25. September 2021

Wahlempfehlung





Zwei Tage nach dem geschätzten Ko-Autor Llarian möchte ich – als zweiter verbliebener Führer dieses Netztagebuchs – an dieser Stelle, sozusagen „auf den letzten Drücker," ebenfalls eine Empfehlung für die morgige Bundestagswahl abgeben. Allerdings keine halbe, sondern eine dezidierte – wohl wissend, daß dies für niemanden ausschlaggebend sein wird und allein meine persönliche Einstellung reflektiert, der sich niemand anschließen muß. Allerdings meine ich auch, daß ich gute Gründe habe, so zu votieren, wie ich es tun werden – ganz ungeachtet meiner persönlichen Vorlieben und meiner politischen Einstellung.

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Ich habe fast 20 Jahre lang, von der Mitte der 1990er Jahre bis zur Bundestagswahl 2013, gut damit leben können, mich als politisch und wirtschaftlich liberal Grundierter, kulturell und ordnungspolitisch mit zunehmendem Alter auch zunehmend konservativ Verorteter, dem vierjährig stattfindenden Votum, zu dem die Bürger an die Urnen gerufen werden, zwar als Beobachter, aber nicht als Wähler teilzunehmen. Mit anderen Worten, während dieser Jahre habe ich der größten Teilmenge, den Nichtwählern angehört. Man mag das für Faulheit oder Desinteresse halten, auch für eine schändliche Vernachlässigung staatsbürgerlicher Pflichten – schließlich ist es (einmal von der gerichtlichen Anfechtung einzelner staatlich verordneter Maßnahmen abgesehen) die einzige Möglichkeit, als Bürger auf die Zusammensetzung der Regierung und ihre Ausrichtung Einfluß zu nehmen. Bei mir steckte allerdings weder Saumseligkeit noch Desinteresse dahinter – sondern eine in Jahrzehnten gewachsene Gewißheit. Man könnte es „Urvertrauen“ nennen. Nämlich die Überzeugung, daß die neue Regierung, gleich welche Partei die größte Zahl an Stimmen auf sich vereinigt und mit welchem Partner sie ins Bett steigt, keine desaströse Politik beschließen, dieses Land nicht in Richtung Abgrund steuern würde. Daß trotz der tagespolitischen Kabalen, allen Krisen und Gefährdungen zum Trotz, am Ende Augenmaß und Pragmatismus die Oberhand behalten würden. Zumal die Strategien, die sich in der alten „Bunzreplik“ Bonner Zuschnitts als die richtigen erwiesen hatten., so gar nichts mit der nominellen Einstellung der Parteien zu tun hatten, die gerade die Regieurng -und vor allem: den Kanzler – stellten.

Die „neue Ostpolitik“ Brandts war diesem sicherlich leichter gefallen, weil er nicht auf die Befindlichkeiten der alten CDU hinsichtlich des Wiedervereinigungsanspruchs Rücksicht nehmen mußte, sondern sich dem Status Quo widmen konnte, der Ende der 60er Jahre nun einmal darin bestand, daß es zwei deutsche Staaten gab, von denen der eine fest in den sozialistischen Block eingebunden war. Brandt ist damals von vielen Konservativen Verrat am „alten Deutschland“ vorgeworfen worden; aber de facto war seine Haltung weder „links“ noch „rechts,“ sondern der politischen Praxis geschuldet; die beiden Milliardenkredite von Franz Josef Strauß, der sich in Sachen konservativ von niemandem übertrumpfen ließ, im folgenden Jahrzehnt verdankten sich der gleichen Haltung, Schmidts konsequente Haltung und sein Eintreten für den NATO-Doppelbeschluß (das ihn die Kanzlerschaft kostete) hatten nichts spezifisch sozialdemokratisches für sich; ebensowenig wie Kohls glückliches Zustandebringen der deutschen Wiedervereinigung. Obwohl es unter Oskar Lafontaine damals schon Einspruch gegen dieses Projekt gab, hätte man sich in jener Jahrzehnten wohl blind darauf verlassen können, daß auch ein Kanzler aus der SPD einen Kurs gefahren wäre, der sich an der Kunst des Möglichen und nicht der Ideologie orientiert hätte. Selbst das Eintreten von Rot-Grün für die militärische Intervention im Kosovo 199 – von vielen als Sündenfall der BRD nach dem Kriegsende 1945 empfunden – verdankte sich der Erinnerung an die ersten 4 Jahre des Konflikts auf dem Balkan und der Einsicht, daß das Sterben von einer Drittelmillion Menschen hätte beendet werden können, wenn sich die NATO – und mit ihr Deutschland – schon 1992 zu einem robusten militärischen Eingreifen verstanden hätte.

Mit anderen Worten: es gab ein gewisses Grundvertrauen, daß man sich sowohl auf das politische Personal wie auch auf sein Handeln verlassen konnte. Im Rückblick registriert man verwundert, daß sich dergleichen in drei Wellen durch die Jahrzehnte der alten Bonner Republik hindurchzieht. In den fünfziger und frühen 1960er Jahren „konnte die CDU nichts falsch machen;“ vom Wirtschaftswunder mit seiner Absage an „alle Experimente“ sozialistischer Couleur, von der Westbindung, dem NATO-Beitritt bis zur Wiederbewaffnung; ab 1965 bis hin zur zum Ende der Schmidt’schen Kanzlerschaft galt dasselbe für die Genossen von der SPD; und danach wieder für Kohl & Co. Selbst die Arbeitsmarktreformen unter Gerhard Schröder („Hartz IV“), so umstritten und angefeindet sie im Vorfeld waren, reihen sich aus dem Rückblick in diese Ketten des Aufs-Richtige-Abonniert-Seins ein, als letztes Glied. Obschon es auch schon zur Ägide Schröder bedenklich im Gehäuse zu knirschen begann. Es war auch das erste Mal, daß sich das an der Symbolpolitik festmachen ließ, auf die ich an dieser Stele in der letzten Zeit ja immer wieder zurückgekommen bin. Ein Bild aus dem Politikteil der FAZ, auf die ich damals noch abonniert war, ist mir ins Gedächtnis gebrannt, das dort in der ersten Februarhälfte des Jahres 2000 erschien – gewissermaßen zum Auftakt des „neuen Jahrtausends.“ Das obere Drittel der Seite füllend, zeigte es das halbe Kabinett Schröder, wie sich da mehr als ein halbes Dutzend Minister, verstärkt um einige Staatssekretäre, im Berliner Regierungsbezirk auf Tretrollern (!) – neudeutsch „Kickboards“ genannt - auf den Weg zum Reichtstagsgebäude befand. Schon vor 20 Jahren schien mir das ein bedenkliches Symbol für die Betragen unserer politischen Kaste, für ihr Nicht-Ernst-Nehmen ihrer Aufgaben, für die Neigung, kindisches Betragen an die Stelle von pragmatischem Handeln und Realitätssinn zu setzen.

Sogar das erste halbe Jahrzehnt von Frau Merkels ewiger Kanzlerschaft zehrt aus der Rückschau noch von der „alten Bonner Behäbigkeit.“ Von dem Eindruck einer schläfrigen Wurschtelei im Alltäglichen, deren herausragendstes Ereignis das noch nie vorher dagewesene Wahlergebnis der FDP bei der Bundestagswahl 2009 war und ihr Versagen, den Entscheidungen des Parlaments auch nur die geringste Spur davon aufzudrücken, und in dem den Auftrag der Parteien nur darin zu bestehen schien, daß man mal folgenlos „über die Abschaffung des Solidaritätszuschlags und der Steuerprogression gesprochen“ hatte. Mit Merkels desaströser Entscheidung zum Atomausstieg im Sommer 2011 änderte sich das. Als Warnung kann man aus dem Rückblick ihr Abtun von Thilo Sarrazins erstem Buch „Deutschland schafft sich ab“ als „nicht hilfreich“ im Jahr davor erkennen. Seitdem ist die Politik in diesem Land nur zu einem Ausdruck des sturen Willens dieses obersten, selbstherrlichen, von keinem Zweifel angekränkelten Wesens geworden, sind Medien und politisches Personal nur noch einer blinden, gutmenschlichen Wir-retten-alle-Welt-und das Klima-gleich-dazu- Ideologie verpflichtet, wird jeglicher Widerspruch als Ausdruck einer totalitären, unakzeptablen Einstellung verteufelt, gibt es in diesem Land keine ernstzunehmende Auseinandersetzung mehr darüber, welche Lösungsansätze es geben könnte, um die Probleme, die uns Frau Raute und ihre servilen Schranzen aufgebürdet haben, wenigstens ansatzweise in den Griff zu bekommen. Stattdessen werden immer neue Probleme geschaffen, Grenzen geschleift, Verpflichtungen eingegangen, die Gewaltenteilung außer Kraft gesetzt und das soziale und materielle Kapital verbrannt, es gebe es kein Morgen. Was durchaus zutreffen könnte. Natürlich GIBT es ein Morgen: wir werden das Jahr 2025 ebenso erleben wie das Jahr 2030 (egal, ob dieses Datum das Ende aller Verbrennungsmotoren in diesem Land markiert oder ob sich bis dahin wieder ein Rest an Vernunft durchgesetzt hat), und die jüngeren unter uns werden auch noch das Jahr 2050 erleben. Aber so, wie es momentan – seit 10 Jahren immerhin! – läuft, stehen die Chancen gut, daß es in diesem Land dann keinerlei öffentliche Sicherheit gibt, keinerlei Wohlstand, daß wir in einem ruinierten Land im Zustand permanenter Alltagsgewalt leben werden. Dieses Land lebt von der Substanz, und mit dem gegenwärtigen Kurs und dem Personal, wie wir es jeden Tag in den Medien präsentiert bekommen, wird sich das nicht ändern. Und: diese Substanz wird keine drei Jahrzehnte vorhalten.

Es war diese Erkenntnis, die mich Anfang 2017 dazu gebracht hat, einen Mitgliedsantrag bei der Alternative für Deutschland zu stellen. Nicht, weil ich die kleinste Hoffnung hegte, damit irgendetwas „bewirken“ zu können. Die 4 Jahre seit der Gründung hatten mehr als deutlich gemacht, daß diese Partei, ihr Personal und alles – ALLES! - , wofür sie in ihrem Programm eintrat, von Politik und Medien ausnahmslos verteufelt werden und in die Nähe des Totalitarismus gerückt würde. Nichts davon findet sich im Programm, nichts in den Beschlüssen. Aber das jahrelange unablässige Trommelfeuer der Medien hat hier ganze Arbeit geleistet. Ich habe mich trotzdem zu diesem Schritt entschlossen, obwohl ich mir sicher sein konnte, von Bekannten unumwunden als „Nazi“ bezeichnet zu werden: zum einen aus Gründen der Selbstachtung. Und dann, um bei Bedarf glaubhaft machen zu können: Nein, ICH habe nicht mitgetan, ich habe getan, was mir an bescheidenen Mitteln als Staatsbürger zur Verfügung steht, um den Weg dieses Landes in einer zweite DDR nicht billigend in Kauf zu nehmen. Wie schon gesagt: ich mache mir keinerlei Illusionen, daß sich der Kurs dieser Politik auch nur um einen Millimeter ändert, aber noch sind mir diese Möglichkeiten nicht verwehrt.

Und aus diesem Kalkül ergibt sich auch meine – wie gesagt: rein persönliche – Wahlempfehlung. Die für die blaue Schwefelpartei. Und nicht nur, weil ich hier pro domo rede. Ich bin mir sehr wohl bewußt, daß viele einen geradezu physischen Abscheu vor einem solchen Vorschlag empfinden werden, selbst wenn sie mit vielen Punkten des Parteiprogramms übereinstimmen – weil ihnen manche prominenten Vertreter zu suspekt sind (man wird es mir sicher nicht ankreiden, wenn ich hier die Namen Höcke und Gauland nenne), weil die Neigung mancher Selbstdarsteller zu provokanten Geschmacklosigkeiten eine an-sich-gute Sache desavouiert – und nicht zuletzt, weil eine Wahl dieser Partei mit hundertprozentiger Sicherheit eines ist: wirkungslos. Die Fundamentalopposition gegen die AfD ist in unserem politischen System, auf in kommenden Bundestag, fester in Erz gegossen als Schillers Glocke. Aber genau aus diesem Punkt heraus möchte ich meinen Rat begründen: Egal, was man von der Programmatik der Alternativen hält, selbst wenn man sie zu großen Teilen ablehnt. Es ist damit kein Risiko verbunden. Die Chance, daß etwas davon in tatsächliche Beschlüsse umgesetzt werden kann, liegt bei genau Null Prozent.

Fast nichts ist über das morgige Wahlergebnis vorauszusagen. Auch meine Kristallkugel ist beschlagen und läßt nicht einmal Umrisse ausmachen (ich erinnere an dieser Stelle daran, daß ich das Ergebnis der Wahl von 2017 an dieser Stelle korrekt vorausgesagt habe: die Fortsetzung der Großen Koalition nach langwierigen Verhandlungen im Vorfeld. Freilich brauchte es dazu angesichts der damaligen Konstellation und der Machtgier der beiden geschrumpften Riesensaurier SPD und CDU auch nicht die Sehergabe eines Nostradamus). Aber daß eine Koalition, WENN sie denn zustande kommt, „Blau“ so konsequent schneiden und mißachten wird wie in den letzten 4 Jahren, darauf kann man Gift nehmen. Nichts anderes zeichnet sich ab. Nach den vor drei Tagen veröffentlichten letzten Umfragen wissen 4 von 10 Wählern nicht, wem sie ihre Stimme geben werden – ja nicht einmal, OB sie überhaupt ihr Votum abgeben werden. Zwei Unsicherheitsfaktoren sind das Abschneiden der Linken und der Freien Wähler: Fallen die ersten unter die 5-Prozent-Marge, fällt ein Großteil der Stimmen aus dem nominell „linken“ Lager fort und erhöht damit den Anteil jener Wähler, die sich als „konservativ“ erachten; falls die Freien Wähler über diese Grenze kommen, erhöht sich dieser Anteil noch einmal.

Llarian hat es vor zwei Tagen schon geschrieben: es geht nicht an, daß die Parteien, die in den letzten 10 Jahren den Weg ins kommende Chaos vorbereitet, beschlossen und in jedem Punkt mitgetragen haben, dafür auch noch belohnt werden. Das ist, wie mein oben erwähnter Entschluß, eine Frage der Selbstachtung – auch wenn unterm Strich das morgige Wahlergebnis von SPD und CDU dies konterkarieren wird. Es kommen aber ein paar Seitenaspekte hinzu. Der eine besteht darin, daß die Programmatik der „Altparteien“, ihre angestrebten Ziele, in den vier Jahren der nächsten Legislaturperiode absehbar keine Rolle spielen. Zu groß sind die Probleme geworden, die die Regierung Merkel seit der Grenzschleifung von 2015 und darüber hinaus in den letzten 2 Jahren angehäuft hat. Die Rechnungen dafür werden in den kommenden Jahren präsentiert werden. Die Kosten der Coronakrise, der Wahnwitz des „Wiederaufbauprogramms“ der EU in Billionenhöhe, die gerade angelaufene Inflationsspirale, die durchaus zum Ende des Euro und zur Vernichtung aller immateriellen Werte führen könnte: all das wird keinerlei Spielraum für irgendwelche ökosozialen Traumtänzereien lassen. Dabei ist EIN Punkt besonders wichtig: der bevorstehende „Atomausstieg.“ In etwas mehr als 9 Wochen, am 31. Dezember 2021, werden die Meiler Brokdorf, Emsland und der Block C des AKW Grundremmingen vom Netz genommen; die verbleibenden drei Kraftwerke folgen genau ein Jahr später (mit einer Gesamtleitung von fast 5 GW). Damit ist der Kraftwerkspark dieses bisherigen Industrielandes nicht mehr in der Lage, die Grundlast an elektrischer Energie zur Verfügung zu stellen. Wir sind dann auf Gedeih und Verderb auf den Import von Strom und Gas zur Stromerzeugung aus dem Ausland angewiesen, und schon jetzt ist absehbar, daß es ohne einschneidende Kontingentierungen – in Klartext: Stromsperren im privaten Sektor – im Land der weltweit höchsten Strompreise nicht gehen wird. Auch ist noch nicht absehbar, wie lange sich die ewige Verlängerung des Corona-Ausnahmezustandes bruchlos in die Zukunft fortsetzen läßt. Irgendwann muß es damit ein Ende haben. Es ist schlicht nicht vorstellbar, daß das gegenwärtige Von-Monat-zu-Monat sich einfach weiter zieht. Vielleicht noch über den kommenden Winter, aber kaum noch über den Sommer des Jahres 2022. Daß das Versprechen, hier zum früheren Normalzustand zurückzukehren, einfach nicht eingelöst wird, und stattdessen eine Spaltung der Gesellschaft von Geimpften gegenüber Nichtgeimpften in Viertgeimpfte gegenüber „nur“ Drittgeimpften“ bruchlos verlängert wird. Unsere politische Kamarilla spielt auf Zeit, und sie spielt ein Spiel, aus dem sie nicht mehr aussteigen kann. Der Zusammenbruch dieses Kartenhauses ist unvermeidlich, und er ist nur noch eine Frage der Zeit. Aber niemand kann sagen, wann das der Fall sein wird und an welcher Stelle das System zuerst zu kollabieren beginnt.

All diese letztgenannten Punkte sind keine politischen Punkte. Sie sind höher angesiedelt als jede Politik. Daß das erbärmliche politische Personal, das sich hier seit Monaten als Germany’s Next Superkanzler präsentiert, diesen Aufgaben in keiner Weise gewachsen sein wird, ist offenkundig. Sie können nur so scheitern wie bei der Ahrflut; nur daß die Folgen von Inflation und ökonomischem Einbruch kein punktuelles Ereignis darstellen, das der Rest dieses Landes unberührt läßt. Eins aber ist klar: an diesen Gegebenheiten ändert das morgige Wählervotum kein Tintillium.

Aus diesem Factum brutum ergibt sich aber das, was in meinem Vorschlag das letzte Residuum von „taktischem Wählen“ darstellt. (Auch dies ist ein Kennzeichen des Niedergangs unseres Systems: In früheren Jahren war Stimmensplitting mit Hinblick auf Personalentscheidungen gang und gäbe; die FDP hat eine ganze Generation damit Wahlkämpfe betrieben. Diesmal findet dergleichen nur noch im Wahlkreis 196 in Thüringen statt, wo es um die Direktwahl von Hans-Georg Maaßen in den Bundestag geht. Aus diesem Grund hat sogar die AfD dort aufgerufen, mit der Erststimme für die CDU zu votieren. Dabei gilt aber wie oben: auch wenn Herr Maßen es ins Parlament schafft, ist dies ein rein symbolischer Akt. In der Praxis wird er ebenso kaltgestellt und ignoriert werden wie Erika Steinbach in der abgelaufenen Legislaturperiode.) Es kann diesmal nicht darum gehen, einer der bisherigen Regierungsparteien Stimmen zu geben, als Bestätigung und Belohnung für den Kurs ins Verderben – in der vagen Hoffnung, die sich verschlechternden Zustände würden einen Läuterungsprozeß auslösen. Das mag zwar der Fall sein, wie oben dargelegt. Aber als Wette auf die Zukunft sollte man das nicht abschließen. Eine Option für eine der kleineren Oppositionsparteien läuft immer die Gefahr, sie zu entwerten, wenn diese Partei am Quorum der 5% scheitert. Stattdessen erhalten die Stimmen für die Parteien, die es darüber schaffen, ein größeres Gewicht. Nicht viel, aber mathematisch genau bestimmbar. Es ist absehbar, daß es in ein paar Monaten zu irgendeiner Form einer neuen Großen Koalition kommen wird: ob nun RRG, GroKo die III. – ob mit oder ohne gelbe oder grüne Randverzierung. Einmal von der angesprochenen Hoffnung auf notgetrieben Pragmatismus abgesehen: wer gegen diese Möglichkeiten opponieren möchte, dem bleibt nur die Wahl einer des beiden Parteien, von denen man sich sicher sein kann, daß sie tatsächlich im Parlament vertreten sein werden und daß sie sich einem Schulterschluß zur weiteren Schußfahrt in Richtung Wand verweigern werden.

Die Matrix dieses Kalküls sieht nun folgendermaßen aus: Mit Blau kann man sich als Wähler absolut sicher sein, daß die AfD dafür nicht in Frage kommt. Sowohl aus eigenem Antrieb wie auch aus dem der anderen Parteien, die unter keinen Umständen – unter KEINEN – irgendwelche Konzessionen an sie machen werden. Mit der FDP haben wir den Unsicherheitsfaktor, daß sie versucht sein könnte, Zünglein an der Waage zu spielen und etwa durch Beteiligung an der Neuauflage einer Großen Koalition die Grünen oder Linken außen vor zu halten, indem sie ihren Platz einnimmt. Erfahrungsgemäß – 2009 läßt grüßen – würde es nichts bewirken, und sie würde bei jeder neuen Fehl-Weichenstellung kaltgestellt, also überstimmt. Wiederspruch wäre nur um den Preis eines Zerbrechens der Regierungskoalition denkbar. Ob Gelb das angesichts der Krisen, die ich auf uns zukommen sehe, riskieren würde (die Lehre aus Weimar, 1930 bis 1932, unter dem Zeichen der Weltwirtschaftskrise, sagt: ja).

Mein Kalkül ist nun: es sollte Ziel sein (soweit man beim Wählen von „Ziel“ sprechen kann; der Wähler sollte sich, kann sich, höchstens darauf kaprizieren, die Partei möglichst stark zu machen, mit deren Zielen er sich am ehesten identifizieren kann), die Opposition, und zwar die gesicherte, möglichst stark zu machen. Auch wenn es nur dazu dient, ein letztlich nutzloses Zeichen zu setzen. Es ist absehbar, daß die AfD morgen nicht über 12, vielleicht 15 Prozentpunkte hinauskommen wird. Aber das sollte niemanden davon abhalten, es nicht wenigstens zu versuchen. Und je stärker ihr Stimmenanteil wird, desto schwerer wird es dem Rest der Altparteienkartells, diese Wähler als Unverantwortliche, Verstockte, kurz: als gefährliche Reaktionäre und Feinde der Demokratie abzutun. (Ich weiß: in den letzten vier Jahren ist aus genau dieser Idee genau nichts geworden.)

Und – und hier komme ich zu meinem entscheidenden Punkt – je stärker den Stimmenanteil der AfD wird, desto schwieriger wird des für die Konstellation der übrigens Parteien, zu einem Zusammenschluß zu finden, der eine parlamentarische Mehrheit für sich verbuchen kann. Wenn Linke, SPD und Gründe zusammen auf weniger als 40 % kommen; wenn es auch bei Schwarz,-Rot-Grün nicht zu einer Mehrheit kommen sollte, bleiben nicht sehr viele Möglichkeiten. Entweder eine Minderheitenregierung unter Tolerierung großer Teile der nominellen Opposition, ein Schulterschluß unter Einbeziehung aller Kräfte mit dem einzigen Ziel, den vermeintlichen Erzfeind draußen zu halten (gewissermaßen die Kesset-Lösung) oder aber der Verzicht auf eine Regierungsbildung. In diesem Fall würde die bisherige Regierung unter Frau Merkel geschäftsführend im Amt bleiben, mit sämtlichen Ministern, aber außerstande, Gesetzesänderungen einbringen und beschließen zu können. Nicht einmal der Austausch eines Ministers wäre ihr möglich. Solange, bis durch den Bundespräsidenten das Parlament aufgelöst und Neuwahlen angesetzt würden. Und das, so muß ich eingestehen, wäre das, was mir für die nächste Zeit – nicht unbedingt die vollen vier Jahre – bei allem Zynismus als modus vivendi vor Augen steht. Nicht wünschenswert. Es gibt angesichts der sich abzeichnenden Zustände und dem unglaublichen Versagen dieser Regierung in der Vergangenheit keine wünschenswerten Zustände mehr. Aber als eine reine Verwaltung, die eben ihre Lähmung und Unfähigkeit jedem, wirklich jedem, der sie noch nicht erkannt hat, vor Augen führt, Tag für Tag, und die nicht mehr in der Lage ist, Grundlagen für eine weitere Verschlechterung zu beschließen.

Ein zutiefst zynisches Kalkül, zugegeben. Aber mehr erwarte ich von der Führung dieses Landes nicht mehr. Egal, von wem sie gestellt wird.



U.E.

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