14. Juli 2009

Neues aus der Forschung (4): Was tut unser Hirn, wenn wir nichts tun? Über die Fortschritte der Hirnforschung in einem halben Jahrhundert (Teil 2)

Wenn wir nicht schlafen, dann tun wir meist etwas. Das Hirn ist damit beschäftigt, das zu steuern. Gelegentlich stellen wir aber dieses Tun weitgehend ein. In der Eisenbahn zum Beispiel sind einige Fahrgäste tätig - sie lesen etwas, unterhalten sich, arbeiten am Laptop. Viele aber sitzen einfach da. Ähnlich ist es, wenn wir "in der Sonne liegen". Das ist keine Tätigkeit, sondern ein Zustand.

Was geschieht im Gehirn in diesem Zustand, in dem wir "die Seele baumeln" lassen, in dem wir die Gedanken schweifen lassen - mind wandering heißt das im Englischen - , in dem wir, ohne zu schlafen, "vor uns hinträumen" (daydreaming)?

Was da genau geschieht, weiß man noch nicht. Aber herausgefunden wurde in den letzten Jahren, wo etwas geschieht. Und das ist spannend genug.

Im ersten Teil habe ich über die methodischen Fortschritte der Hirnforschung in den vergangenen Jahrzehnten berichtet. Sie ermöglichen es, "ins Gehirn zu blicken", ohne daß es nötig wäre, Elektroden einzuführen. Man macht sich zunutze, daß die Aktivität des Gehirns mit Veränderungen im elektromagnetischen Feld einhergeht und daß die Zufuhr sauerstoffreichen Bluts dann zunimmt, wenn ein Areal besonders aktiv ist. Beides kann man von außen messen.

Mit diesen Methoden wird seit 2001 - damals veröffentlichten Marcus Raichle und Mitarbeiter die bahnbrechende Arbeit - untersucht, welche Areale des Gehirns besonders aktiv sind, wenn wir tagträumen, wenn wir die Gedanken schweifen lassen. Darüber berichtet Science News in seiner aktuellen Ausgabe (July 18th, 2009; Vol.176 #2, p. 16).

Gibt es für das Tagträumen ein "Zentrum" im Gehirn? Das Gegenteil ist der Fall. Das ganze Gehirn begibt sich in einen speziellen Modus, den default mode. Es sind diverse Areale aktiv, die sich auf den gesamten Kortex verteilen - von ganz vorn (medialer Frontalkortex) bis zum posterioren Cingulum weit hinten.

Eigenartig, nicht wahr?



Es stellen sich diverse Fragen. Erstens, warum gerade diese Areale? Haben sie etwas miteinander gemeinsam? Zweitens, ist dieses Default- Netzwerk notwendig? Was passiert, wenn es nicht richtig funktioniert? Drittens, wie ist es überhaupt möglich, daß so weit entfernt liegende Areale offenbar zusammenarbeiten?

Aus anderen Untersuchungen hat man eine gewisse Vorstellung davon, was in diesen Arealen vor sich geht, die im default mode aktiv sind, also dem Default- Netzwerk.

Der mediale Frontalkortex ist aktiv, wenn wir uns etwas vorstellen, wenn wir mit uns selbst beschäftigt sind, wenn wir uns klarzumachen versuchen, was andere empfinden und wollen. Das posteriore Cingulum und umgebende Strukturen sind dann aktiv, wenn wir uns an etwas erinnern, was wir früher erlebt haben und wenn wir uns bildhaft vorstellen, wie wir etwas tun.

Nimmt man das zusammen, dann könnte es sein - das ist jedenfalls eine plausible Vermutung -, daß dieses Default- Netzwerk dazu dient, Erinnerungen zu nutzen, um künftiges Handeln zu planen. Es aus unserer eigenen Perspektive zu planen, aber dabei auch die Perspektive anderer zu berücksichtigen.

Wenn wir mit einer äußeren Tätigkeit befaßt sind, dann ist dafür keine Zeit. Stellt man Versuchspersonen Aufgaben - etwa eine Wortliste zu memorieren -, dann zeigt das Default- Netzwerk eine besonders geringe Aktivität. Aber wenn wir nichts Dringendes tun müssen, dann ist Zeit für Phantasie und Denken. Das Default- Netzwerk scheint so etwas wie ein think tank zu sein, den das Gehirn aktiviert, wenn seine Ressourcen nicht anderweitig benötigt werden.

Was passiert, wenn das Default- Netzwerk nicht richtig arbeitet?

Es gibt Hinweise darauf, daß das bei Schizophrenen der Fall ist. Ihr Default- Netzwerk scheint schwer abschaltbar zu sein; es hindert sie dadurch daran, sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren.

Auch beim posttraumatischen Belastungs- Syndrom (Störungen nach schweren psychischen Belastungen, zum Beispiel durch Vergewaltigungen oder Kriegserlebnisse) scheint das Default- Netzwerk betroffen zu sein. Solche Patienten zeigen überzufällig häufig Anomalien in diesem Netzwerk, die vermuten lassen, daß es ihnen nicht gelingt, ein kohärentes Bild von sich selbst aufzubauen und zu erhalten.

Und schließlich könnte auch ein Zusammenhang mit der Alzheimer'schen Krankheit bestehen. Personen, die ein genetisches Risiko für Alzheimer haben, zeigen schon in jungen Jahren eine erhöhte Aktivität im Default- Netzwerk; und dieses scheint als einer der ersten Teile des Gehirns von der beginnenden Erkrankung betroffen zu sein.



Die dritte der oben genannten Fragen - wie ist eine Zusammenarbeit zwischen weit entfernten Arealen überhaupt möglich? - ist vielleicht die interessanteste. Sie führt zu dem, was ich im ersten Teil in den Mittelpunkt gestellt hatte: Die Veränderung unserer Vorstellungen von der funktionellen Architektur des Gehirns.

Vor einem halben Jahrhundert stellte man sich das Gehirn als eine gigantische Schaltzentrale vor: Die Erregung beginnt in den primären sensorischen Feldern und wird dann über Stationen weitergeleitet, bis schließlich diejenigen Areale und Strukturen erreicht sind, die für die Steuerung von Bewegungen zuständig sind. Diese Stationen dachte man sich als spezialisierte Moduln, oft als "Zentren" für dies und jenes - bis hin zu einem "Lesezentrum". Das Ganze sollte von eine Zentrale im Frontalhirn gesteuert und befehligt werden.

Das heutige Bild ist ganz anders; und das wird sehr schön durch die Forschung zum Default- Netzwerk illustriert:

Wenn das Gehirn mit etwas beschäftigt ist, dann werden zahlreiche kortikale Areale (und oft auch subkortikale Strukturen) zu einem Netzwerk zusammengeschaltet. Die Erregung fließt nicht nur in eine Richtung, sondern hin und her; reentrant processing hat man das genannt. Ein primäres sensorisches Areal wird zum Beispiel mit den Ergebnissen späterer Verarbeitung beliefert; vielleicht zur Überprüfung.

Solche Netzwerke sind nicht hierarchisch organisiert, sondern "heterarchisch". Es gibt keine Kommando- Zentrale, schon gar nicht im Frontalhirn. Was das Hirn tut, ist sozusagen das Ergebnis ständiger Verhandlungen zwischen allen Beteiligten; nicht die Ausführung von Befehlen.

Solche Netzwerke können eher lokal sein oder sich, wie im Fall des Default- Netzwerks, über den ganzen Kortex erstrecken. Wie schaffen sie es, zusammenzuarbeiten?

Das ist im Augenblick eine zentrale Frage der Forschung. Synchronisierung scheint entscheidend zu sein, und zwar auf ganz unterschiedlichen Ebenen.

Auch hier sind wieder methodische Fortschritte entscheidend. Man kann zugleich von zahlreichen Einzelzellen bei einem Versuchstier ableiten (siehe den ersten Teil); man kann zugleich an vielen Stellen des Schädels das EEG aufnehmen und Messungen mit bildgebenden Verfahren vornehmen. Dann kann man die Zeitverläufe übereinanderlegen, also Korrelationen berechnen.

Manchmal findete man Synchronizität in einer sehr hohen Frequenz- Größenordnung - zum Beispiel in der Größenordnung von 40 Hertz, wie sie am Frankfurter Max- Planck- Institut für Hirnforschung von Wolf Singer und Mitarbeitern für lokale Netzwerke gefunden wurde.

Im Fall des Default- Netzwerks ist die Frequenz weitaus niedriger. Die Aktivität zum Beispiel im medialen Frontalkortex und im posterioren Cingulum nimmt in der Größenordnung von 15 bis 20 Sekunden synchron zu und ab.

Irgendwie schafft es das Gehirn, diese Areale zusammenzuschalten. Wie, das kann man heute allenfalls erahnen. Synchronisation scheint jedenfalls eine entscheidende Rolle zu spielen.

Wie aus dieser gleichzeitigen und synchronisierten Aktivität in ganz verschiedenen Teile des Gehirns das wird, was wir bewußt erleben - Tagträume, wandernde Gedanken -, das weiß noch niemand. Von den physiologischen Grundlagen des Bewußtseins haben wir, trotz jahrzehntelanger Bemühungen, noch nicht den Schatten einer Ahnung.



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Galileo Galilei, gemalt im Jahr 1605 von Domenico Robusti. Ausschnitt.