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28. September 2009

Zitat des Tages: Gregor Gysi dreht's wieder einmal, wie es gerade paßt

Das eigentlich Herausragende des Ergebnis [sic] ist, dass die Linke ein zweistelliges Ergebnis erzielt hat, das hat es seit 1949 nie in der Bundesrepublik gegeben.

Gregor Gysi laut FAZ.Net über den Wahlausgang.


Kommentar: Eine erstaunliche Aussage, denn die Partei "Die Linke" ist diesmal zum ersten Mal zu Bundestagswahlen angetreten.

Wen also meint Gysi mit "seit 1949"? Die KPD, die SEW, die ADF, die DFU, die DKP? Die allerdings traten schon früher auf. Und schnitten in der Tat erbärmlich ab.

Es waren freilich allesamt auch nicht einfach "linke" Parteien, sondern Kommunisten; teilweise unter Tarnnamen. Daß Gysi seine Partei in diese Ahnenreihe stellt, ist ein erstaunliches Eingeständnis. Bisher las man's anders.

Aber wenn unter allen diesen Etiketten immer nur dieselben Kommunisten antraten (was ich Gysi gern konzediere), dann müßte man doch vernünftigerweise auch die SED einbeziehen. Deren Ergebnisse lagen nicht nur im zweistelligen, sondern schon fast im dreistelligen Bereich.

Aber er sprach doch nur von der Bundesrepublik, der Gregor Gysi? Dann freilich dürfte er bei seinem Vergleich auch für die jetzigen Wahlen nur die Ergebnisse aus der alten Bundesrepublik zum Vergleich heranziehen. Und dort gab es auch diesmal keineswegs "ein zweistelliges Ergebnis".

Er dreht's also, wie es ihm paßt. Solche kleinen Tricks sind es, mit denen sich ein Mensch entlarvt.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Nachtrag am 1. 11. 2009: Mit Dank an che2001 für den Hinweis darauf, daß ich statt "ADF" irrtümlich "AUD" geschrieben hatte.

27. September 2009

Marginalie: Anmerkung zum (vermutlichen) heutigen Wahlerfolg der Kommunisten

Dort, wo die Kommunisten regieren, ist die Wahlbeteiligung erfreulich hoch. Bei den letzten Wahlen in Cuba lag sie zum Beispiel bei 96,89 Prozent, was umso bemerkenswerter ist, als es gar nichts zu wählen gab. Um die 614 zu vergebenden Mandate bewarben sich nämlich genau 614 Kandidaten; siehe Heute wählt Cuba!, ZR vom 20. 1. 2008.

Wo die Kommunisten noch nicht regieren, da profitieren sie hingegen von einer niedrigen Wahlbeteiligung. Denn der Kern ihrer Anhänger ist, wie bei jeder extremistischen Partei, überdurchschnittlich politisch interessiert. Für sie ist es keine Frage, daß sie wählen gehen.

Jetzt, zwei Stunden vor Schließung der Wahllokale, zeichnet sich eine niedrige Wahlbeteiligung ab. Vielleicht steigt sie noch etwas dank der Wähler, die erst wählen gehen, wenn sie vom Sonntagsausflug bei strahlendem Sonnenschein zurück sind. Aber es ist unwahrscheinlich, daß sie am Ende des Tages hoch sein wird.

Das könnte einer der Gründe dafür sein, daß die Kommunisten heute einen großen Sieg feiern werden. Aber als Erklärung reicht es natürlich nicht.

Woher jetzt dieser Zulauf zu den Kommunisten sogar im Westen? Wegen der Krise? Gewiß nicht. Auch in früheren Krisen blieben die Kommunisten in der Bundesrepublik marginal; weit entfernt von der Fünf- Prozent- Hürde.

Entscheidend dürfte sein, daß es den Kommunisten gelungen ist, nicht mehr als extremistisch wahrgenommen werden. Dazu hat die Einverleibung der WASG beigetragen; sodann der ehemalige SPD-Chef Lafontaine als Aushängeschild; vor allem aber die freundliche Art, in der die Massenmedien die Kommunisten behandeln. Mit einer Super- Fairness, von der die Extremisten auf der Rechten noch nicht einmal träumen können.

Die Kommunisten sind, mit anderen Worten, gesellschaftsfähig geworden. Man findet nichts mehr dabei, sich zu ihnen zu bekennen und sie zu wählen.

Obwohl ihr Vorsitzender Lothar Bisky in Personalunion der Vorsitzende fast aller Kommunisten Europas ist (siehe Lothar Bisky, Vorsitzender von zwei Parteien; ZR vom 1. 9. 2008), präsentieren sich die deutschen Kommunisten nicht unter diesem Etikett, sondern sie spielen erfolgreich die Rolle des Anwalts des Kleinen Mannes.

Würden sie noch als extremistisch wahrgenommen werden, dann hätten sie damit wenig Erfolg. Aber getarnt als eine seriöse Partei sind sie dabei, das Feld zu besetzen, das bisher die Domäne der SPD war.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken.

20. September 2009

Zettels Meckerecke: Gregor Gysi, eine Flucht aus der DDR, die Freiheit der Presse

Als ich den Artikel von Peter Wensierski in "Spiegel- Online" gelesen hatte, schien er mir zunächst keinen Kommentar hier in ZR wert zu sein.

Wieder einmal war Material zutage gefördert worden, das zeigte, wie der DDR-Rechtsanwalt Gregor Gysi vertrauensvoll mit den höchsten Stellen seines Staats und seiner Partei zusammenarbeitete. Diesmal ging es - man schrieb das Jahr 1988, in dem Gysi auch Vorsitzender der Ostberliner Rechtsanwaltskammer wurde - um einen DDR-Wissen­schaft­ler, der sich in den Westen abgesetzt hatte.

Verständlicherweise hätte die SED ihn gern zur Rückkehr bewegt. Also fuhr Gysi zu einem Gespräch mit ihm nach Westberlin, das aber nicht den erhofften Erfolg zeitigte.

Glaubt man Wensierski, dann handelte es sich um eine "Rückführungsaktion", an welcher "der für Sicherheit zuständige ZK-Funktionär Wolfgang Herger, der Stellvertreter Erich Mielkes, Rudi Mittig, sowie Egon Krenz" beteiligt waren; Mittig habe dem "Einsatz Gysis" zugestimmt.

Glaubt man Gysi, dann hat er lediglich einem Abteilungsleiter beim ZK der DDR einen persönlichen Gefallen tun wollen, der die Ausreise des Wissenschaftlers "ermöglicht" hatte und der durch dessen Flucht nun in die Bredouille geraten war.

Mir scheint es ohne Belang zu sein, ob die eine oder die andere Version stimmt.

Gysi hatte jedenfalls - und das hat er auch nie bestritten - beste Kontakte zum ZK der SED. Er war nicht irgendein Rechtsanwalt, der sich der undankbaren Aufgabe hingab, Dissidenten zu verteidigen. Sondern er gehörte schon in jungen Jahren zur Crème der DDR-Nomen­klatura mit unmittelbarem Zugang zu den höchsten Stellen; siehe Zitat des Tages: Grüße des Genossen Honecker an den Rechtsanwalt Gysi; ZR vom 20. Mai 2008.

Ob man ihn nun beauftragt hatte, den abtrünnigen Wissenschaftler zu einem Gespräch aufzusuchen, oder ob er das das aus freien Stücken tat, um einem der Mächtigen der DDR einen Gefallen zu tun - jedenfalls handelte er als der Mann des Machtapparats der DDR. Gysis eigene Version weist ja im übrigen noch mehr als die Wensierskis auf den Rang hin, den Gysi damals in der Nomenklatura einnahm.



Soweit also nichts Neues. Versuche, Gysi eine Stasi- Verstrickung nachzuweisen, kommen mir immer etwas neben der Sache liegend vor. Natürlich war ein Mann von seiner Bedeutung innerhalb der Machthierarchie der DDR kein popeliger Spitzel; daß ihn dieser Vorwurf empört, kann ich nachvollziehen. Nicht ob und wie er mit dem MfS zusammengearbeitet hat, ist für die Beurteilung Gysis von Belang, sondern es ist seine Rolle innerhalb des Herrschaftsapparats der Kommunisten.

Diese nun scheint ihn bis heute zu prägen. Und zwar nicht nur, was seine im wesentlichen unveränderten politischen Ansichten angeht; sondern auch in seinem Umgang mit der Freiheit des Wortes.

Das geht - wieder einmal; man kennt es ja von Gysi - aus einem zweiten Artikel hervor, der gestern Abend erschienen ist, und zwar in "Welt- Online". Darin begibt sich der Autor Thomas Vitzthum gewissermaßen auf die Metaebene und beschreibt die Umstände des Artikels von Wensierski; also die Geschichte hinter der Geschichte.

Danach hatte Wensierski an Gysi, wie das bei solchen Recherchen üblich ist, ein Fax mit einer Reihe von Fragen geschickt. Gysis Reaktion laut Thomas Vitzthum:
"Was ist dabei Ihr Problem", fragt Gysi in seinem Schreiben den Autor Wensierski im Hinblick auf sein Verhalten im Mai 1989 [laut Wensierski 1988; Anmerkung von Zettel]. (...) Darüber hinaus bezichtigt er das Nachrichtenmagazin, mit dem Artikel Wahlkampf zu machen.

Schließlich droht er mit juristischen – "Gegendarstellungen, Unterlassungen und Widerrufe" – und finanziellen Konsequenzen; wohl gemerkt noch bevor der Text überhaupt veröffentlicht war. Beigelegt ist dem Konvolut auch das Anschreiben an die Chefredakteure des Magazins; darin bedauert es Gysi, dass man zwar kürzlich noch zusammen Kaffee getrunken habe, die betreffenden Fragen aber nicht gestellt wurden. "Mal sehen, ob das Ganze im Prozess endet oder vielleicht noch anders gehandhabt werden kann", schreibt Gysi.
So kennen wir ihn, den Gregor Gysi. Er weiß sich in Machtgefügen zu bewegen; hier jetzt in demjenigen zwischen einer Chefredaktion und einem ihrer Redakteure. Und er weiß zu drohen und zu locken.

Der Hinweis auf diese besonderen Fähigkeiten des Gregor Gysi schien es mir nun doch wert zu sein, diesem Thema eine "Meckerecke" zu widmen. Schon um das zu zitieren, was der in Sachen SED kenntnisreiche Hubertus Knabe laut Thomas Vitzthum dazu anmerkt:
"Gysi versucht gegen die Pressefreiheit vorzugehen", sagte Knabe. Seit Jahren wolle der Politiker all diejenigen mundtot machen, die seine Kontakte zur Staatssicherheit der DDR anprangern. "Das passt zu den sonstigen programmatischen Vorstellungen der Partei", sagte Knabe weiter, "die privaten Medien unter staatliche Aufsicht zu stellen."
Das ist, so scheint mir, der Kern der Sache. Der letzte Vorsitzende der SED hat es geschafft, seine Partei nicht nur in die Bundesrepublik hinüberzuretten, sondern ihr in dieser auch wieder zu Macht und Einfluß zu verhelfen. Jetzt arbeitet er am nächsten Versuch des Übergangs zum Sozialismus; mit derselben Intelligenz und demselben Geschick, die damals seinen Aufstieg in die Machtelite der SED ermöglicht hatten.



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19. September 2009

Marginalie: Der Osten ist rot. Auch zwei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung

Die Daten aus Umfragen werden heute nur noch selten nach Ost und West getrennt aufgeführt. Leider; denn ohne diese Aufschlüsselung versteht man die politische Situation in Deutschland nicht.

"Welt- Online" zeigt die aktuellen Daten von Infratest dimap getrennt nach östlichen und westlichen Bundesländern.

In der einstigen Deutschen Demokratischen Republik hat nicht nur die Volksfront eine satte Mehrheit. Sondern die Kommunisten könnten sogar mit der SPD allein regieren; und zwar als die Mehrheitspartei dieser Koalition (27 Prozent Kommunisten, 25 Prozent SPD; 7 Prozent Grüne). CDU (27 Prozent) und FDP (10 Prozent) liegen im Osten hoffnungslos zurück.

Spiegelbildlich ist die Situation in der alten Bundesrepublik. Würde nur dort gewählt, dann brauchten sich die CDU (37 Prozent) und die FDP (15 Prozent) keine Sorgen um den Wahlausgang zu machen.

Gewiß, auch innerhalb des Ostens und innerhalb des Westens gibt es regionale Unterschiede. In Sachsen sind die politischen Verhältnisse tendenziell eher wie im Westen, in Bremen sind sie eher wie im Osten als wie in Baden- Württemberg.

Aber auch in Sachsen lagen die Kommunisten bei den Landtagswahlen vor vier Wochen über zwanzig Prozent; und im Bund wollten gar 28 Prozent der Sachsen die Kommunisten wählen. (Die letzte dazu verfügbare Umfrage liegt allerdings zwei Jahre zurück). Andererseits gibt die neueste Umfrage zu den Bundestagswahlen in Baden- Württemberg (Infratest dimap, 16.9.2009) der FDP nicht weniger als 18 Prozent - ein Wert, der in einem östlichen Land unvorstellbar wäre.



Zwei Jahrzehnte haben also nichts daran geändert:

Die alte Bundesrepublik hat auch jetzt wieder ihre liberalkonservative Mehrheit wie zur Zeit Konrad Adenauers und Helmut Kohls.

In der alten DDR genießen die Kommunisten zwar heute so wenig die Zustimmung der Mehrheit "ihrer" Menschen wie in den Jahrzehnten, als sie die Macht an sich gerissen hatten. Sie stützten sich damals auf eine Minderheit von vielleicht einem Viertel bis einem Drittel der Bevölkerung. Und an dieser starken Minderheit der Kommunisten haben zwei Jahrzehnte der Freiheit, des wachsenden Wohlstands, haben alle Kontakte mit dem Westen und Transferleistungen aus dem Westen offenbar kaum etwas geändert.



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17. September 2009

Wahlen '09 (18): Die Volksfront schon jetzt? Oder besser bis 2013 warten? Die Interessenlage der drei Partner

Angenommen, Schwarzgelb verfehlt die Mehrheit: Soll die Linke dann schon jetzt die Volksfront riskieren, oder wartet man besser bis 2013? Die strategische Lage in den drei Parteien ist verschieden.

Die Grünen haben kein Problem mit der Volksfront. Sie haben sich mit der Wahl von Trittin und Künast zu ihren beiden Spitzenkandidaten unzweideutig für diese Option entschieden. Nur die Volksfront kann die Grünen zurück an die Macht bringen; denn ein Bündnis mit der Union und den Liberalen würde diese Partei zerreißen.

Schwieriger ist die Situation für die SPD. Sie windet sich bei dieser Frage; ihre Position ist so unglaubhaft, wie es die einer Partei überhaupt nur sein kann.

In den Ländern - aktuell in Thüringen und im Saarland - möchte man die Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Nicht nur die betreffenden Landespolitiker wollen sie, sondern ausdrücklich auch der Vorsitzende Müntefering will sie. Für den Bund schließt die SPD die Volksfront ebenfalls nicht aus, allerdings erst für 2013.

Man hat also keine grundsätzliche Scheu, als Demokraten den Kommunisten in die Regierung zu verhelfen. Wenn es in den Ländern ist. Wenn es 2013 ist.

Warum dann aber nicht 2009 im Bund? Natürlich deshalb, weil die Transformation der SPD von einer sozialdemokratischen Volkspartei zu der im Hamburger Programm beschlossenen Partei des Demokratischen Sozialismus noch nicht weit genug fortgeschritten ist.

Damit die Volksfront steht, müssen Leute wie der aufrechte Peer Steinbrück erst noch kaltgestellt werden. Kanzler der Volksfront können Wowereit, Nahles oder - wer weiß - Sigmar Gabriel erst dann werden, wenn die Entclementisierung der SPD zum Abschluß gekommen ist.

Das kann man den Wählern selbstredend nicht sagen. Man sagt, die Partei "Die Linke" sei nicht zuverlässig; es gebe unüberbrückbare Gegensätze, vor allem in der Außenpolitik. Vor allem, was Afghanistan angehe.

Damit begibt man sich freilich in die Hand der Kommunisten. Denn was, wenn diese einfach in Sachen Afghanistan ihre bisherige Position räumen?



Kommunisten nämlich interessiert nicht im Geringsten, ob sie ihr Programm durchsetzen können. Sie interessiert allein die Änderung des, wie sie es nennen, "Kräfteverhältnisses".

Nie haben Kommunisten eine Regierungsbeteiligung ausgeschlagen, die ihnen angeboten wurde. Nie haben sie eine Regierung verlassen, weil deren Kurs nicht mit ihrem Programm in Einklang zu bringen gewesen wäre.

1981 begannen die französischen Kommunisten zusammen mit den Sozialisten das bisher letzte sozialistische Experiment in Westeuropa. 1983 scheiterte es; Mitterand entschied, daß es beim Kapitalismus bleiben werde. Die Kommunisten verharrten in der Regierung - in einer Regierung, die mit ihrer Politik der austérité, also des schlanken Staats, das Gegenteil von dem machte, was die Kommunisten gewollt hatten. Erst als Mitterand sie wieder und wieder demütigte und als sie keine Hoffnung auf Einfluß mehr haben konnten, zogen sie später ihre Minister zurück.

Also wird auch jetzt in Deutschland Afghanistan kein Hindernis für die Volksfront sein. Jedenfalls nicht, was die Kommunisten angeht. In "Spiegel- Online" haben Veit Medick und Sebastian Winter diese neueste Wende der Kommunisten dokumentiert.



Die Grünen wollen es. Die Kommunisten wollen es um den Preis der Selbstverleugnung. Die Sozialdemokraten wollen es eigentlich auch. Nur noch nicht jetzt. Nur noch nicht im Bund.

Wie entwickelt sich eine solche Situation? Man gibt den Zögerlichen etwas Zeit. Man baut ihnen die eine oder andere Goldene Brücke. Und über die marschieren sie dann. Vielleicht nicht gleich; aber doch bald.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.

10. September 2009

Wahlen '09 (16): Bei Forsa liegen die Kommunisten gleichauf mit der FDP bei 14 Prozent. Jetzt wackelt das Gleichgewicht. Kann die CDU noch reagieren?

In der letzten Phase eines Wahlkampfs geht es - das gehört zum politischen ABC - vorrangig um Mobilisierung. Die Argumente sind längst ausgetauscht, die meisten Wähler haben sich eine Meinung gebildet.

Genauer gesagt: Mehr oder weniger haben sie sich eine Meinung gebildet, die Wähler. Bei manchen ist ihre Entscheidung vorläufig; sie ist leicht umzustoßen. Diese Wähler sind anfällig für das allgemeine Klima, für die Stimmung in den letzten Wochen, den letzten Tagen vor der Wahl.

Weiterhin: Viele von denen, die sich eine relativ gefestigte Meinung gebildet haben, gehen vielleicht wählen, vielleicht auch nicht. So wichtig ist ihnen das Wählen nun auch wieder nicht, daß sie sich auf jeden Fall zum Wahllokal aufmachen.

Die Strategen in den Wahlkampf- Zentralen haben also zwei Aufgaben: Sie müssen erstens ihre Anhänger möglichst vollständig an die Urnen bringen. Sie müssen zweitens ein Diskussionklima erzeugen, in dem die Schwankenden, die leicht Beeinflußbaren sich auf ihre Seite schlagen.

Dazu braucht man in der Endphase ein Thema, das emotionalisiert; eines oder - noch besser - mehrere (siehe Wind ins Gesicht, Rückenwind. Die windigen Tricks der SPD könnten erfolgreich sein).

Solche Themen kann man sich nicht backen. Aber wenn sich eines anbietet, dann muß man es packen, es festhalten, es ausquetschen wie eine Zitrone.

Das tun die Kommunisten mit dem Thema "Afghanistan". Und es funktioniert. Es funktioniert beängstigend gut.



Gestern sind drei Umfragen publiziert worden; von Allensbach, Emnid und Forsa. Obwohl sie alle das Publikationsdatum 9. September haben, sind sie nicht im selben Zeitraum durchgeführt worden. Bei Wahlrecht.de findet man die in diesem Fall wichtigen Erhebungszeiträume angegeben.

Diese sind deshalb entscheidend, weil am vergangenen Freitag, dem 4. September, die Diskussion um den Afghanistan- Einsatz der Bundeswehr begann. (In der Nacht zum Freitag hatte die Bombardierung der Tank- Lastzüge stattgefunden).

Das ist ein ideales Mobilisierungsthema für die Kommunisten; denn einerseits sind sie die einzige größere Partei, die für einen umgehenden Abzug aus Afghanistan eintritt, andererseits teilt diese Meinung eine große Mehrheit der Bevölkerung. Ein Potential also, das nur darauf wartete, ausgeschöpft zu werden. Der Vorfall bei Kundus bot und bietet dazu eine exzellente Gelegenheit.

Allensbach sammelte die Daten für die gestern publizierte Erhebung vom 26.08. bis zum 02.09. Da konnten die Ereignisse in und um Afghanistan also keine Rolle spielen. Forsa befragte hingegen vom 1.09. bis zum 07.09; drei Tage also vor und vier Tage nach dem Vorfall von Kundus.

In der Allensbach- Umfrage lagen die Kommunisten bei 11,5 Prozent; am oberen Rand des Bereichs, in dem sie sich seit Monaten bewegen. Bei Forsa schnellte ihr Wert auf 14 Prozent hoch. Damit lagen sie gleichauf mit der FDP; etwas, das es in diesem Jahr noch nicht gegeben hatte. Die Umfrage von Emnid umfaßte vier Tage vor und vier Tage nach der Nacht zum 4. September. Hier erreichten die Kommunisten 12 und die FDP nur noch 13 Prozent.



Es ist also das eingetreten, was ich am vergangenen Samstag so beschrieben hatte:
Schwarzgelb hat einen hauchdünnen Vorsprung. Er ist so gering, daß er durch den kleinsten Stoß kippen kann - irgend ein emotionalisierendes Thema, das jetzt noch aufkommt; ein beliebiges Ereignis, das die Stimmung verändert. In der Physik nennt man das ein indifferentes Gleichgewicht. Solange keine Kraft einwirkt, bleibt das System stabil. Aber schon eine geringe Kraft genügt, um diese Stabilität zunichte zu machen.
Der Stoß ist erfolgt; das Gleichgewicht ist in akuter Gefahr.

Die Union und die FDP haben insofern noch Glück, als das emotionalisierende Thema nur den Kommunisten nützt, aber nicht der SPD und den Grünen, die nolens volens zu ihrer Afghanistan- Politik stehen müssen. Zumal Steinmeier muß das, der als Außenminister für diese Politik schließlich federführend ist.

Aber es ist zu vermuten, daß der erstaunliche Zuwachs der Kommunisten sich nicht ausschließlich aus dem rotgrünen Lager speist. Auch unter Bürgerlichen gibt es Menschen, denen - jedenfalls im jetzigen Zustand der Emotionalisierung - der Frieden so wichtig ist, daß sie eine vermeintliche Friedenspartei selbst dann wählen, wenn sie nicht allzu viel vom sonstigen Programm der Kommunisten halten.

Noch hat Schwarzgelb einen knappen Vorsprung vor der Volksfront; auch wenn in allen drei Umfragen die 50- Prozent- Marke unterschritten wird. Aber eine anhaltende Emotionalisierung durch das Afghanistan- Thema, vielleicht dazu noch ein Hochspielen des Themas "Atomkraft", wie das der Minister Gabriel gerade versucht, - und die Volksfront könnte an Schwarzgelb vorbeiziehen.

Es sei denn, die Union und die FDP finden ihrerseits ein Thema, das Wähler mobilisiert. Bisher ist davon nichts zu sehen.



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8. September 2009

Zitat des Tages: "Dieses Problem sollten wir lösen". Angela Marquardt (früher PDS, jetzt SPD) über die Zusammenarbeit der SPD mit "Die Linke"

Tagesspiegel: Gregor Gysi, der Fraktionschef der Linken, malt sich bereits ein Szenario für den 27. September aus: Die SPD bekommt eins auf die Mütze, die große Koalition wird fortgesetzt. Dann könnte es 2011, zur Mitte der Legislaturperiode, zur Rebellion in der SPD kommen, meint Gysi. Wie sieht Ihr Fahrplan aus?

Marquardt: Ich bin ja noch nicht lange in der SPD, doch bei meinen gemeinsamen Reisen mit Andrea Nahles und eigenen Veranstaltungen bekomme ich viel mit. Eine Rebellion im Sinne von "So kann es nicht weitergehen" gibt es doch in der SPD schon länger. Meine Partei ist in der Sackgasse, und die Zukunftsfähigkeit entscheidet sich an unserer inhaltlichen Ausrichtung. Dieses Problem sollten wir lösen, und darüber wird auch gesprochen.


Angela Marquardt in einem Interview, das im heutigen "Tagesspiegel" zu lesen ist.


Kommentar: Sie erinnern sich an Angela Marquardt? Sie wurde zu ihren PDS-Zeiten gern als "PDS-Punkerin" bezeichnet und geriet 2002 wegen Stasi- Vorwürfen, die sich allerdings auf ihre Zeit als Schülerin bezogen, ins Blickfeld der Öffentlichkeit.

Zeitweilig war sie im Parteivorstand der PDS und saß für diese im Bundestag. In "Spiegel- Online" beschrieb Holger Kulick sie als politisches "Ziehkind" von Gregor Gysi und Lothar Bisky. Nach Ende ihrer Abgeordnetenzeit stellte sie 2002 laut "Wikipedia" ihre Beitragszahlungen bei der PDS ein und wurde daraufhin 2003 aus der Partei ausgeschlossen.

Die somit parteilos Gewordene wurde 2006 von Andrea Nahles als Mitarbeiterin in deren Abgeordneten- Büro geholt. Immer noch parteilos, avancierte Marquardt 2007 zur Geschäftsführerin des Arbeitskreises "Denkfabrik" der SPD, eines - so die "Wikipedia" - "Zusammenschlusses von überwiegend jüngeren linken SPD- Abgeordneten". Erst im März 2008 trat sie dann auch in die SPD ein.

Angela Marquardt ist also sozusagen das fleischgewordene Bindeglied zwischen der PDS, die heute "Die Linke" heißt, und dem linken Flügel der SPD.

Ihre Antwort auf die Frage des "Tagesspiegel" ist scheinbar ausweichend, aber doch höchst aufschlußreich. Sie sieht die SPD in einer "Sackgasse", die - so darf man das wohl verstehen - darin besteht, daß sie bisher auf Bundesebene die Volksfront und damit eine konsequent linke Politik verweigert. Die "Lösung des Problems" besteht für Marquardt offensichtlich in einer Zusammenarbeit mit ihrer alten Partei.

Sie dürfte damit das zum Ausdruck bringen, was ihre Chefin Andrea Nahles denkt; gegenwärtig stellvertretende Vorsitzende der SPD und aussichtsreichste Kandidatin für den Vorsitz, sobald Franz Müntefering abtritt.



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29. August 2009

Zitat des Tages: "Die deutsche Einheit drückt der alt- bundesdeutschen Parteienlandschaft ihren Stempel auf".

Die Ost-Partei PDS ist nicht untergegangen, sondern Teil des mühsamen, spannenden, bislang erfolgreichen Abenteuers einer gesamtdeutschen Linkspartei geworden. Die Karten im Parteienpoker werden neu gemischt, politische Erbhöfe gelten nicht mehr viel. Die deutsche Einheit drückt der alt- bundesdeutschen Parteienlandschaft ihren Stempel auf, nicht umgekehrt. Das ist gut so.

Wolfgang Hübner, stellvertretender Chefredakteur der von Lothar Bisky herausgegebenen Sozialistischen Tageszeitung "Neues Deutschland", in deren heutiger Ausgabe über die Situation vor den bevorstehenden Landtagswahlen. Überschrift des Artikels: "Die schwarze Herrlichkeit geht zu Ende".

Kommentar: In keinem politischen Lager wird so sehr in historischen Prozessen gedacht wie bei den Kommunisten. Alles, was sich in der Politik ereignet, sehen sie unter dem Gesichtspunkt von Fortschritten oder Rückschlägen auf dem Weg zum Sieg des Sozialismus. Alles, was sie politisch tun, bestimmt sich danach, ob es das "Kräfteverhältnis" zugunsten der Kräfte des Sozialismus verändert oder nicht.

Als sich Ende 1989 der Untergang der DDR abzeichnete, dürften viele in der SED das als eine Niederlage angesehen haben, die sie auf dem Weg in den Sozialismus weit zurückwerfen würde. Aber es gab auch Weitsichtige wie den damaligen SED-Vorsitzenden Gregor Gysi, der auf dem Außerordentlichen Parteitag der SED am 8./9. Dezember 1989, fortgesetzt am 16./17. Dezember, die Auflösung der Partei verhinderte und erreichte, daß sie sich nur einen neuen Namen gab.

Vorerst nannte sie sich SED-PDS; auf dem Parteitag am 24./25. Februar 1990 wurde "SED" gestrichen, und die Partei hieß nur noch PDS (siehe die informative, wenn auch natürlich parteiliche Geschichte der PDS, die Wolfram Adolphi bei der Rosa- Luxemburg- Stiftung publiziert hat).

Mit diesen beiden Schachzügen war das Überleben der SED erst einmal gesichert; zumal es Gysi und seinen Finanz- Fachleuten in den Monaten danach gelang, erhebliche Teile des SED- Vermögens über die Wende hinweg zu retten (siehe dazu den Artikel im "Spiegel" 50/2001).

Manche Kleinmütige mögen in den ersten Jahren, in denen die umgetaufte SED sich unter demokratischen Verhältnissen behaupten mußte, gleichwohl erwartet haben, sie werde bald auf das Niveau ihrer Vorgängerpartei im Westen abrutschen, der in DKP umbenannten KPD. Zeitweise sah es auch danach aus; beispielsweise, als die Partei bei den Bundestagswahlen 2002 keine fünf Prozent mehr erreichte und nur noch mit zwei direkt gewählten Abgeordneten im Bundestag saß.

Damals hatte es wirklich den Anschein, daß die "alt- bundesdeutsche Parteienlandschaft" dem vereinten Deutschland "ihren Stempel aufgedrückt" hatte; und auf diesem Abdruck war die kommunistische Partei nur noch unter dem Mikroskop zu erkennen.

Aber wo die Not am größten ist, sagt Hölderlin, da wächst das Errettende auch. Eine Ironie der Geschichte wollte es, daß just das Scheitern der Linkspolitik der rotgrünen Koalition Gerhard Schröders einen Höhenflug der Kommunisten einleitete, der bis heute anhält.

Wie François Mitterands Volksfront- Koalition von 1981 scheiterte auch Rotgrün an den wirtschaftlichen Realitäten. Wie Mitterand 1983 mußte Schröder mit der "Agenda 2010" zwei Jahrzehnte später, im März 2003, das Ruder herumwerfen und eine liberale Wirtschaftspolitik einleiten. Der SPD brach damit ihr linker Flügel weg, samt den Wählern, die er an die Partei gebunden hatte.

Das war die Chance der Kommunisten. Damit begann der Prozeß, der dazu geführt hat, daß heute, wie Hübner richtig erkennt, "die deutsche Einheit ... der alt- bundesdeutschen Parteienlandschaft ihren Stempel" aufdrückt. Nur muß es statt "die deutsche Einheit" natürlich "die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands" heißen.

Kaum eine der anderen kommunistischen Parteien, die unter dem Vorsitz Lothar Biskys innerhalb der Europäischen Union zusammengeschlossen sind, ist derzeit so erfolgreich wie die deutschen Genossen.

"Die Ost-Partei PDS ist nicht untergegangen" schreibt Hübner. Fürwahr. Nach ihrer Umbenennung und später dann der Einverleibung der WASG hat sich die SED den neuen Kampfbedingungen in der Bundesrepublik bestens angepaßt. Heute spielt sie souverän auf der Klaviatur des demokratischen Rechtsstaats.

Freilich wird sie auch andere Instrumente wieder auspacken, wenn die Kampfbedingungen das in der Zukunft ermöglichen und verlangen sollten.



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28. August 2009

Wahlen '09 (12): Fällt am Sonntag endlich das Tor, das dem Ballgeschiebe ein Ende macht?

Bisher gleicht der Wahlkampf einem jener Fußballspiele, in denen eine Mannschaft, nachdem sie das 1:0 geschossen hat, nur noch auf Halten spielt. Auch der Gegner greift nur verhalten an, denn sein Ziel ist es, irgendwann mit einem Gegentor ein Unentschieden zu erreichen. Mehr als einen Punkt braucht er nicht; und ein 2:0 würde dieses Ziel in weite Ferne rücken.

Die einen beschränken sich also ganz aufs Verteidigen; die anderen sind ebenfalls defensiv, hoffen allerdings, aus ihrer Defensive heraus irgendwann einen erfolgreichen Angriff zu starten. Ein Ballgeschiebe also auf beiden Seiten. Langweiliger geht es nicht.

Ein solches Spiel erwacht oft schlagartig zum Leben, wenn ein Tor fällt. Ist es das 2:0, dann bleibt der zurückliegenden Mannschaft nichts anderes übrig, als jetzt doch volle Pulle anzugreifen. Fällt andererseits das 1:1, dann muß die bis dahin führende Mannschaft, die ihre drei Punkte braucht, auf Offensive umschalten.

Schwarzgelb liegt seit Juni in den Umfragen stabil bei 50 Prozent oder knapp darüber; genug für eine Mehrheit der Mandate. Wenn es so bleibt, hat man gewonnen. Also spielt man auf Halten.

Den Sozialdemokraten würde ein Unentschieden reichen. Es bestünde darin, daß erst einmal Schwarzgelb vermieden wird. Die SPD hätte dann alle Optionen, in der einen oder anderen Koalition weiter auf der Regierungsbank zu sitzen. Die Union bleibt ein möglicher Partner; also spielt man nicht voll auf Angriff gegen sie.

Wird sich an dieser Situation Sonntag Abend etwas ändern; was könnte sich ändern? Betrachten wir zunächst die Lage in den drei Ländern, in denen der Landtag gewählt wird (die Kommunalwahlen in NRW spielen vermutlich kaum eine Rolle).



Umfragen, die erst in dieser Woche abgeschlossen wurden, sind bisher für keines der drei Länder publiziert. An Umfragen, die in der vergangenen Woche (also der Woche ab 17.8.) abgeschlossen wurden, liegen für das Saarland zwei vor (Infratest Dimap und FG Wahlen); für Thüringen drei (FG Wahlen, Infratest Dimap und TU Ilmenau) und für Sachsen ebenfalls drei (FG Wahlen, Infratest Dimap und IfM Leipzig).

Die Daten der Institute liegen durchweg nah beieinander. Das muß freilich nicht heißen, daß sie dem Ergebnis am Sonntag nahekommen. Innerhalb von fast zwei Wochen könnte es noch bedeutsame Veränderungen gegeben haben. Bedeutsam vor allem deshalb, weil in zweien der drei Länder die Lage, so wie die Umfragen sie widerpiegeln, denkbar knapp ist:
  • Im Saarland liegt die Volksfront (SPD, Grüne, Kommunisten) knapp vor Schwarzgelb (48 zu 45 Prozent; FG Wahlen) oder gleichauf (beide 47 Prozent; Infratest Dimap). Die SPD hat einen deutlichen Vorsprung vor den Kommunisten (26 zu 16 bzw. 26 zu 15), so daß einer Volksfront- Regierung nichts im Wege stünde. Lafontaine wird nicht Ministerpräsident werden.

  • In Thüringen sieht die TU Ilmenau die beiden Lager nahezu gleichauf (Schwarzgelb 49 Prozent; Volksfront 48 Prozent). Bei der FG Wahlen und Infratest Dimap liegt die Volksfront vorn (48 zu 45 bzw. 49 zu 42 Prozent). Aber das muß keineswegs deren Sieg bedeuten; erstens wegen möglicher Verschiebungen bis zum Wahltag und dann vor allem auch deshalb, weil es nicht sicher ist, ob die Grünen überhaupt in den Landtag kommen (die FG Wahlen sieht sie bei 5 Prozent), und ob sie zum Einstieg in eine Volksfront bereit wären.

  • Die Lage in Sachsen erscheint auf den ersten Blick eindeutig: Alle drei Institute sehen Schwarzgelb (mit 51, 53 oder 49,5 Prozent) weit vor der Volksfront (zwischen 40 und 42 Prozent). Aber hier ist die NPD ein unbestimmter Faktor. Sie liegt zwischen 4,5 und 6 Prozent. Schafft sie es in den Landtag und verliert Schwarzgelb gegenüber den Umfragen ein paar Prozent, dann hätte zwar die Volksfront immer noch keine Chance, aber für Schwarzgelb könnte es dann vielleicht auch nicht ganz reichen. Erheblich wahrscheinlicher ist aber im Augenblick ein Sieg von Union und FDP.
  • Die Lage ist damit kaum anders, als sie schon vor sechs Wochen gewesen war; siehe Wahlen '09: Es ist alles offen; ZR vom 14.7. 2009. Damals hatte ich darauf hingewiesen, daß diese Landtagswahlen die Bedingungen für die Bundestagswahl massiv ändern könnten; daß möglicherweise die Karten am 30. August neu gemischt werden. Das gilt immer noch.



    Es gibt einen, und nur einen einzigen Wahlausgang, bei dem auch nach diesem Mischen die Spieler dasselbe Blatt haben wie zuvor: Wenn Schwarzgelb nicht nur in Sachsen, sondern auch in Thüringen und im Saarland eine Regierungsmehrheit erreichen sollte.

    Dann steht die SPD vor derselben Situation wie nach den verlorenen Europawahlen: Eine weitere Hoffnung, daß die Stimmung durch ein für sie gutes Wahlergebnis gedreht wird, wäre dahin. Dahin wäre die letzte kalkulierbare Hoffnung. Eine Wende könnte die SPD dann nur noch von einem unerwarteten Ereignis erwarten. Aber nicht immer schickt der Herr eine Elbeflut.

    Falls aber in Thüringen und/oder im Saarland die Union abgewählt werden sollte, dann wird das Spiel spannend. Wer dann freilich das spielentscheidende Tor schießt, ist durchaus offen.

    Die SPD hätte dann einerseits bewiesen, daß sie noch siegen kann. Noch dazu wären die möglichen Sieger zwei (relativ) junge Hoffnungsträger der Partei, Heiko Maas (42) und/oder Christoph Matschie (48). Sie würden gefeiert, sie hätten Medienpräsenz.

    Da könnte schon der berühmte Ruck durch die SPD gehen; zumal die Union aller Wahrscheinlichkeit nach gegenüber den letzten Landtagswahlen deutlich verlieren wird. Die gegenwärtigen ungefähr 23 Prozent schöpfen das Wählerpotential der SPD bei weitem nicht aus. Mit einem der beiden jungen Helden - oder gar beiden - auf hocherhobenem Schild könnte Steinmeiers bisher so müde Truppe den zweiten Atem gewinnen.

    Einerseits. Das für die SPD Dumme ist nur der Preis, den sie dafür zahlen müßte: Unversehens stünde die Frage nach einer Koalition mit den Kommunisten wieder im Mittelpunkt der Diskussion. Auf den Schild zu heben sind die beiden Helden ja nur, wenn die Kommunisten als Schildknappen kräftig mit stemmen.

    Die SPD hat diese Diskussion bisher unter dem Deckel zu halten versucht. Sie wird wieder aufbrechen, wenn Heiko Maas und/oder Christopher Matschie mit Stimmen der Kommunisten Ministerpräsident werden können.

    Seit Andrea Ypsilantis "Garantie", nicht mit den Kommunisten zusammenzuarbeiten, ist die SPD in diesem Punkt ihre Glaubwürdigkeit los.

    Zwar hat sie einen Damm zu errichten versucht, indem sie ganz ans Ende ihres Regierungsprogamms (auf die letzte von 95 Seiten) dies geschrieben hat:
    Ein Bündnis mit der Partei "Die Linke" schließen wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten auf Bundesebene für die gesamte nächste Legislaturperiode aus. Wir werden auch keine Minderheitsregierung bilden, die von der Linkspartei geduldet wird. Unser Land braucht in der schwierigen Zeit, die vor uns liegt, Stabilität und Erfahrung. Beides kann die Linkspartei nicht gewährleisten.

    Wir sind für die kommenden Jahre gut gerüstet. Mit frischen Ideen und Mut zum Handeln.
    Nur - ist der vorletzte Absatz dieses Programms verbindlicher als der Satz, der den letzten ausmacht? Und wieso soll eine Partei, die vierzig Jahr ununterbrochen regiert hat, eigentlich keine "Erfahrung" im Regieren haben? Und wieso ist mit den Kommunisten, die im Land Berlin ein zuverlässiger Partner der SPD sind, eigentlich keine "Stabilität" zu erreichen?

    Jeder weiß, daß ein Regierungsprogramm nicht in allen Punkten umsetzbar ist. Was ein außerordentlicher Parteitag der SPD am 14. Juni als Regierungsprogramm beschlossen hat, das könnte ein neuer außerordentlicher Parteitag nach dem 27. September auch wieder ändern.

    Andrea Ypsilanti hat seinerzeit gesagt, sie hätte zwar einerseits versprochen, nicht mit "Die Linke" zusammenzuarbeiten, andererseits hätte sie aber auch versprochen, die Studiengebühren abzuschaffen usw. Nur eines der beiden Versprechen könne sie nun leider halten, und sie hätte das letztere gewählt. Ähnlich könnte die SPD nach den Wahlen argumentieren.

    Also, die Freude am Sieg in einem der beiden Bundesländer, oder in beiden, würde der SPD durch diese dann beginnende Diskussion vermiest werden. Was am Ende schwerer wiegt, ist kaum vorherzusagen.

    Vieles wird davon abhängen, wie entschlossen die Union und die FDP sich auf dieses Thema einschießen und wieweit die Medien das transportieren. Andererseits dürfte auch das Verhalten der Kommunisten eine entscheidende Rolle spielen.

    Sie könnten in dieser Diskussion ihre von der SPD abweichenden Standpunkte - etwa zu Afghanistan - in den Vordergrund spielen und es damit der SPD leicht machen, ein Bündnis mit ihnen als unmöglich darzustellen. Sie könnten aber auch deutlich machen, daß sie als der vermutlich kleinste von drei Koalitionspartnern natürlich nicht versuchen würden, alle ihre Positionen durchzusetzen.

    Sollte Schwarzgelb im Saarland und/oder in Thüringen verlieren, dann wären die Kommunisten in jedem Fall der große Gewinner. Sie hätten dann im Westen einen Durchbruch geschafft und/oder sie hätten gezeigt, daß sie auch im bisher schwarzen Süden der ehemaligen DDR regierungsfähig sind.



    Noch eine Bemerkung zur Terminologie: Ich weiche vom üblichen Sprachgebrauch ab, wenn ich die Partei, die im Augenblick "Die Linke" heißt, als die Kommunisten bezeichne und wenn ich von der Volksfront dort spreche, wo es meist Rot- Rot- Grün heißt, oder Dunkelrot- Rosa- Grün oder dergleichen.

    Daß "Die Linke" eine kommunistische Partei ist, geht nicht nur daraus hervor, daß sie von ihrer ersten Umbenennung in SED/PDS an bis heute niemals erklärt hat, keine kommunistische Partei mehr zu sein. Ein noch eindeutigerer Beleg ist es, daß der Vorsitzende von "Die Linke", Lothar Bisky, in Personalunion der Vorsitzende von fast allen europäischen Kommunisten ist; siehe Lothar Bisky, Vorsitzender von zwei Parteien; ZR vom 1.9.2008.

    Was die "Volksfront" angeht - das ist nun einmal die historisch korrekte Bezeichnung für ein Bündnis zwischen Sozialdemokraten, Kommunisten und weiteren linken Parteien.

    Die bekannteste Volksfront war der 1935 in Frankreich geschlossene Front Populaire, der es ein Jahr später an die Regierung schaffte; ebenfalls 1936 wurde in Spanien eine Volksfront gebildet. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg gab es Volksfront- Regierungen; zum Beispiel in Chile unter Allende und in Frankreich, wo die Sozialisten, die linksbürgerlichen Radikalen und die Kommunisten 1972 ein gemeinsames Regierungsprogramm beschlossen, das ab 1981 realisiert wurde. Es scheiterte freilich innerhalb von zwei Jahren; so wie alle Volksfront- Experimente bisher gescheitert sind.



    © Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt. Mit Dank an R.A.

    26. August 2009

    Zitat des Tages: "Paradies der Arbeiter mit volkseigenen Sonnenblümchen drauf". Hubert Maessen zu den Aussichten für Volksfront- Regierungen

    Also Rot-Rot kommt, wenn’s geht. Das ist sicher, das muss der Wähler an den Wahlsonntagen jetzt wissen und bedenken. Zwar ist Rot-Rot nicht die SED, und die Bundesrepublik ist nicht die DDR, aber wären wir wirklich davor sicher, dass die das nicht Hand in Hand wieder schaffen mit einem Paradies der Arbeiter, Bauern und Opelarbeiter, mit Hartz-4-Armut für alle, bei Bedarf hübsch grün gestrichen und mit volkseigenen Sonnenblümchen drauf?

    Hubert Maessen heute unter der Überschrift "Rot-Rot hat Grünes Licht" in der Sendung "Zur Sache" des WDR 4.

    Kommentar: Hubert Maessen befaßt sich in diesem Beitrag mit Steinmeiers Ankündigung, die SPD werde nach den Wahlen am kommenden Sonntag gegebenenfalls auch mit der Partei "Die Linke" zusammenarbeiten. Steinmeier gegenüber der "Rheinischen Post" vom 24. August: "Die SPD muss den Anspruch haben, Regierungen zu führen".

    Maessen meint, die SPD werde auch im Bund mit der "Linken" zusammenarbeiten, falls das Wahlergebnis das ermöglichen sollte:
    Wenn der Wähler am Sonntag so wählt, dann werden Rosarot und Dunkelrot in Thüringen und im Saarland zusammengehen. Und sie werden das dann auch im Bund machen, wenn sie die Grünen ins Boot kriegen sollten. Die blödsinnige Ausrede, im Bund ginge das nicht wegen der linken Außenpolitik und Europaunfähigkeit, die muss Steinmeier nun auch noch lassen. Im Bundesrat, in der Ländervertretung wird diese Außen- und Europapolitik auch gemacht, und da ist die Linkspartei schon längst dabei.
    Recht hat er, der Redakteur Hubert Maessen. Zumal die Kommunisten, um einen Zipfel Macht zu erhaschen, über alle ihre überhaupt irgendwohin fallenden Schatten springen und notfalls der SPD garantieren werden, daß sie in Sachen Afghanistan und Europa keinen Mucks tun.

    Steinmeier hat es bisher vermieden, zu erklären, daß die SPD im Bund unter keinen Umständen mit den Kommunisten zusammenarbeiten wird. Aus dem Interview mit der "Rheinischen Post":
    Rheinische Post: In einer Woche könnten in Thüringen und dem Saarland rot-rote Regierungen an die Mehrheit kommen. Fürchten Sie eine neue Links-Diskussion?

    Steinmeier: Dazu ist alles gesagt. Die Landesverbände entscheiden in eigener Verantwortung. Es wird CDU/CSU nicht gelingen, Ergebnisse von Landtagswahlen als nationale Schicksalsfragen hochzustilisieren.
    Keine Festlegung also gegen die Volksfront auch im Bundestag.



    Bemerkenswert an dem Kommentar von Hubert Maessen sind nicht nur die klaren Worte, die er findet. Es ist vor allem der Umstand, daß er diese klaren Worte im WDR auch sprechen durfte.

    Maessen gehört zu den wenigen politischen Redakteuren des WDR, die noch nicht auf rotgrüner Linie sind.

    Er hat seine Nische in WDR 4, einem Programm, über das der Rest des WDR die Nase rümpfen dürfte: Rund um die Uhr Schlager, Operettenmelodien, gar Volksmusik. Eingestreut ganz wenige Wortbeiträge, wie eben die Sendung "Zur Sache", 3:30 Minuten lang zur Mittagszeit.

    Da darf ein Alibi-Liberaler wie Maessen offen seine Meinung sagen. In den politischen Programmen des WDR - WDR 2 und vor allem WDR 5 - wäre ein solcher Kommentar undenkbar.



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    27. Juli 2009

    Marginalie: Dienstwagen-Affäre? Ich sehe keine

    Diesem Wahlkampf fehlt es bisher an Themen. Also holt die SPD das Thema AKW aus der Mottenkiste; nur kann sie mit diesem verstaubten Wullewatz niemanden mehr schrecken. Also stürzen sich jetzt Opposition und CDU gleichermaßen auf das, was sie gern zu einer "Dienstwagen- Affäre" machen würden.

    Kommunisten und solche, die es einmal waren, scheinen allerdings eine Vorliebe für schnieke, schwere Limousinen zu haben; vielleicht ein kleines Stücklein vorweggenommenen Nomenklatura- Daseins.

    Sarah Wagenknecht (früher SED, jetzt "Die Linke") ließ sich im Wahlkampf in einem Audi A8 mit Chauffeur durch die Lande fahren. Jürgen Trittin (früher Kommunistischer Bund, jetzt "Die Grünen") hatte als Minister einen Audi A8 sowie einen Volkswagen Phaeton als Dienstwagen zur Verfügung.

    Und die Ministerin Ulla Schmidt (früher Kommunistischer Bund Westdeutschlands, jetzt SPD) benutzt, so ist es zu lesen, wohl einen Mercedes der S-Klasse als Dienstwagen; die Bezeichnung "Luxuslimousine" scheint da nicht verkehrt. Oder vielmehr: Sie benutzte ihn, bevor er abhanden kam und damit den jetzigen Trouble auslöste.

    Es war übrigens ein Sondermodell, die gepanzerte Ausführung. Es könnte ja sein, daß erboste Ärzte ihn mit Mullbinden bewerfen.

    Bisher gab es diesen Versuch wohl nicht. Aber erboste Ärzte, die offenbar nur auf eine Gelegenheit warteten, schlossen sich bereitwillig denen an, die jetzt unisono auf die Ministerin eindreschen. Der Präsident der "Freien Ärzteschaft", Martin Grauduszus, laut "Spiegel- Online": "Eine Ministerin, die nicht müde wird, auf angeblich korrupte Ärzte hinzuweisen, kann es sich keinesfalls erlauben, auch nur einen Hauch des Verdachts auf Missbrauch von Steuergeldern auf sich zu ziehen".

    Peng! Da ist sie, die Retourkutsche. Und da sind die Äußerungen der Wahlkämpfer ringsum. Aber was ist Ulla Schmidt vorzuwerfen? Exakt nichts.

    Es gelten die "Richtlinien der Bundesregierung gemäß § 52, Satz 2, Bundeshaushaltsordnung vom 2. Juli 1975 in der Fassung vom 14. Mai 1976". Danach werden Minister und Staatssekretäre als immer im Dienst betrachtet; sie haben "Dauerdispositionsbefugnis über ihr Dienstkraftfahrzeug".

    Private Nutzung muß allerdings selbst bezahlt werden. Es gibt bisher keinen Hinweis darauf, daß Ulla Schmidt das unterlassen hätte. Mag sein, daß noch etwas herauskommt, das ihr vorgeworfen werden kann. Das, was bisher bekannt wurde, ist jedenfalls nicht vorwerfbar.

    Nur heiße Luft, hineingepumpt in einen Wahlkampf, der bisher vor sich hin schlappt.



    Nachtrag am 28.7., 10.30: Als ich den Artikel schrieb, lag eine Mitteilung des Ministeriums von Ulla Schmidt vor: "Bei privaten Fahrten wird das selbstverständlich gemäß den Bestimmungen auch privat abgerechnet". Darauf hatte ich mich mit der Aussage "Private Nutzung muß allerdings selbst bezahlt werden" bezogen.

    Inzwischen haben Journalisten sich die einschlägigen Bestimmungen besorgt, und es stellte sich heraus, daß Bundesminister, anderes als ihre Beamten, für die private Nutzung ihrer Dienstfahrzeuge gar nichts zahlen. Sie müssen lediglich den geldwerten Vorteil versteuern.

    Jetzt darf man gespannt sein, ob Ulla Schmidt Zahlungen leistet, die in den Bestimmungen gar nicht vorgesehen sind (wenn ja, wie wird das dann verbucht?), oder ob man in ihrem Ministerium die Bestimmungen über die Nutzung von Dienstfahrzeugen nicht kennt.



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    26. Juli 2009

    "Sie leben und sterben in Lumpen". Über den Gulag Nordkoreas

    "Sie leben von Gerste und Salz. Die Zähne fallen ihnen aus, ihr Zahnfleisch wird schwarz. Ihre Knochen verlieren ihre Festigkeit. Sie werden krumm. Die meisten arbeiten zwölf bis fünfzehn Stunden am Tag. Sie sterben meist im Alter von fünfzig Jahren an Folgekrankheiten der Unterernährung. Es ist ihnen nur eine einzige Kleidung erlaubt. Sie leben und sterben in Lumpen, ohne Seife, Socken, Unterwäsche und ohne Monatsbinden."

    Ein Schreckensbild aus Nazi-KZ, aus dem Gulag, aus den Arbeitslagern Mao Tse Tungs? Nein. Das ist Gegenwart. Es ist die Gegenwart der Demokratischen Volksrepublik Korea. Es ist eine Gegenwart, die von der Weltöffentlichkeit auf eine nachgerade skandalöse Weise ignoriert wird.

    Ich habe diese Passage aus einem Artikel von Blaine Harden in der Washington Post vom 20. Juli übersetzt. Der Artikel ist sorgfältig recherchiert; die folgenden Angaben habe ich weitgehend ihm entnommen. Aufmerksam geworden bin ich auf das Thema durch die aktuelle Kolumne von Jonah Goldberg in der Los Angeles Times.



    Wie das Sowjetsystem in Rußland basiert die koreanische Wirtschaft wesentlich auf der Ausbeutung von Häftlingen, die sich zu Tode arbeiten und ständig durch frische ersetzt werden. Wenn Sie diesen Artikel über den Gulag lesen, den ich 2007 aufgrund von Material aus dem Nouvel Observateur geschrieben habe, dann wissen Sie schon viel über das koreanische System der Konzentrationslager; denn es ist die exakte Kopie des Gulag.

    In den fünfziger Jahren (also als Stalin längst tot war) befanden sich ungefähr zwei Millionen Menschen als Arbeitssklaven im Gulag; das war rund ein Prozent der damaligen Bevölkerung der UdSSR. Die Zahl der Arbeitssklaven in den Lagern Nordkoreas wird im Augenblick auf 200.000 geschätzt, ebenfalls rund ein Prozent der Bevölkerung.

    Die beiden Grundpfeiler des Systems sind identisch: Die Häftlinge kosten den Staat fast nichts, weil ja gar nicht versucht wird, sie lange am Leben zu erhalten; Ersatz steht jederzeit reichlich zur Verfügung. Und dieser Ersatz wird durch willkürliche Verhaftungen besorgt; so daß neben dem wirtschaftlichen Nutzen der zweite Effekt dieses Systems ist, die Herrschaft der Kommunisten zu sichern.

    Jeder Bürger weiß, daß er schon beim geringsten Anlaß in einem KZ verschwinden kann. Auch hohe Funktionäre kann es treffen; der Versuch einer Auflehnung gegen den Lieben Führer Kim Jong Il wäre also selbstmörderisch.

    Willkür ist ja die Grundlage jeder kommunistischen Herrschaft; sie allein erzeugt die für deren Aufrechterhaltung erforderliche Angst in der Bevölkerung. In der DDR war das die Willkür des MfS; in Korea ist dieses Prinzip bis in seine scheußlichsten Formen hinein verwirklicht.

    Blaine Harden schildert das Schicksal einer ehemaligen Insassin, Kim Young Soon. Sie überlebte das KZ, aber ihre Eltern verhungerten dort, und ihre ältester Sohn starb ebenfalls. Die gesamte Familie war in das KZ geschickt worden.

    Das ist der Regelfall; es geht auf ein Wort von Kim Il Sung zurück: "Klassenfeinde, wer immer sie sind, müssen über drei Generationen ausgerottet werden". Also kam nicht nur Kim Young Soon in das Lager, sondern auch ihre Eltern und ihre vier Kinder.

    Was war der Anlaß? Kim Young Soon erfuhr ihn von einem Funktionär nach ihrer Freilassung. Sie war verhaftet worden, weil sie mit der ersten Frau von Kim Jong Il befreundet gewesen war. Man fürchtete, sie könnte etwas über das Privatleben des Lieben Führers ausplaudern. Für dieses "Verbrechen" verlor sie fast ihre ganze Familie. Ihr Mann versuchte bei ihrer Verhaftung, nach China zu fliehen und wurde erschossen. Ihr jüngster Sohn wurde nach der Entlassung aus dem KZ ebenfalls erschossen.



    Solche einzelnen Berichte ehemaliger Häftlinge muß man sicherlich immer kritisch sehen. Über das KZ-System der Demokratischen Volksrepublik Korea liegt aber inzwischen so viel Material vor, daß die Fakten als gesichert gelten können.

    Menschenrechtsorganisationen und vor allem die Vereinigung (süd-)Koreanischer Rechtsanwälte (Korean Bar Association) befragen systematisch Zeugen, neben Überlebenden vor allem auch ehemalige Funktionäre und Wärter, die sich in den Westen abgesetzt haben. Hinzu kommen die Ergebnisse amerikanischer Luftaufklärung. Sogar auf Google Earth sind die Lager zu sehen.

    Anfangs waren es vierzehn Lager gewesen. Inzwischen hat man das auf fünf große KZ reduziert. Das größte, Lager 22 nahe der chinesischen Grenze, beherbergt 50.000 Arbeitssklaven auf einer Fläche von ungefähr 50 mal 40 Kilometern.

    Viele Häftlinge gelangen in ein solches Lager, nachdem sie zuvor gefoltert wurden. Einer der Überlebenden, Jung Gwang Il, beschreibt diese Folter als noch schlimmer als das Lager selbst.

    Er war Funktionär im Außenhandel gewesen und beschuldigt worden, ein Spion zu sein. Die Bowibu (die nordkoreanische Stasi) folterte ihn systematisch; ihm wurden die Zähne ausgeschlagen und er erlitt mehrere Schädelbrüche. Er hatte mehr als 80 kg gewogen; am Ende der Tortur, als er in ein Lager eingeliefert wurde, wog er noch 40 kg. Er überlebte, weil es ihm gelang, eine Schreibtisch- Funktion zugeteilt zu bekommen.

    Begeht ein Insasse Selbstmord, dann werden seine Angehörigen zu hohen Strafen verurteilt. Den Wärtern ist ausdrücklich erlaubt, Häftlinge nach Belieben zu schlagen, zu vergewaltigen und zu ermorden. Bringt eine Frau im Lager ein Kind zur Welt, dann wird es getötet. Den Wärtern wird - so die Aussage eines ehemaligen Wärters - eingeschärft, daß jede Regung des Mitleids gegenüber Gefangenen zu ihrer eigenen Verhaftung führen würde.

    Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Sie finden öffentlich statt. Die Häftlinge müssen sich in unmittelbarer Nähe des Hinrichtungsorts aufstellen und zusehen. Den Delinquenten werden Kiesel in den Mund gestopft, und es wird ihnen eine Kapuze übergezogen. Drei Wärter geben dann je drei Schüsse auf das Opfer ab.



    Genug der Einzelheiten. Es erscheint mir richtig, sie zu erwähnen, denn man muß sich solche Zustände im Detail vorstellen, wenn man sie richtig beurteilen will.

    Und wie beurteilt sie die Weltöffentlichkeit? Gar nicht. Nordkorea bestreitet die Existenz der Lager. Es sei unmöglich, das Thema in Gesprächen auch nur zu erwähnen, sagt ein altgedienter amerikanischer Diplomat. Die Nordkoreaner würden sofort "an die Decke gehen" (go nuts).

    Selbst die südkoreanische Regierung hat das Thema lange Zeit peinlich vermieden, um die Beziehungen zu Nordkorea nicht weiter zu verschlechtern. Erst seit letztem Jahr hat sich diese Politik unter Ministerpräsident Lee Myung-bak zu ändern begonnen.

    Unter Präsident Clinton haben die USA das Thema der KZ ebenfalls vermieden; man wollte sich mit den Nordkoreanern so gut wie möglich stellen, um sie dazu zu bewegen, auf eine Atomrüstung zu verzichten.

    Anders Präsident Bush. Er rechnete Nordkorea bekanntlich zur "Achse des Bösen" und empfing demonstrativ Überlebende der KZ. Fünf Jahre verweigerten die USA jedes Gespräch mit Nordkorea. Das änderte sich erst, als die Nordkoreaner 2006 ihre erste Atombombe zündeten.

    Für die Regierung Obama sind die KZ in Nordkorea, so formuliert es Blaine Harden, "a non-issue". Ein Nicht-Thema also.



    Nachtrag: Einen umfassenden Bericht über den koreanischen Gulag auf dem Stand von 2003 hat das Committee for Human Rights in North Korea vorgelegt. - Mit Dank an Kallias, der in "Zettels kleinem Zimmer" auf diesen Bericht aufmerksam gemacht hat.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Gemälde im Museum für den Siegreichen Vaterländischen Krieg in Pjöngjang; in der Mitte Kim Il Sung (Ausschnitt). Vom Autor Kok Leng Yeo unter Creative Commons Attribution 2.0 License freigegeben.

    7. Juli 2009

    Zitat des Tages: "Rituale zur Glorifizierung und Verherrlichung des Soldatentums". Mit einem Bildkommentar

    Bundeskanzlerin Angela Merkel und Verteidigungsminister Franz Josef Jung (beide CDU) haben an diesem Montag zum ersten Mal die neue Tapferkeitsmedaille an vier Soldaten verliehen (...)

    Die Linke kritisierte, die Bundesregierung begebe sich "auf einen gefährlichen Holzweg": "Rituale zur Glorifizierung und Verherrlichung des Soldatentums werden reaktiviert, um das politische Versagen der Bundesregierung zu überdecken", sagte Paul Schäfer, der verteidigungspolitische Sprecher der Fraktion.


    Gestern in "Süddeutsche.de".

    Kommentar:

    Wachwechsel bei der Ehrenwache der Nationalen Volksarmee der DDR (NVA) vor dem Mahnmal für den Unbekannten Soldaten in Berlin in der Straße "Unter den Linden"


    Für Kommentare bitte hier klicken. Foto: Michail Jungierek. Vom Autor unter GNU Free Documentation License freigegeben.

    29. Juni 2009

    Marginalie: Wie die Bundesrepublik im Jahr 1984 mit Ausreisewilligen aus der DDR verfuhr

    Ich glaubte mich verhört zu haben, aber es wurde tatsächlich gemeldet.

    Vergangene Nacht wiederholte Bayern Alpha den "Wochenspiegel" der ARD vom 1. Juli 1984. Darin eine Meldung darüber, daß DDR- Bürger, die ihr sozialistisches Vaterland verlassen wollten, sich wieder einmal in großer Zahl in die "Ständige Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der Deutschen Demokratischen Republik" in Ostberlin geflüchtet hatten; also die de- facto- Botschaft der Bundesrepublik.

    Man sah in dem Bericht die gläserne Tür der Ständigen Vertretung, hinter der sich die Menschen stauten. Man sah einen kleinen - laut Kommentar achtjährigen - Jungen, der kurz vor diese Tür kam. Man sah vor dieser Tür einen Eimer im Freien stehen.

    Dazu sagte der Kommentar, daß die Flüchtlinge "die Notdurft ... auf einem Eimer vor der Tür verrichten" mußten. Es war kein "Kübel", wie er früher einmal im Gefängnis zu finden war, mit Sitzgelegenheit. Sondern es war ein ganz normaler großer Eimer; Blech oder Plastik. Es gab keinen Sichtschutz, nichts. Der Eimer stand im Freien vor der Tür, Richtung Straße.

    Unfaßbar? Dann nehmen Sie, lieber Leser, zur Kenntnis, was in dem Satz gesagt wurde, der den Erläuterungen zum Eimer vorausging: Daß die Ständige Vertretung den Flüchtlingen "keinerlei Nahrung zukommen" lasse. Damit sollte erreicht werden, daß sie aufgeben und "freiwillig" in die DDR zurückkehren.

    Einige kündigten - auch das wurde in dem Bericht erwähnt - für den Fall, daß sie in die DDR zurück müßten, ihren Selbstmord an.



    Natürlich waren die Kommunisten für die Zustände in der DDR verantwortlich. Aber ohne westliche Politiker und Diplomaten wie diejenigen, die solche Maßnahmen zu verantworten hatten, hätten die Kommunisten es ungleich schwerer gehabt, ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten.

    Man hätte damals seitens der Bundesrepublik nicht anders handeln können? Natürlich hätte man. Man hätte die Menschen, die in die Ständige Vertretung geflüchtet waren, wenigstens menschenwürdig behandeln können; wenn man ihnen denn schon nicht zur Freiheit verhelfen konnte.

    Bundeskanzler war damals Helmut Kohl. Minister für Innerdeutsche Beziehungen war Heinrich Windelen, ebenfalls CDU. Leiter der Ständigen Vertretung war im Jahr 1984 der Karrierediplomat Hans- Otto Bräutigam, später deutscher Botschafter bei der UNO.



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    7. Juni 2009

    Europawahlen: Welches sind die interessanten Aspekte?

    Das, was eine Wahl normalerweise interessant macht, fehlt den Europawahlen. In der Regel entscheidet der Wähler mit seiner Stimme darüber, wer ihn künftig regiert und/oder wie stark die einzelnen Partner einer regierenden Koalition sind. Bei Europawahlen tut er das nicht. Die Kommission - so etwas wie die Regierung Europas - wird nicht gewählt, sondern sie wird von den Regierungen bestimmt.

    Unter dem Gesichtspunkt, wer in Europa die Macht haben wird, sind diese Wahlen ungefähr so relevant wie einst die Veranstaltungen, die den Namen "Wahlen" trugen, für die Macht in der DDR. Dennoch sind sie nicht bedeutungslos. In gewisser Weise haben sie sogar eine Bedeutung, die anderen Wahlen fehlt.

    Normalerweise nämlich entscheidet der Wähler pragmatisch. Auch wenn wir es nicht zugeben - die meisten von uns wählen primär nach dem Gesichtspunkt, von welcher Partei wir uns die größen Vorteile und die geringsten Nachteile für uns selbst erhoffen.

    Der um seine Existenz kämpfende Mittelständler, der die SPD wählt, ist eine seltene Ausnahme. Wenn viele eingebürgerte Türken - fast ein Viertel - die Grünen wählen, dann vermutlich nicht, weil sie besonders umweltbewußt sind oder für die Ehe zwischen Homosexuellen eintreten, sondern weil sie ihre eigenen Interessen bei den Grünen am besten aufgehoben sehen.

    Dieses Beispiel zeigt, wie sich bei Wahlen Interessen und politische Anschauungen überlagern können. In der verlinkten Umfrage entschieden sich nicht nur 23 Prozent der eingebürgerten Türken für die Grünen, sondern auch noch 55 Prozent für die SPD. Fast 80 Prozent also Linke, ausgerechnet bei den Einwanderern? Natürlich nicht. In der Türkei würden viele von denjenigen, die hier aus Eigeninteresse links wählen, sich vermutlich für eine konservative Partei entscheiden.

    Das ist ein extremes Beispiel. Aber bei jeder nationalen Wahl, bei allen Wählern spielen solche pragmatischen Aspekte mehr oder weniger eine Rolle. Bei den Europawahlen aber entfallen sie, just wegen ihrer Bedeutungslosigkeit für die politische Macht. Man kann an ihnen also besser ablesen, was die Wähler wirklich denken.



    Hier nun scheint mir in Bezug auf das heutige Wahlergebnis dreierlei interessant zu sein:

    Erstens das Abschneiden der euroskeptischen Parteien. Sie waren bisher numerisch bedeutungslos; im bisherigen Parlament stellten sie gerade einmal 22 von 785 Abgeordneten. Inzwischen dürfte vielen Bürgern bewußt geworden sein, daß man für Europa und trotzdem gegen die aktuelle Entwicklung hin zu einem unkontrollierbaren Bürokratenstaat sein kann. Ich bin gespannt, wieviele Sitze die Euroskeptiker diesmal erreichen. Ich hätte sie gewählt, wären sie in Deutschland angetreten.

    Zweitens bin ich gespannt auf das Abschneiden der Sozialisten und der Kommunisten.

    Viele hatten erwartet, daß die gegenwärtige Krise ihre Stunde sein würde. Hat denn der von ihnen verdammte Neoliberalismus nicht eklatant versagt? Werden die Bürger ihr Heil also jetzt nicht wieder im Sozialismus suchen? So, wie in der Krise am Ende der Zwanziger Jahre die Sozialisten der einen oder der anderen Couleur massenhaft Zulauf hatten?

    Sollten die Sozialisten und die Kommunisten diesen Erfolg nicht haben, dann wäre das aus meiner Sicht ein Zeichen dafür, daß die Bürger Europas seither politisch reifer geworden sind. Daß sie verstanden haben, daß das Mittel gegen eine Krise des Kapitalismus nicht dessen Abschaffung ist, sondern ein besserer Kapitalismus. Ich hoffe, daß gerade in der jetzigen Krise die Konservativen und die Liberalen gut abschneiden. Das wäre ein Grund zum Optimismus.

    Dem dritten Punkt habe ich schon vor vier Wochen einen Artikel gewidmet: Werden in Deutschland die Grünen vor der FDP liegen?

    Seit Anfang dieses Jahres hat die FDP einen demoskopischen Höhenflug. Ich hoffe, daß er bis zum 27. September anhalten wird, habe aber meine Zweifel. In den (wenigen) Umfragen zur Europawahl liegen aber mit einer Ausnahme (ein Gleichstand) die Grünen vor der FDP.

    Das ware für die FDP ein denkbar schlechter Start ins Wahljahr 2009. Ich habe mich deshalb entschlossen, die FDP zu wählen, und ich habe, um es mir leichter zu machen, das Bild der Silvana Koch- Mehrin in meinem kognitiven System durch dasjenige des respektablen Alexander Graf Lambsdorff überschrieben; übrigens ein Neffe von Otto Graf Lambsdorff.

    Falls Sie heute zur Wahl gehen wollen und noch unentschlossen sind, bitte ich Sie, das Argument in dem Artikel von vor vier Wochen zu erwägen:

    In Deutschland von Bedeutung sind die heutigen Wahlen nur insofern, als sie die Startbedingungen für das Wahljahr bestimmen. Wenn man möchte, daß die FDP gut ins Ziel kommt, dann sollte man auch dazu beitragen, daß sie gut startet.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Fahnen vor dem Gebäude der Europäischen Kommission. Autor: Xavier Häpe; frei unter Creative Commons Attribution 2.0 License.

    18. Mai 2009

    Zitat des Tages: "Die SPD hofft auf Überläufer". Über den erstaunlichen Umgang der SPD mit Kommunisten. Nebst Biographischem zu Sylvia-Yvonne Kaufmann

    Die SPD hofft auf weitere Überläufer aus der Partei Die Linke. (...) Als Anlaufstelle für Wechselwillige gilt bei den Sozialdemokraten die frühere PDS- Politikerin Angela Marquard, die inzwischen im Stab von SPD-Vizin Andrea Nahles arbeitet.

    Aus einer Vorausmeldung zum "Spiegel" dieser Woche (21/2009).

    Kommentar: Es ist erstaunlich, mit welcher Nonchalance die SPD offenbar jeden in ihre Arme zu nehmen bereit ist, dem es bei den Kommunisten nicht mehr gefällt.

    Sylvia-Yvonne Kaufmann, deren Übertritt vergangene Woche Schlagzeilen machte, beispielsweise, hat eine lupenreine kommunistische Karriere hinter sich:

    Eintritt in die SED 1976 im Alter von 21 Jahren. Studium der Japanologie u.a. in Japan; zu einem solchen Studium im KA (Kapitalistischen Ausland) wurden bekanntlich nur absolut zuverlässige Genossen delegiert. Offenbar erfüllte Frau Kaufmann die Erwartungen der SED, denn nach ihrer Rückkehr in die DDR folgte, so ihr Lebenslauf beim Europaparlament,
    1981-1988 wissenschaftliche Arbeit an der Humboldt- Universität zu Berlin im Fachgebiet Außenpolitik Japans und internationale Beziehungen in Ostasien. (...) 1988-1990 wissenschaftliche Arbeit am Institut für Internationale Politik und Wirtschaft in Berlin.
    Zu diesem Institut gibt es eine Untersuchung von Michael B. Klein. Danach war es
    ... Teil des SED-Systems. Ausgerichtet auf Westanalyse, parteiisch im totalitären Sinne, ein Instrument des Politbüros, eng verbunden mit dem Ministerium für Staatssicherheit, zugleich aber auch nach Westen ein Element des kontrollierten Dialogs, der angedeuteten Vorfeld- Diplomatie, der Sondierung, der Beeinflussung und der Koordinierung.
    Dort also arbeitete Frau Kaufmann bis zur Wende. Ihrer Partei blieb sie auch nach deren Umbenennung treu und machte dort schnell Karriere:

    1990 Abgeordnete der Volkskammer, dann des Bundestags. Ab 1991 Mitglied des Parteivorstands der PDS, ab 1993 stellvertretende Vorsitzende. Ab 1991 im EU-Parlament; zunächst mit Beobachterstatus, seit 1990 Mitglied des Parlaments. Von 1999 bis 2004 und erneut von 2007 bis jetzt stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Fraktion der "Europäischen Linken" (EL), in der alle im EU-Parlament vertretenen kommunistischen Parteien zusammengeschlossen sind.

    Diese Frau hat im Alter von 54 Jahren entdeckt, daß sie eigentlich gar keine Kommunistin, sondern Sozialdemokratin ist. Sie hat es entdeckt, nachdem sie von ihrer Partei nicht mehr für die Europawahl aufgestellt worden war. Und die SPD hat ihr diesen Gesinnungswandel nicht nur abgenommen, sondern sie hat sogar stolz eine Pressekonferenz mit dem Vorsitzenden Franz Müntefering veranstaltet, um den Übertritt gebührend zu würdigen.



    Nun also werden, laut "Spiegel", weitere Namen potentieller Parteiwechsler genannt. Beispielsweise Thomas Falkner:

    Studium an der Sektion Journalistik der Karl- Marx- Universität Leipzig, an der die künftigen DDR- Journalisten auf Parteilichkeit gedrillt wurden. Dann von 1985 bis 1990 Redakteur beim Rundfunk der DDR. 1989 im Parteivorstand der SED-PDS. Nach der Wende zeitweise Stellvertretender Chefredakteur der kommunistischen "Jungen Welt". 1999 bis 2002 Leiter des Bereiches Strategie und Grundsatzfragen beim Parteivorstand der PDS. Gilt als enger Vertrauter von Lothar Bisky.

    Zwei alte Genossen also von Angela Marquardt, die ihrerseits aus einer Familie von Stasi- Mitarbeitern stammt; ihr selbst wurde aber nicht mit hinreichender Sicherheit nachgewiesen, wissentlich IM gewesen zu sein. Auch sie war, wie Frau Kaufmann, einst Stellvertretende Vorsitzende der PDS.



    Dazu drei Anmerkungen:

    Erstens: Es mag durchaus sein, daß diejenigen, die von der PDS bzw. "Die Linke" zur SPD gewechselt sind oder das noch tun werden, mit dem Kurs Oskar Lafontaines unzufrieden sind; daß sie sich von dessen populistischen Krakeelereien vielleicht sogar abgestoßen fühlen. Es mag auch politische Differenzen geben, z.B. in der Europapolitik.

    Aber das muß ja nicht bedeuten, daß sie keine Kommunisten mehr wären; daß beispielsweise Frau Kaufmann die politischen Überzeugungen aufgegeben hätte, für die sie seit mehr als dreißig Jahren eingetreten ist. Vielleicht sieht sie ja nur, gegeben die Entwicklung der SPD nach links, inzwischen die Möglichkeit, für diese Ziele innerhalb der SPD zu kämpfen.

    Zweitens: Aus meiner Sicht ist es keineswegs zu beanstanden, wenn jemand, der in der SED war, vielleicht auch in ihr aktiv gewesen war, seinen Irrtum nach der Wiedervereinigung einsah, ihn bereute und sich entschloß, in einer demokratischen Partei mitzuarbeiten. So war es ja auch bei ehemaligen NSDAP- Mitgliedern in der alten Bundesrepublik gewesen.

    Aber Sylvia- Yvonne Kaufmann und Franz Falkner haben ihren Irrtum ja eben nicht eingesehen. Bis fast zwanzig Jahre nach dem Ende der DDR haben sie der kommunistischen Partei die Treue gehalten; ja in herausgehobener Position für sie gearbeitet. Und jetzt sollen sie über Nacht zu Sozialdemokraten mutiert sein?

    Und noch eine dritte Anmerkung: Diese Übertritte mögen der SPD Wähler aus dem Linksaußen- Spektrum zuführen. Zugleich aber bedeuten sie eine weitere Verschiebung der Achse der SPD nach links. Ganz so, wie es der SPD- Altlinke Erhard Eppler schon 2001 konzipiert hat.



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    12. Mai 2009

    Zitate des Tages: Links, links, links. Die Lage nach dem Parteitag der "Grünen". Nebst einer Anmerkung zu Wahlverwandtschaften

    Durchgesetzt in Berlin haben sich die Linken.

    Michael Schlieben gestern im "Tagesspiegel / "Zeit Online" über das Ergebnis des Wahlparteitags der Partei "Die Grünen" am vergangenen Wochenende.


    Welt Online: So links wie jetzt war schon lange mehr kein Regierungsprogramm der SPD, oder?

    Franziska Drohsel: Es ist eine soziale Antwort auf die Probleme der gegenwärtigen Zeit. Im Vergleich mit unserer Politik seit 1998 ist das Wahlprogramm eine Kurskorrektur in die richtige Richtung.


    Die Juso-Vorsitzenden Franziska Drohsel gestern in "Welt-Online" über das Regierungsprogramm der SPD.


    Das Programm ist offenbar derart links, das auch den Linken unter den Linken nichts Linkeres mehr einfällt.

    Thorsten Denkler gestern in "Süddeutsche.de" über den Entwurf für das Wahlprogramm der Partei "Die Linke".

    Kommentar: Wenn denn Wahlprogramme etwas besagen, dann hat es selten in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland drei Parteien gegeben, die besser in einer Koalition zusammenarbeiten könnten, als gegenwärtig die SPD, Die Grünen und die Partei, deren aktueller Name "Die Linke" ist.

    Guido Westerwelle hat es in dem Interview, das ich hier kommentiert habe, treffend gesagt:
    Das Programm von SPD und Grünen unterscheidet sich, von einigen sprachästhetischen Unterschieden abgesehen, nur noch in zwei Punkten von dem der Linken: Auslandseinsätze und Lafontaine. Sonst sind sie praktisch inhaltsgleich.
    Sollte, was zu hoffen ist, nach dem 27. September eine schwarzgelbe Regierung gebildet werden können, dann werden diese drei Linksparteien vier Jahre Zeit haben, sich in der gemeinsamen Opposition so aneinander zu gewöhnen, daß es 2013 einen Wahlkampf zwischen einem Linksbündnis auf der einen und dem bürgerlichen Lager, wie man es so nennt, auf der anderen Seite geben wird. Mit vermutlich Klaus Wowereit als dem Kanzlerkandidaten der Vereinigten Linken; vielleicht auch mit der Kanzlerkandidatin Nahles.

    Verfehlt allerdings Schwarzgelb die Regierungsmehrheit, dann gehen wir unruhigen Zeiten entgegen. So zerstritten, wie die Große Koalition inzwischen ist, kann man sich ein gemeinsames Weitermachen nur schwer vorstellen; zumal mit einer SPD, die nicht nur ungleich weiter links steht als 2005, sondern die noch dazu deutlich weniger Mandate haben wird als die Union. Die also die Rolle des Juniorpartners spielen müßte, statt, wie Müntefering es 2005 formulierte, "auf gleicher Augenhöhe" zu sein.

    Da die FDP im Begriff zu sein scheint, die Ampelkoalition ebenso auszuschließen, wie die Grünen am Wochenende Jamaika ausgeschlossen haben, wird es gleichwohl dann wohl zu einer Fortsetzung der Großen Koalition kommen müssen.

    Aber eine Koalition muß ja nicht vier Jahre halten. Sie wäre wie eine zwar fortbestehende, aber längst zerbrochene Ehe, während zugleich der eine Partner jemanden hat, den er heiß und innig liebt. Irgendwann gibt es dann eine Stunde der Wahrheit, in der, wie in Goethes "Wahlverwandtschaften", sich zusammenfindet, was zusammengehört.



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    7. Mai 2009

    Zitat des Tages: "Krude Kapitalismuskritik". Warum der kommunistische Abgeordnete Carl Wechselberg seine Tätigkeit nun doch nicht "vorzeitig beendet"

    Was Lafontaine über Generalstreik und soziale Unruhen, aber auch über den möglichen Bündnispartner der Linkspartei, die SPD, von sich gebe, habe ihm den letzten Anstoß gegeben, aus der lange verspürten Distanz zum Kurs der Linkspartei Konsequenzen zu ziehen. Mit "kruder Kapitalismuskritik" und der "Dämonisierung der SPD" ersetze die Linkspartei die Arbeit an fachlichen Konzepten und einer "gesellschaftspolitischen Perspektive".

    Mechthild Küpper heute in FAZ.Net über den Abgeordneten der Partei "Die Linke" im Berliner Abgeordnetenhaus Carl Wechselberg, der angekündigt hatte, seine Partei und seine Fraktion zu verlassen, der das nun aber nicht tun wird, weil auch eine bisherige Abgeordnete der Berliner SPD, Canan Bayram, Partei und Fraktion verlassen hat. Kämen der Koalition aus Sozialdemokraten und Kommunisten beide Abgeordnete abhanden, dann hätte sie ihre Mehrheit verloren.

    Kommentar: Ich wußte bisher nichts von dem Abgeordneten der PDS, jetzt von "Die Linke", Carl Wechselberg. Aber siehe - ein Blick in die deutsche Wikipedia liefert wahrhaft erschöpfende Informationen. (Wovon es abhängt, wieviele Zeilen die Wikipedia einem Thema oder einer Person zubilligt, ist mir immer noch ein Rätsel).

    Dort also erfahren wir, daß Wechselberg sein Studium der Psychologie nicht etwa abgebrochen, sondern "vorzeitig beendet" hat.

    Tja, so kann man das auch sagen. Und nicht "vorzeitig beendet" hat er nun offenbar seine Tätigkeit in der kommunistischen Fraktion des Berliner Abgeordnetenhauses. Weil, so scheint es, er zwar gegen deren Politik ist, aber andererseits auch wieder nicht so sehr dagegen, daß er das Ende der Koalition aus Sozialdemokraten und Kommunisten wollen würde.

    Ist er wirklich ein naiver Parzifal, ein Hans Castorp, ein Simplicius Simplicissimus, der Fast- Psychologe Carl Wechselberg? Ist ihm fast zwei Jahrzehnte lang entgangen, daß das Ziel einer kommunistischen, also auch seiner Partei nicht die Stabilisierung des Kapitalismus ist, sondern seine Zerstörung?

    So recht glauben mag ich das nicht. Aber vielleicht gibt es sie ja wirklich, die Naiven, die Blauäugigen.



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    30. April 2009

    Zitat des Tages: "'Die Linke' ist rechtsidentisch mit der SED". Mal wieder etwas über Kaderlinie und Massenlinie

    "Die Linke" ist rechtsidentisch mit der "Linkspartei.PDS", die es seit 2005 gab, und der PDS, die es vorher gab, und der SED, die es vorher gab.

    Karl Holluba, Bundesschatzmeister der Partei "Die Linke", in einer Eidesstattlichen Versicherung vor der Pressekammer des Berliner Landgerichts; zitiert von Uwe Müller gestern in "Welt- Online".

    Kommentar: Kommunistische Parteien haben bekanntlich eine Kaderlinie und eine Massenlinie. Die Kaderlinie beinhaltet das, was den Funktionären und den zuverlässigen Mitgliedern gesagt wird. Die Massenlinie enthält die Propaganda, die man nach außen hin veranstaltet.

    Laut Massenlinie ist "Die Linke" eine neue Partei, die aus der Vereinigung der PDS mit der WASG hervorgegangen ist und die mit der SED nichts mehr zu tun hat. Kommunisten wußten natürlich immer, daß das nicht stimmt und daß die SED auf ihrem Langen Marsch durch die bundesdeutschen Institutionen am 16. Juni 2007 lediglich wieder mal den Namen gewechselt und dabei ein paar Fellow Travellers an Bord genommen hat.

    Was veranlaßt aber nun einen hohen kommunistischen Funktionär, die Kaderlinie öffentlich zu machen, gar in einer Eidesstattlichen Versicherung?

    In dem Prozeß vor der Pressekammer des Berliner Landgerichts ging es um den Verbleib des SED- Vermögens; genauer: um einen Bericht in der Berliner "BZ", der sich mit dessen seltsamer Verringerung im Jahr 1990 befaßte. "Allein zwischen Januar und Juli 1990 verringerte sich ihr Vermögen – nach Parteiangaben – von 9,5 auf 3,5 Milliarden DDR-Mark" zitierte die "BZ" im März dieses Jahres den SED- Forscher Hubertus Knabe.

    Dagegen nun hatte "Die Linke" sich laut "Welt- Online" verwahrt und sich dabei sozusagen verplappert: "Wir haben so etwas nie erklärt. Das stimmt auch nicht".

    Ja, wieso denn "wir"? Knabe hatte die damalige PDS zitiert; und nun meldete sich "Die Linke" mit diesem verräterischen "wir" zu Wort.

    In diese Wunde hatte der Anwalt der "BZ" seinen Finger gelegt. Und dem Schatzmeister Holluba blieb augenscheinlich nichts übrig, als einzuräumen, daß es mit dem "wir" eben sehr wohl seine Richtigkeit hat. Weil "Die Linke" ebenso mit der PDS identisch ist, wie diese mit der SED identisch war.

    Aber natürlich nur "rechtsidentisch". Kommunisten wären nicht Kommunisten, wenn sie sich nicht sofort mittels Dialektik wieder aus dieser Mißlichkeit zu befreien versuchen würden. "Man muss die juristischen und die politischen Dinge auseinanderhalten" zitiert "Welt- Online" Dietmar Bartsch, Bundesgeschäftsführer jener Partei mit den vielen Namen.

    Den Geschäftsführer jener Partei, die mit der SED identisch ist und die natürlich nicht mit der SED identisch ist. Je nachdem, wie es gerade paßt. Je nachdem, ob die Kaderlinie oder die Massenlinie gilt.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Mit Dank an Thomas Pauli.

    19. April 2009

    Überlegungen zur Freiheit (9): Freiheit der Kunst anno 1955. Nebst einem Blick auf die Aufarbeitung von zwei Diktaturen sowie einem Nachtrag

    Im Jahr 1955, mitten in der finstersten Adenauer- Zeit, bestellte eine Schule bei einem jungen Künstler ein Wandgemälde. Es sollte in Form stilisierter Wahrzeichen die Stadt darstellen, in der die Schule sich befand. Der Künstler lieferte wie gewünscht und erhielt sein Honorar.

    Dann aber fand jemand heraus, daß der Künstler nicht allein vom mageren Ertrag seiner Kunst lebte, sondern außerdem einen Halbtagsjob bei einer Fraktion des Stadtrats hatte; und zwar beim "Bund der Deutschen (BdD)". Keine Linksextremisten, aber doch links von der SPD.

    Des weiteren entdeckte jemand auf dem Gemälde des jungen Künstlers eine Kuppel, auf der sich ein Stern befand. Wenn man wollte, konnte man ihn als einen Sowjetstern deuten. Der Künstler bestritt das und sagte, er hätte sich an ein Foto erinnert, einen Stern auf einer Kirche der Stadt, als er diesen Stern auf die Kuppel der Markthalle setzte. Er erklärte sich dennoch bereit, das inkriminierte Symbol zu entfernen.

    Das half aber nichts. Die CDU der Stadt veranstaltete eine Kampagne gegen das Wandgemälde. Unterstützt wurde sie von einem "Büro gegen Linksextremismus"; ganz besonders von einer Mitarbeiterin dieses Büros, deren Lebenslauf im Dunklen lag.

    Als Ergebnis dieser Kampagne wurde das Wandgemälde zunächst mit Tapetenbahnen verhängt. Dann gab man dem Künstler noch drei Tage Frist, um sein Werk zu fotografieren. Anschließend wurde es auf Anordnung des Bürgermeisters der Stadt, die Träger der Schule war, vernichtet, indem man es übertünchte.



    Das ist der erste Teil der Geschichte. Der zweite ist, daß die Sache in die überregionale Presse gelangte.

    Der "Spiegel" brachte eine ausführliche Story. Alle großen Tageszeitungen kommentierten. Einhellig war man empört über diesen unglaublichen Eingriff in die Freiheit der Kunst. Von Zensur wie bei den Nazis war die Rede. Die mildesten Kritiker bezeichneten den Vorgang als eine "Provinzposse".

    Man forschte in der Vergangenheit vor 1945 der Mitarbeiterin, die so engagiert gegen das Bild aufgetreten war. Der CDU- Bürgermeister, den man für die Vernichtung des Bildes verantwortlich machte, mußte unter dem Druck der Öffentlichen Meinung zurücktreten. Man entschuldigte sich bei dem Künstler und bat ihn, sein Gemälde gegen angemessenes Honorar zu restaurieren.

    In der Presse wurde dieser versöhnliche Ausgang der Affäre als ein Zeichen der Hoffnung darauf gefeiert, daß man in Deutschland nun dabei sei, endgültig den Ungeist des Nationalsozialismus zu überwinden. Die Freiheit der Kunst, so wurde geschrieben, hätte über den Versuch der Ewiggestrigen gesiegt, die Kunst politisch zu gängeln.



    Sie werden es ahnen, lieber Leser: Diese Geschichte hat so nicht stattgefunden. Frei ausgedacht habe ich allerdings nur den zweiten Teil. Der erste Teil hat sich real abgespielt; nur habe ich ihn in die Adenauer- Zeit verlegt und entsprechend verfremdet.

    Die wahre Geschichte spielt nicht 1955, sondern im Jahr 2009, und Sie können sie in der "Süddeutschen Zeitung" vom Donnerstag oder in der "Mitteldeutschen Zeitung" vom selben Tag nachlesen. Eine tabellarische Chronik der Ereignisse finden Sie in der Chemnitzer "Freien Presse" vom Freitag. "Endstation Rechts", eine sozialdemokratische WebSite zum Rechtsextremismus und zum Rechtsradikalismus, brachte am Donnerstag ebenfalls einen informativen Bericht.

    Die Stadt also ist Chemnitz. Die Schule ist das "Berufliche Schulzentrum für Wirtschaft 1". Die Gruppe, die sich bei der Kampagne gegen das Gemälde hervorgetan hat, ist nicht ein Büro gegen Linksextremismus, sondern ein "Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus".

    Der Künstler ist Benjamin Jahn Zschocke. Die Partei, bei deren Stadtratsfraktion er einen Halbtagsjob hat, heißt "Pro Chemnitz/DSU (Republikaner)" und steht rechts von der CDU, ist aber nicht rechtsextrem.

    Zschocke war des weiteren Gründungsmitglied der konservativen Burschenschaft "Theodor Körner", aus der er nach eigenen Angaben inzwischen wieder ausgetreten ist. Er sagt, daß er sich nicht als politischen Künstler sehe und daß das beanstandete Gemälde "eine absolut unpolitische Arbeit" sei.

    Nicht einen Stern hat Zschocke auf die Kuppel der Markthalle gesetzt, sondern ein sogenanntes Keltenkreuz. Ähnlich wie der fünfzackige Stern von den Sowjets und allgemein den Kommunisten als Symbol benutzt wurde, wird dieses Keltenkreuz von gewissen rechtsextremen Vereinigungen verwendet. So, wie aber nicht jeder Stern ein Sowjetstern ist, existiert auch das Keltenkreuz als ein altes christliches Symbol; siehe die Titelvignette. Zschokke sagt, er hätte eine historische Fotografie eines Kirchturms zum Vorbild genommen.

    Wenn Sie das Bild betrachten, werden Sie den Stein des Anstoßes vermutlich gar nicht finden. Die "Süddeutsche Zeitung" hilft Ihnen: Wenn Sie auf das Bild klicken, sehen Sie die Kuppel der Markthalle so stark vergrößert, daß das Turmkreuz zu erkennen ist.



    Soweit die reale Parallele zum ersten Teil meiner Geschichte. Eine reale Parallele zum zweiten Teil gibt es nicht. Mit Ausnahme der "Süddeutschen Zeitung" hat die überregionale Presse den Vorgang nicht aufgegriffen. Kommentare, die den Eingriff in die Freiheit der Kunst rügen, die sich gegen die heuchlerische Begründung für diesen Eingriff wenden (es handle sich um eine "Eigentumsstörung", erklärte der Chemnitzer Schulbürgermeister Berthold Brehm), sucht man vergeblich.

    Man sucht sie vergeblich in der überregionalen Presse. Nationalkonservative Medien allerdings empören sich. Die "Junge Freiheit" brachte am Freitag einen Bericht. In der nationalkonservativen Blogosphäre ist die Sache natürlich ein Hit, beispielsweise im Blog von Martin J.G. Böcker.

    Zschocke entstammt diesem rechten Umfeld. So, wie in meiner erdachten Geschichte der Künstler einem linken Umfeld entstammt.

    Wäre das damals, 1955, für Liberale ein Grund gewesen, sich nicht für seine Freiheit als Künstler, für die Freiheit der Kunst überhaupt einzusetzen? Natürlich nicht. Man hätte selbstverständlich gesagt, daß man doch nicht die politischen Auffassungen eines Künstlers teilen muß, um derartige Versuche einer politischen Zensur der Kunst zurückzuweisen. Vielleicht hätte jemand zitiert, daß Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist.

    So sehe ich das auch jetzt. Ich teile die politischen Auffassungen der Fraktion, für die Zschocke im Chemnitzer Stadtrat arbeitet, in keiner Weise. Ich halte nichts von dieser "Neuen Rechten" und von diesen "Pro-Bewegungen", die jetzt überall aus dem Boden schießen. Ich kann mich als Liberaler für nationalkonservative Burschenschaften überhaupt nicht erwärmen.

    Aber sie sind erstens keine Nazis, und zweitens gilt auch für Nazis das Grundrecht auf Freiheit der Kunst. Es gilt für sie, sofern sie dieses Recht nicht dazu mißbrauchen, gegen die freiheitlich- demokratische Grundordnung zu agitieren. In einem freiheitlichen Rechsstaat kann es für die Beurteilung eines Kunstwerks kein Kriterium sein, welche politische Einstellung sein Urheber hat.



    Ist es ein Zufall, daß diese Geschichte sich gerade in der Ex-DDR abspielt? Ich fürchte, nein. Ich fürchte, sie ist ein Beispiel dafür, daß der Kommunismus dort noch immer nicht völlig überwunden ist.

    Ich habe meine Geschichte im Jahr 1955 angesiedelt, also zehn Jahre nach Ende der Nazidiktatur. Damals gab es noch Überreste totalitären Denkens, die sich auch in der Diskreditierung von Künstlern äußerten. Die Diktatur der Kommunisten freilich ist jetzt schon zwei Jahrzehnte Vergangenheit. Offenbar geht es mit ihrer Bewältigung sehr viel langsamer voran als damals mit der Bewältigung der Nazizeit.

    In meiner Geschichte gibt es eine besonders eifrige Mitarbeiterin eines "Büros für Linksextremismus". In der Realität gibt es in Chemnitz Petra Zais vom erwähnten "Mobilen Beraterteam gegen Rechtsextremismus". Sie wird von der SZ mit dem Satz zitiert, in Schulen "dürfe keine Kunst hängen 'von Leuten, die unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnen'." Sollte man also die Werke von Kommunisten aus den deutschen Schulen entfernen, von Pablo Picasso bis Willi Sitte, Mitglied der SED seit 1947?

    Ich habe herauszufinden versucht, wer diese Petra Zais ist. Sie ist eine Politikerin der "Grünen" und wurde auf deren Landeskonferenz am 9. März dieses Jahres auf Platz 3 der Landesliste für den Bundestag gewählt.

    Dort erfährt man auch, daß sie 52 Jahre alt ist. Sie hat also die DDR als Erwachsene erlebt. War sie auch damals gegen "Leute, die unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnen"? War sie somit eine Dissidentin, stand sie zumindest in Distanz zum Regime der Kommunisten?

    Es ist seltsam: Ich habe viel Zeit darauf verwendet, einen offiziellen, ja wenigsten überhaupt einen Lebenslauf dieser doch immerhin bei den "Grünen" Sachsens weit vorn rangierenden Politikerin zu finden. Es ist mir nicht gelungen. Was diese Petra Zais, die heute gegen die Freiheit agitiert, indem sie diese angeblich verteidigt, bis 1989 in der DDR gemacht hat, scheint mit einem Stempel "geheim" versehen zu sein.




    Nachtrag am 20.4.: In "Zettels kleinem Zimmer" haben verschiedene Diskutanten auf Gerüchte aufmerksam gemacht, wonach Petra Zais in der SED gewesen sei und sogar an der SED- Parteischule Mittweida gelehrt hätte. Ich hatte das auch gelesen, aber im Web keinen Lebenslauf von Frau Zais oder sonstige zuverlässige Angaben finden können. Ihr Leben in der DDR schien wie ausgelöscht zu sein. Darauf bezog sich der letzte Satz des Artikels.

    Jetzt hat einer der Diskutanten, FAB., erfolgreich recherchiert und den Text der Bewerbung von Petra Zais für Platz 1 der sächsischen Landesliste für die diesjährigen Wahlen zum Bundestag ausfindig gemacht. Und dort lesen wir:
    Vor diesem Hintergrund bewerbe ich mich mit einem überzeugenden Votum des Stadtverbandes Chemnitz um Platz 1 der sächsischen Landesliste für die Wahl zum Deutschen Bundestag und bitte dafür auch um euer Vertrauen. "Uns eint, uns verbindet ein Kreis von Grundwerten, nicht eine Ideologie." Dieses Leitmotiv hat mich 1993 zu Bündnis 90/Die Grünen geführt und wie ein Blick in meine Biografie zeigt, war das kein selbstverständlicher, aber ein für mich konsequenter Schritt.

    Als Assistentin und spätere Lehrerin am Lehrstuhl Politische Ökonomie der Bezirksparteischule der SED in Mittweida gehörte ich bis 1989 zu den ideologischen Stützen des politischen Systems der DDR. (...)

    Nun bin ich fast 16 Jahre Grüne und jetzt, im Kontext meiner Kandidatur, wird die Frage diskutiert, ob ich damit nicht der Partei schade. Der Partei schaden? Ich habe mich verändert und ich denke, viele Menschen, die in der DDR so wie ich Teil des Systems waren, haben das.
    Nein, sie hat sich augenscheinlich nicht verändert, die Petra Zais; jedenfalls ist sie nicht zur Demokratin geworden.

    Sie hat in der DDR gelernt und vermutlich gelehrt, daß das Recht nicht für alle Menschen gleichermaßen gilt. Sie hat gelernt und vermutlich gelehrt, daß es keine Freiheit der Kunst gibt, sondern daß Kunst parteilich sein muß. Sie hat gelernt und vielleicht gelehrt, daß jeder, der kein Linker ist, ein Nazi ist. Sie hat gelernt und möglicherweise gelehrt, daß der Einzelne nichts und der Staat alles ist.

    Mag sein, daß sie sich in anderen Punkten verändert hat; in Bezug auf diese kommunistischen Auffassungen hat sie es augenscheinlich nicht.

    Und vor allem scheint sie eines nicht begriffen zu haben: Daß jemand, der wie sie einer Diktatur gedient hat, ein wenig vorsichtig damit sein sollte, anderen vorzuwerfen, daß sie "unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnen".

    Der Maler Zschocke, dem sie das vorwirft, ist 22 Jahre, und er hat bisher nichts gesagt oder getan, das darauf schließen ließe, daß er unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt. Die Dozentin Zais hat bis zum Alter von 32 Jahren durch ihre Tätigkeit bewiesen, daß sie unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt. Mir scheint, daß der Maler Zschocke eher das Recht hätte, die freiheitliche Gesinnung der ehemaiigen Dozentin Zais in Zweifel zu ziehen, als umgekehrt.



    Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Keltenkreuz auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Autor: Rama. Frei unter CeCILL-Lizenz. Mit Dank an Calimero und an FAB.