26. Juli 2009

"Sie leben und sterben in Lumpen". Über den Gulag Nordkoreas

"Sie leben von Gerste und Salz. Die Zähne fallen ihnen aus, ihr Zahnfleisch wird schwarz. Ihre Knochen verlieren ihre Festigkeit. Sie werden krumm. Die meisten arbeiten zwölf bis fünfzehn Stunden am Tag. Sie sterben meist im Alter von fünfzig Jahren an Folgekrankheiten der Unterernährung. Es ist ihnen nur eine einzige Kleidung erlaubt. Sie leben und sterben in Lumpen, ohne Seife, Socken, Unterwäsche und ohne Monatsbinden."

Ein Schreckensbild aus Nazi-KZ, aus dem Gulag, aus den Arbeitslagern Mao Tse Tungs? Nein. Das ist Gegenwart. Es ist die Gegenwart der Demokratischen Volksrepublik Korea. Es ist eine Gegenwart, die von der Weltöffentlichkeit auf eine nachgerade skandalöse Weise ignoriert wird.

Ich habe diese Passage aus einem Artikel von Blaine Harden in der Washington Post vom 20. Juli übersetzt. Der Artikel ist sorgfältig recherchiert; die folgenden Angaben habe ich weitgehend ihm entnommen. Aufmerksam geworden bin ich auf das Thema durch die aktuelle Kolumne von Jonah Goldberg in der Los Angeles Times.



Wie das Sowjetsystem in Rußland basiert die koreanische Wirtschaft wesentlich auf der Ausbeutung von Häftlingen, die sich zu Tode arbeiten und ständig durch frische ersetzt werden. Wenn Sie diesen Artikel über den Gulag lesen, den ich 2007 aufgrund von Material aus dem Nouvel Observateur geschrieben habe, dann wissen Sie schon viel über das koreanische System der Konzentrationslager; denn es ist die exakte Kopie des Gulag.

In den fünfziger Jahren (also als Stalin längst tot war) befanden sich ungefähr zwei Millionen Menschen als Arbeitssklaven im Gulag; das war rund ein Prozent der damaligen Bevölkerung der UdSSR. Die Zahl der Arbeitssklaven in den Lagern Nordkoreas wird im Augenblick auf 200.000 geschätzt, ebenfalls rund ein Prozent der Bevölkerung.

Die beiden Grundpfeiler des Systems sind identisch: Die Häftlinge kosten den Staat fast nichts, weil ja gar nicht versucht wird, sie lange am Leben zu erhalten; Ersatz steht jederzeit reichlich zur Verfügung. Und dieser Ersatz wird durch willkürliche Verhaftungen besorgt; so daß neben dem wirtschaftlichen Nutzen der zweite Effekt dieses Systems ist, die Herrschaft der Kommunisten zu sichern.

Jeder Bürger weiß, daß er schon beim geringsten Anlaß in einem KZ verschwinden kann. Auch hohe Funktionäre kann es treffen; der Versuch einer Auflehnung gegen den Lieben Führer Kim Jong Il wäre also selbstmörderisch.

Willkür ist ja die Grundlage jeder kommunistischen Herrschaft; sie allein erzeugt die für deren Aufrechterhaltung erforderliche Angst in der Bevölkerung. In der DDR war das die Willkür des MfS; in Korea ist dieses Prinzip bis in seine scheußlichsten Formen hinein verwirklicht.

Blaine Harden schildert das Schicksal einer ehemaligen Insassin, Kim Young Soon. Sie überlebte das KZ, aber ihre Eltern verhungerten dort, und ihre ältester Sohn starb ebenfalls. Die gesamte Familie war in das KZ geschickt worden.

Das ist der Regelfall; es geht auf ein Wort von Kim Il Sung zurück: "Klassenfeinde, wer immer sie sind, müssen über drei Generationen ausgerottet werden". Also kam nicht nur Kim Young Soon in das Lager, sondern auch ihre Eltern und ihre vier Kinder.

Was war der Anlaß? Kim Young Soon erfuhr ihn von einem Funktionär nach ihrer Freilassung. Sie war verhaftet worden, weil sie mit der ersten Frau von Kim Jong Il befreundet gewesen war. Man fürchtete, sie könnte etwas über das Privatleben des Lieben Führers ausplaudern. Für dieses "Verbrechen" verlor sie fast ihre ganze Familie. Ihr Mann versuchte bei ihrer Verhaftung, nach China zu fliehen und wurde erschossen. Ihr jüngster Sohn wurde nach der Entlassung aus dem KZ ebenfalls erschossen.



Solche einzelnen Berichte ehemaliger Häftlinge muß man sicherlich immer kritisch sehen. Über das KZ-System der Demokratischen Volksrepublik Korea liegt aber inzwischen so viel Material vor, daß die Fakten als gesichert gelten können.

Menschenrechtsorganisationen und vor allem die Vereinigung (süd-)Koreanischer Rechtsanwälte (Korean Bar Association) befragen systematisch Zeugen, neben Überlebenden vor allem auch ehemalige Funktionäre und Wärter, die sich in den Westen abgesetzt haben. Hinzu kommen die Ergebnisse amerikanischer Luftaufklärung. Sogar auf Google Earth sind die Lager zu sehen.

Anfangs waren es vierzehn Lager gewesen. Inzwischen hat man das auf fünf große KZ reduziert. Das größte, Lager 22 nahe der chinesischen Grenze, beherbergt 50.000 Arbeitssklaven auf einer Fläche von ungefähr 50 mal 40 Kilometern.

Viele Häftlinge gelangen in ein solches Lager, nachdem sie zuvor gefoltert wurden. Einer der Überlebenden, Jung Gwang Il, beschreibt diese Folter als noch schlimmer als das Lager selbst.

Er war Funktionär im Außenhandel gewesen und beschuldigt worden, ein Spion zu sein. Die Bowibu (die nordkoreanische Stasi) folterte ihn systematisch; ihm wurden die Zähne ausgeschlagen und er erlitt mehrere Schädelbrüche. Er hatte mehr als 80 kg gewogen; am Ende der Tortur, als er in ein Lager eingeliefert wurde, wog er noch 40 kg. Er überlebte, weil es ihm gelang, eine Schreibtisch- Funktion zugeteilt zu bekommen.

Begeht ein Insasse Selbstmord, dann werden seine Angehörigen zu hohen Strafen verurteilt. Den Wärtern ist ausdrücklich erlaubt, Häftlinge nach Belieben zu schlagen, zu vergewaltigen und zu ermorden. Bringt eine Frau im Lager ein Kind zur Welt, dann wird es getötet. Den Wärtern wird - so die Aussage eines ehemaligen Wärters - eingeschärft, daß jede Regung des Mitleids gegenüber Gefangenen zu ihrer eigenen Verhaftung führen würde.

Hinrichtungen sind an der Tagesordnung. Sie finden öffentlich statt. Die Häftlinge müssen sich in unmittelbarer Nähe des Hinrichtungsorts aufstellen und zusehen. Den Delinquenten werden Kiesel in den Mund gestopft, und es wird ihnen eine Kapuze übergezogen. Drei Wärter geben dann je drei Schüsse auf das Opfer ab.



Genug der Einzelheiten. Es erscheint mir richtig, sie zu erwähnen, denn man muß sich solche Zustände im Detail vorstellen, wenn man sie richtig beurteilen will.

Und wie beurteilt sie die Weltöffentlichkeit? Gar nicht. Nordkorea bestreitet die Existenz der Lager. Es sei unmöglich, das Thema in Gesprächen auch nur zu erwähnen, sagt ein altgedienter amerikanischer Diplomat. Die Nordkoreaner würden sofort "an die Decke gehen" (go nuts).

Selbst die südkoreanische Regierung hat das Thema lange Zeit peinlich vermieden, um die Beziehungen zu Nordkorea nicht weiter zu verschlechtern. Erst seit letztem Jahr hat sich diese Politik unter Ministerpräsident Lee Myung-bak zu ändern begonnen.

Unter Präsident Clinton haben die USA das Thema der KZ ebenfalls vermieden; man wollte sich mit den Nordkoreanern so gut wie möglich stellen, um sie dazu zu bewegen, auf eine Atomrüstung zu verzichten.

Anders Präsident Bush. Er rechnete Nordkorea bekanntlich zur "Achse des Bösen" und empfing demonstrativ Überlebende der KZ. Fünf Jahre verweigerten die USA jedes Gespräch mit Nordkorea. Das änderte sich erst, als die Nordkoreaner 2006 ihre erste Atombombe zündeten.

Für die Regierung Obama sind die KZ in Nordkorea, so formuliert es Blaine Harden, "a non-issue". Ein Nicht-Thema also.



Nachtrag: Einen umfassenden Bericht über den koreanischen Gulag auf dem Stand von 2003 hat das Committee for Human Rights in North Korea vorgelegt. - Mit Dank an Kallias, der in "Zettels kleinem Zimmer" auf diesen Bericht aufmerksam gemacht hat.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Gemälde im Museum für den Siegreichen Vaterländischen Krieg in Pjöngjang; in der Mitte Kim Il Sung (Ausschnitt). Vom Autor Kok Leng Yeo unter Creative Commons Attribution 2.0 License freigegeben.