7. Dezember 2021

"Donnerkarl der Schreckliche"





Angesichts der medialen Dauerpräsenz eines unserer notorischsten Coronatoren mit der Lizenz zum Tröten – nennen wir ihn der Form halber kurz „Klabauterbach“ oder „Propellerkarl“ – fallen dem kleinen Zyniker, die mir beim Schreiben stets über die Schulter blickt, seit einigen Vierteljahren hartnäckig diese Zeilen aus Paul Scheerbarts Bändchen „Katerpoesie“ aus dem Jahr 1909 ein:

"Donnerkarl der Schreckliche"

Ein Heldengedicht

Reich mir meine Platzpatronen,
denn mich packt die Raserei!
Keinen Menschen will ich schonen,
alles schlag ich jetzt entzwei.

Hunderttausend Köpfe reiß ich
heute noch von ihrem Rumpf!
Hei! das wilde Morden preis′ ich,
denn das ist der letzte Trumpf!
Welt, verschrumpf!

Eine nette Volte erhält diese Assoziation durch eine Liste von Ankündigungen, mit denen die Antwort der deutschen Politik auf Alphonse Daudets Tartarin von Tarascon seit längerem den Aufbruch ins letzte Gefecht ankündigt, die seit Mitte November auf diversen sozialen Medien, u.a. Twitter zirkuliert:

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Oktober 2020: „Wellenbrecher-Shutdown ist unsere letzte Patrone“

Februar 2021: „Schnelltests sind unsere letzte Patrone“

Oktober 2021: „Viele Patronen haben wir nicht mehr“

November 2021: 2G und Maskenpflicht an Schulen sind „unsere letzten Patronen“

— Karl Lauterbach

Im Einzelnen: am 2. Oktober 2020 titelte die B.Z.: „“Lauterbach fordert Kontrollen in Wohnungen! Wellenbrecher-Shutdown letzte Patrone.“



Im Interview mit dem Fernsehsender RTL erklärte derselbe Herr am 23. Februar 2021 wörtlich: „Schnelltests sind unsere letzte Patrone.“



In der Sendung von Anne Will hier es am 31. Oktober 2021: „Mit einem weiteren Einspielfilm über verstärkten Druck auf Ungeimpfte in Österreich und Italien lenkte Anne Will die Diskussion in Richtung möglicher weitergehender Maßnahmen. "Viele Patronen haben wir nicht mehr", stellte Karl Lauterbach dazu fest, die Auslastung der Intensivbetten liege bereits bei 95 Prozent. Sein Vorschlag: "2G, wo immer möglich, ist das eine, und zum zweiten Booster-Impfungen, so schnell wie es geht".“

Am 11. November 2021, pünktlich zum Beginn der närrischen Zeit, vermeldete der Münchner „Merkur“ aus der Etappe: „Die genannten beiden Maßnahmen - 2G und Maskenpflicht an Schulen - sind laut dem Rheinländer „unsere letzten Patronen“.“

Überhaupt neigt der Herr, der unverhoffter Weise während der vergangenen 20 Monate den Marschallstab in seinem Tornister entdeckt hat, als Generalfeldmarschall in der Entscheidungsschlacht gegen das Virus nicht dazu, rhetorisch Gefangene zu machen. Der Frontbericht von n-tv meldete am 28. Oktober 2021: „Lauterbach gegen Lockdowns. Ungeimpfte bis März geimpft, genesen, oder leider verstorben.“



Mit den militärischen Metaphern hat es unser Karl. Skeptikern könnte freilich eine Parallele zu früheren Waffengängen aus der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts auffallen. In der schon zitierten Berliner Zeitung hieß es am 14. März 2021: „In einem flammenden Appell schrieb Karl Lauterbach bei Twitter, man dürfe „jetzt nicht resignieren. Es sind nur noch wenige Monate, die dritte Welle ist letztes Gefecht“.“

Und gut drei Wochen später, am 6. April 2021, las man im Münchner „Merkur“: „Angesichts der Virus-Variante B.1.1.7 sehe Lauterbach keine andere Möglichkeit, als erneut in einen harten Lockdown zu gehen. „Hätten wir damals früh gehandelt, wäre uns das, was jetzt kommt, erspart geblieben“, so die Analyse des Politikers. „Wir müssen nochmal in ein letztes Gefecht mit dem Virus gehen.“

Immerhin ist es von einer gewissen Konsequenz, daß die Regierungspartei SPD, die gestern die Besetzung der Ministerposten mit Kämpen aus der eigenen Partei bekanntgegeben hat, sich entschied, den Herrn Karl (Ähnlichkeiten mit der Figur des unvergessenen Helmut Qualtinger sind weder vorhanden noch beabsichtigt) zum Bundesminister für Gesundheit zu ernennen. Daß er nicht jedes einzelne Mal mit seinen Prognosen falsch gelegen hat, liegt in der Natur der Sache: auch eine stehende Uhr zeigt zweimal am Tag die korrekte Zeit an. Dafür aber stets con brio, und gern auch das Gegenteil verkündend, was in der Woche zuvor noch Kathederwahrheit war. Aber der faktenfreie Alarmismus, der sägende Sirenenton, die immergleichen Versatzstücke legen nahe, daß es hier längst nicht mehr um einen sachlichen, pragmatischen Umgang mit der Virus geht – wenn es denn in der deutschen Politik der letzten 20 Monate je darum gegangen sein sollte. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß nur noch das Motto gilt: The Show Must Go On. Oder um zu wiederholen, was ich seit Monaten an dieser Stelle geschrieben habe: diese Politik ist zu nichts mehr imstande – außer symbolkräftige, sofort einleuchtende Bilder für ihre Unfähigkeit zu finden. Daß Gestalten wie Herr Lauterbach als Gesundheitsminister, Frau Roth als künftige Staatsministerin für Kultur und Medien im Kabinett Scholz und Frau Baerbock als Außenministerin dieses Staates agieren sollen, zeigt vor allem, daß die deutsche Politik von ihrer denkbar bösartigsten und groteskesten Karikatur mittlerweile nicht mehr zu unterscheiden ist. Der kleine Zyniker könnte sich grimmig auf einen gewissen, wenn auch schlichten gesteigerten Unterhaltungswert freuen angesichts dieses manifesten Panoptikums – wenn da nicht der Umstand wäre, daß dieses Staatswesen angesichts der sich auftürmenden Krisen und Auswirkungen der katastrophalen Weichenstellungen der letzten 10 Jahre – vom Atomausstieg bis zur sich abzeichnenden Wirtschaftskrise, die Migrationskrise und der sich verschärfende Ost-West-Konflikt - auf Gedeih und Verderb den Fähigkeiten diese Gestalten ausgeliefert sieht.

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Paul Scheerbart, 1863 in Danzig geboren und 1915 mit 52 Jahren in Berlin nach kurzer Krankheit im Alter von 52 Jahren gestorben, zählt, glaubt man den Literaturgeschichten, zu den Klassikern der phantastischen Literatur in Deutschland und zu den Pionieren jeder Literaturgattung, die seit dem Ende des 2. Weltkriegs auch bei uns als Science Fiction bekannt ist. Es gibt dabei nur einen kleinen Schönheitsfehler: Zum „Klassiker“ fehlt ihm die Bekanntheit, die nachgeborene Leserschaft. Keiner seiner unzähligen Texte ist es zu einer Bekanntheit, zu einem Wiedererkennungswert, selbst unter Spezialisten, gebracht – anders als etwa die Texte von Kurd Laßwitz, dem zweiten Pionier des Genres aus der wilhelminischen Ära. Die gut anderthalb Dutzend Bände und Bändchen, die sein Oeuvre ausmachen und die zwischen 1897 und 1916 bei fast ebenso vielen Verlagen in kleiner Auflage erschienen sind, tauchen in den Listen der Genre-Bibliographien auf, vom „Asteroidenroman“ „Lesabendio“ (1913 im München bei Georg Langen publiziert) bis zur Groteske „Rakkox der Billionär“ (190 im Leizpiger Insel-Verlag erschienen) aber sie sind samt und sonders als „verschollene Bücher“ zu werten. Versuche, ihm in den letzten 70 Jahren eine gewisse Präsenz zu verschaffen, sind nie über punktuelle Episoden hinausgelangt: von der Auswahlausgabe, die 1962 beim Goverts Verlag erschien, über die Werkausgabe in 10 Bänden, die zwischen 1988 und 1966 in der „Edition Phantasia“ erschienen sind. Die letzten Bände sind in einer Auflage von jeweils 300 Exemplaren aufgelegt worden – und es ist bezeichnend, daß die Netzseite des Verlages, die sie - nominell – immer noch als „lieferbar“ listet, die Preise der einzelnen Bände immer noch (im Jahr 2021!) in D-Mark aufführt.

Das mag vor allem damit zusammenhängen, daß Scheerbarts Werkchen, und das nicht erst seit heute, durchaus in die Kategorie „unlesbar“ fallen. (Auch Arno Schmidt, der dem Auswahlband von 1962 einen fulminanten Verriß in der ZEIT widmete, faßte den Stil bündig als „Seifenblasen und nordisches Gemähre“ zusammen). Scheerbart arbeitet keine Einfälle stringent aus und extrapoliert Situationen, die sich aus den exotischen Kulissen seiner Erzählungen ergeben. Vielmehr reiht er einen krausen Einfall an den anderen, unbekümmert um jede Erzähllogik, Charakterzeichnung und Plausibilität. Auf kurze Strecken mag das erheiternd wirken, aber nach ein paar Seiten stellt sich auch beim gutwilligen Leser der Eindruck ein, in einem irrlichternden Schaumbad ohne narrativen und unterhaltenden Nährwert umherzuirren.

Es war am Gestade des Großen Ozeans im Lande Mexiko am 5. Juli des Jahres 2209 n.Chr. Da rief der Luft-Yacht-Besitzer Carl Winkler: …“ („Die Glaskugel. Eine Sonnenring-Novelette“ 1912)


Die großen Bäume tasteten mit ihren langen Armen immer heftiger in der Luft herum und konnten sich gar nicht beruhigen; sie wollten durchaus wissen, was sie einst waren, also sie noch nicht Astarme hatten.

Der Asteroid Juno war eine dicke runde Scheibe – so wie ein großer irdischer Eierkuchen sah er aus; der Durchmesser dieses Kuchens betrug noch nicht einmal zweihundert Kilometer, dick war er höchstens fünf – aber so dick war er nur in der Mitte, den Rändern zu wurde er immer dünner. („Die großen Bäume. Eine Juno-Novelette,“ ebenfalls 1912)


Vielleicht überrascht es nicht, daß Scheerbart, weltfremder Sonderling mit dem äußeren Habitus eine preußischen Schalterbeamten und zeitlebens am Rand des Existenzminimums in billigen Mietszimmern mehr vegetierend als lebend, sich irgendwann (laut den Erinnerungen seines Boheme-Freundes Erich Mühsam ab dem Jahr 1907) in den Kopf setzte, praktisch-faktisch an die Konstruktion eines Perpetuum Mobile zu gehen, ungeachtet aller bisherigen Mißerfolge und dem energischen Veto der „Schulgelehrten“ – was für Eigenbrötler seines Schlages in aller Regel Ausweis genug darstellt, hier auf dem richtigen Weg zu sein. (Als Beiseit sei vermerkt, daß Autoren im Bereich der drei Facetten der phantastischen Literatur in aller Regel gebührenden Abstand zu den Manifestationen ihres Genres halten, die angelegentlich im Zeichen eines medialen Okkultismus durchs mediale Sommerloch geistern: Science-Fiction-Autoren halten sich gemeinhin von alle Spekulationen um „seltsame Flugobjekte“ viele Lichtjahre entfernt, und Verfasser von Geistergeschichten würden nicht im Traum daran denken, an Horoskope oder „Kontakte mit der Geisterwelt“ zu glauben. Eine unrühmliche Ausnahme in der Genreliteratur bilden die Bemühungen des Herausgebers von „Astounding Science Fiction,“ John W. Campbell, Jr., der in den 1940er Jahren den Grundstein für die moderne Science Fiction lieferte, aber in den letzten beiden Jahrzehnten seiner Herausgeberschaft bis zu seinem Tod 1971 immer exzentrischeren „Pionieren“ eine Bühne bot und als ihr Sprachrohr agierte: von der „Dianetik“ seiner Stammautoren L. Ron Hubbard über den „Dean-Antrieb“ – ein angeblich „reaktionsloser“ Antrieb, der locker die Newton’schen Gesetze außer Kraft setzen sollte bis hin zur „Hieronymous Engine,“ bei der angeblich Schaubilder elektronischer Schaltkreise den Einsatz von tatsächlichen Transistoren und Widerständen ersetzen sollten)

Scheerbarts Bierzeitungspoesie, wie sie sich in seinem auflagenstärksten Bändchen zu Lebzeiten, der „Katerpoesie,“ 1909 bei Rowohlt in Leipzig erschienen, zeigt, bildet keine Ausnahme zum obigen Verdikt. Knittelverse wie das „Indianerlied“ („Murx den Europäer! / Murx ihn! / Murx ihn! Murx ihn! / Murx ihn ab!“) oder „Was ist ein Original? / Ein Ei ohne Schal‘. – / Zum Fressen für die Helläugigen … / Wie lebt ein Original? / In Angst und Qual. – / Schließlich, schließlich wird’s nur / Gefressen von den Helläugigen … / Wer sieht dann das Original? / Was weiß ich? / Fürchterlich – fürchterlich –“ – das ist in der Tat nur fürchterlich, Pennälergeschmier auf schlichtestem Niveau und von der Nonsensdichtung etwa eines Christian Morgenstern um Lichtjahre entfernt. Scheerbarts Freund, der Dramatiker und angelegentliche Dramatiker Herbert Ilgenstein, schrieb ihm das auch unverblümt ins Stammbuch: „Was du hier als Katerpoesie in die Welt schickst, ist weder Poesie noch Kater. Nein, lieber Scheerbart, das ist weniger als nichts.“ (Offener Brief in der Zeitschrift „Das Blaubuch“ vom 6.5.1909). Ilgenstein übernahm 1912 die Herausgeberschaft der Wochenzeitschrift „Die Gegenwart,“ in der Scheerbart unter der Ägide seines Vorläufers Richard Nordhausen zwischen 1909 und 1911 fast jede Woche einen kleinen Text veröffentlichte – die Grundlage für seinen bescheidenen Lebensunterhalt zu jener Zeit. Das Publikum scheint es ähnlich gesehen zu haben. Ernst Rowohlt, der den Druck der 800 Exemplare als eins seiner ersten verlegerischen Experimente finanziert hatte und dem Autor mit 100 Mark eins der wenigen substantiellen Honorare seines Lebens vorstreckte, blieb zehn Jahre lang darauf sitzen.

Und doch: wenn es der Zufall will, so gelingt auch einem Fabulierer ohne jede Bodenhaftung wie Scheerbart ein Blick in die ferne Zukunft des 21. Jahrhunderts. Zwei kurze Fußnoten nur noch zum Schluß: lange Zeit hielt sich in literarisch interessierten Kreisen das Gerücht, Scheerbart sei als grundüberzeugter Pazifist nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im August 1914 aus Verzweiflung in den Hungerstreik getreten und schließlich an dessen Folgen gestorben. Walter Mehring hat die Anekdote in seinem Buch „Die verlorene Bibliothek“ von 1951 in die Welt gesetzt und nennt als Quelle Scheerbarts Witwe Anna, genannt „der Bär“ (1858-1936), die in Berlin seine Zimmerwirtin gewesen war und die er 1900 geheiratet hatte, was ihm den Spitznamen „der Bärenführer“ einbrachte. In den Erinnerungen seiner Bekannten aus der Berliner Boheme-Szene in Friedrichshagen und dem „literarischen“ Zirkel der Stammkneipe „Zum schwarzen Ferkel“ findet sich kein Hinweis darauf; auch die „Biographie im Briefen,“ die Mechtild Rausch, wahrscheinlich die einzige Spezialistin zu diesem Autor, 1991 aus dem verstreuten Nachlaß herausgegeben hat („70 Trillionen Weltgrüße,“ Argon Verlag, Berlin - ohne Jahresangabe!) enthält dazu nichts. Zum anderen: Scheerbarts erste Veröffentlichungen waren Eigenpublikationen – Jahre bevor seine Texte als Allotria in Zeitschriften wie dem Simplicissimus oder der „Gegenwart“ erschienen: im „Verlag Deutscher Phantasten,“ den er 1893 zusammen mit Erich Mühsam und Otto Erich Hartleben in Dresden gegründet hatte und der es nur auf drei Veröffentlichungen brachte: auf Scheerbarts eigenes „Wunderfabelbuch“ „Ja … was … möchten wir nicht alles“ und „Das Paradies. Die Heimat der Kunst,“ und auf Hartlebens Nachdichtung von Albert Girauds „Pierrot Lunaire“ von 1884. Vom mondsüchtigen Pierrot war an dieser Stelle von vor einigen Monaten zu lesen, als es um dessen sehnsüchtigen Blick zum roten Planeten Mars ging. Insofern schließt sich auch hier motivisch der Kreis.

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Mein an dieser Stelle seit geraumer Zeit vertretene These ist ja, daß Kunst, Kultur, Literatur – oder jedenfalls der Betrieb, der für deren Produktion zuständig zeichnet, die Betätigung auf diesen Feldern fast völlig eingestellt haben und sich seit mindestens zehn Jahren nur noch als Akklamationspodium und Echokammer unsere Politik verstehen. Im Gegenzug sieht sich unsere Classe politique genötigt, ihrerseits diese brachliegenden Felder zu bespielen und Kintopp, billige Schmierenkomödien und miserabel abgeschriebene Bücher unters (un)geneigte Publikum zu werfen. „Früher“ gab es auf dem ersten Gebiet „Hägar the Horrible,“ 1973 als Tagesstrip von Dik Browne in die Welt gesetzt (mit „umlaut“ im Original) und seit 1988 von seinem Sohn Chris bis heute fortgesetzt: Hägar der Schreckliche. Die Antwort der deutschen Politik darauf, ebenfalls in täglicher Dosierung und am Sonntag im Breitwandformat, lautet offensichtlich: „Donnerkarl der Schreckliche.“



U.E

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