30. Dezember 2021

Paul Scheerbart, „China und Dampfbahn. Philantropische Betrachtungen“ (1899)



(Ausbau des chinesischen Hochgeschwindigkeits-Streckennetzes zwischen 2008 und 2020)

In den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hat Europa für den Politiker an Wichtigkeit sehr viel verloren. Europa wurde von der Weltpolitik in den Hintergrund gedrängt. Das mag manchem Europäer wenig behagen, aber diese Thatsache läßt sich nicht mehr übersehen. Es kann uns heute beinahe gleichgültig sein, was unten in der Türkei vorgeht. Aber die Ereignisse in China sind uns sehr wichtig.

Unsere Ansichten über China haben sich in den letzten fünfzig Jahren ganz und gar verändert. China ist für uns nicht mehr ein zu ewigem Stillstande verurteilter Staat. Das Reich der Mitte steht schon so ziemlich im Mittelpunkte der gesamten europäischen Kulturinteressen.

Wenn heute jemand behauptet, daß die Menschheit in China - und nicht in Europa - die höchste Kulturstufe erreichen dürfte, so lacht man nicht mehr. Die japanischen Siege haben den Chinesen nichts geschadet, und sollten europäische Mächte siegreich im großen Chinalande vordringen, so werden sie schließlich ebensowenig ausrichten wie die Japaner. So ohnmächtig Napoleon gegen das große Rußland war, so ohnmächtig könnte dieses einst in Ostasien kämpfen - denn der Chinese sind sehr viele. Ein brennendes Peking kann am Ende wie ein brennendes Moskau wirken. In der alten Welt ist der Angreifer augenscheinlich immer im Nachteil. Hellas konnte Vorderasien nicht totkriegen, der angegriffene Teil war viel stärker, als man anfänglich annahm; und andererseits gelang es den Arabern wieder nicht, in Spanien - im Westen - einen bleibenden Erfolg zu erringen. Auch die Mongolen haben niemals festen Fuß im Westen fassen können. Und so dürften auch die Europäer vergeblich ihre Armeen nach Ostasien senden. Es giebt Politiker, denen das unheimlich klar ist...

Mit welchen Gefühlen würden wir, wenn wir dazu Zeit hätten, heutzutage Schlossers Weltgeschichte lesen! Der alte Schlosser macht sich über China ganz einfach lustig und findet alle chinesischen Zustände lächerlich, benutzt sie nur zu sarkastischen Ausfällen gegen Deutschland, das Reich der Mitte Europas. Schlosser sollte heute von den Toten auferstehen - er würde gleich ganz rot vor Schreck werden und sich genieren - China von oben herab behandeln und eine "Weltgeschichte" schreiben! Blamabel! Wie höflich ist die europäische Politik geworden! Außerordentlich wichtige merkantile und industrielle Interessen sind in Peking zu vertreten.

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Die Diplomaten der ersten europäischen Staaten geben sich hauptsächlich die größte Mühe, China zum Bau von großen Dampfbahnen zu veranlassen. In den letzten Jahren ist diese diplomatische Thätigkeit nicht ohne Erfolg geblieben, und verschiedene Eisenbahnbauten sind bereits in Angriff genommen. Der europäische Ingenieur ist schon in China eine sehr gesuchte Persönlichkeit, und die Gesandten Europas freuen sich immer außerordentlich, wenn es ihnen gelingt, ihrer heimischen Industrie ein neues, großes Absatzziel zu überliefern; die Sache sieht ja so verlockend aus.

Indessen - haben die Europäer wirklich Veranlassung, hocherfreut zu sein? Handelt es sich nicht nur um kleine Momenterfolge, deren Ausnutzbarkeit noch in Frage steht?

Die Staatsmänner in Peking geben die Erlaubnis zum Eisenbahnbau zweifellos mit dem größten Widerwillen; sie denken gar nicht daran, in der europäischen Lokomotive einen anbetungswürdigen Kulturfaktor zu erblicken. So hocherfreut sind die chinesischen Staatsmänner keineswegs, wenn sie die großen Eisenbahnnetze auf der Landkarte überblicken! Es wird den bezopften Herren schon seit langer Zeit klar geworden sein, daß die große soziale Kalamität des Westens nur eine Folge der großen Eisenbahnnetze ist, die den unnatürlichen Zuzug zu den größeren Städten geradezu herausgefordert haben. Die Eisenbahn hat die Zentralisation in den größeren europäischen Städten mit so rasender Hast gefördert, daß überall ganz unorganische, traditionslose Zustände geschaffen wurden. Und mit dieser Zentralisation der Menschen und ihrer Wohnstäten ist auch das große soziale Elend gekommen. Vor der Einführung der bekanntlich poesiefeindlichen Lokomotiven gab es in Europa eine soziale Frage in unserem Sinne noch nicht.

Führt man nun in China ebenfalls die schreckliche Dampfbahn ein, so wird dort in den Hauptstädten des Landes auch eine recht peinliche Menschenzentralisation stattfinden, und China wird plötzlich genau so wie Europa seine soziale Frage haben.

Daß der chinesische Staatsmann und Regierungsbeamte derartigen Erwägungen nicht sein Ohr verschließt, ist des öfteren festgestellt. Er wird demnach in den europäischen Eisenbahnbauten eine ungeheure Gefahr für sein Land erblocken, und er wird Mittel und Wege finden, diese Gefahr fernzuhalten.

Die Pekinger verstehen sich etwas besser aufs Regieren als die Eurpäer. Die chinesische Regierung hat nicht die Absicht, die Volksleidenschaften zu unterdrücken, sie erkennt in ihnen einen gewaltigen Kraftfaktor und weiß diesen als solchen auszunutzen, ersetzt er doch unter Umständen ein gut geschultes Volksheer vollkommen; auf ein paar tausend Menschenleben kommt's dem chinesischen Machthaber natürlich nicht an - wenn nur das Staatsganze nicht leidet. Die Regierungsbeamten in den Provinzen verstehen es ausgezeichnet, durch ein paar Maueranschläge die Bevölkerung in wilde Raserei zu versetzen. Und das werden die wiesen Herren mit den langen Zöpfen nicht zu thun unterlassen, wenn die Bahnbauten so weit fertiggestellt sind, daß es sich lohnt , sie zu zerstören. Nach der Zerstörung werden natürlich die "Schuldigen" sehr streng bestraft werden. Sollten aber die Dämme mit ihren Schienen wieder repariert werden, so wird sich das Schauspiel ganz einfach wiederholen. Daß dabei so und soviel Chinesen die Köpfe verlieren, schadet der Regierung durchaus nicht; die Regierung verliert nicht den Kopf.

Ist demnach der Vorteil, den die europäische Industrie aus dem chinesischen Eisenbahnbau ziehen kann, der Rede wert? Muß nicht das ganze Bahnnetz in China ein sehr beschränktes bleiben? Ist die europäische Politik nicht sehr kurzsichtig? Die chinesischen Staatsmänner erhalten durch die Bahnbauten nur von neuem die willkommene Gelegenheit, den alten Fremdenhaß zu schüren. Die Chinesen selber werden, das läßt sich doch voraussehen, von den Bahnen so gut wie gar keine Gebrauch machen, und die Europäer dürften ebenfalls kein Vergnügen daran finden, sich in sichere Lebensgefahr auf dem neuen Schienengleise zu begeben.

Es ist also unwahrscheinlich, daß das chinesische Eisenbahnnetz eine bemerkenswerte Ausdehnung erhalten könnte. Man darf sogar geneigt sein, diejenigen, die daran glauben machen möchten, für leichtsinnig, kurzsichtig und naiv zu erklären. So leicht ist das große Reich der Mitte nicht zu erobern.

Nur ein Mittel dürfte es geben, dem Tsung-li-Jamen die Bahnbauten sympathischer erscheinen zu lassen: die europäischen Gesandten müßten den Chinesen die leider so berechtigte Furcht vor der Zentralisation zu benehmen wissen.

Wenn der Diplomatie Europas dieses n-i-c-h-t gelingt, dann profitiert Europa nur herzlich wenig von dem Bahnbau in China.

Die Sache sieht verzweifelt aus - aber einen Ausweg giebt's doch! Man könnte in Peking klar und deutlich auseinandersetzen, daß man somit in China nur "provisorisch" ein paar Dampfbahnen zur Ausführung bringen möchte - und daß man "eigentlich" in China nur e-l-e-k-t-r-i-s-c-h-e Bahnen einführen will.

Man hätte den Chinesen auseinanderzusetzen, daß die zehnmal schnelleren elektrischen Bahnen die Gefahren der Zentralisation beseitigen. Die Wohnstätten ließen sich bei blitzschnellen Bahnverbindungen immer weiter von den Arbeitszentren entfernen. Durch elektrische Vorortbahnen in den Hauptstädten wären diese mit Leichtigkeit so weit nach allen Seiten auseinanderzuziehen, daß von einer gefahrbringenden Zentralisation nicht mehr die Rede zu sein brauchte.

Kurzum: die europäischen Diplomaten müßten die chinesischen Dampfbahnbauten für Provisoria erklären und zunächst mit allen Mitteln den Bau von e-l-e-k-t-r-i-s-c-h-e-n Vorortbahnen befürworten, und es im übrigen für angebracht erklären, in China für die Folge auf allen Bahnstrecken elektrischen Betrieb einzuführen.

Wenn so erfolgreich vorgegangen würde, könnte die europäische Industrie unermeßliche Vorteile ziehen. Die Pekinger Regierung muß eben überzeugt werden, daß sie durch die Bahnbauten nicht geschädigt wird. Es muß ihr klar gemacht werden, daß in Europa und in Amerika die soziale Kalamität durch elektrische Bahnnetze wieder beseitigt werden kann. Wenn alle Menschen aus dem Stadtleben hinaus- und ins Landleben hineingedrängt werden, muß die fatale Kontrastwirkung in den Besitzverhältnissen verschwinden.

Hüten sollte man sich, den Chinesen nur überreden zu wollen - er muß überzeugt werden, denn er besitzt eine bodenlose Tücke und ein geradezu kaufmännisches Mißtrauen, so daß es nicht gut denkbar ist, ihn zu betrügen. Wie vorsichtig ist er zu allen Zeiten im Verkehr mit anderen Völkern gewesen. Der Mandrain ist ein geborner Diplomat; was sich der Euopräer erst mühsam angewöhnen muß, das ist dem Chinesen von Jugend auf ein Natürliches. Wie wären sonst die kolossalen Reichtümer des chinesischen Kaufmanns erklärbar! Nur die Überzeugung, daß man ihm nützt - und nicht er dem Europäer, macht den Chinesen zum Freunde unserer Interessen. Der Chinese ist der geriebenste Geschäftsmann der erde und daher als Diplomat den Europäern nicht nur gewachsen, die Zukunft wird lehren, daß er als Diplomat allen anderen Völkern - auch den Russen - überlegen ist; das ist das Urteil der meisten Europäer, die China längere Zeit hindurch bereisten und dort ein wenig tiefer sehen konnten.

Wir dürfen den Chinesen nicht mit dem Japaner verwechseln. Dieser trägt in Europa europäische Kleidung, jener nie. Der Japaner hat eine Kultur, deren Alter nach Jahrhunderten zählt, der Chinese eine solche, die nach Jahrtausenden zählt. Ein Volk, da so alt wie das chinesische geworden ist, läßt sich nicht so leicht vom Erdboden vertilgen - es erhält sich o-h-n-e Waffengewalt viel leichter, als andere jüngere Völker. Die chinesische Kunst findet in Europa täglich mehr Verehrer; es weiß heute jeder Europäer, daß seine Barock- und Rokoko-Zeit ohne China gar nicht denkbar gewesen wäre. Und es wird bald für ganz natürlich gehalten werden, wenn Pekinger Maler in europäischen Kunstsalons ausstellen. Dieses alles sollte Europa doch veranlassen, mit den "zivilisatorischen" Bestrebungen in China anders aufzutreten, als in Afrika - man kann sich als Zivilisator leicht lächerlich machen. China hat für Europa eine rein-kommerzielle Bedeutung. Für gute Waren - hauptsächlich für beste elektrische Hochbahnen - werden wir in China gutes Geld bekommen. Mehr von China wollen, heißt: phantastische Politik betreiben.

Jedenfalls - für die langsame Dampfbahn hat das kluge China kein Herz.

China kann, wenn es durch praktische Anlage von elektrischen Bahnen, die die größte Zuggeschwindigkeit zulassen, die Klippen der staatsgefährlichen Zentralisation zu umgehen versteht, in kürzester Zeit das erste Kulturland der Erde sein. Und mancher Europäer dürfte sich im nächsten Jahrhundert in China wohler fühlen als in Europa.

Durch eine systematische und radikale Durchführung der Dezentralisation kann China ein Musterland werden. Und dieses Musterland könnte auch in Europa vorbildlich sein.

Ist es nicht verwunderlich, daß der sonst so gebildete Europäer noch immer nicht daran denkt, seine Großstädte methodisch zu dezentralisieren? Die Großstädte Europas sind in ihrer jetzigen Form noch nicht hundert Jahre alt. Was so schnell entsteht, geht gewöhnlich ebenso schnell zu Grunde. Es hat zu allen Zeiten lächerliche Zustände gegeben, aber die Zustände, die der europäische Kulturmensch in seinen Großstädten erzeugte, bilden eine nicht zu unterschätzende Gefahr für das menschliche Zwerchfell.

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„China und Dampfbahn. Philantropische Betrachtungen,“ der erste Text, in dem sich Scheerbart mit dem Thema „China“ befaßte, erschien in der Zeitschrift „Die Gesellschaft“ im Heft 8 des vierten Bandes nach der neuen Zählung, nachdem das Blatt zu Beginn des Jahres 1898 von einer monatlichen auf eine zweimal im Monat erscheinenden Frequenz umgestellt worden war; also in der Ausgabe für die zweite Septemberhälfte des Jahres 1899. Das Journal, 1885 in München von Georg Michael Conrad gegründet; der die Chefredaktion nach drei Jahren an Karl Bleibtreu abgab, vertrat die Stilrichtung des Naturalismus und zählte zu den wichtigen Publikationen der Münchner Moderne, bevor diese mit dem Aufkommen des Jugendstils, dem Aufblühen von Schwabing (als „Wahnmoching“) und dem „Simplicissimus“ in den Augen der Nachgeborenen erst „wirklich modern“ wurde.

Ein Beiseit zum Thema „die Welt ist klein“: für das hier so oft angeschnittene Feld der literarischen Phantastik und der Zukunftsschau ist Conrad, der sich als Verfasser stets von „Ritter-. Räuber- und Gespenstergeschichten“ fernhielt, als Autor des Romans „In purpurner Finsternis“ von Interesse, wie aus dem Untertitel „Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert“ deutlich wird, der 1895 in Leipzig im Verlag C. F. Tiefenbach erschien – und der eine außerordentlich unlesbare, knastrige Allegorie von unangenehm völkischem Zuschnitt darstellt, in der sich nach dem Scheitern aller „sozialen Ideen,“ die in der Gründerzeit kursierten und nach einem Jahrtausend endloser Kriege das Volk der „Teuta,“ die sich in die Tiefen der Erde zurückgezogen haben, über die „Angelos“ und die „Slavakos“ obsiegen, nachdem der Held eine Pilgerfahrt nach „Nordika“ unternimmt und sich von einem alten Manuskript eines gewissen „Nietzschiski,“ das er dort auftreibt, zur kultischen Verehrung Zarathrustras bekehren läßt, woraufhin er diesen Kult zur verpflichtenden Staatsreligion für die Teutas erklärt. (Ob der wirkliche Nietzschiski seine Freude an solchen Visionen gehabt hätte, darf bezweifelt werden.)

Der „Tsong-li-Jamen“ (总理衙门, nach Pinyin-Transliterierung Zongli Yamen) war während der letzten Periode der letzten Phase der Qing-Dynastie die kaiserliche Behörde, die der Funktion eines Außenministeriums am nächsten kam. Gegründet worden war er 1858 von Prinz Gong, um die Modalitäten des Vertrags von Tianjin auszuarbeiten und umzusetzen. „Am nächsten“ deshalb, weil dieses Amt nur fallweise und in solchen konkreten Fällen seine Tätigkeit aufnahm und die hohen kaiserlichen Beamten zumeist für andere Ämter tätig waren. 1901, nach der Niederlage im Boxeraufstand, wurde der Yamen aufgelöst und durch ein reguläres Außenministerium (外务部, Waiwu Bu) ersetzt.



(Die Fassade des Zongli Yamen im Jahr 1897)



(Die Beamtenschaft des Zongli Yamen, Anfang der 1890er Jahre. In der ersten Reihe, von links nach rechts: 孙毓汶 (Sun Yuwen, 1833-1899), 徐用仪 (Xu Yongyi, 1836-1900), (庆亲王 (Prinz Qing, 1839-1917), 许庚身 (Yu Genshen, 1839-1893) und 张荫桓 (Yinhuan Zhang, 1837-1900).

Die neun Bände von Friedrich Christoph Schlossers "Weltgeschichte in zusammenhängender Erzählung" erschienen in ihrer ersten Fassung in den Jahren von 1815 bis 1824; in revidierter Form als "Weltgeschichte für das deutsche Volk" in 18 Bänden von 1844 bis 1857.

Was frappiert, ist zum einen die Nonchalance, mit der die zeitgenössische Sicht mit all ihren Vorbehalten und Klischees (die „bodenlose Tücke des Chinesen“) und Scheerbarts naives Fortschrittspathos dazu führen, daß er sich von Satz zu Satz widerspricht. Der gemeinte Künstler heißt Ai Weiwei – und das letzte europäische Konsortium, das „den Chinesen“ eine elektrische Hochbahn verkaufte, waren bekanntlich Siemens und die Betreibergesellschaft des Transrapid, die für die technische Ausführung der einzigen praktisch genutzten Referenzstrecke mit dieser Technologie seit 2004 zwischen dem Hauptbahnhof Shanghais und dem Flughafen Pudong unterwegs ist. Gedacht war diese Strecke tatsächlich als Referenzstrecke – so wie 170 Jahre vorher die erste deutsche Bahnlinie zwischen Nürnberg und Fürth: dieses nur fünf Kilometer (also gut eine deutsche Meile) lange Strecke hatte niemals einen verkehrstechnischen Wert – aber sie sollte die Regierungen der deutschen Staaten und die zu gründeten Aktiengesellschaften von der neumodischen Technik überzeugen. Im Fall der Shanghaier Magnetbahn war es geplant, die auf Hochgeschwindigkeitstechnik umzurüstende Linie Shanghai-Beijing als Magnetschwebebahn auszulegen. Die chinesische Führung entschied sich im Gefolge, auf die bewährte ICE-Rad-Schiene-Technik zu setzen, nicht zuletzt aufgrund der Anschlußfähigkeit und der Einsatzbarkeit des vorhandenen Rollmaterials. In Shanghai gibt es seitdem das böse Ondit, der damalige Oberbürgermeister der „Stadt über dem Meer,“ 陈良宇 / Chen Liangyu, habe sich mit dem Projekt ein persönliches Denkmal setzen wollen.

Scheerbart irrt auch, wenn er die Provinzgouverneure für die Aufstachelung der Volkmassen verantwortlich macht. Im Gegenteil waren die Hauptsorgen der kaiserlichen Beamten in den weitab von den großen Zentren gelegenen Landesteilen die Ruhighaltung der ländlichen Bevölkerung, die Bekämpfung der zahllosen Bauernrevolten und -aufstände, die von Geheimgesellschaften wie den „Gelben Turbanen“ tatsächlich immer wieder zu Revolten und Zerstörungen aufgestachelt wurden, und deren größte der Taiping-Aufstand war, der zwischen 1852 und 1863 mehr als dreißig Millionen Menschen das Leben kostete. Auch die „Bewegung für Gerechtigkeit und Harmonie“ (义和团运动 / Yihetuan Yindong), im Westen bis heute als „Boxeraufstand“ geläufig, war eine solche „Graswurzelbewegung“ – ebenso wie die Mordanschläge auf christliche Missionare, die in der Presse jener Jahre so großes Aufsehen erregten („Liu-Tang und Liu-Tschang, / Christengemetzel am Yang-tse-Kiang – / Wie sie mogeln und sich betören, / Davon will ich tagtäglich hören,“ wie es in Theodor Fontanes Knittelversen „Zeitung“ von 1895 heißt).

Tatsächlich sahen sich die ersten Bahnbauingenieure aus dem Westen oft der Blockade durch die lokalen Behörden ausgesetzt; die kurzen Stichstrecken, die Minen und Hüttenwerke mit den Häfen verbinden sollten, wurden zumeist mit der Begründung verhindert, die geraden Schienenstränge störten das Feng-Shui, des 风水 (wörtlich „Wind und Wasser“), das Fließen der Lebensenergie, des Qi, 气. Selbst als nach der Niederlage im ersten Chinesisch-Japanischen Krieg die Notwendigkeit einer technologischen Modernisierung unübersehbar wurde und eine ganze Generation von Studenten zum Studium nach Japan ging, um das vor Ort in Augenschein zu nehmen, blieb es bei der Verweigerungshaltung. Im Jahr 1900 betrug die Länge des chinesischen Streckennetzes gerade einmal 470 Kilometer. Erst mit der 保路运动, Baolu Yundong, der "Bewegung zum Schutz der Eisenbahnen," die 1905 von der Qing-Regierung ins Lebens gerufen wurde, um die Finanzierung der 1200 Kilometer langen Strecke von Chengdu nach Wuhan zu ermöglichen, änderte sich das. Dieser Erlaß ermöglichte es den Gouverneuren der einzelnen Provinzen, auf eigene Faust Aktiengesellschaften zum Streckenbau zu gründen und die Anteile zur Kapitalgenerierung anzubieten.

Zu den befürchteten Zerstörungen ist es im Lauf der nächsten 100 Jahre freilich nicht gekommen. Stattdessen ist auch heute noch die Bahn das wichtigste Verkehrsmittel des Landes, mit der gebräuchlichen Unterscheidung der „harten Schlafwagenklasse“ 硬卧 und der „weichen Schlafwagenklasse“ 软卧 in Fernzügen. Auch die von Scheerbart in Aussicht gestellten Überfälle auf Westler blieben aus. Der „Zwischenfall von Lincheng,“ bei dem im Mai 1923 den „Blauen Express“ zwischen Beijing (damals „Peiping“) und Shanghai mehr als 1200 ehemalige Soldaten des Warlords Sun Meiyao in der Provinz Shanghai kaperten und mehr als 300 Passagiere, darunter 25 Westler, als Geiseln nahmen, blieb eine Ausnahme. Während die Frauen von den Banditen nach einigen Tagen freigelassen wurden, blieben die Männer über einen Monat in der Gefangenschaft der Banditen, bis unter Vermittlung des Anführers der berüchtigten Shanghaier „Green Gang,“ die das organisierte Verbrechen in Shanghai kontrollierte, Du Yuesheng / 杜月生;, eine Lösegeldzahlung von umgerechnet 85.000 US-Dollar erfolgt war. Der Vorfall diente als Vorlage für Joseph von Sternbergs Film „Shanghai Express“ aus dem Jahr 1932 mit Marlene Dietrich in der Hauptrolle.

Prophetisch – jedenfalls im Rückblick – wird aber Scheerbarts Lösungsvorschlag. Die Sätze: „Die Wohnstätten ließen sich bei blitzschnellen Bahnverbindungen immer weiter von den Arbeitszentren entfernen. Durch elektrische Vorortbahnen in den Hauptstädten wären diese mit Leichtigkeit so weit nach allen Seiten auseinanderzuziehen, daß von einer gefahrbringenden Zentralisation nicht mehr die Rede zu sein brauchte…“ könnten so fast wörtlich den Ausbauplänen für die größten Ballungsgebiete des Landes bis zur Mitte des laufenden Jahrhunderts entnommen sein. Vor gut 15 Jahren beschloß die zentrale Planungskommission der KPC, das Bahnnetz des Landes auf Hochgeschwindigkeitstechnik umzustellen. Bis zum Jahr 2030 sollen 30.000 Kilometer der Verbindungslinien zwischen den großen Ballungszentren für eine Richtgeschwindigkeit von 300 km/h umgebaut werden; 12.000 Kilometer sind davon bislang fertiggestellt worden. Zudem sollen die beiden größten metropolitanen Großräume des Landes, die Region um Beijing wie um Shanghai, urbanistisch umgestaltet werden. Für den Bereich um die Hauptstadt sieht die Planung die Aufteilung in drei funktional getrennte Bereiche vor: für Regierung bzw. Verwaltung, für die Industrie und für die Versorgungstechnik. Ziel ist das Entstehen einer Zone mit einer Gesamteinwohnerschaft von 150 Millionen Einwohnern. Diese sollen zum größten Teil von reinen Schlafstädten weitab vom Zentrum untergebracht werden – bis zu 150 Kilometer entfernt. Die direkte Anbindung durch Hochgeschwindigkeitszüge soll die Fahrzeit zum Arbeitsplatz auf die üblichen zweimal 30 bis 40 Minuten verkürzen, die sich nach der Erfahrung mit den Konglomerationen seit dem Zweiten Weltkrieg als das Standardmaß herausgestellt haben, daß einer großen Menge an Arbeitskräften zuzumuten ist.

Erwin Wickert, Vater von Ulrich Wickert (der, was kaum jemandem bekannt sein dürfte, 1942 in Tokio geboren wurde) und als Mitglied des deutschen diplomatischen Dienstes von 1976 nach dem Tod Maos bis zum Jahr 1980 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Beijing, konnte sich in seinem Buch „China von innen gesehen“ 1982 noch darüber mokieren, daß China das einzige Land der Welt sei, in dem noch Spucknäpfe und Dampflokomotiven hergestellt würden. Wie es aussieht, war der Ratschlag, den der Berliner Sonderling vor mehr als 122 Jahren erteilte, nicht der schlechteste, was die Modernisierung des Landes anging.

U.E.

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