(Zeichnung: Paul Scheerbart, aus "Jenseitsgalerie")
Wir saßen am Ufer des Missouri. Nicht weit ab war eine große Eisenbahnbrücke. Es war mondlose Nacht. Fern am Horizont leuchtete die Venus sehr hell - wie ein unruhiges Auge.
Frau Haverland neben mir sprach sehr lebhaft von der Venus.
"Es ist doch höchst merkwürdig," sagte sie, "daß man auf astronomischen Gebieten alles Mögliche behaupten kann, ohne Ärgernis zu erregen. Das gilt auch von der Bewohnbarkeit der Planeten. Tausendmal haben große Astronomen erklärt, daß auf den Planeten ganz andere Stoffverbindungen möglich sind, die eine ganz andere Art des Lebens ermöglichen könnten. Aber trotzdem erörtert man immer wieder. ob auf der Venus erdhaftes Leben möglich ist. Selbst wenn es ganz klar bewiesen wäre, daß dort drüben auf der Venus erdhaftes Leben unmöglich ist - so ist doch ohne weiteres klar, daß ein anderes, von allem Erdhaften gründlichst verschiedenes leben doch dort da sein kann. Regen wir uns nicht darüber auf. Jedenfalls nehme ich an, daß auf der Venus sehr viele vernünftig denkende Wesen existieren könnten."
"Sie existieren!" sagte ich sehr bestimmt.
"Ah!" rief Frau Haverland erregt, "weswegen? Woher wissen Sie das?"
"Auf der Nachtseite der Venus," versetzte ich rasch, "sehen wir doch sehr viele helleuchtende Flecke. Die sind immer da. Das ist elektrisches Licht - und zwar in einer Fülle, wie wirs auf Erden in unsren Nächten nicht kennen. Auf der Venus ist eben das elektrische Licht so billig - wie das Wasser auf der Erde"
"Ah!" rief Frau Haverland abermals, "und darauf folgt, daß Lebewesen dort sein müssen, die das elektrische Licht erzeugen, nicht wahr?"
"Freilich!" erwiderte ich milde, "man könnte natürlich auch annehmen, daß sich auf der Nachtseite der Venus elektrische Lichtquellen, den Polarlichtern der Erde analoge Erscheinungen, ohne die Arbeit von Rindenbewohnern bilden. Aber solche Polarlichter bleiben nicht an einem Punkt. Darum ist es das Wahrscheinlichste, daß Rindenbewohner die Lichter ehrgestellt haben. Nun sind diese aber so stark, daß wir gezwungen sind, gleichzeitig in den Händen jener Rindenbewohner ganz besondere Maschinerien zu vermuten, mit denen sie Elektrizität in überflüssiger Fülle herzustellen vermögen. Wissen Sie schon, worauf ich hinaus will?
"Nein!" rief Frau Haverland lachend.
Ich aber fuhr also fort:
"Ich bin der festen Überzeugung, daß die Venusianer bereits das Perpetuum mobile erfunden haben, daß die erdianischen Gelehrten noch immer für unmöglich halten.
Frau Haverland stand auf, warf eine Kußhand zur Venus und sagte derb:
"Ich schäme mich, daß ich nur in Gedankenlänge auf einem Stern lebe, auf dem man die volle Auswirkung der auf unsrer Sternrinde perpetuierlichen Anziehungskraft noch immer für unmöglich hält. Die Physiker, die Antiperpetuierlichen kenne ich zur Genüge; sie sagen immerzu: Eine Last muß sich der Sternrinde nähern, wenn sie wirken soll. Und dann muß sie natürlich wieder gehoben werden. Daß sich ein Radsystem aber von einer Last in Bewegung setzen ließe, ohne daß sich die Last der Sternrinde nähert - das halten die Stubengelehrten für unmöglich. Warum denn nur? Was nicht alles unmöglich sein soll! Es ist zum Lachen!"
"Es ist zum Lachen!" rief ich auch ganz laut.
Und dabei brachen wir beide in ein fürchterliches Gelächter aus; die Echos hallten donnernd unser Gelächter wider. Und zugleich brach mit entsetzlichem Gekrach die anfangs erwähnte Brücke in der Mitte durch.
Ehe wir aber zur Besinnung kamen, sauste ein langer Eilzug die Brücke rauf und fiel in den Missouri. Hochauf spritzte das Flußwasser.
Und Frau Haverland lag ohnmächtig neben der Bank, auf der wir uns vor ein paar Sekunden noch so lustig von der Nachtseite der Venus unterhielten.
***
Als die Dame wieder zu sich kam, rief sie gleich in höchster Angst:
"Wir müssen fliehen. Das Unglück haben wir verschuldet!"
Ich erwiderte nichts. Und wir flohen.
In New York las ich die ersten Notizen über das Missouribrückenunglück.
Da stand aber sehr deutlich:
"Eine Räuberbande, die sich das Zuges bemächtigt hatte, wurde so mit einem Ruck vernichtet. Ein Zugbeamter, der von den Räubern verjagt worden war, hatte rechtzeitig den Raubanfall der nächsten Station telegraphiert. Und dort hatten die Bahnbeamten rechtzeitig die Brücke gesprengt.“
Als Frau Haverland das las, mußte sie lächeln.
Ich aber sagte ernst:
"Man darf die Wirkung eines fürchterlichen Gelächters in keinem Falle allzu hoch einschätzen."
"Ja," sagte Frau Haverland mit hochgezogenen Augenbrauen, "aber ich hätte doch beinahe gewünscht, daß durch unser Lachen Brücken zerbrochen werden könnten."
"Nun," sagte ich da ganz leise, "wir können zufrieden sein, wenn es ein paar Naturgesetze zerbricht."
Frau Haverland drückte zornig ihre Sonnenschirmkrücke so intensiv, daß die kaputt ging.
***
Laß die Erde! Laß die Erde!
Laß sie ruhen bis sie fault!
Über schwarzen Wiesentriften
Schweben große Purpurengel;
Ihre Purpurlieder brennen
In dem grünen Himmel
Meiner Welt.
(Paul Scheerbart, „Die andere Welt. Ein Phantastenpsalm,“ 1893)
Daß die Literaturwissenschaft, zumindest was den zweiten Teil dieses Kompositums betrifft, einen halbseidenen Ruf hat, zumal gegenüber „richtigen“ Wissenschaftsdisziplinen der messenden und reproduzierenden STEM-Fächer, ist weder ein Geheimnis noch überraschend, und selbst eingefleischte Wolkenschieber im Luftreich der poetischen Seifenblasen dürften sich damit schwertun, den praktisch-faktischen Nutzwert ihres Treibens höher anzusetzen als, nun, Wolkenschieberei. (Weshalb in der Regel im akademischen Betrieb als „praktische Nutzanwendung“ die Ausstattung angehender Lehrkräfte in den jeweiligen Disziplinen mit einem gewissen Hintergrundwissen über den Stoff, den sie zukünftigen Schülergenerationen vermitteln sollen, als Summa verbleibt.) Nimmt man die Erkenntnis hinzu, daß selbst vermeintliche Pioniertaten „unterm Strich“ ohne Relevanz bleibt – auch bei Liebhabern von Dichtung und Tradition, dann ergibt sich durchaus das Bild einer völlig weltentrückten Tätigkeit im Elfenbeinturm, auf die der Rest des Universums durchaus verzichten könnte. Nur ein kleines Beispiel: Als Albrecht Schöne 1994 seine „bahnbrechende“ Edition des Goethe’schen „Faust“ vorlegte, überschlug sich das einschlägige Feuilleton von „ZEIT“ bis „FAZ“ mit Paroxysmen, hier sei endlich ein Klassiker entstaubt, zum ersten Mal überhaupt lesbar – oder zumindest den Intentionen des Dichters gemäß lesbar gemacht worden (der damalige Oberhäuptling des Kulturreferat jeder Zeitung, „hinter der immer (damals) ein kluger Kopf steckte,“ Gustav Seibt, titelte vom „Verscheuchtem Spuk“). Des braucht einige Jahre, bis einige aufmüpfige germanistische Jungtürken dezent darauf hinweisen, daß Schöne mitnichten den Krähenfuß-Wald der Kommata und Apostrophen getilgt, sondern noch vermehrt hatte und daß die Schreibweise „du gut’s, unschuldig’s Kind!“ (Schöne) statt des in hundert Ausgaben gedruckten „Du guts unschuldigs Kind!“ der Weimarer Ausgabe, mit dem Mephisto Gretchen in Szene V (Vers 3007) anspricht, eher nicht zu revolutionären Neuinterpretationen Anlaß gibt.
Aller Wahrscheinlichkeit würde selbst ein unumstößlicher Nachweis, daß Shakespeares Dramen und Sonette von Edward de Vere, dem 17. Earl von Oxford verfaßt wurden – oder von Francis Bacon, oder von Christopher Marlowe, von John Lily, Edward Spenser oder gar von Königin Elizabeth I. höchstselbst (die gewissenhafte Philologie hat mittlerweile 87 Namen gezählt, die im Lauf der letzten 170 Jahre hier als „wahre Urheber“ zum Vorschlag gebracht worden sind), an ihrer Interpretation und Deutung, an ihrer Rolle in der Tradition und im kulturellen Hausschatz genau nichts ändern.
Das Pendant zu Schönes im Bereich der englischsprachigen Literatur unterlief übrigens dem Philologen und Kritiker F. O. Matthiessen, der sich 1941 in seinem Buch „American Renaissance: Art and Expression in the Age of Emerson und Whitman“ an einem Satz in Herman Melvilles Roman „Whitejacket“ von 1850 festbiß. Dort wird im Kapitel 92 der Erzähler bei schwerer See über Bord gespült, und es heißt im Text:
“I wondered whether I was yet dead, or still dying. But of a sudden some fashionless form brushed my side--some inert, coiled fish of the sea; the thrill of being alive again tingled in my nerves, and the strong shunning of death shocked me through. For one instant an agonising revulsion came over me as I found myself utterly sinking.”
In Matthiesens Textvorlage fand sich statt des „coiled fish“, des gewundenen Fisches, der Druckfehler „soiled fish“ – ein schmutziger, schmierig-ekliger Fisch aus der Tiefe des Meeres, der im Erzähler den instinktiven Ekel auslöst – und nicht die Aussicht auf den elenden Tod in den Wellen – was zu dem interpretatorischen Aufschwung Anlaß gab: "…hardly anyone but Melville could have created the shudder that results from calling this frightening vagueness some 'soiled fish of the deep.' The discordia concors, the unexpected linking of the medium of cleanliness with filth, could only have sprung from an imagination that had apprehended the terrors of the deep, of the immaterial deep as well as the physical." (S. 392). Wie man sieht, ist dieses Phänomen nicht auf die Beschäftigung mit der deutschen Literatur beschränkt (notorische Beispiele aus diesem Umzirk finden sich etwa in Emil Staigers „Kunst der Interpretation“ von 1955 oder in Karlheinz Deschners „Kitsch, Kunst und Konvention“ von 1957).
***
Und dennoch. Wenn ich mich an dieser Stelle angelegentlich auf das Gebiet der literarischen Fährtenlese begebe, versuche ich für gewöhnlich, auf etwas weniger grundlosen Treibsand zu bauen – bei allem Wissen um die letztliche Unbeweisbarkeit vieler solcher Hypothesen, wenn nicht gerade Verlagsverträge, Abrechnungen oder sonstige Beweismittel zur Verfügung stehen. Um auf Paul Scheerbart zurückzukommen, der hier vor ein paar Tagen zum Auslöser einer literarhistorischen Pirouette wurde: zwar kann ich es nicht in eben diesem gerichtsfesten Sinn „beweisen,“ daß dieser Berliner Viel- und Gelegenheitsautor seinen Lebensunterhalt am Rand des Existenzminimums in den Jahren zwischen 1908 und 1911 aus den Honoraren bestritt, die er für die Glossen und Kurztexte bezog, die er in der „literarischen Wochenzeitschrift“ „Die Gegenwart“ veröffentlichte, aber dieser Schluß scheint mir angesichts seiner Lebensumstände und der Bibliographie seiner Bücher und Ejnzeltexte unausweichlich.
Von den mageren Erlösen seiner Buchverträge kann Scheerbart sein Leben, seine Mietzahlungen, sein bescheidenes Dasein in wechselnden Mansarden-Absteigen nicht gefristet haben - bis März 1905 im Berliner Bezirk Mariendorf, ab März 1905 in Wilmersdorf, zunächst in der Pfalzburger Straße 52, ab März 1907 in der Anna Straße 5 (so seine Schreibweise) in Zehlendorf, ab Mitte März 1909 in der Thorwaldsen-Straße 20 in Friedrichsdorf, ab Oktober 1910 in der Marschnerstraße 15 in Lichterfelde, die dann bis zu seinem Tod im Oktober 1915 seine letzte Wohnstätte bleiben wird. Sein Verleger Ernst Rowohlt zeigte sich entsetzt, als ihm Scheerbart schrieb, daß er sich hauptsächlich von „geriebenen Heringen auf trockenem Brot“ ernähren würde. Von den knapp 20 zu seinen Lebzeiten erschienenen Büchern und Broschüren erschienen im fraglichen Zeitraum, zwischen Ende 1907 und Anfang 1912 nur die Broschüre „Flora Mohr. Eine Glasblumennovelette“ als Sonderdruck von 1909 von 32 Seiten Umfang bei Haase und die erwähnte „Katerpoesie“ im selben Jahr bei eben Rowohlt, für die Scheerbart ein einmaliges Salär von 100 Mark erhielt. Das „Münchhausen-Brevier“ „Das große Licht“ und der „Asteroiden-Roman“ „Lésabendio“ folgten erst später im Jahr 1912 (beide im Dr. Sally Rabinowitz Verlag in Leipzig – über den sonst wenig in Erfahrung zu bringen ist; die Tatsache, daß dort 1921 zum ersten Mal Ferdinand Kaysers vollständige Übertragung von Pietro Aretinos „Hetärengesprächen“ als „Privatdruck“ erschienen ist, läßt eher nicht auf große Honorare schließen). In der erhaltenen Korrespondenz erwähnt Scheerbart erst wieder Ende August ein Gesamthonorar von 3000 Mark, den ihm der Wiederverkauf der Verlagsrechte dieser beiden Titel und der 1912 im Karlsruher Drei-Lilien-Verlag erschienenen Sammlung „Astrale Noveletten“ an den Münchner Verleger Georg Müller eingebracht hat.
Scheerbarts hauptsächliche Veröffentlichungsmöglichkeiten während dieser Jahre sind neben der „Gegenwart“ in diesen Jahren die beiden wichtigen Magazine des Expressionismus, ab dem März 1910 Herwarth Waldens „Der Sturm“ und ab Februar 1911 Franz Pfemferts „Die Aktion.“ Ungeachtet ihres heutigen legendären Rufs kommen sie als Geldquellen für einen armen Dachstubenpoeten nicht in Betracht. „Die Aktion“ war dafür bekannt, daß Pfemfert keinerlei Honorare zahlte.
Scheerbart hatte seit 1896 gelegentlich einzelne Texte in der 1872 gegründeten Wochenzeitschrift „Die Gegenwart“ unterbringen können, angefangen mit Berichten aus der Kunstwelt („Aus den Kunstsalons,“ „Im Atelier von Anna Costenoble“) – etwa einen kleinen Text pro Jahr. 1906 erschien dort „Die drei Baumstaaten. Eine Staatsgeschichte des alten Münchhausen,“ der noch aus der Textsammlung des „Berliner Romans“ „Münchhausen und Clarissa“ (1906 in Berlin bei Oesterheld & Co. erschienen) stammte; im Jahr darauf „Der gute König. Eine Klostergeschichte“. Ab „Isis. Schauspiel in einem Aufzug“ in der Nummer vom 4. Januar 1908 ändert sich der Takt: 1908 erscheinen 5 Texte, 1909 sind es 25, 1910 dann 42, und 1911 weitere 30. Mit dem Abdruck des Textes „Das Ende der Fleischnot“ am 4. Januar 1912 endet die Serie abrupt. Fortan brachte das Blatt keinen einzigen Text mehr aus der Feder Scheerbarts (diesen Ausdruck durfte man damals noch wörtlich nehmen, auch wenn es sich natürlich um eine Stahlfeder und keinen Gänsekiel mehr handelte). Auch hier kann ich nicht „beweisen,“ was zur Beendigung der Zusammenarbeit geführt hat, die in der veröffentlichten Korrespondenz Scheerbarts nicht erwähnt wird. Möglich, daß die Übernahme der Chefredaktion durch Scheerbarts Bekannten Heinrich Ilgenstein, der in der Anfangszeit seines Magazins „Das Blaubuch“ ab 1906 einige Texte Scheerbarts abgedruckt hatte, aber 1909 einen überaus scharfen Verriss der „Katerpoesie“ gebracht hate, zum Zerwürfnis führte. Mir scheint es wahrscheinlicher, daß jener letzte Text über das „Ende der Fleischnot“ zu vehementen Protesten der Leserschaft Anlaß gab und Verlag und Redaktion keinen Einbruch der Umsatzzahlen riskieren wollten. Bei diesem Text, den man auch aus heutiger Sicht guten Gewissens um Lichtjahre jenseits der Grenzen alles guten Geschmacks verorten kann darf, hat sich Scheerbart ganz offen an Jonathan Swifts „bescheidenen Vorschlag“ aus dem Jahr 1728 angelehnt. Das „Modest Proposal“ macht bekanntlich den zutiefst zynischen Vorschlag, die hungernden Armen Irlands sollten ihre Kinder den englischen Kolonisten als Nahrungsquelle verkaufen, um ihre unerträgliche Not zu lindern. Swift spielt dieses entsetzliche „Projekt“ in seinem kurzen Text mit Pokerface ab – mit Zahlen und Mengenangaben, mit Schätzungen des Nährwerts, ganz nach dem Vorbild der zahllosen „Projekte“ seiner Zeit, die als ernstgemeinte, aber aussichtlose Pamphlete zu Dutzenden gedruckt wurden; jedem Kenner der damaligen Zustände auf der „grünen Insel“ war klar, daß es sich um einen vehementen Protest angesichts der Verhältnisse im 18. Jahrhundert handelte (in diesem Jahrhundert verzeichnete Irland insgesamt 18 Hungerjahre). Scheerbart hingegen holzt grobschlächtig mit seinem schlichten, aber maximal provozierenden Einfall in monotonem Stakkato in ein- und dieselbe Kerbe: „Also rund heraus: Werden auch wir Deutschen Homantohagen! Oder etwas deutlicher: Huldigen wir der Anthropophagie! Oder etwas brutaler: Kehren wir reumütig zurück in die Arme des Kannibalismus! Oder auf deutsch: Laßt uns wieder Menschen fressen! …Seit Jahren leidet das Volk peinlich unter der stets wachsenden Fleischnot. Seit Jahren zittern die Einsichtigen vor dem immer drohenderen Gespenst der Überbevölkerung. Hier gibt es nur ein Mittel. die Anthropophagie.“
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Die Venus war an dieser Stelle ja schon verschiedentlich Thema kleiner Ausflüge als literarischer Sehnsuchtsort. Scheerbarts Beitrag zum Thema erschien im Band 77 der "Gegenwart," in der Ausgabe vom 4. Juni 1910. Der einzige Nachdruck erfolgte im Band 7 der zehnbändigen „Gesammelten Werke,“ herausgegeben von Uli Kohnle, 1993 in einer „einmaligen Ausgabe von dreihundert Exemplaren“ im Ponion Verlag in der „Edition Phantasia“ erschienen. Meine Druckvorlage bildet die Textfassung von 1910 in der „Gegenwart.“ Immerhin dürfte an diesem kleinen Text deutlich werden, daß das durchaus durchwachsende Urteil über Scheerbarts Oeuvre, dem ich mich ja in meinem ersten Beitrag angeschlossen habe, nicht ganz von der Hand zu weisen ist – ein Eindruck, den Otto Julius Bierbaum, auch ein heute fast vergessener Mäzen und Spiritus Rector der verzettelten Literatur jener Jahrhundertwende, schon 1897, in der Zeitschrift „Die Zeit“, in seinem kleinen Porträt „Der weise Clown“ so zusammenfaßte: „Nur schien mir dieser Scheerbart ein bißchen sehr liederlich oder unfähig zu sein, etwas auszugestalten. All diesen Sachen fehlte immer das Letzte. Der Ansatz zu einem Stile war überall deutlich, aber nichts war ausgerundet, nichts im künstlerischen Sinne fertig. ... Im Allgemeinen war der Eindruck des Verrankten, und Verrenkten, des Stammelnden und Unbewältigten zu stark.“
So etwa das rein assoziative Drauflosfabulieren, die Obsession, auf sein langjähriges Projekt eines Perpetuum mobile zurückzukommen, das ihn seit Ende 1907 in Beschlag nahm und in das er tatsächlich Hoffnungen auf grenzenlose Reichtümer gesetzt zu haben scheint - "Jetzt kommt das neue Zeitalter. Was jetzt alles möglich ist - das ist nicht mehr zu beschreiben. Alle Gebirge werden 'architektonisch' verwandelt - und die Flüsse werden in Canäle geleitet," schreibt er im Mai 1908 an seinen Freund und Förderer Richard Dehmel. Zwei Wochen später heißt es im nächsten Brief: "Heute soeben zweite 'verbesserte Anmeldung' des Patents eingereicht. 20 Mark kostet die Anmeldung - in dieser Woche muß sie gezahlt werden - und ich weiß nicht ganz genau, ob ich DAS zusammenkriege. Würdest Du so lieb sein?" - und wieder eine Woche darauf: "Letzten Mittwoch ging noch die dritte Eingabe ans Patentamt ab. 20 Mark ans Patentamt abgesandt. Du sagtest mir im Oktober 05 - Du könnest mir im schlimmsten Fall 20 Mark senden - wenn Du es also jetzt tätest, wären wir froh. Ich zweifle nicht an der Sache." Man sieht, Erbprinzen aus Nigeria gab es auch schon im Berlin der Wilhelminischen Zeit.
U.E.
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