Als ich vor drei Monaten in Peking war, lernte ich bei dem italienischen Gesandten am einem lustigen Gesellschaftsabend dem reichen Herrn Li-Ban-Schin kennen, der als Wetterprophet im Land des Zopfes ein großes Ansehen genießt.
Die vornehmen Chinesen sind heute den Europäern gegenüber nicht mehr so diplomatisch zugeknöpft wie vor zehn Jahren noch. Auch im Osten des asiatischen Kontinents ist vieles anders geworden. Und so kam es, daß Li-Ban-Schin mich noch an demselben Abend, an dem er mich kennen lernte, einlud, ihn an einem der nächsten Tage in seiner Villa zu besuchen.
Er sandte mir eines Morgens ganz früh, gleich nach Sonnenaufgang, sein Automobil, und nach dreistündiger Automobilfahrt empfing mich Herr Li-Ban-Schin im Portal seiner Villa zwischen zwei großen weißen Porzellanhunden.
Die Villa war eine Porzellan-Villa – außen blau und innen hellgelb. Schwarzer Sammetbelag bedeckte überall den Fußboden. Und die Hälfte aller Porzellanfliesen war sowohl innen wie außen bemalt. Die Möbel bestanden aus geschnitztem Ebenholz – tief schwarz, aber nicht poliert. Das Köstlichste steckte in den großen bunten plastischen Porzellanfrüchten, die in dekorativen Kränzen mitten in den Wänden und an Tür- und Fensterrahmungen innen wie außen das ganze belebten; diese Weintrauben, Pfirsiche, Pflaumen, Aepfel, Kirschen und Aprikosen erinnerten ein wenig an die italienische Renaissance, obwohl da der Farbenreichtum lange nicht so üppig hervortrat wie hier. Daß diese Porzellan-Villa in China entstand, dafür sprachen die Malereien, die durchaus in rein chinesischem Stil blieben – und zwar in einem ganz alten, dem man Verwandtschaft mit dem modernen Geschmack nicht nachsagen konnte.
Ich mußte zunächst mit Hern Li-Ban-Schin frühstücken. Es gab Tee, Cognac und mindestens dreißig chinesische Delikatessen – dazwischen Zigaretten und Zigarren. Ich hatte jedoch gar keine Zeit, dieses Frühstück viel zu betrachten, denn der Herr des Hauses war sehr gesprächig. Er hatte sich in jüngeren Jahren sehr lange in Berlin aufgehalten und sprach fließend Deutsch.
„Man hält mich hier,“ sagte er lächelnd, „für einen Wetterpropheten. Aber ich bin eigentlich etwas mehr. Mir ist es eigentlich ganz gleichgültig, ob es regnet oder schneit, ob es windig oder nicht windig ist.“
Nun war ich natürlich sehr neugierig. Ich ließ mir vom Diener Selterswasser geben – ganz kaltes. Und ich goß Cognac hinzu und rauchte zunächst eine Zigarre.
Und Herr Li-Ban-Schin fuhr währenddessen in etwas nervöser Hast fort:
„Wissen Sie,“ sagte er gestikulierend, ich glaube doch, daß man in Europa immer noch die Sonnenenergie unterschätzt. Und das geht doch jetzt nicht mehr. Die Natur der großen Sonnenflecke ist für uns immer noch ein ungeheuerliches Rätsel; daß sie aber Beziehungen zu dem Wetter in unserer Erdatmosphäre haben, das ist doch nicht mehr zu leugnen. Ist aber der Einfluß der Sonnenfleck-Energie auf die Erdatmosphäre nicht zu leugnen, so muß man doch auch annehmen, daß dieselbe Energie auf die Menschenköpfe wirkt. Mithin haben wir Krisen, Kriege und Revolutionen mit der Sonnenenergie in Verbindung zu bringen.“
„Die Ansicht ist nicht neu!“ sagte ich leise.
Ein Diener putzte währenddessen einen Fruchtkranz, der uns gegenüber die halbe Wand bedeckte und mindestens einen Umfang von vier Metern hatte, blitzblank.
Herr Li-Ban-Schin pfiff leise und gab dem Diener einen Wink, nach dem er sofort verschwand.
„Ich weiß,“ fuhr der chinesische Herr fort, „daß die Ansicht, die ich entwickle, schon vielfach ausgesprochen worden ist. Aber noch niemals ist mir die Wahrheit der Geschichte so eindringlich klar geworden, wie in diesem Sommer. So unnormal war’s schon lange nicht. Und nun kommen überall große Krisen, Kriege und Revolutionen hinzu – in der Türkei, in Persien, in Portugal, in Deutschland – und bei uns auch. So viel passierte noch niemals in einem Sommer. Und dazu kommt die rapide Entwicklung der Luftschifffahrt. Bleriot ist schon über den Kanal gefahren. Soll noch mehr passieren? Glauben Sie, das hängt alles nicht mit dem Wetter und danach mit der Sonnenenergie zusammen? Unser ganzes Leben ist bedroht. Wir alle leben wie in einem Porzellanhause. Mein Porzellanhaus ist symbolisch für unser ganzes Leben; gebrechliche Materie umgibt uns auf allen Seiten – gebrechliches Porzellan. Ich bin nicht nur ein Regenwetterprophet, ich will auch das politische Wetter prophezeien. Und das ist es, was ich Ihnen sagen wollte.“
„Ja,“ versetzte ich ruhig, „Schwarzseher gibt’s aber auch in Europa schon genug. Wenn irgend etwas los ist, glauben viele gleich, die halbe Welt könnte untergehen. Aber diese Untergänge sind schon zu oft prophezeit, daß manche Leute gar nicht mehr ängstlich zu machen sind. Das können Sie mir glauben.“
„Das ist es eben,“ flüsterte er erregt. „nach meiner Meinung sollen die Leute auch gar nicht ängstlich werden. Aber es wäre doch gut, wenn sie darauf aufmerksam gemacht würden, daß ganz große Umwälzungen auf allen Gebieten des Lebens bevorstehen. Denken Sie an die Zeit vor hundert Jahren! Napoleon war noch nicht in Moskau. Man hielt die politischen Umwälzungen für sehr wichtig. Es war ein stürmisches politisches Wetter damals in Europa. Das politische Wetter hatte aber gar nicht so viel zu bedeuten; es war nur der Vorbote für ein größeres Unwetter – für das Unwetter, das durch die Entwicklung der Eisenbahnen, der Großstädte, der Elektrizität und der ganzen Technik hervorgerufen wurde – das wir erlebt haben. Und so kündigt sich jetzt auch ein ganz neues, großes Unwetter an, und die politischen Stürme und die in der Atmosphäre sind nur Vorboten. Habe ich recht, oder habe ich nicht recht?“
Jetzt bekam ich zunächst wieder Appetit, und ich sagte das – und ich sagte gleichzeitig:
„Sie müssen mir ein wenig Zeit lassen. Ich will mir, was Sie sagen, ein wenig überlegen. Meine Antwort wird nicht ausbleiben.“
Mit der größten Höflichkeit erklärte er, daß er durchaus einverstanden sei, und er gab dem Diener ein Dutzend Aufträge. Und ich aß mit Löffel und Gabel von allen den chinesischen Delikatessen, die mir vorgesetzt wurden – von allen nur eine Kleinigkeit. Es war sehr delikat, und ich dachte über diesen seltsamen Gastgeber nach, der schweigend dasaß und mit gesenkten Augen eine echte Kuba-Zigarre rauchte.
„Ich bin,“ sagte ich dann, als ich nicht mehr essen mochte, „eigentlich durchaus Ihrer Ansicht. Doch weiß ich nicht, worin das neue Unwetter bestehen soll, das jetzt im Anzuge sein soll. Ich weiß es nicht.“
Herr Li-Ban-Schon zog seinen dunkelblauen Seitenmantel fester um seine Schulter und sagte: „Die Dampfbahn hat im vorigen Jahrhundert, wie Sie mir zugeben werden, ganz ungeheuerliche Umwälzungen hervorgebracht. Dagegen waren alle politischen Umwälzungen du auch alle Kriege des neunzehnten Jahrhunderts so gut wie gar nichts. Danach kam das Automobil und nach dem das lenkbare Luftfahrzeug. Und dieses Lenkbare wird im zwanzigsten Jahrhundert noch mehr umwälzen als alle Dampffahrzeuge des neunzehnten Jahrhunderts umgewälzt haben.“
„Ist es da nicht,“ fragte ich lachend, „sehr unvorsichtig, in einem Porzellanhause zu wohnen?“
„Das tu ich,“ erwiderte er, „nur der Freude willen, die ich am Symbolischen habe. Ich war am Ende des vorigen Jahrhunderts in Paris und lernte da einige sogenannte Symbolisten kennen. Doch ich weiß nicht, ob Sie wissen, worin das Gefährliche der modernen Luftschifffahrt besteht.“
„Nein! Ich weiß es nicht!“ sagte ich leise.
Und er fuhr fort:
„Die Europäer überlegen sich die Sache immer noch nicht. Es ist doch nicht mehr daran zu zweifeln, daß wir in kürzester Zeit sehr viele lenkbare Luftschiffe und sehr viele Gleitflieger haben werden - sie können bald nach Hunderten zählen – und bald nach Tausenden. Und dann wird der Militarismus sich fast nur dieser Luftvehikel bedienen und alle anderen Vehikel wie eine Nebensache behandeln. Und man wird aus diesen Luftvehikeln die gefährlichsten Sprengstoffe herauswerfen – und die können überall hinfallen und alles zerstören. Sind da nicht ungeheuerliche Umwälzungen zu befürchten? Ich bitte Sie, sie müssen ja blind sein, wenn Sie die nicht sehen. Was die Haager Konferenz sagt, ist doch eine platonische Geschichte, um so was kümmern sich doch Leute nicht, wenn sie den Krieg wollen. Und die Revolutionäre werden sich um die Beschlüsse der Haager Konferenz noch weniger bekümmern – das ist doch so klar wie der Einfluß der Sonnenenergie auf die Menschenköpfe. Sagen Sie das doch den Europäern. Erzählen Sie ihnen, daß ich in einem Porzellanhause wohne, um damit eine permanente symbolische Sprache zu sprechen. Ich will damit sagen, daß wir alle in einem Porzellanhause wohnen – alle - alle – die Europäer auch.“
Wir sprachen noch bis tief in die Nacht über dieses Thema.
Und als ich am nächsten Tage zwischen den beiden Porzellanhunden, die zwei Meter lang waren, Abschied nahm, sagte ich kopfschüttelnd:
„Welch ein seltsames Land ist dieses China! Daß ich das alles von einem Chinesen hören mußte!“
Ich werde die Gespräche in dieser Porzellan-Villa in meinem ganzen Leben nicht vergessen.
# # #
„Der Wetterprophet,“ mit dem Untertitel „Eine chinesische Geschichte“ erschien in der 35. Nummer Nummer des ersten Jahrgangs von Herwarth Waldens Zeitschrift „Der Sturm,“ am 27. Oktober 1910. Kaum eine Erzählung Scheerbarts kommt ja ohne eine solche Charakterisierung aus: „ein Nachdenker-Scherzo,“ „eine Tempelphantasie,“ „eine Phantastensure,“ „ein Gemütsmärchen,“ „eine Peinstimmung,“ „eine gute Stunde,“ „ein Tiermärchen" – und das betrifft nur die ersten zehn Einträge in seiner alphabetisch georndeten Bibliographie bis zum Auftakt „An-“. Für irdisch-exotisches Kolorit bevorzugte Scheerbart zu Beginn seiner Autorenlaufbahn ein „arabisches“ Ambiente, für die seine beiden ersten Romane aus dem jahr 1897: „Tarub. Bagdads berühmte Köchin“ (laut Untertitel ein „Arabischer Kulturroman“) und „Der Tod des Barmekiden“ („Arabischer Haremsroman“) – deren Schauplätze freilich über das bloße Name-Dropping hinaus so wenig mit den dortigen Gegebenheiten in Gegenwart oder Vergangenheit zu schaffen haben wie seine „Astralen Noveletten“ mit den tatsächlich gegebenen Zuständen im Asteroidengürtel. (Wobei sich im zweiten Fall die Populärkultur, jedenfalls in Falle des Fernsehens, die Freiheit künstlerischer Freiheit herausnahm – ließ Fritz Lang in der „Frau im Mond“ 1929 noch seine Raumpioniere ohne Druckanzug und Helm auf dem Erdtrabanten herumlaufen, so hielten es Corry, der in Folge 7 der ersten Staffel von „The Twilight Zone“ aus dem Jahr 1959 seine Verbannungsstrafe auf einem Asteroiden absitzen muß und die Crew des schnellen Raumkreuzers „Orion“ unter Commander Cliff McLane am Auftakt der ersten Folge, „Angriff aus dem All“ sieben Jahre später etwas „weiter draußen“ genauso. In allen drei Fällen war das Kalkül, die unbedarften Zuschauer nicht unnötig zu irritieren, die schon mit der Möglichkeit der bemannten Raumfahrt herausgefordert waren.)
Auch Scheerbarts „China“ hat natürlich nichts mit den seinerzeitigen Zuständen im Reich der Mitte zu tun. Allerhöchstens könnte man vermerken, daß Herr Li-Ban-Schin auch zuhause „Krisen und Revolutionen“ im Anzug sieht – die Xinhai-Revolution, die Ende Februar 1912 zur formellen Abdankung des Kaisers Puyi und der Etablierung der Republik führte, begann erst in September und Oktober des Jahres 1911. Zu einer der ersten Verfüdungen der neuen Regierung gehörte übrigens das Verbot des Zopftragens als Symbol der verhaßten Fremdherrschaft der Mandschu-Dynastie (die Redewendung "alte Zöpfe abschneiden" bezieht sich darauf). Auch die Zweite Marokkokrise, die zum „Panthersprung nach Agadir“ führte, als sich das deutsche Reich zur Schutzmacht eines unabhängigen Algerien gegen die Kolonialmacht Frankreich erklärte, begann erst im Mai 1911 mit der Besetzung der Städte Fes und Rabat durch französische Truppen. (Der Staatstreich der „Jungtürken,“ die mit der Abdankung des letzten Sultans, Abdulhamid II., endete, fand bereits 1908 statt.) Paßgenau fällt hier nur das Ende der Monarchie in Portugal ins Auge, wo die Republikanische Partei am 5. Oktober 1910 mit ihrem Staatstreiches den letzten Monarchen Manuel II zur Abdankung zwang. Als prophetisch könnte man auch die Erwähnung Persiens werten: die Krise, die zwischen Russland und dem Deutschen Reich nach dem Auslaufen das Abkommens über den Bau persischer Bahnlinien durch das Zarenreich 1910 ausbrach – Deutschland plante hier den Bau der Bagdadbahn unter eigener Kontrolle, um im Krisenfall nicht von den frisch erschlossenen Ölfeldern um Baku am Schwarzen Meer abgeschnitten werden zu können – wurde durch den „spontanen“ Staatsbesuch von Zar Alexander II in Potsdam am 4. November 1910 „beigelegt“ (formell paraphiert wurde das „Potsdamer Abkommen“ in St. Petersburg am 4. August 1911).
Immerhin darf man aus solchen chronologischen Überschlagungen zu dem Schluß kommen, daß das Gefühl eines „kommenden Krieges“, eines Unwetters in der Weltlage, die sich drohend verdüsterte, nicht erst mit der Zweiten Marokkokrise „in der Luft“ lag, die von vielen Interpretatoren als Ursache etwa der expressionistischen apokalyptischen Landschaften von Ludwig Meidner oder des Gedichts „Der Krieg“ von Georg Heym gewertet worden ist, das zwischen dem 4. Und 11. September 1911 verfaßt wurde und 1913 in der Sammlung „Umbra vitae“ erschien.
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß. ...
Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,
Daß Scheerbart die dürftige Kulisse seines „Chinas“ aus frei flottierenden Versatzstücken montiert und ansonsten unbekümmert drauflosfabuliert wie bei all seinen entrückten Schauplätzen, darf nicht wundern. In den meisten Texten, die er dort zwischen 1908 und 1912 ansiedelt, berichtet der Baron Münchhausen, den er zuerst 1906 in seinem Roman „Münchhausen und Clarissa. Ein Berliner Roman“ von den Toten auferstehen ließ. Scheerbart macht sich keine Mühe, das Auftauchen des 186-jährigen Freiherrn narrativ zu legitimieren, etwa indem er ihn wie H. G. Wells seinen „Schläfer“ im Jahr 1899 oder Edward Bellamy seinen Julian West im Jahr 1887 durch Hypnose oder ein unbekanntes Wundergas in Trance in die Zukunft zu schicken. Lügenbarone dürfen von Natur aus unsterblich sein. Der Name der hochlöblichen Herrn Li-Ban-Schin läßt sich übrigens durchaus auf Chinesisch wiedergeben: 李班新; bei „Lí“ (mit steigendem Ton), handelt es sich nach „Wang“ um den zweithäufigsten chinesischen Familiennamen; aber 班新 ist als persönlicher Name nichtexistent.
Was aber wundernimmt, ist die Metapher, die Herr 李 für den Zustand seines Landes verwendet: das des zerbrechlichen, bedrohten Hauses aus einem Material, das für gewöhnlich nicht mit solchen Bauten in Verbindung gebracht wird. (Wobei der Turm, den Gustave Eiffel für die Pariser Weltausstellung 1889 entwarf, ja tatsächlich ein ganz aus Eisen gefertigtes Gebäude darstellte - einschließlich Eiffels eigenen Arbeitsräumen auf der dritten Plattform in 300 m Höhe. Und das Gebäude, das Wells' namenloser Zeitreisender nach seiner temporalen Sturzfahrt ins Fahrt 802.701 an Stelle des alten, verschmutzten viktorianischen Londons vorfindet, ist der "Palast aus grünem Porzellan.") Ein Dutzend Jahre später gebrauchte 周树人 / Lu Xun (1880-1936), DER Begründer und Klassiker der modernen chinesischen Literatur, im Vorwort zur seiner ersten Sammlung von Kurzgeschichten, 吶喊 (Nàhǎn, „Aufschreie“) genau so eine gebaute Metapher, um den Zustand seiner Landes und seines Volkes dem Leser drastisch vor Augen zu führen: die des „eisernen Hauses“ – ein Bild, das heute noch jedem chinesischen Leser geläufig ist. Ein Bekannter wirft Lu die Sinnlosigkeit, ja das Verwerfliche seiner Absicht vor, seine Leser aufzurütteln:
“假如一間鐵屋子,是絕無窗戶而萬難破毀的,裏面有許多熟睡的人們,不久都要悶死了,然而是從昏睡入死滅,並不感到就死的悲哀。現在你大嚷起來,驚起了較爲清醒的幾個人,使這不幸的少數者來受無可挽救的臨終的苦楚,你倒以爲對得起他們麼?”
(„Stell dir ein Haus aus Eisen vor, das keinen Ausgang hat, keine Fenster, und das voller Menschen ist, die schlafen, und das von einem Feuer erhitzt wird. Bald werden sie sterben – aber wenn du sie schlafen läßt, werden sie den Tod nicht kommen fühlen und ohne Schmerzen sterben Und du willst ein paar Unglückliche aufwecken, die dafür empfänglich sind – und ihre letzten Augenblicke werden um so qualvoller verlaufen. Wie kannst du da behaupten, daß das, was du tust, gerechter ist?“)
Lu Xuns Antwort lautet:
“然而幾個人旣然起來,你不能說決沒有毀壞這鐵屋的希望。”
(„Aber einige sind immerhin aufgewacht – und wer sagt dir, daß das eiserne Haus wirklich unzerstörbar ist?“)
Die vornehmen Chinesen sind heute den Europäern gegenüber nicht mehr so diplomatisch zugeknöpft wie vor zehn Jahren noch. Auch im Osten des asiatischen Kontinents ist vieles anders geworden. Und so kam es, daß Li-Ban-Schin mich noch an demselben Abend, an dem er mich kennen lernte, einlud, ihn an einem der nächsten Tage in seiner Villa zu besuchen.
Er sandte mir eines Morgens ganz früh, gleich nach Sonnenaufgang, sein Automobil, und nach dreistündiger Automobilfahrt empfing mich Herr Li-Ban-Schin im Portal seiner Villa zwischen zwei großen weißen Porzellanhunden.
Die Villa war eine Porzellan-Villa – außen blau und innen hellgelb. Schwarzer Sammetbelag bedeckte überall den Fußboden. Und die Hälfte aller Porzellanfliesen war sowohl innen wie außen bemalt. Die Möbel bestanden aus geschnitztem Ebenholz – tief schwarz, aber nicht poliert. Das Köstlichste steckte in den großen bunten plastischen Porzellanfrüchten, die in dekorativen Kränzen mitten in den Wänden und an Tür- und Fensterrahmungen innen wie außen das ganze belebten; diese Weintrauben, Pfirsiche, Pflaumen, Aepfel, Kirschen und Aprikosen erinnerten ein wenig an die italienische Renaissance, obwohl da der Farbenreichtum lange nicht so üppig hervortrat wie hier. Daß diese Porzellan-Villa in China entstand, dafür sprachen die Malereien, die durchaus in rein chinesischem Stil blieben – und zwar in einem ganz alten, dem man Verwandtschaft mit dem modernen Geschmack nicht nachsagen konnte.
Ich mußte zunächst mit Hern Li-Ban-Schin frühstücken. Es gab Tee, Cognac und mindestens dreißig chinesische Delikatessen – dazwischen Zigaretten und Zigarren. Ich hatte jedoch gar keine Zeit, dieses Frühstück viel zu betrachten, denn der Herr des Hauses war sehr gesprächig. Er hatte sich in jüngeren Jahren sehr lange in Berlin aufgehalten und sprach fließend Deutsch.
„Man hält mich hier,“ sagte er lächelnd, „für einen Wetterpropheten. Aber ich bin eigentlich etwas mehr. Mir ist es eigentlich ganz gleichgültig, ob es regnet oder schneit, ob es windig oder nicht windig ist.“
Nun war ich natürlich sehr neugierig. Ich ließ mir vom Diener Selterswasser geben – ganz kaltes. Und ich goß Cognac hinzu und rauchte zunächst eine Zigarre.
Und Herr Li-Ban-Schin fuhr währenddessen in etwas nervöser Hast fort:
„Wissen Sie,“ sagte er gestikulierend, ich glaube doch, daß man in Europa immer noch die Sonnenenergie unterschätzt. Und das geht doch jetzt nicht mehr. Die Natur der großen Sonnenflecke ist für uns immer noch ein ungeheuerliches Rätsel; daß sie aber Beziehungen zu dem Wetter in unserer Erdatmosphäre haben, das ist doch nicht mehr zu leugnen. Ist aber der Einfluß der Sonnenfleck-Energie auf die Erdatmosphäre nicht zu leugnen, so muß man doch auch annehmen, daß dieselbe Energie auf die Menschenköpfe wirkt. Mithin haben wir Krisen, Kriege und Revolutionen mit der Sonnenenergie in Verbindung zu bringen.“
„Die Ansicht ist nicht neu!“ sagte ich leise.
Ein Diener putzte währenddessen einen Fruchtkranz, der uns gegenüber die halbe Wand bedeckte und mindestens einen Umfang von vier Metern hatte, blitzblank.
Herr Li-Ban-Schin pfiff leise und gab dem Diener einen Wink, nach dem er sofort verschwand.
„Ich weiß,“ fuhr der chinesische Herr fort, „daß die Ansicht, die ich entwickle, schon vielfach ausgesprochen worden ist. Aber noch niemals ist mir die Wahrheit der Geschichte so eindringlich klar geworden, wie in diesem Sommer. So unnormal war’s schon lange nicht. Und nun kommen überall große Krisen, Kriege und Revolutionen hinzu – in der Türkei, in Persien, in Portugal, in Deutschland – und bei uns auch. So viel passierte noch niemals in einem Sommer. Und dazu kommt die rapide Entwicklung der Luftschifffahrt. Bleriot ist schon über den Kanal gefahren. Soll noch mehr passieren? Glauben Sie, das hängt alles nicht mit dem Wetter und danach mit der Sonnenenergie zusammen? Unser ganzes Leben ist bedroht. Wir alle leben wie in einem Porzellanhause. Mein Porzellanhaus ist symbolisch für unser ganzes Leben; gebrechliche Materie umgibt uns auf allen Seiten – gebrechliches Porzellan. Ich bin nicht nur ein Regenwetterprophet, ich will auch das politische Wetter prophezeien. Und das ist es, was ich Ihnen sagen wollte.“
„Ja,“ versetzte ich ruhig, „Schwarzseher gibt’s aber auch in Europa schon genug. Wenn irgend etwas los ist, glauben viele gleich, die halbe Welt könnte untergehen. Aber diese Untergänge sind schon zu oft prophezeit, daß manche Leute gar nicht mehr ängstlich zu machen sind. Das können Sie mir glauben.“
„Das ist es eben,“ flüsterte er erregt. „nach meiner Meinung sollen die Leute auch gar nicht ängstlich werden. Aber es wäre doch gut, wenn sie darauf aufmerksam gemacht würden, daß ganz große Umwälzungen auf allen Gebieten des Lebens bevorstehen. Denken Sie an die Zeit vor hundert Jahren! Napoleon war noch nicht in Moskau. Man hielt die politischen Umwälzungen für sehr wichtig. Es war ein stürmisches politisches Wetter damals in Europa. Das politische Wetter hatte aber gar nicht so viel zu bedeuten; es war nur der Vorbote für ein größeres Unwetter – für das Unwetter, das durch die Entwicklung der Eisenbahnen, der Großstädte, der Elektrizität und der ganzen Technik hervorgerufen wurde – das wir erlebt haben. Und so kündigt sich jetzt auch ein ganz neues, großes Unwetter an, und die politischen Stürme und die in der Atmosphäre sind nur Vorboten. Habe ich recht, oder habe ich nicht recht?“
Jetzt bekam ich zunächst wieder Appetit, und ich sagte das – und ich sagte gleichzeitig:
„Sie müssen mir ein wenig Zeit lassen. Ich will mir, was Sie sagen, ein wenig überlegen. Meine Antwort wird nicht ausbleiben.“
Mit der größten Höflichkeit erklärte er, daß er durchaus einverstanden sei, und er gab dem Diener ein Dutzend Aufträge. Und ich aß mit Löffel und Gabel von allen den chinesischen Delikatessen, die mir vorgesetzt wurden – von allen nur eine Kleinigkeit. Es war sehr delikat, und ich dachte über diesen seltsamen Gastgeber nach, der schweigend dasaß und mit gesenkten Augen eine echte Kuba-Zigarre rauchte.
„Ich bin,“ sagte ich dann, als ich nicht mehr essen mochte, „eigentlich durchaus Ihrer Ansicht. Doch weiß ich nicht, worin das neue Unwetter bestehen soll, das jetzt im Anzuge sein soll. Ich weiß es nicht.“
Herr Li-Ban-Schon zog seinen dunkelblauen Seitenmantel fester um seine Schulter und sagte: „Die Dampfbahn hat im vorigen Jahrhundert, wie Sie mir zugeben werden, ganz ungeheuerliche Umwälzungen hervorgebracht. Dagegen waren alle politischen Umwälzungen du auch alle Kriege des neunzehnten Jahrhunderts so gut wie gar nichts. Danach kam das Automobil und nach dem das lenkbare Luftfahrzeug. Und dieses Lenkbare wird im zwanzigsten Jahrhundert noch mehr umwälzen als alle Dampffahrzeuge des neunzehnten Jahrhunderts umgewälzt haben.“
„Ist es da nicht,“ fragte ich lachend, „sehr unvorsichtig, in einem Porzellanhause zu wohnen?“
„Das tu ich,“ erwiderte er, „nur der Freude willen, die ich am Symbolischen habe. Ich war am Ende des vorigen Jahrhunderts in Paris und lernte da einige sogenannte Symbolisten kennen. Doch ich weiß nicht, ob Sie wissen, worin das Gefährliche der modernen Luftschifffahrt besteht.“
„Nein! Ich weiß es nicht!“ sagte ich leise.
Und er fuhr fort:
„Die Europäer überlegen sich die Sache immer noch nicht. Es ist doch nicht mehr daran zu zweifeln, daß wir in kürzester Zeit sehr viele lenkbare Luftschiffe und sehr viele Gleitflieger haben werden - sie können bald nach Hunderten zählen – und bald nach Tausenden. Und dann wird der Militarismus sich fast nur dieser Luftvehikel bedienen und alle anderen Vehikel wie eine Nebensache behandeln. Und man wird aus diesen Luftvehikeln die gefährlichsten Sprengstoffe herauswerfen – und die können überall hinfallen und alles zerstören. Sind da nicht ungeheuerliche Umwälzungen zu befürchten? Ich bitte Sie, sie müssen ja blind sein, wenn Sie die nicht sehen. Was die Haager Konferenz sagt, ist doch eine platonische Geschichte, um so was kümmern sich doch Leute nicht, wenn sie den Krieg wollen. Und die Revolutionäre werden sich um die Beschlüsse der Haager Konferenz noch weniger bekümmern – das ist doch so klar wie der Einfluß der Sonnenenergie auf die Menschenköpfe. Sagen Sie das doch den Europäern. Erzählen Sie ihnen, daß ich in einem Porzellanhause wohne, um damit eine permanente symbolische Sprache zu sprechen. Ich will damit sagen, daß wir alle in einem Porzellanhause wohnen – alle - alle – die Europäer auch.“
Wir sprachen noch bis tief in die Nacht über dieses Thema.
Und als ich am nächsten Tage zwischen den beiden Porzellanhunden, die zwei Meter lang waren, Abschied nahm, sagte ich kopfschüttelnd:
„Welch ein seltsames Land ist dieses China! Daß ich das alles von einem Chinesen hören mußte!“
Ich werde die Gespräche in dieser Porzellan-Villa in meinem ganzen Leben nicht vergessen.
# # #
„Der Wetterprophet,“ mit dem Untertitel „Eine chinesische Geschichte“ erschien in der 35. Nummer Nummer des ersten Jahrgangs von Herwarth Waldens Zeitschrift „Der Sturm,“ am 27. Oktober 1910. Kaum eine Erzählung Scheerbarts kommt ja ohne eine solche Charakterisierung aus: „ein Nachdenker-Scherzo,“ „eine Tempelphantasie,“ „eine Phantastensure,“ „ein Gemütsmärchen,“ „eine Peinstimmung,“ „eine gute Stunde,“ „ein Tiermärchen" – und das betrifft nur die ersten zehn Einträge in seiner alphabetisch georndeten Bibliographie bis zum Auftakt „An-“. Für irdisch-exotisches Kolorit bevorzugte Scheerbart zu Beginn seiner Autorenlaufbahn ein „arabisches“ Ambiente, für die seine beiden ersten Romane aus dem jahr 1897: „Tarub. Bagdads berühmte Köchin“ (laut Untertitel ein „Arabischer Kulturroman“) und „Der Tod des Barmekiden“ („Arabischer Haremsroman“) – deren Schauplätze freilich über das bloße Name-Dropping hinaus so wenig mit den dortigen Gegebenheiten in Gegenwart oder Vergangenheit zu schaffen haben wie seine „Astralen Noveletten“ mit den tatsächlich gegebenen Zuständen im Asteroidengürtel. (Wobei sich im zweiten Fall die Populärkultur, jedenfalls in Falle des Fernsehens, die Freiheit künstlerischer Freiheit herausnahm – ließ Fritz Lang in der „Frau im Mond“ 1929 noch seine Raumpioniere ohne Druckanzug und Helm auf dem Erdtrabanten herumlaufen, so hielten es Corry, der in Folge 7 der ersten Staffel von „The Twilight Zone“ aus dem Jahr 1959 seine Verbannungsstrafe auf einem Asteroiden absitzen muß und die Crew des schnellen Raumkreuzers „Orion“ unter Commander Cliff McLane am Auftakt der ersten Folge, „Angriff aus dem All“ sieben Jahre später etwas „weiter draußen“ genauso. In allen drei Fällen war das Kalkül, die unbedarften Zuschauer nicht unnötig zu irritieren, die schon mit der Möglichkeit der bemannten Raumfahrt herausgefordert waren.)
Auch Scheerbarts „China“ hat natürlich nichts mit den seinerzeitigen Zuständen im Reich der Mitte zu tun. Allerhöchstens könnte man vermerken, daß Herr Li-Ban-Schin auch zuhause „Krisen und Revolutionen“ im Anzug sieht – die Xinhai-Revolution, die Ende Februar 1912 zur formellen Abdankung des Kaisers Puyi und der Etablierung der Republik führte, begann erst in September und Oktober des Jahres 1911. Zu einer der ersten Verfüdungen der neuen Regierung gehörte übrigens das Verbot des Zopftragens als Symbol der verhaßten Fremdherrschaft der Mandschu-Dynastie (die Redewendung "alte Zöpfe abschneiden" bezieht sich darauf). Auch die Zweite Marokkokrise, die zum „Panthersprung nach Agadir“ führte, als sich das deutsche Reich zur Schutzmacht eines unabhängigen Algerien gegen die Kolonialmacht Frankreich erklärte, begann erst im Mai 1911 mit der Besetzung der Städte Fes und Rabat durch französische Truppen. (Der Staatstreich der „Jungtürken,“ die mit der Abdankung des letzten Sultans, Abdulhamid II., endete, fand bereits 1908 statt.) Paßgenau fällt hier nur das Ende der Monarchie in Portugal ins Auge, wo die Republikanische Partei am 5. Oktober 1910 mit ihrem Staatstreiches den letzten Monarchen Manuel II zur Abdankung zwang. Als prophetisch könnte man auch die Erwähnung Persiens werten: die Krise, die zwischen Russland und dem Deutschen Reich nach dem Auslaufen das Abkommens über den Bau persischer Bahnlinien durch das Zarenreich 1910 ausbrach – Deutschland plante hier den Bau der Bagdadbahn unter eigener Kontrolle, um im Krisenfall nicht von den frisch erschlossenen Ölfeldern um Baku am Schwarzen Meer abgeschnitten werden zu können – wurde durch den „spontanen“ Staatsbesuch von Zar Alexander II in Potsdam am 4. November 1910 „beigelegt“ (formell paraphiert wurde das „Potsdamer Abkommen“ in St. Petersburg am 4. August 1911).
Immerhin darf man aus solchen chronologischen Überschlagungen zu dem Schluß kommen, daß das Gefühl eines „kommenden Krieges“, eines Unwetters in der Weltlage, die sich drohend verdüsterte, nicht erst mit der Zweiten Marokkokrise „in der Luft“ lag, die von vielen Interpretatoren als Ursache etwa der expressionistischen apokalyptischen Landschaften von Ludwig Meidner oder des Gedichts „Der Krieg“ von Georg Heym gewertet worden ist, das zwischen dem 4. Und 11. September 1911 verfaßt wurde und 1913 in der Sammlung „Umbra vitae“ erschien.
Aufgestanden ist er, welcher lange schlief,
Aufgestanden unten aus Gewölben tief.
In der Dämmrung steht er, groß und unerkannt,
Und den Mond zerdrückt er in der schwarzen Hand.
In den Abendlärm der Städte fällt es weit,
Frost und Schatten einer fremden Dunkelheit,
Und der Märkte runder Wirbel stockt zu Eis.
Es wird still. Sie sehn sich um. Und keiner weiß. ...
Eine große Stadt versank in gelbem Rauch,
Warf sich lautlos in des Abgrunds Bauch.
Aber riesig über glühnden Trümmern steht
Der in wilde Himmel dreimal seine Fackel dreht,
Daß Scheerbart die dürftige Kulisse seines „Chinas“ aus frei flottierenden Versatzstücken montiert und ansonsten unbekümmert drauflosfabuliert wie bei all seinen entrückten Schauplätzen, darf nicht wundern. In den meisten Texten, die er dort zwischen 1908 und 1912 ansiedelt, berichtet der Baron Münchhausen, den er zuerst 1906 in seinem Roman „Münchhausen und Clarissa. Ein Berliner Roman“ von den Toten auferstehen ließ. Scheerbart macht sich keine Mühe, das Auftauchen des 186-jährigen Freiherrn narrativ zu legitimieren, etwa indem er ihn wie H. G. Wells seinen „Schläfer“ im Jahr 1899 oder Edward Bellamy seinen Julian West im Jahr 1887 durch Hypnose oder ein unbekanntes Wundergas in Trance in die Zukunft zu schicken. Lügenbarone dürfen von Natur aus unsterblich sein. Der Name der hochlöblichen Herrn Li-Ban-Schin läßt sich übrigens durchaus auf Chinesisch wiedergeben: 李班新; bei „Lí“ (mit steigendem Ton), handelt es sich nach „Wang“ um den zweithäufigsten chinesischen Familiennamen; aber 班新 ist als persönlicher Name nichtexistent.
Was aber wundernimmt, ist die Metapher, die Herr 李 für den Zustand seines Landes verwendet: das des zerbrechlichen, bedrohten Hauses aus einem Material, das für gewöhnlich nicht mit solchen Bauten in Verbindung gebracht wird. (Wobei der Turm, den Gustave Eiffel für die Pariser Weltausstellung 1889 entwarf, ja tatsächlich ein ganz aus Eisen gefertigtes Gebäude darstellte - einschließlich Eiffels eigenen Arbeitsräumen auf der dritten Plattform in 300 m Höhe. Und das Gebäude, das Wells' namenloser Zeitreisender nach seiner temporalen Sturzfahrt ins Fahrt 802.701 an Stelle des alten, verschmutzten viktorianischen Londons vorfindet, ist der "Palast aus grünem Porzellan.") Ein Dutzend Jahre später gebrauchte 周树人 / Lu Xun (1880-1936), DER Begründer und Klassiker der modernen chinesischen Literatur, im Vorwort zur seiner ersten Sammlung von Kurzgeschichten, 吶喊 (Nàhǎn, „Aufschreie“) genau so eine gebaute Metapher, um den Zustand seiner Landes und seines Volkes dem Leser drastisch vor Augen zu führen: die des „eisernen Hauses“ – ein Bild, das heute noch jedem chinesischen Leser geläufig ist. Ein Bekannter wirft Lu die Sinnlosigkeit, ja das Verwerfliche seiner Absicht vor, seine Leser aufzurütteln:
“假如一間鐵屋子,是絕無窗戶而萬難破毀的,裏面有許多熟睡的人們,不久都要悶死了,然而是從昏睡入死滅,並不感到就死的悲哀。現在你大嚷起來,驚起了較爲清醒的幾個人,使這不幸的少數者來受無可挽救的臨終的苦楚,你倒以爲對得起他們麼?”
(„Stell dir ein Haus aus Eisen vor, das keinen Ausgang hat, keine Fenster, und das voller Menschen ist, die schlafen, und das von einem Feuer erhitzt wird. Bald werden sie sterben – aber wenn du sie schlafen läßt, werden sie den Tod nicht kommen fühlen und ohne Schmerzen sterben Und du willst ein paar Unglückliche aufwecken, die dafür empfänglich sind – und ihre letzten Augenblicke werden um so qualvoller verlaufen. Wie kannst du da behaupten, daß das, was du tust, gerechter ist?“)
Lu Xuns Antwort lautet:
“然而幾個人旣然起來,你不能說決沒有毀壞這鐵屋的希望。”
(„Aber einige sind immerhin aufgewacht – und wer sagt dir, daß das eiserne Haus wirklich unzerstörbar ist?“)
U.E.
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