16. September 2009

Wahlen '09 (17): Zwei Verlierer, drei Gewinner. Erosionen und Aufschüttungen in der deutschen Parteienlandschaft

Ob es am übernächsten Sonntag zu einer Mehrheit für Schwarzgelb reichen wird, kann niemand seriös vorhersagen. Es wird von der Tagesform abhängen; davon, ob noch das eine oder andere neue Thema auftaucht; vielleicht auch von einem Fehler, den sich einer der Spitzenleute auf den letzten Metern leistet.

Insofern bleibt die Wahl spannend. Verlierer und Gewinner andererseits zeichnen sich inzwischen einigermaßen deutlich ab. Verlieren werden die beiden Parteien, die den Namen "Volksparteien" immer weniger verdienen. Gewinnen werden die "Kleinen", die so klein nicht mehr sind.

Die SPD wird sehr wahrscheinlich ihr schlechtestes Ergebnis seit Bestehen der Bundesrepublik einfahren. Auch die letzte veröffentliche Umfrage (FG Wahlen, 11. September) sieht sie bei unter 25 Prozent; wie alle Umfragen seit Wochen. Sollte Steinmeier am Ende, sagen wir, 28 Prozent schaffen, dann wäre das schon ein großer Erfolg. Die SPD läge damit aber immer noch unter ihrem Allzeit- Tief seit 1949 (28,8 Prozent bei den Wahlen zum 2. Deutschen Bundestag am 6. September 1953).

Der Union dürfte es nur marginal besser gehen. In zwölf der sechzehn bisherigen Bundestagswahlen lag sie über 40 Prozent; ein Ergebnis, von dem Angela Merkel derzeit nur träumen kann. Wenn es gut für sie läuft, dann wird die Union ihre drei schlechtesten Ergebnisse (31,0 Prozent 1949; 35,1 Prozent 1998 und 35,2 Prozent 2005) vielleicht ein wenig übertreffen. In Anbetracht der Umfragen der letzten Wochen wäre es schon bemerkenswert, wenn sie über ihr viertschlechtestes (38,2 Prozent bei den Wahlen 2002) hinauskäme.

Das "Duell" am vergangenen Sonntag war also nicht nur - wie oft genug kritisiert wurde - ein Dialog der Vertreter von zwei Regierungsparteien; sondern es war auch die Präsentation der beiden großen absehbaren Verlierer des Jahres 2009. Und spiegelbildlich dazu sah man am Montag, als die Spitzenleute der drei Oppositionsparteien miteinander diskutieren durften, zugleich die drei vermutlichen Gewinner.

Nur ein einziges Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat die FDP mehr als zwölf Prozent geschafft; das war bei den Wahlen 1961, als sie für die Ablösung Konrad Adenauers durch Ludwig Erhard eingetreten war. Wenn nicht noch etwas ganz Unerwartetes geschieht, dann dürfte Guido Westerwelle den damaligen Gewinner Erich Mende deutlich distanzieren. Dreizehn Prozent sind der FDP schon fast sicher; fünfzehn Prozent sind keine unrealistische Erwartung.

Auf einen ähnlichen Erfolg dürfen sich die Kommunisten freuen. Als KPD hatten sie 1949 knapp sechs Prozent geschafft. Als ADF und DKP waren sie zwischen 1969 und 1983 weit unter einem Prozent geblieben. Als PDS lagen sie zwischen 1990 und 2002 nur ein einziges Mal (1998) mit 5,1 Prozent ganz knapp über der Fünf- Prozent- Hürde. Als Die Linke PDS schafften sie vor vier Jahren 8,7 Prozent. Diesmal dürften sie unter ihrem momentanen Namen Die Linke noch deutlich besser abschneiden. Ein zweistelliges Ergebnis liegt für sie im Bereich des Möglichen.

Auch den Grünen geben die derzeitigen Umfrage- Ergebnisse eine exzellente Chance, zweistellig zu werden. Jedenfalls dürften sie ihre beiden bisher besten Ergebnisse (8,3 Prozent 1987 und 8,6 Prozent 2002) übertreffen.



Die Großen werden kleiner; die Kleinen wachsen. Dieser sozusagen egalitäre Trend könnte die Quintessenz der Wahlen 2009 sein. Vielleicht gehen die Erosion auf der einen und die Aufschüttung auf der anderen Seite so weit, daß es künftig überhaupt nicht mehr sinnvoll sein wird, zwischen großen und kleinen Parteien eine Trennlinie zu ziehen. Die SPD dürfte am 27. September näher bei der FDP liegen als bei der Union; schon Äquidistanz wäre für sie ein Erfolg.

Wir Deutschen waren es seit den Wahlen von 1949 gewohnt gewesen, gewissermaßen zwei Hochgebirgs- Gipfel und eine Hügellandschaft vor uns zu haben. Am 27. September dürfte die Parteien- Landschaft eher einem einzigen Mittelgebirge gleichen; manche Berge höher als andere, aber doch nicht um Größenordnungen von diesen verschieden.

Woher kommt diese Veränderung? Wie meist in solchen Fällen kann man die Erklärung eher in einem langfristigen Trend oder eher in der aktuellen Situation suchen.

Aktuell werden die drei Oppositionsparteien dadurch gestärkt, daß sie eben Oppositionsparteien sind. In jeder funktionierenden Demokratie gibt es annähernd gleich viele Menschen, die mit der jeweiligen Regierung zufrieden und die mit ihr unzufrieden sind. Wenn eine Regierung einmal sechzig Prozent Zustimmung und nur vierzig Prozent Ablehnung erhält, dann ist das schon sehr viel. Meist liegen Regierung und Opposition näher beieinander.

In der zitierten Umfrage der FG Wahlen vom 11. September liegt die Regierung bei 59 Prozent und die Opposition bei 36 Prozent. Bei anderen Instituten ist die Differenz noch geringer; Forsa (Umfrage vom 9.9.) gibt der Regierung zum Beispiel 56 Prozent und der Opposition 38 Prozent.

So gesehen wären die Schwäche der Großen und die Stärke der Kleinen also nur Ausdruck der Tendenz der Wähler, eine Regierung nicht zu stark und die Opposition nicht zu schwach werden zu lassen. Aber ist das die ganze Erklärung?

Dagegen spricht, daß der einstige "Trend zum Zweiparteien- System" sich schon seit längerer Zeit umgekehrt hat. Bei den ersten Bundestagswahlen 1949 hatten Union und SPD zusammen 60,2 Prozent. Dieser Wert stieg danach kontinuierlich und erreichte 1976 mit 91,2 Prozent sein Maximum. Seither fällt er ebenso monoton ab: Bei den Wahlen 1980 lag er noch bei 87,4 Prozent, 1990 nur noch bei 77,3 Prozent und 2005 bei gerade noch 69,4 Prozent. Ganz ohne Große Koalition.

Welche Trends spiegeln sich in diesem umgekehrt U-förmigen Verlauf? Man kann darüber viel spekulieren.

Von einem "Zerfall der klassischen Milieus" sprechen Soziologen gern - des katholischen auf der einen Seite, desjenigen der Arbeiterschaft auf der anderen. Viel erklärt ist damit nicht; denn zu Volksparteien waren sowohl die Union als auch die SPD ja gerade dadurch geworden, daß sie über ihre klassischen Milieus hinaus Anhänger gefunden hatten.

Mir scheint die Erosion der Volksparteien eher so etwas wie eine Normalisierung zu sein.

Unter einem Verhältniswahlrecht ist eine Vielfalt von Parteien die Regel. Man kann das an der Weimarer Republik sehen, der italienischen Nachkriegsrepublik, der französischen Dritten Republik und der dortigen Vierten Republik. Erklärungsbedürftig ist nicht, daß wir jetzt auf ein Fünfparteiensystem zusteuern (oder sechs, wenn man CDU und CSU getrennt rechnet). Erklärt werden muß vielmehr der frühere Trend zum Zweiparteiensystem, obwohl wir kein Mehrheitswahlrecht haben.

Er mag am schieren Erfolg der Bonner Republik gelegen haben; am Erfolg vor allem ihrer Sozialen Marktwirtschaft. Über sie gab es einen breiten Konsens; wobei die Union mehr für den Markt und die SPD mehr für das Soziale stand.

Dieser Konsens endete mit dem Auftreten der Grünen, die Politik nicht als den Ausgleich von Interessen verstehen, sondern als ein Instrument zur Änderung der Gesellschaft und zur Erziehung der Bürger. Erst recht gilt das natürlich für die Kommunisten.

Die Grünen und die Kommunisten haben die deutsche Politik ideologisiert; mit Ausstrahlungen bis weit in die einstigen Volksparteien hinein. Nur die FDP steht noch gegen diese Ideologisierung. Das dürfte ein wesentlicher Grund für ihren gegenwärtigen Aufstieg sein.

Wohin er die FDP noch führen kann, ist im Augenblick ganz offen.

Die drei bisher "Kleinen" sind Parteien mit einem klaren Profil: Die Grünen und die Kommunisten stehen für zwei Varianten eines ideologisch gefärbten Etatismus. Die FDP steht ebenso eindeutig für eine offene, freiheitliche Gesellschaft.

Die beiden ehemaligen "Volksparteien" lassen ein solches Profil vermissen. Das war einmal ihre Stärke, weil sie dadurch integrativ sein konnten. Es könnte sich zunehmend als ihre Schwäche erweisen. Es könnte ihnen gehen wie den großen Warenhäusern, die vom Hosenknopf bis zum DVD-Rekorder alles im Sortiment haben: Der Kunde kehrt ihnen zunehmend den Rücken und kauft dort ein, wo das Angebot weniger gemischt ist.



© Zettel. Für Kommentare bitte hier klicken. Links zu allen Folgen dieser Serie finden Sie hier. Titelvignette: Der Reichstag. Vom Autor Norbert Aepli unter Creative Commons Attribution 2.5 - Lizenz freigegeben. Ausschnitt.