Man kann falsch übersetzen. Richtig übersetzen kann man im Grunde nicht.
Eine Übersetzung aus einer natürlichen Sprache in eine andere natürliche Sprache ist keine "Übertragung"; so wie man, sagen wir, bei einer TV-Übertragung Bilder in elektromagnetische Schwingungen und diese wieder zurück in Bilder "übersetzt". Ein übersetzter Text ist vielmehr ein neuer Text, der mit dem Originaltext mehr oder weniger zahlreiche Gemeinsamkeiten hat.
Ist die Übersetzung gelungen, dann gibt es viele Gemeinsamkeiten in den wesentlichen Merkmalen. Ist sie mißlungen, dann ist die Schnittmenge kleiner. Die gute Übersetzung ist nicht eigentlich "richtig". Die mißlungene ist in der Regel nicht in einem absoluten Sinn "falsch". Sie liegen an verschiedenen Stellen auf einem Kontinuum, das Perfektion nicht einschließt. Und ebensowenig ein völliges Mißglücken.
Meist jedenfalls. Grenzfälle gibt es freilich.
Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit an die Übersetzung, die ein Mitschüler für den Satz: "Vous avez cette tranquillité d'âme qui est le propre du sage" gefunden hatte. Sie lautete: "Sie haben die Geduld eines Esels, der sauber und brav ist".
Das Unheil begann offensichtlich damit, daß der Unglücksrabe "âme" (Seele) mit "âne" (Esel) verwechselte. "Propre", das wußte er, heißt "sauber". Es heißt allerdings auch "eigen"; das wußte er wahrscheinlich nicht. Und "sage" heißt in der Tat "brav", aber "le sage" ist auch "der Weise". Der Satz lautet also, richtiger übersetzt: "Sie haben jene Seelenruhe, die dem Weisen eigen ist".
Richtiger - aber richtig? Sollte man statt "Seelenruhe", ein doch etwas altfrankisch-unüblicher Begriff, nicht vielleicht "Gelassenheit" übersetzen? Und "dem Weisen eigen", das klingt ja auch nicht eben wie modernes Deutsch. Also wäre eine richtigere Übersetzung vielleicht: "Sie haben jene Gelassenheit, die den Weisen auszeichnet"? Oder einfach: "Sie haben die Gelassenheit eines Weisen"? Oder warum dann nicht gleich: "Sie haben die typische Gelassenheit eines Weisen"?
Da hätten wir dann einen schönen, runden, einfachen deutschen Satz. Von der Umständlichkeit, auch vom Sprachrhythmus des Originals, auch von dessen eigener Altfränkischkeit, ist freilich nichts mehr erhalten geblieben.
Bei technisch-naturwissenschaftlichen Texten liegen die Dinge anders; wie auch bei juristischen, bei sonstigen fachlichen Texten. Sie kann man weitgehend in einem absoluten Sinn richtig übersetzen, weil die Sprache schlicht ist, weil die Termini definiert sind. Im Grunde geht es hier nur darum, Bedeutungen zu kennen oder nachzuschlagen und die Syntax der einen Sprache in die der anderen zu transformieren.
Nur - warum in aller Welt sollte man das tun? Es liegt doch auf der Hand, daß einfache Texte mit einer eindeutigen Terminologie gleich auf Englisch geschrieben werden sollten und daß auch jedem zugemutet werden kann, das zu tun; erst recht solche englischen Texte zu lesen, wenn sein Beruf das verlangt. Die Debatte darüber, ob deutsche Wissenschaftler nicht ihre Publikationen auf deutsch schreiben und ihre Vorlesungen auf deutsch halten sollten, ist bizarr. Sie wird allerdings im Augenblick heftig geführt; deshalb werde ich auf sie in einem späteren Teil dieser Serie zu sprechen kommen.
Aber darum geht es hier nicht. In Fachtexten spielen Konnotationen, Nebenbedeutungen, spielen Rhythmus und Prosodie, spielt das ganze Netz der Assoziationen kaum eine Rolle. Also alles das, was einen Alltagstext, was erst recht Prosa und was ganz und gar Lyrik über die schlichte Denotation hinaus ausmacht.
Hier also, bei Fachtexten und nur bei ihnen, liegt das Terrain der automatisierten Übersetzung. Solange, wie nicht alle diese Texte gleich auf Englisch geschrieben werden.
In den sechziger Jahren, als es die ersten theoretischen Vorarbeiten für automatisches Übersetzen gab - von lauffähigen Programmen war man damals noch sehr weit entfernt -, erzählte der Tübinger Altphilologe Wolfgang Schadewaldt seinen Studenten, unter denen ich damals saß, den folgenden Witz: Ein Übersetzungsprogramm wird mit dem Satz "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" gefüttert und übersetzt ihn ins Chinesische. Dann gibt man diesen chinesischen Satz ein und läßt ihn ins Deutsche zurückübersetzen. Ergebnis: "Der Schnaps ist gut, aber das Steak ist zäh".
Das war damals nicht nur gut erfunden, sondern es entsprach auch dem Stand des Wissens und Könnens vor knapp einem halben Jahrhundert. Schadewaldt, der Meister des Übersetzens aus dem Griechischen, erzählte diesen Witz natürlich, um seine Verachtung für die in seiner Sicht erbärmlichen Versuche auszudrücken, Maschinen das Übersetzen beizubringen.
Hat er Recht behalten? Ja und nein. Wenn man den Satz aus dem Witz in Google Translate eingibt und ihn ins Englische übersetzen läßt, dann bekommt man: "The spirit is willing, but the flesh is weak", und zurückübersetzt liefert das brav: "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach."
Nur besagt das nicht viel. Der Satz ist beim Google-Programm offenbar im Phrasenspeicher für Englisch und Deutsch enthalten.
Um ein Schadewaldt'sches Resultat zu bekommen, muß man einen kleinen Umweg gehen. Aus dem Deutschen zum Beispiel ins Spanische ("El alcohol está dispuesto, pero la carne es débil") und von dort ins Englische liefert: "The alcohol is arranged, but the meat is weak". Schadewaldt würde im Grab laut lachen.
Schadewaldts Einsichten waren der erste Anlaß für mich, über die Fragwürdigkeit des Übersetzens nachzudenken. Ein zweiter ergab sich daraus, daß ich damals, als Student, Gelegenheit hatte, ein wenig an einer Arbeit mitzuwirken, die sich mit Rilkes Übersetzungen von Gedichten Paul Valérys befaßte.
Ich erinnere mich noch an die erste Zeilen des "Cimetière Marin" und Rilkes Übersetzung: "Ce toit tranquille où marchent des colombes / entre les pins palpite, entre les tombes." Beschrieben wird die Zeit des Mittags, die Stunde des Gottes Pan in der griechisch-römischen Tradition. Diese Überklarheit, dieses Flirren, diese lähmende Ruhe auch. Valéry drückt das aus durch die harten t- und p-Laute, das "Marschieren" der aufgereihten Segler, wie Tauben auf dem Dach, das "Zittern" ("Pulsieren"? "Beben"?) des flimmernden Horizonts zwischen den Pinien.
Sinnlichkeit also, intellektuell mit Schärfe, ja Überschärfe reflektiert, wie oft bei Valéry.
Und nun Rilkes Übersetzung (aus der Erinnerung zitiert; ich habe den Text nicht vorliegen): "Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden, / scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden". Aus dem harten, affirmativen "palpiter" wird eine weiches, sanftes und unbestimmtes "scheint schwingend zu verbinden"; das fast militärische "marcher" wird zu "sich finden". Aus der Klarheit des lateinischen Mittags mit seiner niederbrennenden Sonne wird bei Rilke eine nachgerade romantische Idylle, im Inhalt wie im Wortklang und in der Prosodie.
Keine "Übertragung" also. Noch nicht einmal eine "Nachdichtung". Sondern Rilke, der ein durch Valéry inspiriertes Gedicht verfaßt.
Und noch ein drittes Beispiel, das mich für die Lektüre von Übersetzungen verdorben hat:
Ab etwa Mitte der siebziger Jahre erschien eine sehr eigenwillige Zeitschrift, "Die Republik". Sie war am Vorbild der "Fackel" orientiert, bis hin zur graphischen Gestaltung, und wurde herausgegeben von Uwe Nettelbeck, zeitweilig unterstützt von seiner Frau Petra. In der Lieferung 48-54 vom 8. Mai 1980 war eines der Themen Gustave Flaubert. Nettelbeck hatte sich die Mühe gemacht, alle verfügbaren deutschen Übersetzungen des berühmten ersten Absatzes des Zweiten Teils der "Madame Bovary" zusammenzutragen und sie, zusammen mit dem Original, abzudrucken.
Ich habe mir das damals ziemlich lang und ziemlich genau angesehen, weil ich es spannend fand, die richtige Übersetzung zu finden. Aber ach, es gab sie nicht: Die Übersetzungen waren nicht nur allesamt verschieden - sie wichen zum Teil krass voneinander ab -, sondern es gelang mir auch nicht, diejenige herauszufinden, die den Text "richtig" wiedergab.
Alle hatten sie den einen oder anderen Aspekt des Originals getroffen und andere vernachlässigt. Dem einen Übersetzer war es gelungen, den Sprachrhythmus zu erhalten; dafür klang sein Text im Deutschen unbeholfen und fremd. Der andere hatte sich um flottes Deutsch bemüht und dabei den Stil Flauberts verfehlt. Manche hatten brutal in der Syntax von Flaubert herumgefuhrwerkt. Andere hatten sie exakt erhalten und dadurch Perioden hervorgebracht, die gerade dadurch, daß sie dem Original gerecht zu werden versuchten, schlechtes Deutsch waren.
Manches konnte man als Übersetzungsfehler ankreiden - beispielsweise Arthur Schurigs Übersetzung von "les garçons, le dimanche, s'amusent à pêcher à la ligne" damit, daß "die Dorfjungen reihenweise an den Sonntagen zu ihrer Belustigung angeln".
Wußte der Übersetzer nicht, daß "pêcher à la ligne" schlicht "angeln" heißt, ganz ohne "reihenweise"? Aber was, wenn er vielleicht besonders um Textnähe bemüht war und dem deutschen Leser dieses Bild der aufgereiht dasitzenden Angler vermitteln wollte, das vor dem geistigen Auge des Franzosen auftaucht, wenn er pêcher à la ligne liest? Arno Schmidt hat sich bei seinen Übersetzungen oft um eine solche extreme Form der Textnähe bemüht, und Harry Rowohlt hat es ihm, in Pooh's Corner in der "Zeit", einmal als übersetzerische Unfähigkeit angekreidet.
So what? Ich möchte eine persönliche und eine allgemeine Konsequenz nennen.
Die persönliche ist einfach: Ich vermeide es, wenn irgend das möglich ist, Übersetzungen zu lesen. Das verschließt mir die russische und die gesamte slawische Literatur, die skandinavische und viele anderen. Ich kann's verkraften; denn die verbleibende Lebensspanne wird nicht ausreichen, in den mir verfügbaren Sprachen das zu lesen, was ich gern gelesen hätte.
Allgemein trete ich dafür ein, daß alle Menschen mindestens zweisprachig erzogen werden sollten: in der Muttersprache und im Englischen. Ein Kind lernt in seinen ersten zwei bis sechs Lebensjahren zwei Sprachen ebenso leicht wie eine. Die Mühe für das Kind wäre also gering. Der Aufwand für das Erziehungssystem wäre bescheiden.
Wir leben in einer glücklichen Zeit, in der es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Lingua Franca gibt. Das Englische ist dabei, sich von der Muttersprache der angelsächsischen Völker zu einer Sprache zu entwickeln, die weltweit beherrscht wird. Das, was die Esperantisten mit ihrer Kunstsprache wollten, ist jetzt mit der gewachsenen Sprache Englisch Wirklichkeit geworden.
Warum also nicht schon im Kindergarten die Kinder zweisprachig erziehen? Warum sollte es nicht erreichbar sein, daß alle deutschen Kinder ebenso gut und vollständig beim Schuleintritt Deutsch und Englisch beherrschen, wie die Kinder von Einwanderern Deutsch und Türkisch oder Deutsch und Serbokroatisch beherrschen?
Sie würden dann vermutlich nicht ein Cell Phone als "Handy" bezeichnen. Und sie würden sich schlapp lachen über alle die albernen Anglizismen, mit denen man ihre Kauflust anzuregen versucht.
Denn der Reiz aller dieser Anglizismen besteht ja gerade darin, daß sie fremd sind.
Eine Übersetzung aus einer natürlichen Sprache in eine andere natürliche Sprache ist keine "Übertragung"; so wie man, sagen wir, bei einer TV-Übertragung Bilder in elektromagnetische Schwingungen und diese wieder zurück in Bilder "übersetzt". Ein übersetzter Text ist vielmehr ein neuer Text, der mit dem Originaltext mehr oder weniger zahlreiche Gemeinsamkeiten hat.
Ist die Übersetzung gelungen, dann gibt es viele Gemeinsamkeiten in den wesentlichen Merkmalen. Ist sie mißlungen, dann ist die Schnittmenge kleiner. Die gute Übersetzung ist nicht eigentlich "richtig". Die mißlungene ist in der Regel nicht in einem absoluten Sinn "falsch". Sie liegen an verschiedenen Stellen auf einem Kontinuum, das Perfektion nicht einschließt. Und ebensowenig ein völliges Mißglücken.
Meist jedenfalls. Grenzfälle gibt es freilich.
Ich erinnere mich aus meiner Schulzeit an die Übersetzung, die ein Mitschüler für den Satz: "Vous avez cette tranquillité d'âme qui est le propre du sage" gefunden hatte. Sie lautete: "Sie haben die Geduld eines Esels, der sauber und brav ist".
Das Unheil begann offensichtlich damit, daß der Unglücksrabe "âme" (Seele) mit "âne" (Esel) verwechselte. "Propre", das wußte er, heißt "sauber". Es heißt allerdings auch "eigen"; das wußte er wahrscheinlich nicht. Und "sage" heißt in der Tat "brav", aber "le sage" ist auch "der Weise". Der Satz lautet also, richtiger übersetzt: "Sie haben jene Seelenruhe, die dem Weisen eigen ist".
Richtiger - aber richtig? Sollte man statt "Seelenruhe", ein doch etwas altfrankisch-unüblicher Begriff, nicht vielleicht "Gelassenheit" übersetzen? Und "dem Weisen eigen", das klingt ja auch nicht eben wie modernes Deutsch. Also wäre eine richtigere Übersetzung vielleicht: "Sie haben jene Gelassenheit, die den Weisen auszeichnet"? Oder einfach: "Sie haben die Gelassenheit eines Weisen"? Oder warum dann nicht gleich: "Sie haben die typische Gelassenheit eines Weisen"?
Da hätten wir dann einen schönen, runden, einfachen deutschen Satz. Von der Umständlichkeit, auch vom Sprachrhythmus des Originals, auch von dessen eigener Altfränkischkeit, ist freilich nichts mehr erhalten geblieben.
Bei technisch-naturwissenschaftlichen Texten liegen die Dinge anders; wie auch bei juristischen, bei sonstigen fachlichen Texten. Sie kann man weitgehend in einem absoluten Sinn richtig übersetzen, weil die Sprache schlicht ist, weil die Termini definiert sind. Im Grunde geht es hier nur darum, Bedeutungen zu kennen oder nachzuschlagen und die Syntax der einen Sprache in die der anderen zu transformieren.
Nur - warum in aller Welt sollte man das tun? Es liegt doch auf der Hand, daß einfache Texte mit einer eindeutigen Terminologie gleich auf Englisch geschrieben werden sollten und daß auch jedem zugemutet werden kann, das zu tun; erst recht solche englischen Texte zu lesen, wenn sein Beruf das verlangt. Die Debatte darüber, ob deutsche Wissenschaftler nicht ihre Publikationen auf deutsch schreiben und ihre Vorlesungen auf deutsch halten sollten, ist bizarr. Sie wird allerdings im Augenblick heftig geführt; deshalb werde ich auf sie in einem späteren Teil dieser Serie zu sprechen kommen.
Aber darum geht es hier nicht. In Fachtexten spielen Konnotationen, Nebenbedeutungen, spielen Rhythmus und Prosodie, spielt das ganze Netz der Assoziationen kaum eine Rolle. Also alles das, was einen Alltagstext, was erst recht Prosa und was ganz und gar Lyrik über die schlichte Denotation hinaus ausmacht.
Hier also, bei Fachtexten und nur bei ihnen, liegt das Terrain der automatisierten Übersetzung. Solange, wie nicht alle diese Texte gleich auf Englisch geschrieben werden.
In den sechziger Jahren, als es die ersten theoretischen Vorarbeiten für automatisches Übersetzen gab - von lauffähigen Programmen war man damals noch sehr weit entfernt -, erzählte der Tübinger Altphilologe Wolfgang Schadewaldt seinen Studenten, unter denen ich damals saß, den folgenden Witz: Ein Übersetzungsprogramm wird mit dem Satz "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach" gefüttert und übersetzt ihn ins Chinesische. Dann gibt man diesen chinesischen Satz ein und läßt ihn ins Deutsche zurückübersetzen. Ergebnis: "Der Schnaps ist gut, aber das Steak ist zäh".
Das war damals nicht nur gut erfunden, sondern es entsprach auch dem Stand des Wissens und Könnens vor knapp einem halben Jahrhundert. Schadewaldt, der Meister des Übersetzens aus dem Griechischen, erzählte diesen Witz natürlich, um seine Verachtung für die in seiner Sicht erbärmlichen Versuche auszudrücken, Maschinen das Übersetzen beizubringen.
Hat er Recht behalten? Ja und nein. Wenn man den Satz aus dem Witz in Google Translate eingibt und ihn ins Englische übersetzen läßt, dann bekommt man: "The spirit is willing, but the flesh is weak", und zurückübersetzt liefert das brav: "Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach."
Nur besagt das nicht viel. Der Satz ist beim Google-Programm offenbar im Phrasenspeicher für Englisch und Deutsch enthalten.
Um ein Schadewaldt'sches Resultat zu bekommen, muß man einen kleinen Umweg gehen. Aus dem Deutschen zum Beispiel ins Spanische ("El alcohol está dispuesto, pero la carne es débil") und von dort ins Englische liefert: "The alcohol is arranged, but the meat is weak". Schadewaldt würde im Grab laut lachen.
Schadewaldts Einsichten waren der erste Anlaß für mich, über die Fragwürdigkeit des Übersetzens nachzudenken. Ein zweiter ergab sich daraus, daß ich damals, als Student, Gelegenheit hatte, ein wenig an einer Arbeit mitzuwirken, die sich mit Rilkes Übersetzungen von Gedichten Paul Valérys befaßte.
Ich erinnere mich noch an die erste Zeilen des "Cimetière Marin" und Rilkes Übersetzung: "Ce toit tranquille où marchent des colombes / entre les pins palpite, entre les tombes." Beschrieben wird die Zeit des Mittags, die Stunde des Gottes Pan in der griechisch-römischen Tradition. Diese Überklarheit, dieses Flirren, diese lähmende Ruhe auch. Valéry drückt das aus durch die harten t- und p-Laute, das "Marschieren" der aufgereihten Segler, wie Tauben auf dem Dach, das "Zittern" ("Pulsieren"? "Beben"?) des flimmernden Horizonts zwischen den Pinien.
Sinnlichkeit also, intellektuell mit Schärfe, ja Überschärfe reflektiert, wie oft bei Valéry.
Und nun Rilkes Übersetzung (aus der Erinnerung zitiert; ich habe den Text nicht vorliegen): "Dies stille Dach, auf dem sich Tauben finden, / scheint Grab und Pinie schwingend zu verbinden". Aus dem harten, affirmativen "palpiter" wird eine weiches, sanftes und unbestimmtes "scheint schwingend zu verbinden"; das fast militärische "marcher" wird zu "sich finden". Aus der Klarheit des lateinischen Mittags mit seiner niederbrennenden Sonne wird bei Rilke eine nachgerade romantische Idylle, im Inhalt wie im Wortklang und in der Prosodie.
Keine "Übertragung" also. Noch nicht einmal eine "Nachdichtung". Sondern Rilke, der ein durch Valéry inspiriertes Gedicht verfaßt.
Und noch ein drittes Beispiel, das mich für die Lektüre von Übersetzungen verdorben hat:
Ab etwa Mitte der siebziger Jahre erschien eine sehr eigenwillige Zeitschrift, "Die Republik". Sie war am Vorbild der "Fackel" orientiert, bis hin zur graphischen Gestaltung, und wurde herausgegeben von Uwe Nettelbeck, zeitweilig unterstützt von seiner Frau Petra. In der Lieferung 48-54 vom 8. Mai 1980 war eines der Themen Gustave Flaubert. Nettelbeck hatte sich die Mühe gemacht, alle verfügbaren deutschen Übersetzungen des berühmten ersten Absatzes des Zweiten Teils der "Madame Bovary" zusammenzutragen und sie, zusammen mit dem Original, abzudrucken.
Ich habe mir das damals ziemlich lang und ziemlich genau angesehen, weil ich es spannend fand, die richtige Übersetzung zu finden. Aber ach, es gab sie nicht: Die Übersetzungen waren nicht nur allesamt verschieden - sie wichen zum Teil krass voneinander ab -, sondern es gelang mir auch nicht, diejenige herauszufinden, die den Text "richtig" wiedergab.
Alle hatten sie den einen oder anderen Aspekt des Originals getroffen und andere vernachlässigt. Dem einen Übersetzer war es gelungen, den Sprachrhythmus zu erhalten; dafür klang sein Text im Deutschen unbeholfen und fremd. Der andere hatte sich um flottes Deutsch bemüht und dabei den Stil Flauberts verfehlt. Manche hatten brutal in der Syntax von Flaubert herumgefuhrwerkt. Andere hatten sie exakt erhalten und dadurch Perioden hervorgebracht, die gerade dadurch, daß sie dem Original gerecht zu werden versuchten, schlechtes Deutsch waren.
Manches konnte man als Übersetzungsfehler ankreiden - beispielsweise Arthur Schurigs Übersetzung von "les garçons, le dimanche, s'amusent à pêcher à la ligne" damit, daß "die Dorfjungen reihenweise an den Sonntagen zu ihrer Belustigung angeln".
Wußte der Übersetzer nicht, daß "pêcher à la ligne" schlicht "angeln" heißt, ganz ohne "reihenweise"? Aber was, wenn er vielleicht besonders um Textnähe bemüht war und dem deutschen Leser dieses Bild der aufgereiht dasitzenden Angler vermitteln wollte, das vor dem geistigen Auge des Franzosen auftaucht, wenn er pêcher à la ligne liest? Arno Schmidt hat sich bei seinen Übersetzungen oft um eine solche extreme Form der Textnähe bemüht, und Harry Rowohlt hat es ihm, in Pooh's Corner in der "Zeit", einmal als übersetzerische Unfähigkeit angekreidet.
So what? Ich möchte eine persönliche und eine allgemeine Konsequenz nennen.
Die persönliche ist einfach: Ich vermeide es, wenn irgend das möglich ist, Übersetzungen zu lesen. Das verschließt mir die russische und die gesamte slawische Literatur, die skandinavische und viele anderen. Ich kann's verkraften; denn die verbleibende Lebensspanne wird nicht ausreichen, in den mir verfügbaren Sprachen das zu lesen, was ich gern gelesen hätte.
Allgemein trete ich dafür ein, daß alle Menschen mindestens zweisprachig erzogen werden sollten: in der Muttersprache und im Englischen. Ein Kind lernt in seinen ersten zwei bis sechs Lebensjahren zwei Sprachen ebenso leicht wie eine. Die Mühe für das Kind wäre also gering. Der Aufwand für das Erziehungssystem wäre bescheiden.
Wir leben in einer glücklichen Zeit, in der es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte eine Lingua Franca gibt. Das Englische ist dabei, sich von der Muttersprache der angelsächsischen Völker zu einer Sprache zu entwickeln, die weltweit beherrscht wird. Das, was die Esperantisten mit ihrer Kunstsprache wollten, ist jetzt mit der gewachsenen Sprache Englisch Wirklichkeit geworden.
Warum also nicht schon im Kindergarten die Kinder zweisprachig erziehen? Warum sollte es nicht erreichbar sein, daß alle deutschen Kinder ebenso gut und vollständig beim Schuleintritt Deutsch und Englisch beherrschen, wie die Kinder von Einwanderern Deutsch und Türkisch oder Deutsch und Serbokroatisch beherrschen?
Sie würden dann vermutlich nicht ein Cell Phone als "Handy" bezeichnen. Und sie würden sich schlapp lachen über alle die albernen Anglizismen, mit denen man ihre Kauflust anzuregen versucht.
Denn der Reiz aller dieser Anglizismen besteht ja gerade darin, daß sie fremd sind.
© Zettel. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.