4. November 2006

Armut (3): Soziales

Eine Gesellschaft, in der alle gleich sind, hat es, soweit wir wissen, in der Geschichte der Menschheit nicht gegeben. Es gibt sie auch nicht bei anderen Primaten, in deren Horden im Gegenteil deutliche Hierarchien existieren.

Ungleichheit gab und gibt es in verschiedener Hinsicht. Manche Formen der Ungleichheit zwischen Menschen haben ihr biologisches Pendant, treffen also auf uns ebenso zu wie auf andere Primaten - Ungleichheit bei der Nahrungsverteilung, Ungleichheit beim Zugang zum anderen Geschlecht; also bei der Chance, seine Gene weiterzugeben. Ungleichheit weiterhin im Glück des Siegens und Unglück des Verlierens bei Dominanzkämpfen, bei Kriegen, in sonstigen gewaltsamen Auseinandersetzungen. Ungleichheit im Leid durch Krankheit, Hunger, Verletzungen durch Feinde. Ungleichheit in den Umständen des Sterbens.

Andere Formen der Ungleichheit kommen nur beim Menschen vor. Ungleichheit, was die Bildung angeht. Ungleichheit in den Wohnbedingungen, im Zugang zu Lebensgenüssen wie gutem Essen, Reisen, Kultur, Luxus aller Art. Ungleichheit in der Härte der Arbeit, die jemand leisten muß, oder die zu leisten er sich entschieden hat. Ungleichheit im gesellschaftlichen Ansehen. Ungleichheit im Glück des Liebens und Vertrauens.

Für jede dieser - und viele weitere - Formen der Ungleichheit kann man so etwas wie eine Rangordnung der Menschen in einer Gesellschaft ermitteln. Diese Rangordnungen korrelieren miteinander, aber sie korrelieren in der Regel nicht sonderlich hoch. Menschen, die gut essen können, mögen trotzdem hart arbeiten müssen. Gebildete leben oft mit wenig Luxus. Gesundheit und der Erfolg beim anderen Geschlecht korrelieren nur gering mit der Chance, gut essen, schön wohnen und sich reichlich Unterhaltungsgenüsse leisten zu können.

Das gesellschaftliche Ansehen gar korreliert in den heutigen kapitalistischen Gesellschaften immer weniger mit denjenigen Vorteilen, die man durch hohes Einkommen gewinnt. Fast könnte man von einer negativen Korrelation sprechen; gerade die Bezieher hoher und höchster Einkommen unterliegen mehr und mehr gesellschaftlicher Mißachtung. Glück in der Beziehung zu anderen Menschen - Liebe, Vertrauen, Solidarität - korreliert kaum mit irgendeiner der anderen Dimensionen.

Immerhin, es gab und gibt positive Korrelationen. Sie sind die Grundlage dafür, von Klassen, Schichten, Kasten, Milieus usw. zu sprechen. Diese bilden Cluster im Muster der Korrelationen. Wer gut essen kann, hat in der Regel auch bessere Bildungschancen. Wer in Dominanzkämpfen siegt, hat in der Regel auch die Chance auf einen höheren Lebensstandard. Dergleichen. Auch Weltanschauungen, auch politische Einstellungen korrelieren mit den anderen Dimensionen, die solchen Clustern zugrundeliegen.

Jedoch kann man das Geflecht solcher Cluster und der ihnen zugrundeliegenden Korrelationen keineswegs auf eine eindimensionale Hierarchie reduzieren, oder gar auf einen Gegensatz von "unten" und "oben". Das heißt, man "kann" es schon, wie der Marxismus beweist. Nur trifft es nicht die komplexe Realität.



Zu Beginn des Zweiten Buchs des Ersten Bands seiner "Römischen Geschichte" beschreibt Theodor Mommsen die Konflikte in der Römischen Republik, ungefähr von der Zeit der Tarquinier bis zu den Gracchen: Erstens gab es ein "unten" und "oben" in Form des Gegensatzes zwischen Regierenden und Regierten, zwischen der Beamtenmacht und dem Volk. Zweitens gab es ein "unten" und "oben" in Gestalt des Konflikts zwischen Vollbürgern und Nichtbürgern - den Latinern, den Italikern, den Freigelassenen, auch den Plebejern ohne volles Bürgerrecht. Und drittens gab es ein "unten" und "oben" als den Gegensatz zwischen Vermögenden und Vermögenslosen.

Drei Konflikte, die keineswegs zusammenfielen: "Die politische Bewegung innerhalb der vollberechtigten Bürgerschaft, der Krieg der Ausgeschlossenen und der Ausschließenden, die sozialen Konflikte der Besitzenden und der Besitzlosen, so mannigfaltig sie sich durchkreuzen und ineinanderschlingen und oft seltsame Allianzen herbeiführen, sind dennoch wesentlich und von Grund auf verschieden", schreibt Mommsen.



"Arm" ist, wie in Teil zwei beschrieben, im allgemeineren Wortsinn jemand, den wir bedauern, der unser Mitleid erregt. Das läßt sich auf die meisten der genannten Formen sozialer Hierarchie beziehen. Wir bedauern jemanden als "arm", der krank ist, dem eine Niederlage bereitet wurde, dem Bildung verweigert wird oder ordentliches Essen, der in seiner täglichen Arbeit schuften muß. Ebenso jemanden, der im sozialen Ansehen weit unten steht. Arm ist, wer bindungsunfähig ist, wer niemanden hat, der ihn liebt, wer keine Solidarität erfährt.

So, wie generell soziale Hierachien, wie Hierarchien des Lebensglücks nur schwach korrelieren, so ist in der Regel ein Mensch nicht zugleich in jeder dieser Hinsichten arm. Er kann vielleicht wenig Geld zur Verfügung haben, aber gesund und gebildet sein. Er kann viel Geld zur Verfügung haben, aber aus psychischen Gründen zum Genuß unfähig sein. Er kann in geordneten, menschlich erfreulichen Verhältnissen leben und mit seinem Leben hochzufrieden sein, auch wenn er in einer sozial wenig angesehenen Position ist und nur ein niedriges Einkommen hat.

Kurzum, "arm" ist eigentlich keine brauchbare soziale Kategorie. Andererseits gehört es zu überkommenen, unreflektierten Vorstellungen, daß es "Arme" gibt. Und andererseits liegt es im Interesse linker politischer Strömungen, den Begriff der Armut im politischen Diskurs lebendig zu halten. Das Eintreten für Schwache, die moralische Unterfütterung politischen Verhaltens ist ja so etwas wie die Raison d'être linken politischen Engagements.



Es gibt einen Begriff der Armut, der unstreitig ist (siehe Teil 1 dieser Serie): Wenn jemand nicht ordentlich zu essen hat, kein Dach über dem Kopf, wenn er sich nicht anständig kleiden kann, im Winter frieren muß und ohne gesundheitliche Versorgung ist, dann ist derjenige arm. Solche Menschen gibt es in unserer Gesellschaft. Es gibt Arme in diesem indisputablen Sinn.

Sie sind aber selten gemeint, wenn man von Armen spricht, von "neuer Armut". Sondern gemeint sind Menschen, die durch bestimmte statistische Kriterien und sozioökonomische Merkmale als arm definiert sind. Sie leben dann "unter der Armutsschwelle", im "Prekariat", in der "Unterschicht".

Diese Grenze, unterhalb deren man sie lokalisiert, muß definiert werden. Und das ist schwierig. Ein Teil der kursierenden Definitionen sind höchst fragwürdig. Mit Definitionsversuchen von "Armut" befaßt sich der nächste Teil.