6. Juli 2009

Mutmaßungen über Sarah. Oder: Jagdszenen aus den Niederungen der Publizistik. Nebst einer Bemerkung über die Beherrschung des Englischen

Sarah Palin - Sie erinnern sich? Palin war letztes Jahr die Überraschung des amerikanischen Wahlkampfs; von John McCain zur Kandidatin für die Vizepräsidentschaft der USA berufen.

Sie war, Sie erinnern sich, die Kandidatin, die sich "als wandelnde Lachnummer" entpuppte. Politisch aber war sie "so unbeleckt und rhetorisch so unbegabt, dass McCains Team sie panisch einem Crash- Kurs unterzog". Das war die Frau, die ein "desaströses Interview" gab, die für eine Witzsendung "Kanonenfutter" war; kurz ein "politisches Pin-up-Girl".

Das sind alles Zitate aus dem Artikel, in dem Marc Pitzke in "Spiegel- Online" am Samstag über den Rücktritt von Sarah Palin als Gouverneurin von Alaska berichtete. Wohlgemerkt: Kein Kommentar, sondern der Bericht eines Amerika- Korrespondenten von "Spiegel- Online".

Pitzke ist gewiß eine besonders unappetitliche Erscheinung im deutschen Journalismus. Schon während des Wahlkampfs hat er mit den miesesten Tricks gegen Palin gearbeitet; beispielsweise, indem er eine Äußerung von ihr bis zur Unverständlichkeit schlecht übersetzte. Aber in der Tendenz lagen und liegen viele Berichte über Sarah Palin nicht so sehr weit entfernt von dem, was Pitzke für Berichterstattung hält (und was "Spiegel- Online" ihm als solche durchgehen läßt).

Ist es in den USA anders? Nicht unbedingt. Nur, daß es in den USA undenkbar wäre, in einem führenden Medium derart Meinung und Berichterstattung zu vermengen. Nur, daß diese Herabwürdigung von Sarah Palin nicht flächendeckend zu finden ist. Sondern auf der Linken, besonders bei weiblichen Kommentatoren.



Ein Beispiel ist die Art, wie ebenfalls am Samstag in der New York Times Maureen Dowd die Zicke rausließ und Palin mit einem Aufwand an offenen und versteckten Bosheiten fertigzumachen versuchte, wie das - sagt ein Klischee, dem ich mich hier nicht verschließe - wohl nur eine Frau mit einer Frau machen kann.

Palin zeige ein "erratic and egoistic behavior", ein launisches und egoistisches Verhalten. Was sie darbiete, das sei "girlish burbling", das Geplapper eines kleinen Mädchens.

Oder: "The White House can drive its inhabitants loopy. So at least Sarah Palin is ahead of the curve on that one". Das Weiße Haus könne seine Bewohner ausrasten lassen. Zumindest in dieser Hinsicht habe Palin schon die Kurve gekriegt.

Oder: "The musher must jump out of the dogsled when warmer climes call." Die Steuerfrau des Hundeschlittens müsse ja schließlich aus dem Schlitten springen, wenn wärmeres Klima rufe.

Und in diesem Zusammenhang zitiert die zungenfertige Kommentatorin einen Satz, der auch dem "Spiegel- Online"- Korrespondenten Marc Pitzke aufgefallen ist. Einen Satz der Pressesprecherin von Sarah Palin, Meg Stapleton: "The world is literally her oyster."



Jetzt lachen Sie bitte mit, lieber Leser. Als ich den Artikel von Pitzke am Samstag das erste Mal las und ihn für einen Beitrag in ZR vormerkte, da stand dort als Übersetzung dieses Satzes: "Die Welt ist eine Auster."

Die Welt eine Auster? Ja, warum nicht? Warum nicht auch eine Schildkröte oder ein Eichhörnchen? Bei all dem Unsinn, den Pitzke schreibt, könnte man einen solchen Aberwitz ja glatt überlesen.

Irgendwer bei "Spiegel- Online" hat ihn aber nicht überlesen, sondern herauszufinden versucht, was die Redewendung "The world is her oyster" denn wohl wirklich bedeuten könnte. Vielleicht hat er sich bei LEO informiert; jedenfalls ziert den Artikel von Pitze jetzt ein redaktioneller Kommentar:
Korrektur: Die ursprüngliche Version dieses Textes enthielt bei einer zitierten Redewendung einen Übersetzungsfehler. So sagte Palins Sprecherin über die Politikerin: "Die Welt liegt ihr zu Füßen" (nicht: "Die Welt ist eine Auster.").
Das ist nun freilich nicht mehr ganz so absurd wie die Übersetzung des Meisters der englischen Sprache Marc Pitzke, aber es liegt im jetzigen Kontext noch immer daneben.

Meg Stapelton reagierte auf die Frage, was denn Sarah Palin jetzt vorhabe. Und sie antwortete mit dieser Redewendung, die bedeutet: Sie hat alle Möglichkeiten. Ihr stehen alle Türen offen. Die Welt steht ihr offen.

Denn das ist der Sinn. Die Redewendung geht, wie man zum Beispiel im britischen Independent nachlesen kann, auf die Zeit zurück, als Austern noch reichlich vorhanden und an der Küste so etwas wie die Nahrung des Kleinen Mannes waren. Jeder konnte also damals beim Sammeln von Austern hoffen, eine Perle zu finden. Jedem stand dieses Glück offen. Zu Füßen lag ihm freilich die Welt damit nicht.



Was hat es nun, wenn man allen diesen Schmutz und diese Inkompetenz hinter sich läßt, tatsächlich mit dem Rücktritt von Sarah Palin auf sich?

Sie hat es gesagt: In einer frei gesprochenen, einer sympathischen, einer offenen Rede, die freilich Marc Pitzke als einen "ungebremste[n] Gedankenstrom ohne Punkt und Komma, frei von lästiger Syntax und voller Bandwurmsätze, die mittendrin beginnen und auf halbem Wege verenden" wahrgenommen hat.

Urteilen Sie selbst, lieber Leser. Hier finden Sie den Wortlaut der Rede; und zum Beispiel hier können Sie sich das Video ansehen. Eine Rede, nicht vom Teleprompter abgelesen, wie es der jetzige Präsident selbst bei kleinsten Anlässen zu tun pflegt, sondern frei gesprochen. Finden Sie, daß Marc Pitzke fair berichtet?

Wenn Sie die Rede gelesen oder gehört haben, dann wissen Sie, warum Sarah Palin zurücktritt. Sie begründet diesen Schritt so deutlich, wie man das überhaupt nur kann:
Some say things changed for me on August 29th last year – the day John McCain tapped me to be his running-mate – I say others changed. Let me speak to that for a minute.

Political operatives descended on Alaska last August, digging for dirt. The ethics law I championed became their weapon of choice. Over the past nine months I've been accused of all sorts of frivolous ethics violations – such as holding a fish in a photograph, wearing a jacket with a logo on it, and answering reporters’ questions.

Every one – all 15 of the ethics complaints have been dismissed. We’ve won! But it hasn't been cheap - the State has wasted thousands of hours of your time and shelled out some two million of your dollars to respond to “opposition research” (...)

It’s pretty insane – my staff and I spend most of our day dealing with this instead of progressing our state now. I know I promised no more “politics as usual,” but this isn’t what anyone had in mind for Alaska. (...)

So I choose, for my State and my family, more "freedom" to progress, all the way around... so that Alaska may progress... I will not seek re-eelction as Governor.

Einige meinen, die Dinge hätten sich für mich am 29. August des vergangenen Jahres geändert - an dem Tag, als John McCain mich zu seiner Kandidatin für die Vizepräsidentschaft ernannte. Ich meine, andere haben sich verändert. Lassen Sie mich dazu kurz etwas sagen.

Politische Funktionäre haben sich vergangenen August nach Alaska aufgemacht, um nach Schmutzigem zu graben. Das Ethik- Gesetz, für das ich eingetreten war, wurde ihre Waffe der Wahl. In den vergangen neun Monaten wurde ich aller Arten der mutwilligen Verletzung von Ethik- Richtlinien beschuldigt - zum Beispiel, auf einem Foto einen Fisch hochgehalten zu haben, eine Jacke mit einem Logo darauf getragen und die Fragen von Reporten beantwortet zu haben.

Diese 15 Anklagen wegen Verletzung der Ethik- Richtlinien sind sämtlich abgewiesen worden. Wir haben gewonnen! Aber das war nicht billig - der Staat hat Tausende von Stunden Ihrer Zeit verschwendet und ungefähr zwei Millionen Ihrer Dollars zum Fenster hinausgeworfen, um auf die "Nachforschungen der Opposition" zu reagieren. (...)

Es ist einigermaßen krank. Meine Mitarbeiter und ich verbringen den größten Teil unseres Arbeitstags damit, uns mit dem herumzuschlagen, statt unseren Staat jetzt voranzubringen. Ich weiß - ich versprach, daß es keine "Politik wie gehabt" mehr geben würde. Aber an so etwas hat niemand für Alaska gedacht. (...)

Folglich habe ich für meinen Staat und für meine Familie mehr "Freiheit" zum Vorankommen gewählt. Damit Alaska vorankommt. Ich werde mich nicht der Wiederwahl als Gouverneurin stellen.
Palin erläutert dann, warum sie ihre Amtszeit nicht zu Ende bringen will: Weil sie keine lame duck sein will; eine Amtsinhaberin, die nicht mehr zur Wiederwahl steht und also in ihren Entscheidungen gehandicapt ist.



Und was wird da alles spekuliert!

Den meisten deutschen Medien ist auf irgendeinem geheimnisvollen Weg die Einsicht zugewachsen, daß Palin sich in Wahrheit eine günstige Ausgangs- Position verschaffen will, um 2012 (!) für die Präsidentschaft zu kandidieren. Bisher hat noch kein Gouverneur, der sich um die Präsidentschaft bewarb, deshalb mehr als drei Jahre vor den Wahlen sein Amt aufgegeben; warum auch?

Oder ist sie vielleicht krank, oder ihr Mann Todd? Oder ist sie gar schwanger? Oder will sie einen gutbezahlten Job in der Industrie annehmen? Oder läuft gegen sie, wie jetzt kolportiert wird, am Ende ein Strafverfahren?

Ja, das ist alles möglich. Für keine dieser Spekulationen gibt es aber auch nur den Schatten eines Hinweises. Nada.

Wie wäre es, wenn man, solange nichts dagegen spricht, einfach Sarah Palin glauben würde, was sie sagt? Daß sie nämlich sich, ihren Mann, ihre Kinder nicht länger dieser Schmutzkampagne aussetzen wollte?



Für Kommentare bitte hier klicken. Titelvignette: Sarah Palin im Juni 2007. Von der Autorin Tricia Ward unter GNU Free Documentation License freigegeben.