Darüber, wann jemand im herkömmlichen Sinn arm ist, gibt es weitgehend Übereinstimmung: Arm ist, wer nicht genug zu essen hat, sich nicht ordentlich kleiden kann, wer nicht in menschenwürdigen Verhältnissen wohnt, wer frieren muß, wer keine ausreichende Gesundheitsversorgung hat.
Das läßt sich nicht leicht quantifizieren, aber die Weltbank versucht es: Ein Einkommen von weniger als einem Dollar am Tag, kaufkraftbereinigt - also inflations- und paritätsbereinigt - , wird als Armutsgrenze definiert.
Die Armut in diesem herkömmlichen Sinn nimmt weltweit ab. Sogar dramatisch, wie die Weltbank im Vergleich zwischen 2001 und 1981 festgestellt hat: Der Anteil der Armen hat sich in diesen zwei Jahrzehnten von 40 auf 21 Prozent der Weltbevölkerung reduziert. Besonders dramatische Fortschritte hat Ostasien gemacht, während die Armut im subsaharischen Afrika allerdings im selben Zeitraum noch zugenommen hat.
Ginge es nur um Armut in diesem herkömmlichen Sinn, dann hätten wir in Deutschland keine Armutsdiskussion. Niemand, der in Deutschland ein Einkommen bezieht - und sei es durch Sozialhilfe -, muß vom Äquivalent von weniger als einem Dollar am Tag leben. Aber darum geht es ja längst nicht mehr. Diskutiert wird heute - wurde kürzlich unter den Schlagworten "Unterschicht" und "Prekariat" - über Armut in einem anderen Sinn.
Wie das britische Forschungsinstitut Overseas Development Institute (ODI) es in einem sehr lesenswerten Bericht beschreibt, begann man in den siebziger Jahren, die Armut neu zu definieren: Nicht mehr nur als ein Problem des Einkommens, sondern unter diversen sozioökonomischen, politischen, kulturellen Gesichtspunkten. Es entstand ein neuer Begriff von Armut: Nicht einfach als geringes Einkommen, sondern als ein dadurch bedingtes Zurückbleiben hinter den Standards einer gegebenen Gesellschaft.
In den achtziger und neunziger Jahren wurde dieser neue Armutsbegriff weiter ausgeweitet. New layers of complexity were added, neue Komplexitätsebenen wurden hinzugefügt, sagt der Bericht des ODI. Nicht nur Einkommen sollte von nun an Armut definieren, sondern beispielsweise auch mangelnder Zugang zur sozialen Teilhabe (Participation). Arm sollte auch sein, wer nicht gut in der Lage ist, auf Lebensprobleme angemessen zu reagieren (Vulnerability).
Die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen, die sich mit Themen der nachhaltigen Entwicklung beschäftigte und ihren Bericht 1987 vorlegte, bettete den Armutsbegriff in ein allgemeineres theoretisches Konstrukt ein, auskömmliches Leben (Livelihood). Arm ist danach, wer - in irgendeiner Hinsicht - kein auskömmliches Leben hat. Arm ist, nach einer anderen Definition aus den achtziger Jahren, wem sein Einkommen nicht erlaubt, seine Fähigkeiten (Capabilities) zu entfalten.
Und schließlich trat - in den neunziger Jahren - überhaupt der materielle Aspekt bei der Definition der Armut in den Hintergrund. Als arm sollte nun gelten, wer in irgendeiner Hinsicht nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann (Exclusion) - an der demokratischen Willensbildung, in juristischer Hinsicht, in Bezug auf den Zugang zu Märkten, zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaats, in familiärer Hinsicht oder in Bezug auf die Gemeinschaft, in der er oder sie lebt: Rechte, Ressourcen und Beziehungen seien alle wichtig. In den Worten des Berichts der ODI: The idea of well-being came to act as a metaphor for absence of poverty. Wohlbefinden wurde zur Metapher für Nicht-Armut.
Oder, in einer anderen Definition, Armut sollte nun sein the denial of opportunities and choices ... to lead a long, healthy, creative life and to enjoy a decent standard of living, freedom, dignity, self-esteem and the respect of others. Arm ist, wem es verwehrt ist, Chancen zu nutzen und Wahlen zu treffen, um ein langes, gesundes, kreatives Leben zu führen und einen angemessenen Lebensstandard, Freiheit, Würde, Selbstachtung und den Respekt anderer zu genießen. (Definition des United Nations Development Program, zitiert in dem Bericht der ODI).
Welch ein Weg, innerhalb von dreißig Jahren!
Es liegt auf der Hand, daß der "Arme" im Sinn dieser neuen Definitionen kaum noch Ähnlichkeit mit dem klassischen "Armen" hat, der hungert, friert und nicht adäquat versorgt wird, wenn er krank ist. Arm im Sinn dieser neuen Definitionen ist der reiche Pensionär, der vereinsamt ist, weil seine Freunde weggestorben sind. Arm ist, wer seinen Kinder nicht die Markenklamotten kaufen kann, wie sie die Schulkameraden tragen, sondern nur Kleidung von C&A. Arm ist, wer ungebildet ist und deshalb nicht so am Kulturleben teilnimmt, wie der Theaterbesucher und Kunde von Buchhandlungen; wer mit Ikea-Möbeln lebt, während seine Freunde sich mit Antiquitäten ausstatten.
Nun sind Definitionen bekanntlich nicht beweisbar oder widerlegbar. Es liegt im Wesen einer Definition, daß sie beliebig ist, eine Setzung.
Aber es gibt vernünftige, begründete, einleuchtende Setzungen. Und es gibt solche, denen etwas Willkürliches, Unplausibles anhaftet. Die skizzierte Ausweitung des Armutsbegriffs in den vergangenen drei Jahrzehnten scheint mir von dieser Art zu sein. Denn es werden nun ganz verschiedene Sachverhalte mit demselben Begriff bezeichnet. Armut im herkömmlichen, absoluten und unbestreitbaren Sinn wird mit demselben Wort bezeichnet wie Armut in diesem neuen Sinn, der nahezu jede gesellschaftliche Benachteiligung einschließt.
So etwas nennt man in der Logik eine Äquivokation: Zwei Dinge oder zwei Sachverhalte werden mit demselben Begriff bezeichnet. Das kann historische Ursachen haben, es kann aus Nachlässigkeit geschehen. Es kann freilich auch politischen Absichten dienen.
Diese dritte Möglichkeit wird man bei der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Armut, wie sie in den vergangenen drei Jahrzehnten eingeführt wurde, wohl in Betracht ziehen müssen.
Denn den Armen im klassischen Sinn gilt ja zu Recht unser Mitleid. Kein mitfühlender, kein halbwegs human denkender Mensch wird wollen können, daß Menschen hungern und frieren und ihren Krankheiten hilflos ausgeliefert sind. "Armut" in diesem Sinn ist ein - zu Recht - mit emotionalen Konnotationen verknüpfter Begriff. Diese Armut ist etwas Abscheuliches, Intolerables.
Wenn man den Begriff der Armut nun für etwas ganz anderes verwendet - soziale Benachteilung in irgendeiner Hinsicht -, dann übertragen sich natürlich auch diese Konnotationen. Mit anderen Worten, es wird nahegelegt, ja nachgerade definitorisch festgelegt, daß die "Armut" in diesem ganz anderen Sinn ebenfalls unsere Abscheu erregen sollte.
Positiv gesagt: Es wird das Ideal einer Gesellschaft impliziert, in der es allen Menschen gleich gut geht; in der sie alle ein gleiches Interesse an Kultur, gleiche Bildung, gleich reiche und befriedigende soziale Beziehungen, eine gleiche Teilhabe am politischen Leben haben.
Es wird, mit anderen Worten, das Ideal einer egalitären, einer sozialistischen Gesellschaft impliziert.
Jedermann ist unbenommen, dieses Ideal zu haben und seine Realisierung politisch zu betreiben. Ich habe es nicht, weil ich der Überzeugung bin, daß jeder Versuch, eine solche Gesellschaft herzurichten, nur zur Egalität in Armut und Unterdrückung führt. Aber jeder mag das sehen, wie er will.
Nur, was haben solche Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft in den Wissenschaften zu suchen? Was in Berichten der Vereinten Nationen? Mir scheint, hier wird Wissenschaft politisiert, hier werden die Vereinten Nationen instrumentalisiert.
Hier wird die Feststellung von Sachverhalten mit der Deklaration von Zielvorstellungen durcheinandergewürfelt. Da es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften so gut wie keine Armut im herkömmlichen Sinn mehr gibt, wird der Begriff der Armut umdefiniert mit dem Ergebnis, daß man wieder Arme hat, sogar in steigender Anzahl. Mittels einer Definition wird die Armut, die in unseren Gesellschaften so gut wie verschwunden ist, wieder herbeigezaubert.
Schlechte Wissenschaft, die mit Umdefinitionen arbeitet. Politisierte Wissenschaft, parteiliche Wissenschaft. Also keine Wissenschaft.
Und schlechte Wissenschaft noch in einem anderen Sinn: Bei aller Betonung des Qualitativen hat dieser neue, weite Begriff von Armut doch Versuche zur Quantifizierung nach sich gezogen. Sehr seltsame, zum Teil. Mit ihnen befaßt sich der folgende, abschließende Teil dieser Serie.
Das läßt sich nicht leicht quantifizieren, aber die Weltbank versucht es: Ein Einkommen von weniger als einem Dollar am Tag, kaufkraftbereinigt - also inflations- und paritätsbereinigt - , wird als Armutsgrenze definiert.
Die Armut in diesem herkömmlichen Sinn nimmt weltweit ab. Sogar dramatisch, wie die Weltbank im Vergleich zwischen 2001 und 1981 festgestellt hat: Der Anteil der Armen hat sich in diesen zwei Jahrzehnten von 40 auf 21 Prozent der Weltbevölkerung reduziert. Besonders dramatische Fortschritte hat Ostasien gemacht, während die Armut im subsaharischen Afrika allerdings im selben Zeitraum noch zugenommen hat.
Ginge es nur um Armut in diesem herkömmlichen Sinn, dann hätten wir in Deutschland keine Armutsdiskussion. Niemand, der in Deutschland ein Einkommen bezieht - und sei es durch Sozialhilfe -, muß vom Äquivalent von weniger als einem Dollar am Tag leben. Aber darum geht es ja längst nicht mehr. Diskutiert wird heute - wurde kürzlich unter den Schlagworten "Unterschicht" und "Prekariat" - über Armut in einem anderen Sinn.
Wie das britische Forschungsinstitut Overseas Development Institute (ODI) es in einem sehr lesenswerten Bericht beschreibt, begann man in den siebziger Jahren, die Armut neu zu definieren: Nicht mehr nur als ein Problem des Einkommens, sondern unter diversen sozioökonomischen, politischen, kulturellen Gesichtspunkten. Es entstand ein neuer Begriff von Armut: Nicht einfach als geringes Einkommen, sondern als ein dadurch bedingtes Zurückbleiben hinter den Standards einer gegebenen Gesellschaft.
In den achtziger und neunziger Jahren wurde dieser neue Armutsbegriff weiter ausgeweitet. New layers of complexity were added, neue Komplexitätsebenen wurden hinzugefügt, sagt der Bericht des ODI. Nicht nur Einkommen sollte von nun an Armut definieren, sondern beispielsweise auch mangelnder Zugang zur sozialen Teilhabe (Participation). Arm sollte auch sein, wer nicht gut in der Lage ist, auf Lebensprobleme angemessen zu reagieren (Vulnerability).
Die Brundtland-Kommission der Vereinten Nationen, die sich mit Themen der nachhaltigen Entwicklung beschäftigte und ihren Bericht 1987 vorlegte, bettete den Armutsbegriff in ein allgemeineres theoretisches Konstrukt ein, auskömmliches Leben (Livelihood). Arm ist danach, wer - in irgendeiner Hinsicht - kein auskömmliches Leben hat. Arm ist, nach einer anderen Definition aus den achtziger Jahren, wem sein Einkommen nicht erlaubt, seine Fähigkeiten (Capabilities) zu entfalten.
Und schließlich trat - in den neunziger Jahren - überhaupt der materielle Aspekt bei der Definition der Armut in den Hintergrund. Als arm sollte nun gelten, wer in irgendeiner Hinsicht nicht voll am gesellschaftlichen Leben teilnehmen kann (Exclusion) - an der demokratischen Willensbildung, in juristischer Hinsicht, in Bezug auf den Zugang zu Märkten, zu den Leistungen des Wohlfahrtsstaats, in familiärer Hinsicht oder in Bezug auf die Gemeinschaft, in der er oder sie lebt: Rechte, Ressourcen und Beziehungen seien alle wichtig. In den Worten des Berichts der ODI: The idea of well-being came to act as a metaphor for absence of poverty. Wohlbefinden wurde zur Metapher für Nicht-Armut.
Oder, in einer anderen Definition, Armut sollte nun sein the denial of opportunities and choices ... to lead a long, healthy, creative life and to enjoy a decent standard of living, freedom, dignity, self-esteem and the respect of others. Arm ist, wem es verwehrt ist, Chancen zu nutzen und Wahlen zu treffen, um ein langes, gesundes, kreatives Leben zu führen und einen angemessenen Lebensstandard, Freiheit, Würde, Selbstachtung und den Respekt anderer zu genießen. (Definition des United Nations Development Program, zitiert in dem Bericht der ODI).
Welch ein Weg, innerhalb von dreißig Jahren!
Es liegt auf der Hand, daß der "Arme" im Sinn dieser neuen Definitionen kaum noch Ähnlichkeit mit dem klassischen "Armen" hat, der hungert, friert und nicht adäquat versorgt wird, wenn er krank ist. Arm im Sinn dieser neuen Definitionen ist der reiche Pensionär, der vereinsamt ist, weil seine Freunde weggestorben sind. Arm ist, wer seinen Kinder nicht die Markenklamotten kaufen kann, wie sie die Schulkameraden tragen, sondern nur Kleidung von C&A. Arm ist, wer ungebildet ist und deshalb nicht so am Kulturleben teilnimmt, wie der Theaterbesucher und Kunde von Buchhandlungen; wer mit Ikea-Möbeln lebt, während seine Freunde sich mit Antiquitäten ausstatten.
Nun sind Definitionen bekanntlich nicht beweisbar oder widerlegbar. Es liegt im Wesen einer Definition, daß sie beliebig ist, eine Setzung.
Aber es gibt vernünftige, begründete, einleuchtende Setzungen. Und es gibt solche, denen etwas Willkürliches, Unplausibles anhaftet. Die skizzierte Ausweitung des Armutsbegriffs in den vergangenen drei Jahrzehnten scheint mir von dieser Art zu sein. Denn es werden nun ganz verschiedene Sachverhalte mit demselben Begriff bezeichnet. Armut im herkömmlichen, absoluten und unbestreitbaren Sinn wird mit demselben Wort bezeichnet wie Armut in diesem neuen Sinn, der nahezu jede gesellschaftliche Benachteiligung einschließt.
So etwas nennt man in der Logik eine Äquivokation: Zwei Dinge oder zwei Sachverhalte werden mit demselben Begriff bezeichnet. Das kann historische Ursachen haben, es kann aus Nachlässigkeit geschehen. Es kann freilich auch politischen Absichten dienen.
Diese dritte Möglichkeit wird man bei der Doppeldeutigkeit des Begriffs der Armut, wie sie in den vergangenen drei Jahrzehnten eingeführt wurde, wohl in Betracht ziehen müssen.
Denn den Armen im klassischen Sinn gilt ja zu Recht unser Mitleid. Kein mitfühlender, kein halbwegs human denkender Mensch wird wollen können, daß Menschen hungern und frieren und ihren Krankheiten hilflos ausgeliefert sind. "Armut" in diesem Sinn ist ein - zu Recht - mit emotionalen Konnotationen verknüpfter Begriff. Diese Armut ist etwas Abscheuliches, Intolerables.
Wenn man den Begriff der Armut nun für etwas ganz anderes verwendet - soziale Benachteilung in irgendeiner Hinsicht -, dann übertragen sich natürlich auch diese Konnotationen. Mit anderen Worten, es wird nahegelegt, ja nachgerade definitorisch festgelegt, daß die "Armut" in diesem ganz anderen Sinn ebenfalls unsere Abscheu erregen sollte.
Positiv gesagt: Es wird das Ideal einer Gesellschaft impliziert, in der es allen Menschen gleich gut geht; in der sie alle ein gleiches Interesse an Kultur, gleiche Bildung, gleich reiche und befriedigende soziale Beziehungen, eine gleiche Teilhabe am politischen Leben haben.
Es wird, mit anderen Worten, das Ideal einer egalitären, einer sozialistischen Gesellschaft impliziert.
Jedermann ist unbenommen, dieses Ideal zu haben und seine Realisierung politisch zu betreiben. Ich habe es nicht, weil ich der Überzeugung bin, daß jeder Versuch, eine solche Gesellschaft herzurichten, nur zur Egalität in Armut und Unterdrückung führt. Aber jeder mag das sehen, wie er will.
Nur, was haben solche Vorstellungen von einer idealen Gesellschaft in den Wissenschaften zu suchen? Was in Berichten der Vereinten Nationen? Mir scheint, hier wird Wissenschaft politisiert, hier werden die Vereinten Nationen instrumentalisiert.
Hier wird die Feststellung von Sachverhalten mit der Deklaration von Zielvorstellungen durcheinandergewürfelt. Da es in den fortgeschrittenen kapitalistischen Gesellschaften so gut wie keine Armut im herkömmlichen Sinn mehr gibt, wird der Begriff der Armut umdefiniert mit dem Ergebnis, daß man wieder Arme hat, sogar in steigender Anzahl. Mittels einer Definition wird die Armut, die in unseren Gesellschaften so gut wie verschwunden ist, wieder herbeigezaubert.
Schlechte Wissenschaft, die mit Umdefinitionen arbeitet. Politisierte Wissenschaft, parteiliche Wissenschaft. Also keine Wissenschaft.
Und schlechte Wissenschaft noch in einem anderen Sinn: Bei aller Betonung des Qualitativen hat dieser neue, weite Begriff von Armut doch Versuche zur Quantifizierung nach sich gezogen. Sehr seltsame, zum Teil. Mit ihnen befaßt sich der folgende, abschließende Teil dieser Serie.