29. November 2006

Anmerkungen zur Sprache (2): Die neue Lingua Franca

Gestern am späten Nachmittag übertrug der Sender Phoenix den Besuch des Papstes beim diplomatischen Corps in Ankara. Die Begrüßungsworte sprachen ein katholischer Würdenträger und der Doyen des diplomatischen Corps, der Botschafter des Libanon. In welcher Sprache redeten sie? Natürlich sprachen sie Englisch.

Der Papst sprach dann teils Englisch, teils Französisch. Er wechselte mehrfach zwischen diesen Sprachen. Nach welchen Gesichtspunkten, habe ich nicht verstanden, denn der Papst war ohnehin schlecht zu verstehen. Ärgerlicherweise brabbelte nämlich ein Übersetzer darüber, so daß die Worte des Papsts weitgehend akustisch maskiert wurden.

So, wie es leider in einem Land die Regel ist, in dem die Medien offenbar unterstellen, daß ihre Zuschauer und Zuhörer sozusagen akustisch illiterat sind, sobald ein Text nicht auf Deutsch gesprochen wird.



Es gehört zu den Merkmalen aller Hochkulturen, daß sie sich eine gemeinsame Sprache schaffen, eine Lingua Franca. Es war folglich immer das Merkmal der Zivilisierten, mindestens zweisprachig zu sein.

In der Antike war das Griechische die Sprache der Wissenschaften und der Philosophie. Dies blieb es auch noch, als Griechenland politisch abgestiegen war und Rom die zivilisierte Welt dominierte. Damals wurde Latein die Lingua Franca außerhalb des Kulturlebens. Aber noch der Jude Paulus schrieb, bereits auf einem Höhepunkt der Macht des Römischen Reichs, nicht Latein, sondern Griechisch.

Aus dem Lateinischen gingen viele europäische Sprachen hervor, und viele andere - das Englische zum Beispiel, das Deutsche - wurden stark vom Latein beeinflußt. Zugleich blieb es aber die Sprache der Wissenschaft, auch zum Teil die Sprache von Urkunden, von Verträgen.

Es war ein ungeheurer Vorteil für das mittelalterliche Europa, daß es diese gemeinsame Sprache, diese Lingua Franca, hatte. Es gab dadurch einen geistigen Austausch, der keine Grenzen der Länder, der Nationen kannte.



Bei vielen der Gelehrten des Mittelalters ist es belanglos - und wird oft auch gar nicht beachtet -, welcher Nationalität sie eigentlich waren. Thomas von Aquin war Italiener, aus der Gegend von Neapel gebürtig, lehrte aber in Paris. Sein Lehrer Albertus Magnus war Deutscher - Bayer -, studierte aber in Padua und Bologna. Er lehrte an verschiedenen deutschen Universitäten und dann in Paris. Duns Scotus war, wie sein Name sagt, geborener Schotte. Er studierte und lehrte in Oxford, in Paris, später in Köln.

Und so fort. Ein bedeutender Gelehrter des Mittelalters, der sich als "Deutscher", als "Franzose" oder als "Schotte" verstanden hätte und der gar darauf beharrt hätte, in seiner Nationalsprache zu lehren und zu schreiben, war undenkbar.



Als Sprache der Wissenschaft blieb das Latein bis ins achtzehnte, teilweise bis ins neunzehnte Jahrhundert dominant. Noch der große Physiologe E.H. Weber publizierte seine bahnbrechende Arbeit über den Tastsinn zunächst unter dem Titel "De tactu". Das war 1834! Und noch Schopenhauer schrieb teilweise Lateinisch und bewarb sich auf Latein an der Berliner Universität.

Aber das war damals, in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, schon zu Seltenheit geworden. Bereits Descartes hatte seine Schriften zwar noch zum Teil auf Latein, zum Teil aber schon auf Französisch verfaßt; wie den berühmten "Discours de la méthode", die Abhandlung über die Methode.

Etwa zu seiner Zeit - also in der ersten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts - begann eine Epoche, in der das Französische das Latein weitgehend als Lingua Franca ablöste. Spinoza schrieb noch Latein, Leibniz aber schon überwiegend Französisch. Im achtzehnten Jahrhundert dann war Französisch die Sprache der Gebildeten. Friedrich II von Preußen beherrschte sie perfekt; die Feinheiten hatte er sich von Voltaire lehren lassen. In Fontanes wunderbarem Roman "Vor dem Sturm" kann man lesen, wie die Gebildeten in Deutschland Anfang des 19. Jahrhunderts noch Französisch parlierten; in Rußland tat man es bis zur Oktoberrevolution.

Davon ist das Französische als "Sprache der Diplomatie" geblieben, wie es der Papst gestern erwähnte, als er auf Englisch begründete, warum er jetzt ins Französische wechseln würde. Aber selbst Diplomaten verständigen sich heute überwiegend auf Englisch; auch wenn sie noch einen Doyen haben und als Attachés ein Aide-Mémoire ausarbeiten.



Also, der Papst war, als er in Ankara passagenweise Französisch sprach, mal wieder ein Konservativer. Die Zeit des Französischen ist jedoch vorbei. Die heutige Lingua Franca ist natürlich das Englische. Oder genauer gesagt: English with a foreign accent.

Kürzlich wurde ich vor der Universität von zwei Iranern auf eine Spende angesprochen, die sich als exilierte Professoren ausgaben. Natürlich auf Englisch. Sie sahen in mir einen Universitätsmenschen; also setzten sie voraus, daß ich Englisch konnte. Zu Recht natürlich. Wer in einer Wissenschaft arbeitet, der liest und schreibt Englisch. Das ist so selbstverständlich, wie ein Physiker die Mathematik beherrschen muß und ein Musiker die Notenschrift.

Aber längst ist ja das Englische nicht mehr nur die Lingua Franca der Wissenschaft. Sondern es ist die Lingua Franca der Globalisierung.

Junge Leute, die als Rucksacktouristen unterwegs sind, verständigen sich ebenso selbstverständlich auf Englisch wie Geschäftsleute, die Waren ex- und importieren oder die in multinationalen Unternehmen tätig sind. Jeder Künstler, der etwas taugt, spricht auf Vernissagen, bei der Vorstellung eines Films, bei Konzertproben Englisch mit den Mitarbeitern, mit den Gästen. Auf internationalen Konferenzen gebietet es zwar oft der Nationalstolz, Reden in der eigenen Sprache zu halten; aber wenn man sich informell trifft, dann wird natürlich auf Englisch diskutiert.



In den kleineren Ländern Europas ist diese Zweisprachigkeit längst selbstverständlich geworden. Ob man in Schweden unterwegs ist oder in Lettland, ob in Holland oder Dänemark - man wird kaum jemanden treffen, mit dem man sich nicht auf Englisch verständigen kann.

Als ich einmal in Holland gearbeitet habe, sind meine Versuche, das Niederländische zu lernen, dadurch untergraben worden, daß ich überall mit Englisch durchkam, ja daß man es mir aufdrängte. Vom Hausmeister des Instituts, in dem ich arbeitete, bis zum Taxifahrer und zur Kellnerin antworteten mir alle sofort auf Englisch, wenn ich Niederländisch zu radebrechen anhub.

Nur in den "großen Nationen", allen voran Frankreich und Deutschland, klappt es noch nicht mit der Einführung der Lingua Franca. In beiden sehen viele den Vormarsch des Englischen als eine Attacke auf die eigene Sprache, ja die eigene Kultur.

Quelle sottise! Denn wer eine zweite Sprache beherrscht, der hat natürlich viel mehr Verständnis für die eigene Sprache als diejenigen, die das nicht tun. Es sind ja gerade die Ungebildeten, diejenigen, die des Englischen nicht mächtig sind, die auf das dumme, manchmal absurde Denglisch der Werbung, der Medien hereinfallen. Man beutet aus, daß sie kein Englisch können; jedenfalls nicht hinreichend Englisch können.

Dazu ein paar Überlegungen im dritten Teil.



© Zettel. Titelvignette: Johann Gottfried Herder. Gemälde von Johann Ludwig Strecker (1775). In der Public Domain, da das Copyright erloschen ist. Links zu allen Folgen dieser Serie findet man hier.