8. April 2009

Zitat des Tages: Günter Grass, Herbert Wehner und "Lenin'sche Bündnispolitik"

Grass bedankt sich, indem er liest: das Wehner-Porträt aus seinem "Tagebuch einer Schnecke", das Warschau-Kapitel aus "Mein Jahrhundert", dann ein paar mehr oder weniger politische Kurzgedichte aus dem Band "Fundsachen für Nichtleser". Anschließend erzählt er, wie er Herbert Wehner in einem langen Streitgespräch vom Sinn privater Wählerinitiativen überzeugte. "Das", habe Wehner endlich gesagt, "ist Leninsche Bündnispolitik!". So verstand man sich durch Nichtverstehen.

Andreas Kilb gestern in der FAZ über einen Auftritt von Günter Grass im Willy- Brandt- Haus.

Kommentar: Das Gespräch mit Wehner, an das Grass sich erinnert, dürfte 1965 stattgefunden haben. Damals gehörte Grass zu den Gründern einer Wählerinitative für die SPD, des "Wahlkontors deutscher Schriftsteller". Man unterstützte die SPD zu den Bundestagswahlen jenes Jahres. Gut ein Jahr später hatte Wehner das Ziel seiner Bündnispolitik erreicht, zusammen mit der CDU/CSU die erste Große Koalition zu bilden.

Die Anekdote, die Grass erzählt, ist bezeichnend. Denn das Grundprinzip des Leninismus ist die Bündnispolitik.

In den Jahren vor der Oktoberrevolution hatte Lenin in einer schonungslosen Analyse erkannt, daß die Bolschewiken niemals in freien Wahlen eine Mehrheit erlangen würden. Also konnten sie die Macht nur erobern, wenn sie sich mit anderen verbündeten und diese, ebenso wie die Nicht- Partner, anschließend ausmanövrierten.

Das hat Lenin in Perfektion exerziert. Im einzigen frei gewählten Parlament nach der Oktoberrevolution hatten die Bolschewiken gerade einmal 168 von 703 Mandaten. Genug, um durch Bündnisse mit den Bündniswilligen und durch Ausschaltung der nicht Bündniswilligen die Macht an sich zu reißen.

Wehner, der Altkommunist, dachte in Lenin'schen Kategorien. Er hatte offenbar zunächst nicht viel davon gehalten, daß politisch unerfahrene Schriftsteller wie Grass, Nicolaus Born und Peter Härtling sich in den Wahlkampf einmischten. Bis er erkannte, daß damit bürgerliche Schichten in eine Bündnis mit der Arbeiterklasse geholt werden konnten, die von der SPD allein nicht erreicht worden wären. Bis er also merkte, daß das, was Grass ihm vorschlug, genau in seinen Plan zur Eroberung der Macht paßte, dessen erste Stufe das Bündnis mit progressiven bürgerlichen Kräften sein sollte.



In der DDR haben die Kommunisten diese Bündnispolitik bis zum Schluß betrieben; wenn auch als Farce. Aber die DDR war eben nie ein Einparteienstaat. Die Bündnispartner hatten ihren Platz, ihre Nische - von den in der CDU organisierten Christen bis zu kollaborationswilligen Nazis, für die von den Kommunisten eigens die NDPD gegründet worden war; später war sie die Partei der Reste des konservativen Mittelstands in der DDR.

In der alten Bundesrepublik verfolgte die DKP diese Bündnisstrategie auf andere Art. Als Partei war sie unbedeutend, aber über Umfeldorganisationen wie die VVN, durch Unterwanderung von Gewerkschaften, durch Einflußnahme auf Bewegungen wie "Kampf dem Atomtod", die Anti-AKW- und die Friedensbewegung hatte sie eine politische Bedeutung, die weit über ihre Stärke bei Wahlen hinausreichte.

Das Ziel war ab den sechziger Jahren gemäß der Stamokap- Theorie das "breite antimonopolistische Bündnis" mit der SPD und den Gewerkschaften, durch das die DKP langfristig entscheidenden Einfluß auf die Bundesrepublik zu gewinnen hoffte.

Auch heute betreiben die deutschen Kommunisten eine konsequente Lenin'sche Bündnispolitik.

Zum einen, indem die PDS die WASG schluckte und dabei in Kauf nahm, auch Trotzkisten und nichtkommunistische Linke in der Partei zu haben; "Sektierer" also, wie sie - die kommunistische Diktion korrekt verwendend - Frank- Walter Steinmeier nannte. Gerade die orthodoxesten Leninisten wie die Gruppe um Sahra Wagenknecht haben diese Politik mitgetragen; sie war und ist eben lupenreiner Leninismus.

Zum anderen betreiben die Kommunisten heute Lenin'sche Bündnispolitik dadurch, daß sie, wo immer sich eine Chance bietet, das Regierungsbündnis mit der SPD suchen. Mit jener SPD, die man andererseits als Partei des Sozialabbaus, als Partei der völkerrechtswidrigen Angriffskriege usw. aufs Heftigste kritisiert.

Wenn es um die Machtfrage geht, dann spielt dergleichen keine Rolle; dann schluckt der geschulte Leninist jede Kröte. Sogar mit allen Anzeichen, daß es ihm schmeckt.



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