15. August 2021

"Aus der Tangentialen." Zum Tod von Karl Heinz Bohrer





Hand aufs Herz, lieber Leser: Wann haben Sie das letzte Mal etwas von Günter Grass gelesen?

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Diese Frage ist als Auftakt eines kleinen Nachrufs für Karl Heinz Bohrer, der in der vorigen Woche im Alter von 88 Jahren in London gestorben ist, nicht ganz so frivol, wie es zuerst scheinen mag. Umformuliert zu „Wann haben Sie zuletzt eine Ausgabe des ‚Merkur‘ gelesen?“ macht sie schlagartig zwei Aspekte deutlich. Zum einen, wie weit uns die Debatten der „alten Bundesrepublik,“ der oft verlachten „Bunzreplik“ Bonner Zuschnitts und ihre intellektuellen Vertreter doch inzwischen entfernt sind; zum anderen, welch eine geistige Fallhöhe es zwischen diesen intellektuellen Fehden und Kontroversen der Jahre der Kanzlerschaft von Schmidt und Kohl – der Haltung zur terroristischen Gewalt der RAF, der „Nachrüstungsdebatte“ etwa – und dem gibt, was an „Kontroversen“ in der Berliner Republik seit Jahren aufgeführt wird. Wobei „Debatten,“ „Kontroversen“: das sind die falschen Worte: es gibt nur ein schrilles Gekreisch des Immergleichen und der Immergleichen, wenn einem Autor nachgesagt wird, er habe bei einem politisch mißliebigen, also „rechten“ Verlag publiziert. Nach spätestens einer Woche verstummt es, und beim nächsten „Vorfall“ wiederholt es sich wortgleich. Es gibt keinen Erkenntnisfortschritt, keine Rückbesinnung, keine Klärung unterschiedlicher Positionen, kein Ausleuchten der unterschiedlichen Aspekte mehr – also das, was das Wesen einer solchen Kontroverse ausmacht, die ja nicht darin besteht, daß man die Gegenseite von der Richtigkeit der eigenen Sicht überzeugt, und das die andere Seite gute Gründe für ihre Position beanspruchen kann. Es gibt nur noch schwarz und weiß, keine Grauzonen mehr, der einzige Wettbewerb besteht in der Schrille, mit der Abweichendes verdammt wird. Was die geistige Enge und Provinzialität angeht, so steht die Berliner Republik seit Mitte der 2010er Jahre ihrer Vorgängerin am gleichen Ort vor 1989 um nichts nach.

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Und als drittes macht die Frage deutlich, wie sehr solche Debatten, Positionsklärungen und Selbstvergewisserungen auf Publikationen, auf Magazine, Journale, auch Diskussionsforen in den elektronischen Medien angewiesen sind und auf deren Herausgeber (oder im Fall der elektronischen Agoren Gastgebern wie etwa Werner Höfer), die auf Freiraum und Zivilisiertheit der Debatte halten, die nicht zuletzt Formate schaffen, auf dessen, nun ja, „Format“ (in doppelter Hinsicht: in Inhaltlich wie Niveau) der Leser oder Zuschauer Vertrauen entwickelt, und in dessen Rahmen er sich auch gern mit Neuem und Kontroversem konfrontieren läßt. Unter Bohrers Herausgeberschaft wurde der „Merkur,“ 1947 unter dem Herausgeber Hans Paeschke im Verlag Klett-Cotta als „Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken“ gegründet, von einer bislang respektablen, aber vergleichsweise wenig beachteten Publikation liberal-konservativem Zuschnitts zu DER Orientierungshilfe für kulturelle, philosophische, auch literarische Belange – und natürlich auf politische, die oft weit über das Tagesaktuelle hinausgingen. Das Besondere dabei war, daß die ofte bis zu 20 Seiten langen Beiträge ihre Themen natürlich detaillierter und ausführlicher behandeln konnten, als es im Feuilleton der großen Tageszeitungen wie der „FAZ“ oder der „Welt“ möglich war. Für viele Jahre war der „Merkur“ für mich jedenfalls, zumindest in deutschsprachigen Belangen, deswegen jeden Monat Pflichtlektüre. Es ist mir mehr als einmal passiert, daß mich ein Beitrag zu einem bislang eher unbekannten bis vernachlässigten Thema Anlaß gewesen ist, mich näher mit der Materie zu befassen und am Ende meine Einstellung grundlegend zu ändern. Zuletzt war dies bei Horst Meiers Beitrag zur regelmäßig erscheinenden „Rechtskolumne“ im Heft 680 vom Dezember 2005 der Fall, in der der Autor Hans Kelsen und seine Version des Rechtspositivismus behandelte und mich auf einen Lektüre-Parcours schickte, an dessen Ende eine recht kategorische Ablehnung jeglichen Naturrechtsbegriffs Rousseau’scher Prägung stand – und steht.

Der Einfluß des „Merkur“ stand dabei in keinem Verhältnis zu seiner tatsächlichen Auflage. Ab Mitte der 1980er wurde sie oft auf 2000 Exemplare beziffert; aktuell findet sich beim Verlag die Angabe von 3500 monatlichen Exemplaren. Hinzu kam, daß der Preis, aufgrund der kleinen Auflage, hoch genug war, um potentielle Abonnenten abzuschrecken: Anfang der 80er Jahre betrug der Preis für die monatlichen 80 engbedruckten Seiten 8 DM; 1990 15 DM und zuletzt vor der Währungsumstellung 19 DM pro Ausgabe. No matter: der „Merkur“ war immer ein Organ für Büchereien. Er gehörte – und behört – zum eisernen Bestand großer Stadt- und Universitätsbibliotheken; es war für mich nachgerade ein Ritual, bei wöchentlichen Gang in den Lesesaal am Monatsanfang die aktuelle Ausgabe durchzublättern und die interessant erscheinenden Beiträge – darunter sämtliche Kolumnen und Kritiken zu kopieren und diese Kopien im Lauf der nächsten ein bis zwei aufmerksam zu lesen. Nicht wenige davon haben sich bis heute in zahlreichen Ordnern im Arbeitszimmer erhalten. Der „Merkur“ war eine Zeitschrift, die nicht entsorgt, sondern gewissenhaft gesammelt wurde. Und das lag nicht allein am Preis.

Rückblickend – auch Bohrer hatte ein großes Fiable dafür, Entwicklungen in einen größeren Rahmen, in eine Jahrhunderte umfassende kulturelle Evolution einzupassen – fällt auf, daß sich hier eine Konstante zeigt, was solche „mobilen Wissens-“ und vor allem „Debattenreservoire“ angeht: das 19 Jahrhundert war die Zeit der Lesekabinette und später der Kaffeehäuser, in denen man solcher Zeitungs- und Magazinlektüre frönten. Im 20. Jahrhundert übernahmen die Lesesäle und Zeitungsauslagen der öffentlichen Bibliotheken diese Funktion; und im Zeitalter des Weltnetzes haben die Outlets und Medienauftritte der „alternativen Medien“ diese Aufgabe übernommen. Auch hier zeigt sich, im letzten Fall wohl auch den Limitationen des Bildschirmmediums geschuldet, eine deutliche Veränderung von Umfang und dem oben angesprochenen „Überraschungsfaktor.“ Heute, aus der Distanz von 150 Jahren, erscheint es uns beinahe rätselhaft, wie ein damaliger Starkritiker wie Sainte-Beuve Woche um Woche seine „Causeries du lundi“ abliefern konnte, Plaudereien und Erörterungen, Lebensschilderungen, Anekdoten über Autoren und Dichter, auch Philosophen von der Antike bis zur Gegenwart, ohne aktuellen Anlaß (einer der bekanntesten Eröffnungssätze lautete: „Wir haben schon lange nicht mehr über Vergil gesprochen“), über jeweils 3000 Wörter, also 15 Druckseiten hinweg, oft in mehreren Folgen, über 20 Jahre, die am Ende in Buchform 32 Bände von jeweils mehr als 500 Seiten füllten – und damit ein begeistertes Stammleserpublikum gewinnen konnte.

Bei allem Respekt vor den heutigen Outlets eines alternativen Meinungsklimas, vor den Oasen in der Sahara der Berliner Meinungswüste, wie sie in „Tichys Einblick,“ in der „Achse des Guten,“ und einigen anderen zu lesen sind, auch im Feuilleton der „Neuen Zürcher Zeitung,“ als „neuem Westfernsehen: auch hier zeigt ein Vergleich mit dem Beispiel der „drögen Bunzreplik,“ wie schemenhaft und kurz die Einlassungen heute ausfallen. Im direkten Vergleich kann man nicht umhin, dies als schmerzlichen Verlust zu empfinden. Vor allem aber: man erwartet nicht, hier anderes vorzufinden, als man es gewohnt ist und wie es die Headline als Titel ankündigt. Auch hier dienen diese Medien dazu, zu bestätigen, was man schon dachte. Wer nicht schon, zumeist von konservativer Neigung, und skeptisch gegenüber dem alles niederwalzenden Zeitgeist (vielmehr „Zeit-Ungeist“) angefressen, auf die Zeitläufte blickt, wird diese Wasserstellen erst gar nicht aufsuchen.

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Nach Bohrers Ablösung als Herausgeber des „Merkur“ durch den Kunsthistoriker Christian Demand Ende 2011 hat sich dieser „geistige Eros,“ der die Zeitschrift bis dahin ausgezeichnet hatte, ziemlich rasch verflüchtigt: das „gewisse Etwas,“ die „geistige Spannkraft“ – wie immer man es nennen will und was nur schwer zu definieren ist. Die Versuche einer „Modernisierung,“ jeder Ausgabe einen Leitartikel voranzustellen oder Tagungsberichte abzudrucken, ein Kotau vor der Tagesaktualität mithin, dürften eher Ausdruck dieses Verlusts sein. Und so kann ich auch meine eingangs gestellte Frage in ihrer zweiten Variante beantworten: den letzten Text, die ich im „Merkur“ gelesen habe, war im Januar 2020 die verspätet nachgereichte Erinnerung an den 200. Todestag von Theodor Fontane, in der der Verfasser auf 15 Seiten darauf bestand, daß Fontane ein schundschlechter Balladendichter sei, daß die „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ eine unlesbar gequirlte Mixtur aus Lokalchronik, preußischem Hurrapatriotismus und Herumlaufen in öder Gegend darstellen und Fontane außer dem „Stechlin“ und „Effi Briest“ ebenso unlesbare Romane am Fließband geschustert habe und auch diese beiden Ausnahmen durch den ewig gleichbleibenden Plauderton entwertet würden. Ich mag mich irren, aber ich kann mir nicht vorstellen, daß ein solcher Text unter Bohrers Herausgeberschaft ins Heft gehoben worden wäre.

Deutlich wird jedenfalls, wie sehr solche Magazine, solche Formate, von der Persönlichkeit ihrer Herausgeber geprägt werden, wie sehr nicht nur einer Zeitschrift, ein Sendeformat an sich und aus sich selbst lebt.

Zu diesem „Fluidum“ mag beigetragen haben, daß sich Bohrers Weltsicht in einem zentralen Punkt von einem genuinen Konservatismus unterschied, in deren Mittelpunkt die „Plötzlichkeit“ stand, der er als literarischem Konzept 1981 seine Habilitation gewidmet hat: die Überraschung, der Einbruch des Unverhofften, gerade auch der Gewalt und des Umsturzes, als antreibendem, sinngebendem Moment, das dem Dasein erst Kontur verleiht. Jedem genuinen Konservatismus, mit dem Bohrer ansonsten viel verband, ist dergleichen zutiefst Anathema. Aber es verbindet ihn mit Ernst Jünger, über dessen Frühwerk er 1977 seine Dissertation geschrieben hat. Auch seine Vorliebe für den Surrealismus verdankt sich dieser „Ästhetik des Schreckens.“

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In manchen Nachrufen war in der letzten Woche zu lesen, mit Bohrer sei nun der letzte Intellektuelle der Bundesrepublik alten Zuschnitts, der letzte „Taktgeber,“ von der Bühne abgetreten. Dieses Bild ist in zweierlei Hinsicht irreführend. Ein solcher „Taktgeber,“ der den Debatten Ziel und Richtung gab, war Bohrer nur in seiner Eigenschaft als Herausgeber; er wirkte eher indirekt, indem er anderen das Feld dafür anbot. Wesentlich prägender waren hier die im Vergleich zu ihm eher polternden Wortführer Böll oder Grass (meine Eingangsfrage habe ich mit Hintergedanken so formuliert) - bei denen sich oft Kenntnisfreiheit mit einem erstaunlichen Widerwillen gegen jede Ästhetik paarte – Jürgen Habermas oder Hans Magnus Enzensberger. Habermas, noch unter den Lebenden waltend, hat sich als „mahnende Stimme“ schon lange aus der Öffentlichkeit zurückgezogen; eine Lücke scheint er nicht hinterlassen zu haben. Es könnte sein, das das, was vom Wirken „St. Jürgens“ bleibt, die fulminante Abrechnung ist, die Roger Scruton 2015 in seinem Werk „Fools, Frauds and Firebrands“ abgeliefert hat, in dem er sich die „Vordenker der Neuen Linken“ von Sartre über Foucault, Althusser, Lacan, Deleuze bis Edward Said und Slavoj Žižek entschlossen zur Brust nimmt (die deutsche Übersetzung von Krisztina Koenen erschien am Montag dieser Woche unter dem Titel „Narren, Schwindler, Unruhestifter: Linke Denker des 20. Jahrhunderts“ im FinanzBuch Verlag, der sich in den letzten drei Jahren zu einer staunenswerten Oase konservativer Wortmeldungen gemustert hat), und in der er dem Weltdeuter, dessen Hauptwerk der „Theorie des kommunikativen Handelns“ gewidmet ist, die völlige Unfähigkeit, den Inhalt dieser Theorie kommunikativ zu vermitteln (vulgo: „zu erklären“), genüßlich unter die Nase reibt.

(Bezeichnend ist, daß der Bruch von Habermas mit dem „Merkur,“ wo er als einer der Beiträger mit dem größten Gewicht galt, und mit Bohrer Ende 1989 in der Frage der deutschen Einheit stattfand – nachdem Bohrer sich in einem Beitrag vehement dafür ausgesprochen hatte – sehr zur Empörung „St. Jürgens‘“, der sie – wie nicht wenige westdeutsche Stichwortgeber, ablehnte, als Strafe für den „Zivilisationsbruch Auschwitz“. Spätestens zu diesem Zeitpunkt mußte nüchternen Betrachtern klarwerden, daß de „Kollektivschuldfrage,“ die in der Nachkriegszeit von Denkern von Walter Jens noch rigoros abgelehnt worden war, für einen Großteil der deutschen Intellektuellen in dem Vierteljahrhundert seit den Ausschwitz-Prozessen anders entschieden worden war.)

Hans Magnus Enzensberger, das andere überlegende „Urgestein der bundesrepublikanischen Intellektuellen-Riege,“ ist zwar weiterhin als Autor aktiv (sein letzter Gedichtband „Wirrwarr“ erschien 2020, im Jahr davor die „Experten-Revue in 89 Nummern“ sowie einer Sammlung von kurzen Adnoten und Apercus im Stil von Nichoas Chamfort oder La Rochefoucauld mit dem Titel „Fallobst,“ und 2018 unter seinem Pseudonym Andreas Thalmayr ein „kurzer Lehrgang“ zum Thema „Schreiben für ewige Anfänger“). Aber spätestens mit seiner öffentlich bekannten Passion zur Mathematik Ende der neunziger Jahre hat sich Enzensberger aus der Rolle des öffentlichen Stichwortgebers zurückgezogen und pflegt seine Privatinteressen als geistreicher Raconteur. Zudem hat er immer mit seiner Rolle als „unsicherer Kantonist“ kokettiert („In mir habt ihr einen / auf den könnt ihr nicht bauen,“ womit er eine bekannte Zeile von Brecht zitierte). Als Intellektueller hatte Bohrer in dieser Hinsicht mehr mit Enzensberger – der ihm auf der zeitgeistlichen Wetterkarte der alten Bundesrepublik um zwei Generation voraus kam – mehr gemein, als auf den ersten Blick auffällt. Von seiner Doktorarbeit, die den Geschichtsauffassung der Romantik in Augenschein nahm („Der Mythos des Nordens“) bis bis zur Untersuchung des Motivs des „literarischen Hasses, „Mit Dolchen sprechen“ von 2019, in dem er an einem Dutzend exemplarischer Autoren von Shakespeare bis zu Michel Houllebecq diese Facette nachzeichnet (den Österreichern in Gestalt von Thomas Bernhard und Elfriede Jellinek ist hier bezeichnenderweise ein eigenes Kapitel gewidmet wir auch Celine, nicht aber Karl Kraus) sind diese Einlassungen erzgescheite Behandlungen ihres Themas und in ihrem Duktus angenehm zu lesen – aber tongebend sind sie nicht.

Der Weltgeist, so befand ja schon Hegeln, zeigt mitunter en détail einen Sinn für Humor. Insofern erscheint es überaus passend, daß der kleine Band "Was alles so vorkommt" mit dem Untertitel "Dreizehn alltägliche Phantasiestücke," der am 12. September 2021 im Suhrkamp Verlag als Taschenbuch erscheinen wird und ein solches Bäckerdutzend von Bohrers Einlassungen zu tagesaktuellen Fürfallenheiten sammelt, sein literarisches Vermächtnis darstellen wird.

U.E.

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