19. April 2009

Überlegungen zur Freiheit (9): Freiheit der Kunst anno 1955. Nebst einem Blick auf die Aufarbeitung von zwei Diktaturen sowie einem Nachtrag

Im Jahr 1955, mitten in der finstersten Adenauer- Zeit, bestellte eine Schule bei einem jungen Künstler ein Wandgemälde. Es sollte in Form stilisierter Wahrzeichen die Stadt darstellen, in der die Schule sich befand. Der Künstler lieferte wie gewünscht und erhielt sein Honorar.

Dann aber fand jemand heraus, daß der Künstler nicht allein vom mageren Ertrag seiner Kunst lebte, sondern außerdem einen Halbtagsjob bei einer Fraktion des Stadtrats hatte; und zwar beim "Bund der Deutschen (BdD)". Keine Linksextremisten, aber doch links von der SPD.

Des weiteren entdeckte jemand auf dem Gemälde des jungen Künstlers eine Kuppel, auf der sich ein Stern befand. Wenn man wollte, konnte man ihn als einen Sowjetstern deuten. Der Künstler bestritt das und sagte, er hätte sich an ein Foto erinnert, einen Stern auf einer Kirche der Stadt, als er diesen Stern auf die Kuppel der Markthalle setzte. Er erklärte sich dennoch bereit, das inkriminierte Symbol zu entfernen.

Das half aber nichts. Die CDU der Stadt veranstaltete eine Kampagne gegen das Wandgemälde. Unterstützt wurde sie von einem "Büro gegen Linksextremismus"; ganz besonders von einer Mitarbeiterin dieses Büros, deren Lebenslauf im Dunklen lag.

Als Ergebnis dieser Kampagne wurde das Wandgemälde zunächst mit Tapetenbahnen verhängt. Dann gab man dem Künstler noch drei Tage Frist, um sein Werk zu fotografieren. Anschließend wurde es auf Anordnung des Bürgermeisters der Stadt, die Träger der Schule war, vernichtet, indem man es übertünchte.



Das ist der erste Teil der Geschichte. Der zweite ist, daß die Sache in die überregionale Presse gelangte.

Der "Spiegel" brachte eine ausführliche Story. Alle großen Tageszeitungen kommentierten. Einhellig war man empört über diesen unglaublichen Eingriff in die Freiheit der Kunst. Von Zensur wie bei den Nazis war die Rede. Die mildesten Kritiker bezeichneten den Vorgang als eine "Provinzposse".

Man forschte in der Vergangenheit vor 1945 der Mitarbeiterin, die so engagiert gegen das Bild aufgetreten war. Der CDU- Bürgermeister, den man für die Vernichtung des Bildes verantwortlich machte, mußte unter dem Druck der Öffentlichen Meinung zurücktreten. Man entschuldigte sich bei dem Künstler und bat ihn, sein Gemälde gegen angemessenes Honorar zu restaurieren.

In der Presse wurde dieser versöhnliche Ausgang der Affäre als ein Zeichen der Hoffnung darauf gefeiert, daß man in Deutschland nun dabei sei, endgültig den Ungeist des Nationalsozialismus zu überwinden. Die Freiheit der Kunst, so wurde geschrieben, hätte über den Versuch der Ewiggestrigen gesiegt, die Kunst politisch zu gängeln.



Sie werden es ahnen, lieber Leser: Diese Geschichte hat so nicht stattgefunden. Frei ausgedacht habe ich allerdings nur den zweiten Teil. Der erste Teil hat sich real abgespielt; nur habe ich ihn in die Adenauer- Zeit verlegt und entsprechend verfremdet.

Die wahre Geschichte spielt nicht 1955, sondern im Jahr 2009, und Sie können sie in der "Süddeutschen Zeitung" vom Donnerstag oder in der "Mitteldeutschen Zeitung" vom selben Tag nachlesen. Eine tabellarische Chronik der Ereignisse finden Sie in der Chemnitzer "Freien Presse" vom Freitag. "Endstation Rechts", eine sozialdemokratische WebSite zum Rechtsextremismus und zum Rechtsradikalismus, brachte am Donnerstag ebenfalls einen informativen Bericht.

Die Stadt also ist Chemnitz. Die Schule ist das "Berufliche Schulzentrum für Wirtschaft 1". Die Gruppe, die sich bei der Kampagne gegen das Gemälde hervorgetan hat, ist nicht ein Büro gegen Linksextremismus, sondern ein "Mobiles Beratungsteam gegen Rechtsextremismus".

Der Künstler ist Benjamin Jahn Zschocke. Die Partei, bei deren Stadtratsfraktion er einen Halbtagsjob hat, heißt "Pro Chemnitz/DSU (Republikaner)" und steht rechts von der CDU, ist aber nicht rechtsextrem.

Zschocke war des weiteren Gründungsmitglied der konservativen Burschenschaft "Theodor Körner", aus der er nach eigenen Angaben inzwischen wieder ausgetreten ist. Er sagt, daß er sich nicht als politischen Künstler sehe und daß das beanstandete Gemälde "eine absolut unpolitische Arbeit" sei.

Nicht einen Stern hat Zschocke auf die Kuppel der Markthalle gesetzt, sondern ein sogenanntes Keltenkreuz. Ähnlich wie der fünfzackige Stern von den Sowjets und allgemein den Kommunisten als Symbol benutzt wurde, wird dieses Keltenkreuz von gewissen rechtsextremen Vereinigungen verwendet. So, wie aber nicht jeder Stern ein Sowjetstern ist, existiert auch das Keltenkreuz als ein altes christliches Symbol; siehe die Titelvignette. Zschokke sagt, er hätte eine historische Fotografie eines Kirchturms zum Vorbild genommen.

Wenn Sie das Bild betrachten, werden Sie den Stein des Anstoßes vermutlich gar nicht finden. Die "Süddeutsche Zeitung" hilft Ihnen: Wenn Sie auf das Bild klicken, sehen Sie die Kuppel der Markthalle so stark vergrößert, daß das Turmkreuz zu erkennen ist.



Soweit die reale Parallele zum ersten Teil meiner Geschichte. Eine reale Parallele zum zweiten Teil gibt es nicht. Mit Ausnahme der "Süddeutschen Zeitung" hat die überregionale Presse den Vorgang nicht aufgegriffen. Kommentare, die den Eingriff in die Freiheit der Kunst rügen, die sich gegen die heuchlerische Begründung für diesen Eingriff wenden (es handle sich um eine "Eigentumsstörung", erklärte der Chemnitzer Schulbürgermeister Berthold Brehm), sucht man vergeblich.

Man sucht sie vergeblich in der überregionalen Presse. Nationalkonservative Medien allerdings empören sich. Die "Junge Freiheit" brachte am Freitag einen Bericht. In der nationalkonservativen Blogosphäre ist die Sache natürlich ein Hit, beispielsweise im Blog von Martin J.G. Böcker.

Zschocke entstammt diesem rechten Umfeld. So, wie in meiner erdachten Geschichte der Künstler einem linken Umfeld entstammt.

Wäre das damals, 1955, für Liberale ein Grund gewesen, sich nicht für seine Freiheit als Künstler, für die Freiheit der Kunst überhaupt einzusetzen? Natürlich nicht. Man hätte selbstverständlich gesagt, daß man doch nicht die politischen Auffassungen eines Künstlers teilen muß, um derartige Versuche einer politischen Zensur der Kunst zurückzuweisen. Vielleicht hätte jemand zitiert, daß Freiheit immer die Freiheit der Andersdenkenden ist.

So sehe ich das auch jetzt. Ich teile die politischen Auffassungen der Fraktion, für die Zschocke im Chemnitzer Stadtrat arbeitet, in keiner Weise. Ich halte nichts von dieser "Neuen Rechten" und von diesen "Pro-Bewegungen", die jetzt überall aus dem Boden schießen. Ich kann mich als Liberaler für nationalkonservative Burschenschaften überhaupt nicht erwärmen.

Aber sie sind erstens keine Nazis, und zweitens gilt auch für Nazis das Grundrecht auf Freiheit der Kunst. Es gilt für sie, sofern sie dieses Recht nicht dazu mißbrauchen, gegen die freiheitlich- demokratische Grundordnung zu agitieren. In einem freiheitlichen Rechsstaat kann es für die Beurteilung eines Kunstwerks kein Kriterium sein, welche politische Einstellung sein Urheber hat.



Ist es ein Zufall, daß diese Geschichte sich gerade in der Ex-DDR abspielt? Ich fürchte, nein. Ich fürchte, sie ist ein Beispiel dafür, daß der Kommunismus dort noch immer nicht völlig überwunden ist.

Ich habe meine Geschichte im Jahr 1955 angesiedelt, also zehn Jahre nach Ende der Nazidiktatur. Damals gab es noch Überreste totalitären Denkens, die sich auch in der Diskreditierung von Künstlern äußerten. Die Diktatur der Kommunisten freilich ist jetzt schon zwei Jahrzehnte Vergangenheit. Offenbar geht es mit ihrer Bewältigung sehr viel langsamer voran als damals mit der Bewältigung der Nazizeit.

In meiner Geschichte gibt es eine besonders eifrige Mitarbeiterin eines "Büros für Linksextremismus". In der Realität gibt es in Chemnitz Petra Zais vom erwähnten "Mobilen Beraterteam gegen Rechtsextremismus". Sie wird von der SZ mit dem Satz zitiert, in Schulen "dürfe keine Kunst hängen 'von Leuten, die unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnen'." Sollte man also die Werke von Kommunisten aus den deutschen Schulen entfernen, von Pablo Picasso bis Willi Sitte, Mitglied der SED seit 1947?

Ich habe herauszufinden versucht, wer diese Petra Zais ist. Sie ist eine Politikerin der "Grünen" und wurde auf deren Landeskonferenz am 9. März dieses Jahres auf Platz 3 der Landesliste für den Bundestag gewählt.

Dort erfährt man auch, daß sie 52 Jahre alt ist. Sie hat also die DDR als Erwachsene erlebt. War sie auch damals gegen "Leute, die unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnen"? War sie somit eine Dissidentin, stand sie zumindest in Distanz zum Regime der Kommunisten?

Es ist seltsam: Ich habe viel Zeit darauf verwendet, einen offiziellen, ja wenigsten überhaupt einen Lebenslauf dieser doch immerhin bei den "Grünen" Sachsens weit vorn rangierenden Politikerin zu finden. Es ist mir nicht gelungen. Was diese Petra Zais, die heute gegen die Freiheit agitiert, indem sie diese angeblich verteidigt, bis 1989 in der DDR gemacht hat, scheint mit einem Stempel "geheim" versehen zu sein.




Nachtrag am 20.4.: In "Zettels kleinem Zimmer" haben verschiedene Diskutanten auf Gerüchte aufmerksam gemacht, wonach Petra Zais in der SED gewesen sei und sogar an der SED- Parteischule Mittweida gelehrt hätte. Ich hatte das auch gelesen, aber im Web keinen Lebenslauf von Frau Zais oder sonstige zuverlässige Angaben finden können. Ihr Leben in der DDR schien wie ausgelöscht zu sein. Darauf bezog sich der letzte Satz des Artikels.

Jetzt hat einer der Diskutanten, FAB., erfolgreich recherchiert und den Text der Bewerbung von Petra Zais für Platz 1 der sächsischen Landesliste für die diesjährigen Wahlen zum Bundestag ausfindig gemacht. Und dort lesen wir:
Vor diesem Hintergrund bewerbe ich mich mit einem überzeugenden Votum des Stadtverbandes Chemnitz um Platz 1 der sächsischen Landesliste für die Wahl zum Deutschen Bundestag und bitte dafür auch um euer Vertrauen. "Uns eint, uns verbindet ein Kreis von Grundwerten, nicht eine Ideologie." Dieses Leitmotiv hat mich 1993 zu Bündnis 90/Die Grünen geführt und wie ein Blick in meine Biografie zeigt, war das kein selbstverständlicher, aber ein für mich konsequenter Schritt.

Als Assistentin und spätere Lehrerin am Lehrstuhl Politische Ökonomie der Bezirksparteischule der SED in Mittweida gehörte ich bis 1989 zu den ideologischen Stützen des politischen Systems der DDR. (...)

Nun bin ich fast 16 Jahre Grüne und jetzt, im Kontext meiner Kandidatur, wird die Frage diskutiert, ob ich damit nicht der Partei schade. Der Partei schaden? Ich habe mich verändert und ich denke, viele Menschen, die in der DDR so wie ich Teil des Systems waren, haben das.
Nein, sie hat sich augenscheinlich nicht verändert, die Petra Zais; jedenfalls ist sie nicht zur Demokratin geworden.

Sie hat in der DDR gelernt und vermutlich gelehrt, daß das Recht nicht für alle Menschen gleichermaßen gilt. Sie hat gelernt und vermutlich gelehrt, daß es keine Freiheit der Kunst gibt, sondern daß Kunst parteilich sein muß. Sie hat gelernt und vielleicht gelehrt, daß jeder, der kein Linker ist, ein Nazi ist. Sie hat gelernt und möglicherweise gelehrt, daß der Einzelne nichts und der Staat alles ist.

Mag sein, daß sie sich in anderen Punkten verändert hat; in Bezug auf diese kommunistischen Auffassungen hat sie es augenscheinlich nicht.

Und vor allem scheint sie eines nicht begriffen zu haben: Daß jemand, der wie sie einer Diktatur gedient hat, ein wenig vorsichtig damit sein sollte, anderen vorzuwerfen, daß sie "unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnen".

Der Maler Zschocke, dem sie das vorwirft, ist 22 Jahre, und er hat bisher nichts gesagt oder getan, das darauf schließen ließe, daß er unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt. Die Dozentin Zais hat bis zum Alter von 32 Jahren durch ihre Tätigkeit bewiesen, daß sie unsere freiheitliche Gesellschaft ablehnt. Mir scheint, daß der Maler Zschocke eher das Recht hätte, die freiheitliche Gesinnung der ehemaiigen Dozentin Zais in Zweifel zu ziehen, als umgekehrt.



Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Keltenkreuz auf dem Friedhof Père Lachaise in Paris. Autor: Rama. Frei unter CeCILL-Lizenz. Mit Dank an Calimero und an FAB.