenössischen Lesern war Leland vor allem als Verfasser von „Hans Breitmann’s Ballads“ (1871) geläufig, in denen er in „Mock German“ die Erlebnisse seines philiströsen Sherman vor dem Zeithintergrund des deutsch-französischen Kriegs, und der Coulisse der Alten und Neuen Welt seiner Zeit schilderte. Aus heutiger Sicht wundert vor allem, daß das zeitgenössische Lesepublikum offenbar mit der deutschen Sprache hinreichend vertraut war, um diese Verse goutieren zu können.
Ballad
Der noble Ritter Hugo
Von Schwillensaufenstein,
Rode out mit shper and helmet,
Und he coom to de panks of de Rhine.
Und oop dere rose a meermaid,
Vot hadn't got nodings on,
Und she say, "Oh, Ritter Hugo,
Vhere you goes mit yourself alone?"
And he says, "I rides in de creenwood,
Mit helmet und mit shpeer,
Til I coomes into em Gasthaus,
Und dere I trinks some beer."
Und den outshpoke de maiden
Vot hadn't got nodings on:
"I don't dink mooch of beoplesh
Dat goes mit demselfs alone.
"You'd petter coom down in de wasser,
Vhere dere's heaps of dings to see,
Und hafe a shplendid tinner
Und drafel along mit me.
"Dere you sees de fisch a schwimmin',
Und you catches dem efery von:"--
So sang dis wasser maiden
Vot hadn't got nodings on.
"Dere ish drunks all full mit money
In ships dat vent down of old;
Und you helpsh yourself, by dunder!
To shimmerin' crowns of gold.
"Shoost look at dese shpoons und vatches!
Shoost see dese diamant rings!
Coom down and fill your bockets,
Und I'll giss you like efery dings.
"Vot you vantsh mit your schnapps und lager?
Coom down into der Rhine!
Der ish pottles der Kaiser Charlemagne
Vonce filled mit gold-red wine!"
DAT fetched him - he shtood all shpell pound;
She pooled his coat-tails down,
She drawed him oonder der wasser,
De maiden mit nodings on.
Coda.
Zum Abschluß sei zum Thema "Ray Bradbury/2. Weltkrieg/Meerwunder" noch die erste Ausgabe eines Magazins hergesetzt, bei dem eine Erzählung dieses Autors die Vorlage für das Titelbild lieferte: Amazing Stories vom Dezember 1944.
(Das Titelbild für "Undersea Guardians" stammt von James B. Settles (1902-1957), die Innenillustration von Arnold Kohn (1920-1984), und allen Fans von "Das Boot" sei gesagt, daß es sich hier um ein amerikanisches Tauchboot handelt.)
U.E.
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