26. September 2009

Wahlen '09 (20): Der größte Verlierer ist der Wahlsieger. Der größte Gewinner ist der eigentliche Verlierer. Das könnte das paradoxe Ergebnis sein

Der zu Ende gehende Wahlkampf bestand aus drei Phasen.

In der ersten legte die SPD einen guten, professionellen Start hin, während die Union sich so benahm, als ginge sie das Ganze gar nichts an. Das war die Zeit, in der die erste Folge dieser Serie mit dem Titel erschien: "Kann Angela Merkel die Wahlen noch gewinnen? Es wird schwer werden". So war die Lage im April und im Mai.

Die zweite Phase reichte von ungefähr den Europawahlen Anfang Juni bis Mitte September. Das war die Zeit, in der dieser Wahlkampf seine ganze Langeweile entwickelte; siehe Yes, we gähn. Vier Gründe, warum dieser Wahlkampf solch ein öder Langweiler ist. Das war die Zeit, in der die Union und die FDP zusammen knapp, aber konsistent vorn lagen. Manche hielten damals die Wahl schon für gelaufen. In Wahrheit war alles in der Schwebe, weil ein richtiger Wahlkampf gar nicht stattfand. Es bestand ein, wie ich es damals genannt habe, indifferentes Gleichgewicht.

In der jetzt zu Ende gehenden "heißen" Phase - und so richtig erst in den vergangenen beiden Wochen - fand er statt, der Wahlkampf. Das lag daran, daß es der SPD nach mehreren vergeblichen Anläufen doch noch gelang, eine gewisse Selbstmotivierung hinzubekommen. Es lag auch daran, daß die FDP vor knapp einer Woche endlich Farbe bekannte und sich eindeutig einer Ampel verweigerte. Es lag drittens daran, daß das Thema Afghanistan in den Vordergrund rückte und damit sich die Kommunisten als "Friedenspartei" darstellen konnten.

Das brachte Schwung in den Wahlkampf dieser drei Parteien; einen Schwung, der sich morgen in einen Umschwung - einen last minute swing, einen Umschwung in letzter Minute - umsetzen könnte. Einen Umschwung hin zu diesen drei Parteien und weg von der Union, die es nicht verstanden hat, wenigstens in der Endphase des Wahlkampfs Themen zu setzen und ihre Wähler zu motivieren.

Am 1. September stand hier zu lesen:
Ob es aber auch in der jetzt beginnenden Endphase des Wahlkampfs noch richtig ist, auf eine Emotionalisierung der eigenen Anhänger zu verzichten, das darf füglich bezweifelt werden. Ob die Botschaft "Die Kanzlerin hat uns doch prima durch die Krise gebracht. Also weiter so!" ausreicht, um der heißen Phase des Wahlkampfs den Stempel der Union aufzudrücken, ist zumindest fraglich.
Heute ist es nicht mehr fraglich. Was ich damals befürchtet habe, ist eingetreten.



Der kleine, aber stabile Vorsprung für Schwarzgelb ist damit dahin. Eine gestern veröffentlichte letzte Umfrage von Forsa sieht die Union nur noch bei 33 und die SPD bei 25 Prozent. Ebenso bemerkenswert sind die 14 Prozent für die FDP und die 12 Prozent für die Kommunisten. Mit den 10 Prozent der Grünen liegen damit Schwarzgelb und die Volksfront gleichauf bei je 47 Prozent.

Eine Momentaufnahme, gewiß; und fehlerbehaftet wie jede Umfrage. Aber doch eine Illustration dessen, was sich in den vergangenen beiden Wochen entwickelt hat. Schwarzgelb kann es immer noch schaffen; vielleicht allerdings nur durch Überhangmandate. Aber die Gefahr, daß es nicht reicht, ist einen Tag vor der Wahl größer als irgendwann im letzten halben Jahr.

Und wenn es nicht reicht für eine Koalition aus der Union und der FDP, dann hätten wir sehr wahrscheinlich die im Titel genannte paradoxe Situation:

Die SPD hatte sich von Anfang an das Ziel gesetzt, in der einen oder anderen Koalition an der Regierung zu bleiben. Scheitert Schwarzgelb, dann hat sie dieses Ziel erreicht. Sie ist dann insofern der eigentliche Wahlsieger; denn weder Union noch FDP hätten dann ihr Wahlziel erreicht, und auch nicht die Grünen.

Zugleich wäre aber die SPD der Verlierer dieser Wahl. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit wird sie ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik noch unterbieten; dieses hatte sie mit 28,8 Prozent bei den Wahlen zum 2. Deutschen Bundestag am 6. September 1953 gehabt.

Genau umgekehrt würde es sich mit der FDP verhalten. Sie hat exzellente Aussichten, ihr bisher bestes Ergebnis (12,8 Prozent bei den Bundestagswahlen am 17. September 1961) noch zu übertreffen. Und dennoch wäre sie durch die Schwäche ihres Partners CDU/CSU zur Opposition verurteilt.

Sie wäre dann der große Gewinner und doch zugleich der große Verlierer. Die FDP ist seit 1998 in der Opposition; bis zum Ende der neuen Legislaturperiode werden es 15 Jahre geworden sein. Aus der Partei, die einmal auf das Regieren abonniert gewesen war - sei es zusammen mit Adenauer, Erhard und Kohl; sei es mit Brandt und Schmidt - , wäre dann eine Dauer- Oppositionspartei geworden.



Das ist, lieber Leser, die Lage, wie ich sie unmittelbar vor dieser historischen Wahl sehe. Welche Konsequenz daraus aus meiner Sicht folgt, habe ich vor einer Woche darzulegen versucht:

Wenn Sie nicht wollen, daß wir künftig - vielleicht nach der Übergangsperiode einer nochmaligen Großen Koalition - von der Volksfront regiert werden, dann sollten sie alle eventuellen Bedenken zurückstellen und Ihre Stimme der FDP geben; möglicherweise ihre Erststimme der Union.

Das wäre das, was die Franzosen voter utile nennen; nützlich wählen. Wenn Sie statt nützlich sich demonstrativ verhalten, indem Sie zu Hause bleiben, ungültig wählen oder ihre Stimme den Piraten oder einer anderen Splitterpartei geben - dann sollten Sie sich im Klaren darüber sein, daß Sie damit Mitverantwortung für einen möglichen erneuten Versuch tragen, in Deutschland den Sozialismus einzuführen.

Der Wahlkampf hätte eigentlich um diese zentrale Frage geführt werden müssen: Wollen wir das Weiterbestehen einer freien, demokratischen, rechtsstaatlichen Republik, oder soll Deutschland auf den Weg hinein in ein neues sozialistisches Experiment geschickt werden?

Guido Westerwelle hat diese Alternative in seiner Rede in Hannover klar beschrieben. Aber dieses Thema hat nicht den Wahlkampf der FDP geprägt; schon gar nicht denjenigen der Union. Das war der große Fehler beider Parteien. Hoffen wir, daß er sich morgen nicht rächen wird.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.