19. März 2023

Vom großen Wind - Gustav Meyrink, "Das grüne Gesicht" (1916)



Ein großer Atem weht
durch diese kurze Zeilen.
Er weht von rechts, <===
er weht von links, ===>
um euch dies mitzuteilen:
„Ich blas‘ hier alles krumm und schief,
weil mich ein Gott dazu berief.
Ist Gott von Max und Moses.
gez. Atem, großes.“

(Robert Gernhardt)



Gustav Meyrink, Das grüne Gesicht (Auszug)

Vierzehntes Kapitel

---

Trotz der frühen Stunde war die Luft heiß und trocken wie vor einem Gewitter.

Eine atembeklemmende Windstille verlieh der ganzen Gegend etwas unheimlich Leichenhaftes; die Sonne hing wie eine Scheibe aus blindem, gelbem Metall hinter dichten Dunstschleiern, und weit im Westen über der Zuidersee brannten Wolkenmauern, als sei es Abend statt Morgen.

In ungewisser Angst, zu spät zu kommen, kürzte er den Weg ab, wenn es nur irgend ging, schritt bald querfeldein, bald auf den menschenleeren Straßen dahin, aber es schien, als wolle die Stadt nicht näherrücken.

Allmählich mit dem wachsenden Tag veränderte sich das Bild des Himmels; hakenförmige, weißliche Wolken krümmten sich wie gigantische Wurmleiber auf dem fahlen Hintergrund, von unsichtbaren Wirbeln gepeitscht, hin und her, – immer an derselben Stelle bleibend: – kämpfende Luftungeheuer, die der Weltenraum herabgesandt. ­

Kreisende Trichter, die Spitze nach oben, wie umgestürzte, riesenhafte Becher, hingen frei in der Höhe – Tiergesichter fielen mit aufgerissenen Rachen übereinander her und ballten sich zu brodelnden Knäueln; nur auf der Erde herrschte immer dieselbe totengleiche, lauernde Windstille nach wie vor.

Ein schwarzes, langgestrecktes Dreieck kam mit Sturmesschnelle von Süden her, zog unter der Sonne weg, ihr Licht verfinsternd, daß das Land minutenlang in Nacht getaucht lag, und senkte sich mit schrägem Flug in weiter Ferne zu Boden: ein Heuschreckenschwarm, von den Küsten Afrikas herübergeweht.

* * *

Es waren die letzten Worte, die Hauberrisser verstand: Ein plötzlich losbrechendes, ohrenbetäubendes Geschrei, von dem freien Platz ausgehend, dem sie zusteuerten, erschütterte die Luft und pflanzte sich, immer lauter und lauter anschwellend, in gellen Rufen: "Das neue Jerusalem ist am Himmel erschienen" – "ein Wunder, ein Wunder!" – "Gott sei uns gnädig" – von Dachfenster zu Dachfenster über die Giebel hin fort bis in die entferntesten Winkel der Vorstädte.

Er konnte nur noch erkennen, daß Pfeill hastig den Mund bewegte, als brülle er ihm mit Aufgebot der ganzen Lungenkraft irgendetwas zu, dann fühlte er sich von dem wahnwitzig erregten Menschenstrom fast vom Boden gehoben, unwiderstehlich fortgerissen und in den Börsenplatz hineingestoßen.

Die Menge stand dort so dicht zusammengequetscht, daß er, die Arme an den Leib gedrückt, kaum die Hände bewegen konnte. – Aller Augen waren starr emporgekehrt.

Hoch oben am Himmel kreisten immer noch kämpfend die seltsamen Dunstgebilde wie geflügelte Riesenfische, aber darunter hatten sich schneegekrönte Wolkenberge aufgetürmt, und mitten darin in einem Tal lag, von schrägen Sonnenstrahlen beleuchtet, die Luftspiegelung einer fremden, südländischen Stadt mit weißen flachen Dächern und maurischen Bogentoren.

Männer mit wallenden Burnussen und dunkeln stolzen Gesichtern schritten langsam durch die lehmfarbenen Straßen – und so nah und schreckhaft deutlich, daß man das Rollen ihrer Augen sehen konnte, wenn sie den Kopf wandten, um, wie es schien, auf das entsetzte Getümmel Amsterdams gleichmütig herabzublicken. – – Draußen vor den Wällen der Stadt breitete sich eine rötliche Wüste, deren Ränder in den Wolken verschwammen, und eine Kamelkarawane zog schemenhaft in die flimmernde Luft hinein.

Wohl eine Stunde lang blieb die Fata Morgana in zauberischer Farbenpracht am Himmel stehen, dann verblaßte sie allmählich, bis nur mehr ein hohes, schlankes Minarett, blendend weiß wie aus glitzerigem Zucker, übrig war, das eine Weile später plötzlich im Wolkennebel verschwand.

Erst spät nachmittags hatte Hauberrisser – Zoll für Zoll von dem Menschenmeer an den Häusermauern entlanggespült – Gelegenheit, über eine Grachtenbrücke dem Getümmel zu entrinnen.

Zu Swammerdams Wohnung zu gelangen war gänzlich unausführbar, denn er hätte viele Straßen und abermals den Börsenplatz überqueren müssen, und so beschloß er, in seine Einsiedelei zurückzukehren und einen günstigeren Tag abzuwarten. – – –

Bald nahmen ihn die totenstillen Wiesen des Polders wieder auf.

Der Raum unter dem Himmel war eine undurchdringliche, staubige Masse geworden.

Hauberrisser hörte das welke Gras unter seinen Füßen zischen, als er eilends dahinschritt, wie Rauschen des Blutes im Ohr, so tief war die Einsamkeit.

Hinter ihm lag das schwarze Amsterdam in der roten sinkenden Sonne wie ein ungeheurer brennender Pechklumpen.

Kein Hauch ringsum, die Deiche durchzogen von glühenden Streifen, nur hie und da ein tröpfelndes Plätschern, wenn ein Fisch aufsprang.

Als die Dämmerung herabsank, tauchten große, trübgraue Flächen aus der Erde und krochen über die Steppe wie ausgebreitete, wandelnde Tücher, – er sah, daß es zahllose Scharen von Mäusen waren, die, aus ihren Löchern geschlüpft, pfeifend und aufgeregt durcheinander huschten.

Je mehr die Dunkelheit zunahm, desto unruhiger schien die Natur zu werden, trotzdem kein Halm sich regte.

Die moorbraun gewordenen Wasser bekamen zuweilen kleine kreisrunde Krater, ohne daß auch nur ein Lufthauch sie getroffen hätte, oder schlugen, wie unter unsichtbaren Steinwürfen, vereinzelte, spitzige Wellenkegel, die gleich darauf wieder spurlos verschwanden.

Schon konnte Hauberrisser von weitem die kahle Pappel vor seinem Haus unterscheiden, da wuchsen plötzlich, bis zum Himmel ragend, weißliche säulenartige Gebilde aus dem Boden und stellten sich zwischen die Silhouette des Baumes und seinen Blick.

Geisterhaft und lautlos kamen sie auf ihn zu, schwarze, breite Spuren unter dem ausgerissenen Gras hinterlassend, wo sie gegangen waren: Windhosen, die der Stadt zu wanderten.

Ohne das leiseste Geräusch zu verursachen, zogen sie an ihm vorbei: stumme, tückische, todbringende Gespenster der Atmosphäre.

Schweißgebadet betrat Hauberrisser das Haus.

Die Gärtnersfrau des nahen Friedhofs, die ihn bediente, hatte ihm sein Essen auf den Tisch gestellt; er konnte vor Aufregung keinen Bissen anrühren.

Voll Unruhe warf er sich angezogen aufs Bett und wartete schlaflos auf den kommenden Tag.

Schluß

Mit unerträglicher Langsamkeit schlichen die Stunden, und die Nacht schien kein Ende nehmen zu wollen.

Endlich ging die Sonne auf, trotzdem blieb der Himmel tiefschwarz, nur ringsum am Horizont glomm ein greller, schwefelgelber Streifen, als habe sich eine dunkle Halbkugel mit glühendem Rand auf die Erde herabgesenkt.

Ein glanzloses Zwielicht irrte durch den Raum; die Pappel vor dem Fenster, die Sträucher in der Ferne und die Türme Amsterdams waren wie von trüben Scheinwerfern matt erhellt. Darunter lag die Ebene mit ihren Wiesen gleich einem großen erblindeten Spiegel.

Hauberrisser blickte mit seinem Feldstecher hinüber auf die Stadt, die sich – ein in Angst erstarrtes Bild – fahlbeleuchtet von dem schattenhaften Hintergrund abhob und jeden Augenblick den Todesstreich zu erwarten schien.

Banges, atemloses Glockenläuten zitterte in Wellen bis weit ins Land hinein, – plötzlich verstummte es jäh: ein dumpfes Brausen ging durch die Luft, und die Pappel beugte sich ächzend zur Erde nieder.

Windstöße fegten mit Peitschenhieben über den Boden hin, das welke Gras kämmend, und rissen die spärlichen, niedrigen Sträucher aus den Wurzeln.

Nach wenigen Minuten waren die Landschaft in einer ungeheuren Staubwolke verschwunden, – dann tauchte sie wieder auf, kaum mehr zu erkennen: die Deiche weißer Gischt; Windmühlenflügel – abgerissen von ihren Leibern, die, in stumpfe Rümpfe verwandelt, in der braunen Erde hockten – quirlten hoch in den Lüften.

In immer kürzern und kürzern Pausen heulte der Sturm über die Steppe, bis bald nur mehr ein ununterbrochenes Gebrüll zu hören war.

Von Sekunde zu Sekunde verdoppelte sich seine Wut; die zähe Pappel war wenige Fuß hoch über dem Boden fast rechtwinklig abgebogen, – ohne Äste, kaum mehr als ein glatter Stamm, und blieb, niedergehalten von der Wucht der über sie hinwegrasenden Luftmassen, unbeweglich in dieser Stellung.

Nur der Apfelbaum stand regungslos wie in einer von unsichtbarer Hand vor dem Winde beschirmten Insel, und nicht eine einzige seiner Blüten rührte sich.

Balken und Steine, Häusertrümmer und ganze Mauern, Sparrenwerk und Erdklumpen flogen unablässig – ein nicht enden wollender Schauer von Wurfgeschossen – am Fenster vorüber.

Dann wurde der Himmel plötzlich hellgrau, und die Finsternis löste sich in kaltes, silbriges Glitzern auf.

Hauberrisser glaubte schon, die Wut des Orkans wolle nachlassen, da sah er mit Grauen, daß die Rinde der Pappel sich abschälte und, zu fasrigen Fetzen geworden, spurlos verschwand. – Gleich darauf, noch ehe er recht erfassen konnte, was geschah, brachen die hohen, ragenden Fabrikschornsteine im Südwesten des Hafens glatt an der Wurzel ab und verwandelten sich in dünne, fliehende Lanzen aus weißem Staub, die der Sturm mit Blitzesschnelle davontrug.

Kirchturm auf Kirchturm folgte, – sekundenlang noch schwärzliche Klumpen, von Taifunwirbeln hoch emporgerissen, dann zu jagenden Streifen am Horizont geworden – dann Punkte – und nichts mehr.

Bald war die ganze Gegend nur noch ein mit waagrechten Linien schraffiertes Bild vor dem Fenster, so rasend geschwind und für den Blick nicht mehr zu unterscheiden folgten die vom Sturm losgerissenen Grasbüschel einander.

Sogar der Friedhof mußte bereits unterwühlt und bloßgelegt worden sein, denn Leichensteine, Bretter von Särgen, Kreuze und eiserne Grablaternen flogen am Hause vorüber, – ohne die Richtung zu ändern, ohne sich zu heben oder zu senken, immer gleich waagrecht, als hätten sie kein Gewicht.

Hauberrisser hörte das Gebälk im Dachstuhl stöhnen – jeden Moment erwartete er, es werde in Trümmer gehen; er wollte hinunterlaufen, um das Haustor zu verriegeln, damit es nicht aus den Angeln gehoben würde, – an der Stubentür kehrte er um: von einer innern Stimme gewarnt, begriff er, daß, wenn er jetzt die Klinke niederdrückte, die entstehende Zugluft die Fensterscheiben zertrümmern, die an den Mauern entlang fegenden Sturmgewalten einlassen und in einem Augenblick das ganze Haus in einen Schuttwirbel verwandeln mußte.

Nur solange es der Hügel vor dem Anprall des Orkans schützte und die Stuben durch die verschlossenen Türen wie Bienenzellen abgeteilt blieben, konnte es der Vernichtung trotzen.

Die Luft im Zimmer war eiskalt und dünn geworden wie unter einem Vakuum; ein Blatt Papier flatterte vom Schreibtisch, preßte sich ans Schlüsselloch und blieb angesaugt daran haften.

Hauberrisser trat wieder zum Fenster und blickte hinaus: Der Sturm war zu einem reißenden Strom angeschwollen und blies das Wasser aus den Deichen, daß es wie ein Sprühregen in der Luft zerstäubte; die Wiesen glichen glattgewalztem, grauglänzendem Samt, und da, wo die Pappel gestanden hatte, stak nur mehr ein Stumpf mit wehendem, faserigen Schopf.

Das Brausen war so gleichförmig und betäubend, daß Hauberrisser allmählich zu glauben anfing, alles ringsum sie in Totenstille gehüllt.

Erst als er einen Hammer nahm, um mit Nägeln den zitternden Fensterladen zu befestigen, damit er nicht eingedrückt würde, merkte er an der Lautlosigkeit seiner Schläge, wie furchtbar draußen das Getöse sein mußte.

Lange wagte er nicht, den Blick nach der Stadt zu wenden, aus Furcht, die Nikolaskirche mitsamt dem dicht daneben befindlichen Haus am Zeedijk, in dem sich Swammerdam und Pfeill befanden, könnte weggeweht sein, – dann, als er zögernd und voll Angst hinschaute, sah er, daß sie wohl noch unversehrt zum Himmel ragte, aber aus einer Insel von Schutt: – fast das ganze übrige Giebelmeer war ein einziger flacher Trümmerhaufen.

"Wieviel Städte mögen heute wohl noch in Europa stehen?" fragte er sich schaudernd. "Ganz Amsterdam ist abgeschliffen wie ein mürber Stein. Eine morsch gewordene Kultur ist in stiebenden Kehricht aufgegangen."

Mit einemmal packte ihn die Furchtbarkeit des Geschehnisses in ihrer ganzen Größe.

Die Eindrücke des gestrigen Tages, die darauf folgende Erschöpfung und das plötzliche Hereinbrechen der Katastrophe hatten ihn in einer ununterbrochenen Betäubung erhalten, die jetzt erst von ihm wich und ihn wieder zu klarem Bewußtsein kommen ließ.

Er griff sich an die Stirne. – "Habe ich denn geschlafen?"

Sein Blick fiel auf den Apfelbaum, der, wie durch ein unbegreifliches Wunder, in vollem unversehrtem Blütenschmuck prangte.

An seiner Wurzel hatte er gestern die Rolle vergraben, erinnerte er sich, und es kam ihm vor, als wäre in der kurzen Spanne Zeit inzwischen eine Ewigkeit verflossen.

Hatte er nicht selbst geschrieben, er besäße die Fähigkeit, sich von seinem Körper loszulösen?

Warum hatte er es denn nicht getan? Gestern, die Nacht über, heute morgen, als der Sturm losbrach?

Warum tat er es jetzt nicht?

Einen Augenblick lang glückte es ihm wieder: er sah seinen Körper als schattenhaftes, fremdes Geschöpf am Fenster lehnen, aber die Welt draußen, trotz ihrer Verwüstung, war nicht mehr ein gespenstisches, totes Bild wie früher in solchen Zuständen: eine neue Erde, durchzittert von Lebendigkeit, breitete sich vor ihm aus – ein Frühling voll Herrlichkeit, wie sichtbar gewordene Zukunft, schwebte darüber – das Vorgefühl eines namenlosen Entzückens durchbebte seine Brust; alles ringsum schien sich in einer Vision zu bleibender Deutlichkeit verwandeln zu wollen; – – der blühende Apfelbaum, war er nicht Chidher, der ewig "grünende" Baum?!

Im nächsten Moment war Hauberrisser wieder mit seinem Körper vereinigt und sah in den heulenden Sturm hinein, aber er wußte, daß sich hinter dem Bild der Zerstörung das neue verheißungsvolle Land verbarg, das er soeben mit den Augen seiner Seele geschaut hatte.

Das Herz klopfte ihm vor wilder, freudiger Erwartung: er fühlte, daß er auf der Schwelle zum letzten, höchsten Erwachen stand – daß der Phönix in ihm die Schwingen erhob zum Flug in den Äther. Er fühlte die Nähe eines weit über alle irdische Erfahrung hinausreichenden Geschehnisses so deutlich, daß er vor innerer Ergriffenheit kaum zu atmen wagte, – es war fast wie damals im Park von Hilversum, als er Eva geküßt hatte: dasselbe eisige Fittichwehen des Todesengels, aber jetzt zog sich gleich einem Blütenhauch die Vorahnung eines kommenden unzerstörbaren Lebens hindurch; – die Worte Chidhers: "Ich werde dir um Evas willen die nimmer endende Liebe geben" drangen an sein Ohr, als riefe sie der blühende Apfelbaum herüber.

Er gedachte der zahllosen Toten, die unter den Trümmern der verwehten Stadt dort drüben verschüttet lagen: Er konnte keine Trauer empfinden; – "sie werden wieder auferstehen, wenn auch in veränderter Form, bis sie die letzte und höchste Form, die Form des 'erwachten Menschen', gefunden haben, der nicht mehr stirbt. – Auch die Natur wird immer wieder jung wie der Phönix."

Eine plötzliche Erregung ergriff ihn so gewaltig, daß er glaubte, ersticken zu müssen: stand nicht Eva dicht neben ihm?

Ein Atemhauch hatte sein Gesicht gestreift. Wessen Herz schlug so nahe bei seinem, wenn nicht das ihre!?

Neue Sinne, fühlte er, wollten in ihm aufbrechen und ihm die unsichtbare Welt, die die irdische durchdringt, erschließen. Jede Sekunde konnte die letzte Binde, die sie ihm noch verhüllte, von seinen Augen fallen.

"Gib mir ein Zeichen, daß du bei mir bist, Eva!" – flehte er leise. "Laß meinen Glauben, daß du zu mir kommst, nicht zuschanden werden."

"Was wäre das für eine armselige Liebe, die nicht Raum und Zeit überwinden könnte", – hörte er ihre Stimme flüstern, und das Haar sträubte sich ihm im Übermaß seelischer Erschütterung. "Hier in diesem Zimmer bin ich genesen von den Schrecknissen der Erde, und hier warte ich bei dir, bis die Stunde deiner Erweckung gekommen ist."

Eine stille friedvolle Ruhe senkte sich über ihn; er blickte umher: auch in der Stube dasselbe freudige, geduldige Warten wie verhaltener Frühlingsruf, – alle Gegenstände dicht vor dem Wunder einer unbegreiflichen Verwandlung.

Sein Herz schlug laut.

Der Raum, die Wände und Dinge, die ihn umgaben, waren nur äußere, täuschende Formen für seine irdischen Augen, fühlte er, – sie ragten herein in die Welt der Körper wie Schatten aus einem unsichtbaren Reich, – jede Minute konnte sich ihm die Pforte auftun, hinter der das Land der Unsterblichen lag.

Er versuchte, sich auszumalen, wie es sein müßte, wenn seine innern Sinne erwacht sein würden. – "Wird Eva bei mir sein, werde ich zu ihr gehen und sie sehen und mit ihr sprechen, – so, wie die Wesen dieser Erde einander begegnen? – Oder werden wir zu Farben, zu Tönen, – ohne Gestalt – die sich vermischen?! Umgeben uns dann Dinge wie hier, – schweben wir als Lichtstrahlen durch den unendlichen Weltenraum, oder verwandelt sich das Reich des Stoffes mit uns, und wir verwandeln uns in ihm?" – Er erriet, daß es ein ähnlicher, ganz natürlicher und doch vollkommen neuer, ihm jetzt noch unfaßbarer Vorgang sein würde, wie vielleicht das Entstehen der Windhosen, die er gestern aus dem Nichts – aus der Luft heraus zu greifbaren, mit allen Sinnen des Leibes wahrnehmbaren Formen sich hatte bilden sehen, – aber dennoch konnte er sich keine klare Vorstellung davon machen.

Das Vorgefühl eines so unsagbaren Entzückens durchzitterte ihn, daß er genau wußte: die Wirklichkeit des wunderbaren Erlebnisses, das ihm bevorstand, mußte alles, was er sich auszumalen imstande sei, weit übertreffen.

Die Zeit verrann.

Es schien Mittag zu sein: – hoch am Himmel schwebte ein leuchtender Kreis im Dunst.

Tobte der Sturm noch immer?

Hauberrisser lauschte:

Nichts, woran er es hätte erkennen können. Die Deiche waren leer. Ausgeblasen. Kein Wasser, keine Spur von Bewegung mehr darin. Kein Strauch, soweit der Blick reichte. – Das Gras flach. Nicht eine einzige ziehende Wolke – regungsloser Luftraum.

Er nahm den Hammer und ließ ihn fallen – hörte ihn laut auf dem Boden aufschlagen: "Es ist still draußen geworden", begriff er.

Nur Zyklone rasten noch in der Stadt, wie er durch das Fernglas erkannte; Steinblöcke wirbelten empor in die Luft, – aus dem Hafen tauchten Wassersäulen, brachen auseinander, türmten sich wieder auf und tanzten dem Meere zu.

Da! – War es eine Täuschung? Schwankten nicht die beiden Türme der Nikolaskirche?

Der eine stürzte plötzlich in sich zusammen; – der andere flog wirbelnd hoch in die Luft, zerbarst wie eine Rakete, – die ungeheure Glocke schwebte einen Augenblick frei zwischen Himmel und Erde.

Dann sauste sie lautlos herab.

Hauberrisser stockte das Blut:

Swammerdam! Pfeill!

Nein, nein, nein – es konnte ihnen nichts geschehen sein: "Chidher, der Ewige Baum der Menschheit beschirmt sie mit seinen Ästen!" Hatte Swammerdam nicht vorausgesagt, er werde die Kirche überleben?

Und gab es nicht Inseln, so wie dort der blühende Apfelbaum inmitten des grünen Rasenflecks, in denen das Leben gegen Vernichtung gefeit war und aufbewahrt wurde für die kommende Zeit? – – –

Jetzt erreichte der Schall der zerschmetterten Glocke das Haus.

Die Mauern erdröhnten unter dem Aufprall der Luftwellen: ein einziger, furchtbarer, erschütternder Ton, daß Hauberrisser glaubte, die Knochen im Leibe seien ihm wie Glas zersplittert, und einen Moment sein Bewußtsein schwinden fühlte.

"Die Mauern von Jericho sind gefallen", hörte er die bebende Stimme Chidher Grüns laut im Raume sagen. – "Er ist aufgewacht von den Toten."

Atemlose Stille. – –

Dann schrie ein Kind. – – –

* * *



In einem Florilegium von erzählenden Texten aus dem Bereich der phantastischen Literatur zum Thema „der große Sturmwind“ darf natürlich das apokalyptische Schlußkapitel aus Gustav Meyrinks zweitem Roman „Das grüne Gesicht“ nicht fehlen. Das Buch, zum Weihnachtsgeschäft 1916 auf den Markt gekommen und auf das Jahr 1917 vordatiert, war wie Meyrinks erster Roman im Jahr zuvor nicht bei seinem bisherigen Stammverlag erschienen, sondern bei Kurt Wolff in Leipzig. Die vorhergehenden Sammlungen seiner grotesken, grellen Satiren waren bei Albert Langen in München herausgekommen, dem Verlag, der auch den „Simplicissimus“ herausbrachte, in dem sie seit 1901 zum größten Teil erschienen waren. Meyrink vermutete aber Unregelmäßigkeiten bei den jährlichen Tantiemenauszahlungen, um nicht zu sagen Betrug, und wollte sich uaf jeden Fall als Berufsschriftsteller ein weiteres Standbein verschaffen. Außerdem war die Anlage seiner Romane eine völlig andere als die der kurzen Grotesken. In ihnen hatte er vor allem den preußischen Zeitgeist – den militärischen Pickelhaubenfetisch, die protestantische Frömmelei, das Beamtentum in einer Weise karikiert, gegen die Heinrich Manns „Untertan“ eine höchst staatstragende Lektüre darstellt. Er hatte sich dabei oft der Elemente aus der Schauerliteratur und vor allem aus dem Okkultismus mit seinen Medien und esoterischen Geheimlehren reichlich bedient, die er aus eigener Erfahrung gut kannte (es dürfte von Theosophie bis zu Otto Hanischs Mazdaznan-Lehre kaum etwas aus diesem Angebot der späten Gründerzeit geben, dem er nicht für kurze Zeit beigetreten wäre.)

Meyrink hatte begonnen, diesem Interesse, dieser Suche nach „höheren“ und „verborgenen“ Wahrheiten zu der Zeit nachzugehen, als er ab 1889 zuerst Partner und dann Alleininhaber der Bank Meyer & Morgenstern geworden war (als Autor variierte er seinen nicht besonders exotischen Geburtsnamen Gustav Meyer), wo er 1891 gründete er die Prager Loge „Zum blauen Stern“ als Dependance der Theosophie der Madame Blavatsky. (Das war lange Zeit, bevor Rudolf Steiner zum Chefdirigent, der Theosophie in Deutschland wurde und alsbald zum Spaltpilz wurde, weil er daraus seine stärker mit christlichen Versatzstücken angereicherte Anthroposophie formte – und lange bevor Annie Besant im Stammsitz im indischen Adyar Jiddu Krishnamurti zum Messias der kommenden Zeit ausrief.) Als er 1902 Bankrott machte, erwiesen sich seine okkultistischen Hobbies im Insolvenzverfahren als handfester Nachteil gegen den Vorwurf der Veruntreuung. (Meyrink hat in seinen Schriften immer wieder die Version vertreten, es habe sich um Intrigen der neidischen einheimischen Konkurrenz gehandelt.) Seinen Hang zur bitterbösen Satire hat diese Episode noch befeuert.

In seinen Romanen ist hingegen jede Spur solcher Zeitsatire ausgeklammert: die nehmen die okkulten Weltsysteme, die das Romangeschehen grundieren, ernst - auch wenn Meyrink in jedem Roman ein anderes solches System benutzt hat.

Das gilt auch schon für die längeren Erzählungen, die 1916, im gleichen Jahr wie das „Grüne Gesicht,“ in dem Band „Fledermäuse“ ebenfalls bei Kurz Wolff gebündelt wurden. Nur zwei der sieben Texte haben noch den Duktus der Simpl-Grotesken („Wie Dr. Paupersum seiner Tochter rote Rosen brachte“ und „Amadeus Knödelseder, der unverbesserliche Lämmergeier“) aber in Geschichten wie „Meister Leonard“ herrscht der Eindruck vor, der Autor glaube, zumindest ansatzweise, an die Profundität seiner Visionen. „Die vier Mondbrüder“ und „Das Grillenspiel“, die versuchen, den Ausbruch des „Großen Krieges“ auf den Einfluß dämonischer Mächte zurückzuführen, unterscheiden sich da nicht wesentlich von den „Lord of the Dark Face,“ die Charles Webster Leadbeater (1847-1934), der 1911 seine Mitregentschaft in Adyar verlor und eine Zweigniederlassung im australischen Perth aufgemacht hatte, als Verursacher ausmachte. Leadbeater gewann diese Erkenntnis durch visionäre Gespräche auf der Astralebene mit Otto von Bismarck, der sich als einer dieser Herren vom finsteren Antlitz entpuppte und C.W.L. (wie er in Theosophenkreisen nur geführt wurde) bereitwillig darlegte, wie er an den nördlichsten, westlichen, östlichsten und südlichsten Punktes des Deutschen Recihs „magnetische Talismane“ hatte vergraben lassen, um nach dem Ausbruch dieses Ringens um die Weltherrschaft zu verhindern, daß die Heere des perfiden Albion oder den welschen Erbfeinds der deutschen Armee nennenswert Paroli bieten konnten. Warum der Geist des Eisernen Kanzlers seine perfiden Pläne dem Feind so treuherzig darlegte, blieb unklar. Womöglich kann man im Jenseits nicht lügen, oder O.v.B. hat die Gewohnheit aller späteren James-Bond-Schurken vorweggenommen. Wer es nicht glaubt, kann die Details beispielsweise in Leadbeaters Broschüre „The Great War,“ Adyar: Theosophical Publishing House, 1916 und in der Zeitschrift „The Theosophist“ vom Januar 1915 nachlesen. Demnach waren die „wahren Anstifter“ des Kriegs „dieselben, die vor 13000 Jahren in Atlantis gegen die Mächte des Lichts gekämpft“ und den Untergang des Kontinents verursacht hatten.

Lesen Sie die deutsche Literatur, und Sie werden genau sehen, in welche Richtung sich das Volk seit vierzig Jahren und mehr entwickelt hat. Wegen ihres starken Stolzes, wegen der Lehre von Brutalität und Gewalt, von Blut und Eisen anstelle des Gesetzes der Liebe, haben sie sich dieser schrecklichen Besessenheit hingegeben, und einige der großen Herren des dunklen Gesichts haben wieder ihren Platz unter ihnen eingenommen.

Fürst Bismarck gehörte dazu , wie uns Madame Blavatsky vor langer Zeit erklärt hat. Als er noch lebte, schmiedete er Pläne zur Unterwerfung Europas. Sie sollten dankbar sein, dass er nicht bis heute lebt, denn seine Pläne waren viel klüger als die der Männer, die auf ihn folgten. Vor langer Zeit hat uns Madame Blavatsky mitgeteilt, daß er über ein beachtliches okkultes Wissen verfügte und daß er vor dem Krieg mit Frankreich im Jahre 1870 physisch zu bestimmten Punkten im Norden, Süden, Osten und Westen Frankreichs gereist ist und dort Zaubersprüche angewandt oder magnetische Zentren geformt hat, um einen wirksamen Widerstand gegen die deutschen Armeen zu verhindern. Der Zusammenbruch Frankreichs erfolgte damals so vollständig und unerwartet, daß er sich anders nicht mehr erklären läßt. („The Great War,“ Adyar Pamphlet Nr. 199, S. 4.)


II.



(Gustav Meyrink, Gemälde von Carl Alexander Wittek (1893-1958) aus dem Jahr 1919. Nicht zu verwechseln mit dem österreichischen Architekten Alexander Wittek, der von 1852 bis 1894 lebte.)

Mit dem Umstieg auf die längere Form des Romans hatte sich Meyrink anfänglich ziemlich schwer getan. Den ersten vagen Entwurf hatte er im Februar 1905 gegenüber Alfred Kubin geschildert, den er von Anfang an als Illustrator ins Auge gefaßt hatte. Die ersten Textproben, die er Kubin 1907 und 1908 zuschickte, hatten mit der späteren Handlung des „Golems“ noch kaum etwas gemein. Ein erster Auszug erschien 1911 in der Zeitschrift „Pan“, der dazu führte, daß Kurt Wolff ihm anbot, den gesamten Text als Buch zu veröffentlichen. Oskar A. H. Schmitz (1873 - 1931), Schwager von Kubin und selbst Verfasser von phantastischen Erzählungen, erzählt in seinen Erinnerungen, wie er Meyrink half, die hoffnungslos aus der Form gelaufenen Kapitel der ersten Entwürfe einzudampfen und von 120 auf 30 zu reduzieren, indem er „eine Art Sternenkarte zeichnete“. Die Druckfassung wurde im September 1913 fertiggestellt. In den von Rene Schickele herausgegebenen „Weißen Blättern wurde der Roman vom Dezember 1913 bis zum Juli 1914 vorabgedruckt, aber der Ausbruch des Großen Kriegs verhinderte die Publikation des Buches. (Man kann sich vorstellen, welche Überlegungen etwa zu dem „Grillenspiel“ geführt haben.) Von dem Buch sollte zunächst eine Auflage von zweitausend Exemplaren gedruckt werden; durch einen eFehler bei der Beantragung für die Papierzuteilung erschienen das Buch dann im November 1915 mit einer Auflage von zwanzigtausend Exemplaren, die sich schnell verkauften, weil der Verlag eine breite und ziemlich grell aufgemachte Werbekampagne für das Buch gefahren hatte. Bis Ende 1917 betrug die Gesamtauflage 145.000 Exemplare, bis Ende 1922 164.000 und bis zum Verbot 1933 durch die Nationalsozialisten 191.000. (Auf der Schwarzen Liste „Schöne Literatur,“ die am 2. Mai bei Hauptamt der Deutschen Studentenschaft die „auszusondernde Literatur“ auflistete, fiel das Gesamtwerk Meyrinks unter diesen Bann.) Meyrink selbst hate nichts von diesem Verkaufserfolg. Der Neuerfindung als Autor vom Satiriker zum Esoteriker hatte ihn in eine mehrjährige Schaffenskrise gestürzt, die mit ständiger Geldnot verbunden war. Am 14. März 1912 trat er sämtliche Rechte an dem entstehenden Buch an seinen neuen Verleger gegen eine Vorauszahlung von 1000 Mark ab. Seinen Lebensunterhalt bestritt Meyrink in der Zeit von 1909 bis 1914 damit, daß er für seinen alten Verleger Albert Langen insgesamt 16 von Charles Dickens übersetzt hat. In einem Brief an Langen vom 22. Juli 1914 berichtet er, daß er die Übersetzung aus dem Stegreif in einen Parlographen diktieren würde, deren Walzen seine Frau dann mit dem Schreibmaschine abtippe.

Der Parlograph wurde ab 1910 in Schweden produziert und hat Kafka, dessen Verlobte Felice Bauer in einem Vertrieb der Firma Lindström arbeitete, zum Folterinstrument in der Geschichte „In der Strafkolonie“ inspiriert. In einem Brief an Felice am 22. Januar 1913 skizziert er den hübschen Einfall: „Übrigens ist die Vorstellung ganz hübsch, dass in Berlin ein Parlograph zum Telefon geht und in Prag ein Grammophon, und diese zwei eine kleine Unterhaltung miteinander führen.“ Das kleine Zyniker fragt an dieser Stelle, ob schon jemand auf die Idee verfallen ist, zwei Chatbots wie etwa GPT, von dem man in letzter Zeit so viel hört, in einen Dialog zu bringen. Und wie es der Zufall will, stellt sich heraus, daß es tatsächlich eine solche, nun ja, „urbane Legende“ gibt, die im Juli 2021 aufkam, das Facebook die Entwicklung zweier Chatbots namens Alice und Bob alarmiert gestoppt habe, weil sie begonnen hätten, in einem geheimen Code miteinander zu kommunizieren, der für die Entwickler nicht mehr verständlich gewesen sei. Wie es sich herausstellt, hat die Geschichte einen wahren Kern: Im Juli 2017 ist es tatsächlich bei der Entwicklung von Chatbots bei, tatsächlich, Facebook, dazu gekommen, daß zwei Programme namens, tatsächlich, Alice und Bob, in „entgleister“ Rede miteinander zu kommunizieren. Aber die Bots wurden nicht aus Furcht abgeschaltet, hier könnten wie im Film „Colossus: The Forbin Project“ von 1970 der Supercomputer, der die Atomraketen des Westen kontrolliert, sich mit seinem Ostblock-Pendant verbünden und die Weltherrschaft an sich zu reißen – sondern weil sich die Aufgabe, mit Usern aus Fleisch und Blut zu interagieren, von Bots wo wie nicht Sprache nicht sagen nicht … eher nicht erfüllen läßt. Denn das Resultat sah so aus:

Bob: I can i i everything else

Alice: balls have zero to me to me to me to me to me to me to me to me to

Bob: you i everything else

Alice: balls have a ball to me to me to me to me to me to me to me to me


Im Englischen gibt es für solche Fälle den Kraftausdruck „Balls!“, der recht genau dem deutschen „Mist!“ entspricht und nichts mit Testikeln (wie in „it takes balls to…“ zu tun hat.

(Die Einzelheiten lassen sich in dem Beitrag “No, Facebook Did Not Panic and Shut Down an AI Program That Was Getting Dangerously Smart” auf Gizmodo vom 31. Juli 2017 nachlesen.)

Manche Biographen Meyrinks, etwa Eduard Frank und Mohamed Qasim, haben vermutet, daß die Behandlung des Themas des Ewigen Juden, der hier im „Grünen Gesicht“ in der Figur des immer wieder auftauchenden Chidher Grün figuriert, zu dem Material gehört hatte, das bei der Endfassung des „Golems“ weggelassen wurde. Der Roman selbst spielt in der Zeit nach dem Ende des Weltkriegs, und zwar in Amsterdam und dort zumeist im alten jüdischen Viertel.

"Seit Monaten war Holland überschwemmt von Fremden aller Nationen, die, kaum daß der Krieg beendet war und beständig wachsenden inneren politischen Kämpfen den Schauplatz abgetreten hatte, ihre alte Heimat verließen und teils dauernd Zuflucht in den niederländischen Städten suchten, teils sie als vorübergehenden Aufenthalt wählten, um von dort aus einen klaren Überblick zu gewinnen, auf welchem Fleck Erde sie künftighin ihren Wohnsitz aufschlagen könnten."


Allerdings hat Meyrink die Figur des Chider nicht der jüdischen Tradition oder Esoterik entlehnt (wie die Gestalt der Golem, der die Ghettos vor Verfolgung schützen soll) – sie entstammt dem christlichen Legenden des Hochmittelalters, wo sie im Lauf des 13. Jahrhunderts zuerst in Klosterchroniken in Bologna im Jahr 1223 und 5 Jahre später in England erwähnt wird. Vielmehr hat hier die Gestalt des al-Khidr aus der islamischen Folklore gedient, dessen arabischer Name الخضر / al-Ḫiḍr wörtlich „der Grüne“ bedeutet, und dessen Status als Prophet je nach den unterschiedlichen Richtungen des Islam umstritten ist. Aber wie Ahasver wird ihm oft Unsterblichkeit zugeschrieben – er soll Moses und Alexander dem Großen („Iskander“) als Berater gedient haben. In der volkstümlichen Tradition taucht er mitunter unverhofft auf, um wehrlosen Gläubigen, die sich unverhofft einer Gefahr ausgesetzt sehen, in der Not beizustehen. Kenntlich ist er an seiner grünen Gewandung. Er kann in unterschiedlicher Gestalt auftreten und durch die Luft fliegen. Verwurzelt ist er vor allem in der Überlieferung des Sufismus.



(al-Khidr, indische Malerei aus der Moghulzeit, 17. Jh.)

III.

Im deutschen Sprachraum bekannt wurde die Figur der Khidr in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Friedrich Rückerts Ballade „Chider,“ erschienen 1837 in der Sammlung „Sieben Bücher Morgenländischer Sagen und Geschichten“ (Stuttgart: Samuel Gottlieb Liesching):

Chidher, der ewig junge, sprach:
Ich fuhr an einer Stadt vorbei,
Ein Mann im Garten Früchte brach;
Ich fragte, seit wann die Stadt hier sei?
Er sprach, und pflückte die Früchte fort:
Die Stadt steht ewig an diesem Ort,
Und wird so stehen ewig fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich keine Spur der Stadt;
Ein einsamer Schäfer blies die Schalmei,
Die Herde weidete Laub und Blatt;
Ich fragte: wie lang ist die Stadt vorbei?
Er sprach, und blies auf dem Rohre fort:
Das eine wächst, wenn das andre dorrt;
Das ist mein ewiger Weideort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich ein Meer, das Wellen schlug,
Ein Schiffer warf die Netze frei,
Und als er ruhte vom schweren Zug,
Fragt ich, seit wann das Meer hier sei?
Er sprach, und lachte meinem Wort:
Solang als schäumen die Wellen dort,
Fischt man und fischt man in diesem Port.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.

Da fand ich einen waldigen Raum,
Und einen Mann in der Siedelei,
Er fällte mit der Axt den Baum;
Ich fragte, wie alt der Wald hier sei?
Er sprach: der Wald ist ein ewiger Hort;
Schon ewig wohn ich an diesem Ort,
Und ewig wachsen die Bäum hier fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Kam ich desselbigen Wegs gefahren.


Da fand ich eine Stadt, und laut
Erschallte der Markt vom Volksgeschrei.
Ich fragte: seit wann ist die Stadt erbaut?
Wohin ist Wald und Meer und Schalmei?
Sie schrien, und hörten nicht mein Wort:
So ging es ewig an diesem Ort,
Und wird so gehen ewig fort.
Und aber nach fünfhundert Jahren
Will ich desselbigen Weges fahren.



(Friedrich Rückert)

IV.



(al-Khidr. Abb. aus einer persischen Handschrift des 17. Jh. Bibliothéque nationale)

Meyrinks Roman ist aber nicht der einzige Roman, in dem Chider – oder um ihm seinen arabischen Namen zu geben: Khidr – sein Unwesen treibt. Wie sein Urbild (fast hätte ich geschrieben „im richtigen Leben“) spukt sine Präsenz gut 100 Jahre später in einem anderen Roman der spekulativen Literatur, Ian McDonalds Roman „The Dervish House“ aus dem Jahr 2010. Und wie bei Meyrink ist seine Rolle hier ebenfalls zutiefst ambivalent: er stets für eine höhere Macht und erlaubt denen, die ihm begegnen, die ihn zu sehen bekommen, die Einsicht ins höhere Bereiche des Daseins, oder der geistigen Erleuchtung. Und zum anderen steht er im Zentrum elementarer Katastrophen, von Tod und Zerstörung. In der islamischen Tradition besitzt Khidr diese Janusköpfigkeit nicht, aber in diesen beiden Texten nimmt er so die Züge der indischen Göttin Kali an, die ebenfalls nicht nur Tod und Zerstörung verkörpert, sondern auch das schöpferische Prinzip.

McDonalds Roman spielt in Istanbul in einer nahen Zukunft – in einer Zukunft, die mittlerweile zu den „nie stattgefundenen“ Zukünften zählt, wie sie für Romane die „fünf Minuten in der Zukunft“ angesiedelt sind, so überaus typisch ist. (Frank Schätzings „Limit“ von 2009 spielt auf einem Mond, auf dem es bemannte Stationen gibt und Helium-3 zur Versorgung von Fusionskraftwerken von der Erde betrieben wird, und bedient sich für den ersten Teil der Reise eines Weltraumaufzugs,“ eines „Beanstalks.“ Der Prolog von Schätzings Roman ist auf den 2. August 2024 datiert, der Rest der fast 1300 Seiten spielt in der Zeit vom 19. Mai bis zum 18. Juni 2025. Vernor Vinges letzter Roman „Rainbows End“ aus dem Jahr 2006, mit dem Hugo Award als bester SF-Roman des Jahres ausgezeichnet, beginnt im selben Jahr, 2025, als der Protagonist, ein älterer Englischprofessor und namhafter Lyriker, durch eine Gentherapie von der Alzheimer-Erkrankung geheilt wird, die ihn die letzten 20 Jahre seines Lebens zum „lebenden Leichnam“ gemacht hat.

„The Derwish House“ spielt in Istanbul im April 2027 im wohlhabenden Stadtteil Beyoğlu, fünf Jahre, nachdem die Türkei der Europäischen Union beigetreten ist. Die frühesten Erinnerungen des neunjährigen Can Durukan, einem der sechs Protagonisten, aus deren wechselnder Perspektive die Kapitel des Buchs erzählt sind, ranken sich um den Abend, als sein Vater ihn weckte und ihm auf dem Balkon zeigte, wie um Mitternacht in der Ferne über dem Rathaus und auf den Plätzen der Stadt das Sternenbanner der EU neben der roten Flagge mit Halbmond und Stern aufgezogen wurde.



Über den Verlauf der nächsten sieben Tage folgt der Roman den Ereignissen im Leben seiner Protagonisten: Can, der aufgrund einer angeborenen Herzschwäche darauf angewiesen ist, seine Umgebung mit Hilfe eine modularen Kleinroboters zu erkunden, der wie ein „Transformer“ der obersten Güteklasse von einer Schlange bis zu einem kullernden Ball ein Gestaltwandler erster Güte darstellt, der dem Kalle Blomquist im Wartestand gute Spitzeldienste erweist; Georgis Ferentinou, einer der wenigen in der Stadt (und im Land) verbliebenen Türken, der seine alten Tage damit verbringt, mit seinen verbliebenen Landleuten die Erinnerung an die Vergangenheit zu pflegen und mit der Gegenwart zu hadern; Adnan Sarioğlu, ein windiger Geschäftsmann und Investor, der plant, mit Hilfe von Hackern die Pipelines im Osten der Türkei, die Öl aus dem Irak und aus Russland transportieren, zu sabotieren und von den Preisschwankungen im Gefolge des Lieferstopps reich wie ein Scheich zu werden, und Necdet, der Opfer eines Anschlags wird, den Islamisten auf einen vollbesetzten Bus in der Nähe des im Titel genannten Hauses, das Haus des Adam Dede, verübten, einem Gebäude, das in früheren Jahrhunderten als Versammlungsort eines Orden tanzender Derwische diente.

Es stellt sich heraus, daß die Zündung der Bombe im Bus zur Tarnung des wirklichen Ziels des Anschlags diente: dabei wurde auch ein neu entwickeltes Halluzinogen freigesetzt, das bei denen, die es einatmen, religiöse Ekstase und Visionen auslösen soll, um sie anfällig für die Propaganda der Islamisten zu machen, die sich an die Spitze einer fanatisierten Erweckungsbewegung setzen wollen. (Wer sich an dieser Stelle an die im Wahljahr 1968 in den USA medial propagierten Pläne, „die Hippies“ wollten die Wasserversorgung von Chicago mit LSD versetzen, um ein ähnliches Chaos auszulösen, um gegen den Vietnamkrieg zu protestieren liegt womöglich nicht ganz falsch, was die Inspiration des Autors anbetrifft. Es waren freilich die „Yuppies“ um Abbie Hoffman und Jerry Rubin und die Medienberichte waren frei aus der Luft gegriffen).

(Ach ja: eine Nebenhandlung behandelt auch noch das Halbfinale der EM, bei dem Arsenal London gegen Galataseray Istanbul – Finale in München gegen Barcelona - antritt und sich die ausländischen Fans als Barbaren betragen.)

Und Necdet, der einen kräftigen Hieb der Droge abbekommen hat, beginnt in der Folgezeit, Djinnen zu sehen – darunter eben auch Khidr, dem er im Keller des Derwisch-Hauses, an dessen Restaurierungarbeiten er beteiligt ist.

Die Lüftungsklappe ist mit Kunststoffstiften befestigt; wie alles hier billiges Zeug, das beim ersten Zug nachgibt. Necdet steckt den Kopf und die Schultern in den dunklen Gang, der dahinter liegt. Ein kalter Luftzug dringt daraus hervor, mit einem Geruch nach Stein und Erdreich. Die Dschinnen strömen an ihm vorbei. Es fühlt sich an, als ob er von Katzen gestreift würde. Das ist erregend, berauschend, und das Einzige, was Necdet tun kann, ist weiterzugehen. Das Licht schaltet sich ein, und er befindet sich in einem mannshohen Versorgunggang. An den Wänden ziehen sich Kabel, Rohre und Leitungen entlang. Der Schacht führt abwärts, es reicht nach alter Erde und nach noch älterer Feuchtigkeit, an den Wänden glitzert Kondenswasser und tropft von den Leitungen. Es ist kalt. Die Dschinnen fließen und sprudeln um seine Füße wie ein schäumender Bach. Am Ende des Tunnels ist eine Tür; die Dschinnen fließen unter ihr hindurch wie Wasser unter einem Mühlrad. Die Tür öffnet sich, als er sie anstößt. Dahinter ist Dunkelheit und Alter. Er steht blinzelnd in der Finsternis; Sinne, die schärfer sind als sein Augenlicht, verraten ihm, daß er an einem Ort aus einen anderen Zeitalter ist. Stein. Das Tröpfeln von Wasesr, Am Luftzug spürt er, daß sich über ihm eine Kuppel befindet. Echos deuten auf Säulen hin. Ihm fällt auf, daß er die Flöte schon einige Zeit nicht mehr gehört hat. Die Dschinnen sammeln sich zu seinen Füßen. Photon für Photon gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er befindet sich in einem Gewölbe aus Stein, das von Säulen getragen wird. Die genauen Maße kann er nicht ausmachen, es erstreckt sich weiter, als er sehen kann, überall sind Säulen zu erkennen. Das hier ist ein verborgener Ort, ein uralter Ort. Jetzt beginnt er, vor sich ein Objekt auszumachen, massiv, niedrig, behauen. Es erinnert ihn an den Brunnen im Hof des Derwischhauses, an den er sich zum Rauchen setzt, um zu rauchen. Seine Erinnerung kehrt zurück. Diesem Moment des Wiedererkennens folgt ein zweiter: eine Gestalt sitzt auf der Platte, die den Brunnen abdeckt.

Necdet erschrickt, und dann, während die Dschinnen zu der sitzenden Gestalt strömen, sich versammeln und zum ersten Mal genügend Licht spenden, erfüllt ihn ein unermeßlicher Frieden. Das Gewand, der lange Bart, die grünen Augen, deren Blick alles zu durchdringen scheint, der grüne Turban, der locker um den Kopf gewickelt ist – wie könnte Necdet vor ihm Angst verspüren? Er ist der Älteste, der grüne Heilige, älter als Allah, älter als Gottes Christus und seine Mutter Maria, älter als Jahwe. Daß er jetzt das grüne Gewand des Islams trägt, liegt daran, daß der Islam die grüne Farbe des Lebens von ihm hat. Es ist das Grün der Fluten von Euphrat und Tigris, es ist der Frühling der Zeiten von Ḫattuša und Çatalhöyük. Er ist Hızır, Khidr, al-Khidr, Heiliger, Prophet und Engel. Er ist Wasser, er ist Leben. Er ist die Rettung, die kein Verstand mehr begreifen kann; er ist die Hand , die dich zurückzieht, wenn du vor die Straßenbahn zu stürzen drohst, die den Airbag auslöst, die die aus den Flugzeugtrümmern rettet. Er ist der pflichtvergessene Parkwächter, der sture Zollbeamte, der dafür sorgt, daß du das todgeweihte Flugzeug verpaßt.

Und doch verspürt Necdet Furcht. Hızır ist unberechenbar wie das Wasser, er ist die Gesetzlosigkeit eines höheren Gesetzes. Hızır kann segnen, Hızır kann töten, er ist die Schöpfung und die Vernichtung, die Dürre ist er und die Flut. Jetzt richtet er seinen grünen Blick auf Necdet. (Kap. 3, „Dienstag“)


V.

Istanbul ist als Schauplatz in der westlichen spekulativen Literatur der letzten 200 Jahre kaum präsent – ganz im Gegensatz zu seiner vorhergehenden Inkarnation als Zentrum des Byzantinischen Reichs, das nostalgisch aufgeladen als imaginäre Schnittstelle zwischen dem Westen und dem Osten, Okzident und Orient in Gedichten wie William Butler Yeats‘ „Sailing to Byzantium“ und Romanen wie Guy Gavriel Kays „Sailing to Sarantium“ (1998) und seiner Fortsetzung „Lord of Emperors“ figuriert. Das gilt freilich selbst für die türkische Literatur – die phantasmagorische zweite Hälfte des Romans „Das neue Leben“ (Yeni Hayat, 1994) des Literaturnobelpreisträgers Orhan Pamuk, das eindeutig eine Hommage an Jack Kerouacs „On the Road“ (1957) und J. G. Ballards „Crash“ (1973) darstellt, spielt nicht wie die mimetisch-realistische erste Hälfte in der Metropole am Bosporus, sondern in den Bergen des wildesten Ostanatoliens. Und Pamuks Roman „Schnee“ (Kar, 2002), dessen Protagoist den Namen „Ka“ trägt und damit überdeutlich macht, daß wir es hier mit einer Variation von Kafkas „Das Schloß“ zu tun haben (ein Umstand, der allen deutschen Rezensenten entgangen zu sein scheint), spielt in der Stadt Kars ganz im Osten des Landes, nahe der türkischen Schwarzmeerküste.

Nur zwei weitere Bücher von Autoren aus der westlichen Hemisphäre haben im Lauf der vergangenen 194 Jahren die Stadt als zukünftigen Schauplatz gewählt. Ob die Tatsache, daß es sie alle aus dem Vereinigten Königreich stammen, hier von Bedeutung ist, sei dahingestellt. Zum einen ist es der zweite Roman, der von Mary Shelley, der Autorin von „Frankenstein oder Der Neue Prometheus“ (1818) in Erinnerung geblieben ist. In „The Last Man“ (1827), in dem die Menschheit einer Seuche zum Opfer fällt, die sich aus Asien kommend über die ganze Welt ausbreitet, kommt es zum Freiheitskampf der aufständischen Griechen gegen das osmanische Reich und zur Schlacht um Istanbul, dem sich mehrere Mitglieder aus der Schar der Protagonisten, die deutlich erkennbar Percy Bysshe Shelly, Lord Byron und ihren Bekanntenkreis zum Vorbild haben, anschließen, bis die Pest auch Konstantinopel erreicht und sie nach Westen fliehen. Am Schluß bleibt Adrian Verney als einziger Überlebender des Menschengeschlechts übrig – in der Schweiz am Genfer See, wo Mary Shelley auch die Anregung zu „Frankenstein“ erhalten hatte. Der Roman spielt übrigens in den Jahren von 2073 bis 2100.

Das „in Erinnerung geblieben“ sollte cum grano salis verstanden werden. Bei seinem Erscheinen ist das Buch von der Kritik fast unisono verrissen worden und die erste Neuausgabe erschien erst 1965. Die erste deutsche Übersetzung (in einer dürftig aufgemachten Taschenbuchreihe des Basteiverlags, der sich an den boomenden Phantastikmarkt im Zug des Welterfolgs von Stephen King anhängen wollte), war stark gekürzt; die erste vollständige Übersetzung ist erst 2021 als gebundene Ausgabe bei Reclam herausgekommen.

Der zweite SF-Roman, der eine Stippvisite in Istanbul einlegt, ist M. P. Shiels „The Purple Cloud“ aus dem Jahr 1901, der ebenfalls das Ende der Menschheit zum Thema macht. Allerdings verbindet sich hier die schrille Dekadenz, die Shiels frühe Erzählungen nicht grundiert, sondern mit jeder Zeile durchtränkt, mit einem ebenso rabiat übersteigerten Nietzscheanismus, der Bäume selbst da ausreißt, wo gar keine stehen. Shiels Protagonist erbt von einem amerikanischen Millionär die nötigen finanziellen Mittel, um eine Expedition zum Nordpol auszurüsten – den er nicht betreten kann, weil die hohe Steinsäule mit unentzifferbaren Inschriften von einem Strudel, einem veritablen Mahlstrom freien Wassers umgeben ist. Als der Held, dem angesichts dieses Schauspiels die Sinne schwinden, wieder zu sich kommt, sieht er, wie sich eine dunkelrote Wolke am Himmel in südlicher Richtung ausbreitet. Bei seiner Rückkehr zum Schiff entdeckt er, daß die gesamte Mannschaft erstickt ist – ein Schicksal, das sie mit dem Rest der Menschheit teilen. Nach England zurückgekehrt, entdeckt er, daß er der einzige Überlebende ist.Aus den Zeitungsmeldungen erfährt er, was vorgefallen ist; wie da Ausbleiben der Telegraphenmeldungen den Weg der Wolke nach Süden anzeigt. Da es offenbar der feste Entschluß des Schicksals ist, die Menschheit und ihre Werke von der Erde zu tilgen, hilft er ihm nach, indem er London in Brand setzt und anschließend Paris, Bordeaux und San Franciso. Die nächsten 20 Jahre eilt er auf mit dieser Beschäftigung und dem Bau eines gewaltigen Palastes als Wohnsitz für den selbsternannten „Kaiser der Welt“ auf der Insel Imbros, dem heutigen östlichsten Punkt der Türkei (der alte griechische Name wurde von der türkischen Regierung durch die Neuprägung Gökçeada, „himmlische Insel“ ersetzt). Ein gewisser römischer Kaiser ist als Vorbild für Shiels Antihelden Adam Jeffson unübersehbar.

Als sich Adam daranmacht, Istanbul niederzubrennen (nachdem der sich vorher mit angemessenem Mobiliar für seinen Palast versorgt hat), stößt er auf den einzigen anderen überlebenden Menschen – eine nackte junge Frau von 20 Jahren, die von nichts auf der Welt eine Ahnung hat. Sie schließt sich ihm an und folgt ihm, egal, wie oft er sie auf zurückstößt und schlecht behandelt (sein Job ist es ja, einen Schlußstrich unter das Kapitel „Menschheit“ zu ziehen). Nachdem er sie widerwillg in seiner Nähe duldet, erwiest sich, daß sie ihr ganzes Leben in den Kellergewölben des Topkapi-Serails verbracht und somit nichts von der Welt draußen erfahren hat (wie sie es geschafft hat, die letzten 17 Jahre seit der Katastrophe zu überleben, verrät der Autor nicht). Nachdem er sie Sprechen, Nähen und Kochen gelehrt hat, kämpft er gegen die Zuneigung, die er zu ihr entwickelt. Als er sich ohne sie von Paris aus aufmacht, um noch ein wenig mehr von England in Trümmer zu legen, erreicht ihn ihr Anruf aus Paris, daß die rote Wolke wieder am Himmel erschienen ist. (Wieso das Fernsprechnetz nach zwanzig Jahren noch funktioniert, läßt der Autor so im Dunkel wie Ray Bradbury, in dessen „Mars-Chroniken“ in der Episode „The Silent Towns“ auch lange nach der Rückkehr der letzten Siedler zur Erde nachts die Telephone des Nachts klingeln.) Adam eilt nach Paris zurück, in der Hoffnung, seine Gefährtin auf irgendeine Weise retten zu können. Er findet sie lebend vor, und ihre Erklärung, daß die nicht vorzeitig sterben könne, weil das Schicksal sie dazu bestimmt habe, zu den Stammeltern einer neuen Menschheit zu werden, überzeugt ihn davon, seine neue Rolle als tatsächlicher Adam 2.0 anzunehmen.

VI.

Ein kleines Detail zum Thema „überraschende Parallelen“: in Shiels Roman besucht Adam das Haus von Arthur Machen (1863-1947), der als Autor im gleichen Branche tätig war wie Shiel – seine Erzählungen „The Great God Pan“ und „The Novel of the Black Seal“ zählen zu den Klassikern der englischen Horrorliteratur - und mit dem er befreundet war. Er findet diesen tot vor seinem Schreibtisch vor – bis zum letzten Atemzug hat er an einem Gedicht gearbeitet.

Eines Tages, als ich mich in der Gegend befand, die Cornwall Point genannt wird, und von der man sehen kann, die sich die Felsen von Land’s End als Vorposten ins Meer vorschieben und dazwischen die Wellen emporschießen, während nirgendwo ein Haus in Sicht ist, beschloß ich meine „offizielle Inspektion“ zu beenden.

Als ich wieder aufbrach und den Weg nach Norden wählte, stieß ich auf ein Haus an der Küste, einen wunderschönen Bungalow mit Blick aufs Meer, dessen besonders Merkmal eine Loggia oder Veranda war, die durch das überstehende Obergeschoß geschützt waren, mit Außenwänden aus grob behauenen Felssteinen. Das nur leicht geneigte Dach war mit grünen Schieferplatten gedeckt. Das ganze Haus strahlte einen Eindruck von Kraft und Ruhe aus, der durch die Betonung der waagerechten Linien noch verstärkt wurde. An einer der Hausecke spreng ein Erker vor. Dort blieb ich drei Wochen. Es war das Haus des Dichters Machen, an dessen Namen ich mich gut erinnern konnte, sobald ich das Haus entdeckt hatte. Er hatte eine junge Schönheit von achtzehn Jahren geheiratet, offenkundig eine Spanierin, die in dem großen, hellen Schlafzimmer rechts neben der Veranda auf dem Bett lag, neben sich ein Baby mit einem Gummischnuller im Mund. Beide Leichen, Mutter wie Kind, waren völlig unverwest, sie immer noch schön mit der weißen Stirn unter den Wogen rabenschwarzen Haars.

Der Dichter aber war nicht mit ihnen gestorben, sondern lag im Zimmer dahinter, mit einer bequemen, seidengrauen Jacke, über seinem Schreibtisch zusammengebrochen – er hatte ein Gedicht geschrieben, in rasender Eile, wie ich entdeckte. Der Boden war mit geschriebenen Seiten übersäht. Ich wußte, daß die Wolke um drei Uhr nachts Cornwall erreicht hatte und seinem Werk ein Ende setze und seinen Kopf auf den Schreibtisch sinken ließ. Vielleicht war seine junge Frau müde geworden, während sie auf die Ankunft der Wolke warteten, wahrscheinlich hatten sie die Nächte zuvor schlaflos zugebracht, sie war zu Bett gegangen und er hatte ihr versprochen, später zu kommen, um mit ihr gemeinsam zu sterben – aber vorher wollte er unbedingt noch sein Gedicht beenden, schrieb wie im Fieber, lieferte sich einen Wettlauf mit der Wolke und dachte bei sich bestimmt „nur noch zwei Strophen!“ – bis sie kam sein Kopf auf den Schreibtisch sank. Ich glaube, ich habe nie etwas gesehen, das ein größeres Lob für die Menschheit darstellt als dieser Wettlauf von Machen mit der Wolke – denn hier wurde deutlich, daß diese Dichter nicht für die stumpfen, gleichgültigen Leser schrieben, die ihre Werke lasen, sondern die der göttlichen Glut Ausdruck verleihen wollten, die in ihrem Herzen brennt, und die auch dann geschrieben hätten, wenn es keinen Leser mehr auf der Welt gäbe und einzig Gott allein noch ihre Werke lesen könnte.


Solch eine Einstellung klingt verdächtig nach Arno Schmidt. Und in Schmidts Erzählung „Schwarze Spiegel,“ im Mai 1951 in Gau-Bickelheim bei Mainz niedergeschrieben („vom 1.5., 10 Uhr 40 bis zum 20.5., 12:30,“ wie der notorische Pedant Schmidt notiert) der im Jahr 1960 spielt, fünf Jahre nach dem Atomkrieg, der anscheinend außer dem Erzähler die gesamte Menschheit ausgelöscht hat – sehr zu seinem Wohlbefinden! – stößt der Ich-Erzähler am 1. Mai 1960 auf der Suche nach einem Kanonenofen für die Blockhütte, die er sich zimmern will, in der Lüneburger Heide auf den Mühlenhof zwischen Benefeld und Cordingen, in dem eine gewisser Arno Schmidt und seine Frau Alice bis kurz vorher ein einzelnes Zimmer bewohnt hatten (vom 29. Dezember 1945, 16:00 bis zum 30. Dezember 1950, 08:00, wie ein anderer notorischer Pedant präzisiert); sie mußten sich das Gutshaus mit einem Dutzend anderer Flüchtlingsfamilien teilen.

Über die dünstende Wiese: diesmal kam ich von hinten in den Mühlenhof, das Fenster an der kleinen Treppe fiel mir beim ersten Antippen entgegen (richtig: Fenster muß ich auch noch irgendwo komplett herauslösen und bei mir im Haidehaus wieder einsetzen!), und ich schwang mich hinein: armselige Einrichtung: ein Brett mit Bretterboden, ohne Kissen und Federbetten, bloß 5 Decken. Ein zerwetzter Schreibtisch, darauf zwanzig zusammengelaufene Bücher in in Wellpappkartons als Regälchen; ein zersprungener winziger Herd (na, der hat das große nasse Loch auch nicht nicht erheizen können!), ich tippte ihm anerkennend aufs geborstene Eisen, und sah mich mürrisch um. Papier in den Schüben; Manuskripte; „Massenbach kämpft um Europa“; „Das Haus in der Holetschkagasse“; ergo ein literarischer Hungerleider; Schmidt hatte er sich geschimpft. Allerdings lange Knochen: mußte mindestens seine 5 Fuß gehabt haben. Das ist also das Leben. Ich salutierte dem beinernen Poeten mit der Flasche (den Schädel müßte man mitnehmen und bei sich aufstellen); dann schwang ich mich wieder durch die dicke Fensterhöhle und schritt bergauf längs den verwilderten Kleingärten.


(Arno Schmidt, Das erzählerische Werk in 8 Bänden, Bd 3, Haffmanns Verlag, Zürich, 1985, S. 202-03.)



(Literarischer Hungererleider vom dem Mühlenhof in Cordingen, 1950)



(Ein kleines Beiseit: auf die Idee, daß Shiel als Charakter mit „zweifelhaft“ noch sehr höflich bezeichnet ist, könnte man nach der Inhaltangabe von „The Purple Cloud“ durchaus verfallen – auch wenn man natürlich einen Autor nicht mit den Gestalten seiner Bücher verwechseln sollte; von Arno Schmidt einmal abgesehen. Bei Shiel liegt man damit richtig. Nicht nur, daß er sich in späteren Jahren ab 1910 bei versiegender Kreativität, als blanker Plagiator versuchte und wegen sexuellen Mißbrauchs einer Minderjährigen zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt wurde. Auch die zitierte Episode bekommt einen schalen Beigeschmack, wenn man weiß, daß der wirkliche Arthur Machen zwei Jahre vor dem Erscheinen von „The Purple Cloud“ seine Frau Amy, die er 1887 geheiratet hatte, nach einem langen Krebsleiden verloren hatte, ein Verlust, den er nur schwer überwand und bei dem ihm der Beitritt zum Hermetic Order of the Golden Dawn, in dem auch W.B.Yeats Mitglied war, Trost spendete.)

VII.

Zurück zu Istanbul als Schauplatz phantastischer Literatur (zu der Schmidt ja durchaus zuzurechnen ist – auch wenn er eben kein GENRE-Autor ist): Ray Nayler, 1976 in Kanada geboren, der seit 2015 zu einem regelmäßigen Beiträger in den gedruckten Genremagazinen wie „Asimov’s Science Fiction“ und ihren elektronischen Nachfolgern wie „Clarkesworld“ oder „Lightspeed“ geworden ist und dessen erster Roman „The Mountain in the Sea,“ im Oktober 2022 bei MCD erschienen, eine der positiven Überraschungen auf dem Bereich qualitätsvoller Science Fiction darstellte, hat mehrere seiner gut 30 Erzählungen in den letzten 7 Jahren dort angesiedelt, die alle in „Asimov’s“ erschienen sind. Alle Erzählungen spielen in der gleichen Zukunft, und im Mittelpunkt steht eine Technologie, die es erlaubt, das Bewußtsein eines Menschen per Nanotechnologie und Hirnimplantaten in einen anderen zu „übertragen.“ Angefangen mit „Winter Timeshare“ (Jan./Febr. 2017), in dem es um ein junges Paar geht, das seinen Lebensunterhalt damit verdient, den eigenen Körper an zahlungskräftige Kunden für Stunden oder Tage zu „vermieten“ (der Titel bezieht ich darauf, daß die Preise im Winter aufgrund der eingeschränkten Partymöglichkeiten niedriger ausfallen), über „The Ocean Between the Leaves“ (Juli/August 2019), das diese Technologie zu einer technologisch ermöglichten Neuerzählung des Dornröschenstoffs nutzt: die Hauptfigur Feride ist durch den Stich mit einer Dorne ins Koma gefallen und die Technologie bietet eine Fluchtmöglichkeit an, aber der Preis dafür ist immens. Der Text begiint: „Es begann wie ein Märchen: eine junge Waise stach sich den Finger an der Dorne einer Rose, und fiel in Schlaf.“

In „Return to the Old Castle“ (März/April 2020), ermöglicht der Download in künstliche Körper es Menschen – oder ihrem Geist, ihrer Essenz, ihrem νοῦς – jahrhundertelange Reisen zu den Sternen tatsächlich anzutreten. Die Erzählung handelt von einer solchen Sternenreisenden,, die nach Jahrhunderten heimgekehrt von einer solchen Mission heimgekehrt ist und, von neuem in sterblichem Fleisch und Blut inkarniert, die einzige Person aufsucht, mit dem sie noch Erinnerungen an ihr früheres irdisches Dasein teilt, einen Androiden, der ihr Lehrer war. Sie muß feststellen, daß er sein Gedächtnis verloren hat. Die Frage ist, ob dies auf eine Fehlfunktion zurückgeht, oder ob die Erinnerung der Maschine, die zuvor im Krieg im Einsatz war, gezielt gelöscht worden sind. In „Mender of Sparrows“ (März-April 2022) geht es um den legalen und sozialen Status solcher Androiden, die als Bürger zweiter Klasse gelten – nachdem das Bewußtsein des Erzählers anstatt in einen menschlichen Körper in einen Androiden transferiert worden ist. Der Text von „The Ocean Between the Leaves“ ist hier nachzulesen.





Und das Stichwort „Istanbul“ gibt Gelegenheit, an dieses Stück der Four Lads zu erinnern, das 1953 die Combo zu einem One-Hit-Wonder machte. Daß die Novelty-Nummer „Istanbul (Not Constantinople)“ vor 70 Jahren herauskam (am 19. Oktober, um genau zu sein), ist kein Zufall: sie wurde von Jimmy Kennedy und Nat Simon aus Anlaß des 500. Jahrestags der Eroberung von Konstantinopel durch die Truppen Mehmeds des II. komponiert.





(Und die Fassung von They Might Be Giants aus dem Jahr 1990)

Ein letzter Schlenker. Es ist immer wieder erstaunlich, über was man beim assoziierenden Suchen stolpert. Zu dem oben erwähnten östereichischen Architekten und Schachgroßmeister Alexander Wittek (1852-184) (nicht zu verwechseln mit dem Münchner Maler Carl Alexander Wittek, 1893-1958, der Gustav Meyrink porträtiert hat. Jeder kennt das letzte Gebäude, das dieser Architekt entworfen hat - wenn auch nur von Bildern der Innenräume. Es handelt sich um das erste Rathaus von Sarajewo, errichtet in den Jahren von 1892 bis 1894 und 1896 eröffnet. Seit 1947, der formellen Gründung des Volksrepublik Jugoslawien, diente die Vijećnica als Nationalbibliothek für den Landeseil Bosnien. In der Nacht vom 25. auf den 26 August 1992 wurde das Gebäude durch gezielten Beschuss der serbischen Belagerungstruppen schwer eschädigt. Das Innere brannte aus, mehr als zwei Millionen Bände, darunter 700 Inkunanbeln, wurden dabei zerstört. Die Bilder den ausgebrannten Innenräume wurden zum Sinnbild für die barbarische Vernichtung des kulturelen Gedächtnisses eines Volks. Im Sommer 2014 wurde das Gebäude nach dem Wiederaufbau und der Rekonsturktion der Inneneinrichtung neueröffnet.



(Nach der Zerstörung 1992)





(Nach der Wiedereröffnung 2014)

U.E

© U.E. Für Kommentare bitte hier klicken.